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Geschichten übers Rudern, Lieben und Erinnern – ein »grandioses Debüt« (FAZ). Die eine träumt davon, auf dem sandigen Grund einer geräuschlosen Unterwasserwelt zu liegen, die andere bringt auf nebelverhangenen Havelseen das Ruderboot zum Kentern, in dem sie, die Steuerfrau, für die Sicherheit der vier Ruderinnen eigentlich verantwortlich war. Zum Wasser haben Julia Schochs Figuren ein besonderes Verhältnis: Sie suchen sich selbst und loten ihre Grenzen aus. Das Wasser ist die Zeit, die Geschichte und die Erinnerung zugleich – an das Land DDR, das so plötzlich verschwunden ist, dass die eigene Kindheit und Jugend gleich mit verschwunden sind. Die neun Geschichten, angesiedelt in ostdeutschen Plattenbausiedlungen oder am Oderhaff, am Schießstand eines Rummels oder in Rumänien, wurden weithin als ein Ereignis gefeiert.
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Seitenzahl: 218
Veröffentlichungsjahr: 2022
Julia Schoch
Der Körper des Salamanders
Erzählungen
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Für Peter, mit dem Leben (Kunst) begann
Jetzt ist es vorbei, das Geräusch, das Rauschen, wenn das Wasser sich durch meine Gehörgänge schleckt, um mit einem tiefen Gurgeln immer wieder von sich hören zu lassen. Nach der Entscheidung schlägt keine Brandung mehr von innen an meine Haut, keine Welle bricht sich Bahn, kein Tropfen dringt in keinen Spalt, nichts fließt, nichts bewegt sich, endlich kann ich beginnen:
Ich machte »pscht« und winkte in den Raum zu den Mädchen hinüber, was sie dazu brachte, nur noch lauter durcheinanderzurufen. Als ich nicht reagierte, wurden sie schließlich still. Ich stellte das Radio lauter, die Nachrichten waren vorbei. Die Wettervorhersage verkündete ungewöhnlich milde Temperaturen für Februar, und mein Gesicht verfinsterte sich.
»Kein Eis«, teilte ich ihnen mit, und die Mädchen schauten kraftlos von den zerkratzten Holzschemeln zu mir herüber. Ich sah sie nicht an, spürte aber, dass sie erwarteten, ich würde mit einem magischen Spruch eine Schicht aufs Wasser zaubern, die so hart wäre wie im letzten Jahr. So fest auch, dass die verschiedenen Schwimmtiere sekundenschnell in dem Eisblock erstarrten, über den wir laufen könnten, anstatt den Fluss in seinem normalen Zustand zu durchrudern, wie wir es seit Monaten schon taten, um die Regel: Belaste möglichst täglich!, nicht zu verletzen. Und nun schien es, als würden wir den ganzen Winter über raus auf das Wasser müssen, denn was im Februar nicht fror, blieb bis zum Frühling flüssig. Das stand zwar nicht im Handbuch, hatte ich aber von den anderen kleinen Menschen erfahren, die die Boote steuerten. Solange es nicht um das Ausborgen von Werkzeug oder Putzschwämmen ging, ließen sie sich, obgleich misstrauisch, zu Informationen wie dieser überreden.
Kein Glück also wie im Winter zuvor, als die Blätter der Skulls schon in der Schweinebucht gesplittert waren, noch keine fünfhundert Meter vom Ufer entfernt, das der Trainer mit dem Motor seines wild kreisenden Bootes freigeschmolzen hatte. Mit wütendem Gesicht hatte er uns fünf zu sich ins Boot kriechen lassen. Da ich die Einzige mit Handschuhen gewesen war, hatte ich den Vierer, dessen Bug von der scharfen Eiskante aufgerissen worden war, wie einen großen steifen Fisch hinter uns hergezogen, während sich die Mädchen schweigend in die rot gefrorenen Hände gehaucht hatten. Bis zum März war ich in der warmen Werkstatt geblieben, um die Blätter und die Kunststoffbespannung zu reparieren. Ich hatte mir viel Zeit gelassen beim Lackieren und durch die staubigen Fenster die Mädchen beim Gymnastiklauf beobachtet.
Mein Körper wurde nach dieser Nachricht zu einem Stück Holz, als ich den Ölanzug über Pantalon und Trainingshose zog; die T-Shirts waren noch klamm, in den Schuhsohlen quietschte das Wasser vom Vortag. Ich besah meine Hände. Hier und da hatten sich bereits winzige Schuppen gebildet, die zu Schwimmhäuten werden konnten, wenn sie sich mit den weißen Stellen an den Fingern verbänden.
Bis wir nicht in der Juniorenstufe ruderten, würde während der kalten Jahreszeit nichts mehr an mir trocknen und mussten wir für das Training in dieser Baracke bleiben, die die Nässe einsog und die Pappwände schimmeln ließ. Im Winter wurde der Trockenraum durch Gestank und Feuchtigkeit zu einer Quarantänezone, die wir nur mit zugehaltener Nase betraten, um sie schnellstmöglich wieder zu verlassen. Im Sommer half nicht einmal das geöffnete Fenster, um Frischluft in den Brutkasten zu bekommen, aber wenigstens trocknete die Kleidung in nur wenigen Minuten.
Und obwohl ich schon jetzt unter den feuchten Sachen zu frieren begann, musste ich die Mädchen, die der Trainer Mannschaft nannte, bei Laune halten.
»Ein Winter wie siebenundvierzig«, flehte ich zur Pappwand, um sie zu unterhalten. Sie verstanden nicht. Nachmittags in der Schule waren sie müde, schliefen in den Bänken und schleppten sich auf Hausschuhen durch die Gänge des labyrinthischen Gebäudes. Sie verübelten mir meine Noten und hassten meinen ewig ausgeruhten Körper, der als einziger im Klassenzimmer aufrecht saß und sogar Worte herausbrachte, die zu den Fragen der Lehrer passten.
Ich schickte Dramatik in meine Stimme und versuchte dabei, meine kalten Arme steif neben der orangefarbenen Schwimmweste hängen zu lassen: »Siebenundvierzig ging nichts mehr. Eiskalter Winter nach dem Krieg. Ein Haufen Frühgeburten, überall wurden die Möbel aus den Gutshäusern verfeuert, zumindest bei uns.«
Die Mädchen zogen sich ihre dünnen Hosen über die breiten, kräftigen Hintern und hörten mit offenem Mund zu. Ihre Körper machten Geräusche und rochen algig.
Als sie fertig waren, tat ich, als müsste ich nach den Steckschlüsseln suchen, und schickte sie zum Einlaufen. Als bummeliger Haufen verließen sie schließlich die Baracke und begannen, sich draußen in der Kälte warm zu hüpfen.
Auch wenn ich geredet hatte – innerlich war ich stumm geworden. Wenn es kein Eis auf dem Wasser gab, bedeutete das nicht nur angefrorene Zehen in den nächsten Wochen. Ich tastete in meinem Spind nach dem blauen Buch, das ich vor einiger Zeit schon angeschafft hatte. Als ich es aufschlug, wurden die Linien zu kleinen Wellen, die sich launig über die leeren Seiten bewegten: Keine einzige Zeile hatte ich bisher zustande gebracht, und wenn es kein Eis gab, würde ich auch diesmal keine Gelegenheit haben, einen Gedanken zu fassen. Draußen sprangen die Mädchen in der Hocke über den grauen Beton, und dahinter lagen die Stege glasig am Fluss. Bevor ich das Buch wieder in den dunklen, stinkenden Schrank zurücklegte, bohrte ich einen Fingernagel in das Holz. Dann nahm ich den Kanister und ging hinaus.
Draußen im Boot ging ein scharfer Wind, der mir die Worte, die ich durch die Sprechanlage schickte, vom Mund riss, noch bevor sie zum Lautsprecher unter dem dritten Rollsitz gelangen konnten. Ich hob den hantelschweren Teekanister auf meinen Bauch, da meine fünfunddreißig Kilo gelegentlich von Böen erfasst und über die niedrige Holzreling geweht wurden. (Mein geringes Gewicht hatte schon einmal dazu geführt, dass ich als Achtjährige unter einem gemusterten Kinderschirm bei stürmischem Regen mehrere Meter über den Gehweg getrieben worden war, wobei ich meine Füße sekundenlang in einigem Abstand über den grauen Betonplatten hängen gesehen hatte.)
Dieser Winter war nichts anderes als eine Wetterflucht, durch die die Mädchen ruderten wie Ausgesetzte auf der Suche nach Land. Sie zogen Krebse in den unregelmäßigen Wellen und stießen das Boot mehr vorwärts, als dass sie es schoben. Bei diesem Wetter verzichteten sie freiwillig auf die Pause, denn das Wasser war bis in ihre Knochen gedrungen, und wir trieben rasch aus der Fahrrinne, wenn die Ruderblätter für eine Weile in der Luft blieben. Also nahm jeweils nur eines von ihnen große Schlucke aus dem Kanister, an dessen Tülle brauner Belag klebte, während die anderen drei weiter durch die garstige Natur hasteten.
Wir hatten den Schwielowsee durchquert, als mir klar wurde, dass dieser Winter nicht einmal besser würde, wenn das Eis tatsächlich den Fluss zuwuchs. Denn ich hatte schon darüber nachgedacht, was ich noch zerschlagen, zerbrechen oder einfach nur als verloren melden könnte, um in die Werkstatt geschickt zu werden, in der den ganzen Tag über ein Heißluftradiator lief. Aber ich hatte nichts mehr finden können. Äußerst kopflos war es von mir gewesen, den bunten Stoffbeutel mit den Startnummern darin schon im Sommer verschwinden zu lassen. Der Trainer hatte es gleich nach dem letzten Wettkampf der Saison bemerkt. Ich hatte den Nylonsack einfach auf die Böcke der Magdeburger Mannschaft gelegt und nur eine halbe Minute warten müssen, bis sich eine beiläufige Hand fand, die ihn, ohne den Inhalt zu betasten, unter das T-Shirt steckte. Der Trainer erwiderte nichts, als ich ihm sagte, jemand habe sie direkt aus meiner Reisetasche genommen. Er hatte genickt und noch am selben Tag einen Termin für die Werkstatt ausgemacht. So musste ich zwanzig neue Startnummern aus einer Sperrholzplatte heraussägen und bemalen, während die Mädchen ihre Einer aus der Bootshalle zum Wasser trugen. Da aber hatten die Weiden am Ufer gerade erst angefangen, ihre filzigen Blättchen zu verlieren.
Jetzt waren sie kahl, und ich stellte fest, dass ich ohnehin nur die Wahl hatte zwischen dem Eiswasser, das meinem Körper gegenüber gleichgültig war, und den grimmigen Gesichtern der Mädchen, die bei Minustemperaturen oder Bootsschäden zwar ins beheizte Ruderbecken durften, dafür aber zusehen mussten, wie ich in wohliger Wärme am Geländer stand, sie beobachtete und ihre Pulswerte in ein Diagramm eintrug.
Ich entschied mich für Letzteres, denn vor den Gesichtern der Mädchen konnte ich einfach die Augen schließen, was bei Eiswasser nichts half. Bei der Heimkehr schob ich den Teekanister tief unter den Schalensitz, und als die Mädchen das Boot herausnahmen, ließ ich auf das Kommando »Über Kopf hoch!« einfach nichts folgen, sodass nach ein paar Sekunden zusammen mit etlichen Litern schaumigen Flusswassers auch der Kanister aus dem umgedrehten Bug auf die Schultern der Mädchen fiel. Nach zwanzig Kilometern gleichförmiger Bewegung schafften sie es nicht, auf etwas Plötzliches zu reagieren. Es brauchte nur eine von ihnen ihre Hand von den Verstrebungen zu lösen, damit den anderen das Gewicht zu schwer wurde und der Vierer mit seiner maßgeschneiderten Kunststoffhülle auf die Holzplanken des Steges schlug. Das war ein Schaden, der nicht einmal vom Bootsmann selbst repariert werden konnte. Für einen solchen Schaden musste das Boot verschickt werden, in andere Bezirke, vielleicht sogar in andere Länder. Einen aufgeschlagenen Rumpf reparierte man in Sofia oder Moskau, bis dahin konnte es Frühjahr sein.
Wir durften nur ins kleine Becken, weil im großen die Sportler trainierten, die zur Olympiade fuhren. Dort stand der Steuermann nicht am Geländer, sondern an einem Computer, der die Werte der riesigen Männer auf langen Papierbögen ausdruckte. Wie in einer Klinik waren sie angeschlossen an Bänder und Elektroden, die um ihre verschwitzten Handgelenke gewickelt wurden. Manchmal sah ich einen von ihnen zwischen den Bootshallen oder auf dem Weg ins Sportlerrestaurant. Wie zu groß gebaute traurige Golems schlichen sie mit gebeugtem Kreuz und ballongroßen Oberarmen über das Gelände. Ihre Lider hielten sie halb geschlossen. Sprach man sie unvermittelt von der Seite nach der Uhrzeit an, überlegten sie sehr lange und zuckten dann mit den Schultern. Einen hatte ich in der Stadt zur Straßenbahn laufen sehen. Gleichmäßig langsam – er hatte kaum die Füße vom Boden gehoben – war er mehrere Hundert Meter gelaufen und hatte dann nicht einmal laut atmen müssen. Später, als er aus dem Fenster sah, war sein Kiefer heruntergeklappt, ohne dass er es gemerkt hatte.
Im Becken sprudelte das Wasser den Mädchen entgegen. Sie saßen auf ihren Rollsitzen wie im Boot, nur dass sich der Betonsockel nicht bewegte und sie sich trotzdem abmühen mussten, denn das Wasser drückte in der höchsten Stufe gegen ihre durchlässigen Blätter. Wenn sie die Skulls spritzend zu ihren Bäuchen rissen, sah es aus, als wollten sie sich aus dem Sockel herausheben. Doch eine unsichtbare Riesenhand hielt ihn fest. Sie kamen nie vom Ufer weg. Während sie sinnlose Bewegungen vollführten, saß ich stumm am Rand und drückte an der Stoppuhr herum. So merkten sie nicht, dass ich an mein Gedicht dachte, obwohl die Geräusche wie in einer Delphinhalle mich immer wieder aufschrecken ließen.
»Los, tauschen«, schnieften sie später, als der Trainer gegangen war. Immer wenn der Trainer ging, fingen sie an zu stöhnen. Einmal war ich schließlich auf den hinteren Platz gestiegen und hatte schon nach wenigen Schlägen harte Unterarme bekommen, weil ich mit der Hand zupackte, anstatt mit den Oberarmen zu ziehen. Die Mädchen hatten gelacht. Sie mochten es nicht, wenn jemand weniger geschunden wurde als sie.
Es war mir peinlich, sie mit verklebten Haaren und nasser Kleidung in dieser gurgelnden Schale zu sehen. Oft weinten sie vor Erschöpfung. Um sie abzulenken, erzählte ich, dass man im großen Becken Leinwände mit vorbeiziehenden Landschaften und Tieren installiert hätte, damit den Olympioniken im Winter nicht langweilig wurde. Doch die Aussicht, noch mindestens fünf Jahre trainieren zu müssen, um diese Landschaften selbst sehen zu können, machte sie nur wütender.
»Lass uns aufhören«, zischte es aus dem Wildwasserstrom. Auch wenn ihre Körper nicht mehr wollten, hielten sie sich an die Regel, meine Kommandos abzuwarten. Ich ging um das Becken herum und sah aus den winzigen Fensterlöchern. Draußen regnete es matschige Wasserflocken. Der Trainer, der keine Mütze trug, sah genauso nass aus wie die Mädchen hier drinnen. Er unterhielt sich mit dem Verantwortlichen für politische Erziehung, der in einem dicken weinroten Anorak steckte. Dynamo stand in den Rücken hineingesteppt.
Ohne die Mädchen anzusehen, machte ich ein Zeichen, das sie sofort verstanden. Pustend ließen sie die Skulls aus ihren Händen gleiten, die ohne die Dollenringe von der Strömung an die Beckenwände gedrückt worden wären. Sie wischten sich mit ihren T-Shirts über die Stirn und atmeten heftig. Die feuchte Luft vermischte sich mit dem fischigen Geruch ihrer dampfenden Körper. Aus ihrem starren Vierer heraus tauchten sie ihre Arme in das Wasser neben sich und schickten ein paar Spritzer zu mir hoch. Die Fenster beschlugen.
Nach ein paar Minuten griffen die Mädchen plötzlich von ganz allein wieder nach den abgeschabten Griffen ihrer Skulls, als würden sie dieses Spiel lieben. Doch bevor ich mich wundern konnte, befahl eine Stimme, sie gleich wieder loszulassen und sich den Finger an den Hals zu drücken, um den Puls zu messen. Der Trainer schwieg, als er die Ergebnisse hörte. Die Mädchen schauten in die Strudel und ich auf das braune zerfusselte Band der Stoppuhr, die mir der Trainer vom Hals nahm, um sie in seiner Jackentasche zu verstauen.
Abends im Speisesaal schien das weiße Neonlicht auf die Sprelacarttische. Die Turner, die ihre Tabletts in die Geschirrablage brachten, waren so klein, dass ich ihnen in die Augen schauen konnte, wenn sie an unserem langen Tisch vorbeikamen. Als die Mädchen aufbrachen und mit ihren schon großen Brüsten die Arme der Jungen streiften, ging ich noch einmal zur Essenausgabe zurück und tat, als bräuchte ich noch Obst. Dann kam ich zurück und setzte mich wieder. Ich nahm das blaue Buch heraus und legte es vor mich auf den Tisch. Eine Melusine schwebte über dem dunklen Deckel. Ich betrachtete ihre gesenkten Lider und dachte nach. Aber kein einziger Buchstabe kam aus dem Füller auf die Seiten. Bald verließen die Fechter als Letzte den Saal, vor lauter Konzentration wurde ich ganz schläfrig.
Die Küchenfrauen begannen, die Stühle auf die Tische zu stellen. Laut schlugen die Metallbeine gegeneinander, während die Sportler hinten auf dem Wandrelief mit wilden Gesten sprangen, warfen, zogen, liefen, hüpften, schossen und schwammen. Ihre Muskeln hatten die Maserung des Holzes, und ihre Gesichter waren vor Freude über den Sieg oder vor Schmerz verzerrt.
Als sie das Licht ausschalteten, musste ich gehen, auch weil die Internatstür bald verschlossen sein würde. Diesmal war ich erleichtert, dass der Hausmeister den Fahrstuhl schon abgestellt hatte. Die zweihundertfünfzig Stufen bis in den vierzehnten Stock würden vielleicht reichen, dass mir eine erste Zeile einfiel. Doch auf jeder Etage stürmten mir Kinder entgegen, die mich schweigend rammten oder johlend ignorierten. Ich hielt mich dicht am Geländer.
Ab der Sechsten hatte man Aussicht, und in der Siebten war in der vergangenen Woche jemand durch die Glastür in den Etagenflur gefallen. Auf dem braunen Linoleum waren noch verblichene Blutflecken zu sehen. In der Zehnten flog eine Taube auf, nur weil ich vorbeiging am Balkon. Ich atmete immer noch gleichmäßig, als ich oben ankam, längst machte der Aufstieg mir nichts mehr aus. Aber ich war auch langsamer geworden. Für eine Stufe brauchte ich oft mehrere Sekunden.
Im Zimmer roch es nach Schweiß.
Ich räumte die Schalen mehrerer Pampelmusen von der fleckenstarrenden Tischdecke. Ohne dass ich es sah, wusste ich, dass neben dem Mädchen oben im Doppelstockbett der Junge lag. Als ich meine Bücher aufschlug, ließen sie ihre Köpfe über die Kante schauen. Der Junge war ganz rot im Gesicht und grinste. Das Mädchen ließ gewaltige Kaugummiblasen zerplatzen, die sie von ihren Wangen kratzte. Sie schauten mich an. Ich schob das Lesebuch auf meine Hände und tat, als läse ich eine Zeile:
»Lass den Salamander«, sagte ich laut.
Ich sah nicht auf, hörte aber, wie sie, schon wieder unter der Decke, leise quiekten. Ab und zu brüllte das Mädchen, wenn der Junge sie zwickte, manchmal schlug sie ihm auch ins Gesicht, wenn er zu grob wurde.
An mir gab es wenig anzufassen. Ich war fast durchsichtig und sah aus wie die kleine Schwester eines der Mädchen. Die waren im ersten Jahr auf der Schule oft zwanzig Zentimeter gewachsen, was am guten Essen lag. Sie aßen fünfmal am Tag warm. Mir dagegen erlaubten sie nur Pampelmusen und Äpfel, schließlich lag ich, der Ballast, bloß reglos im Boot.
Ich nahm das blaue Buch heraus, um die Zeile zu notieren, die mir ein guter Anfang zu sein schien. Oben im Bett wühlte und kicherte es immer noch. Ich schraubte den Füller auf und setzte die Feder auf die erste Linie, als etwas durch den Raum flog. Starr blieb ich sitzen und schloss die Augen, während die milchige Flüssigkeit langsam in die rauhen Fasern unseres Teppichs drang.
Sie war bereits ein trüber klebriger Fleck geworden und der Junge schon gegangen, als ich noch einmal aufstand und aus dem Fenster sah. Tief unter mir, hinter den kahlen Ästen der Bäume, schimmerte dunkel der Fluss, als wäre er schön und nicht aus Wasser.
Ich betrachtete es nicht als Strafe, dass ich am Samstagnachmittag die Zehn-Kilometer-Runde laufen musste. So blieben mir die Mädchen erspart, die sich beschwerten, dass sie eine Woche lang im Einer fahren und eine Krafteinheit zusätzlich absolvieren mussten. Sie saßen mit den Jungen in ihren stickigen Zimmern, während ich immerhin den Wald hatte. Vorne in meiner Windjacke steckte das blaue Buch. Meine lauten keuchenden Bewegungen verschreckten alle Gedanken. Ich dachte an meine Glieder und die Rede des Verantwortlichen für politische Erziehung. Ihm zufolge war ich für Wettkämpfe im Ausland ungeeignet, da man im Ausland nur auf Fehler aus unseren Reihen warten würde. Für Journalisten, die es nur darauf absahen, Schlechtes über unser Land aus unseren eigenen Mündern zu erfahren, wäre ich leichte Beute. Ich hatte gegen die Regel: Setze die Führungs- und Leitungsqualitäten zu Trainingszwecken ein! verstoßen. Auf keinen Fall dürfe man zulassen, dass Disziplinlosigkeit um sich greife. Bei dieser Art Seuche, hatte er geschlossen, müsse man schnell und entschieden handeln.
Wenn die Mädchen die Einer aus den Gestellen hoben, wurden ihre Gesichter lang, und die Mundwinkel fielen herab. Im Vierer konnten sie die eigenen Blätter wenigstens minutenlang mit dem Schwung der anderen mittreiben lassen, denn die Kreismuster, die sie auf der Wasseroberfläche zurückließen, waren genauso groß und rund. Ob man die Muskeln anspannte oder nicht, störte die schnell herauszuhebelnden Skulls nicht. Die Einer jedoch waren verräterisch. Sie kippten sofort und staksten nur langsam voran, von den Schreien des Trainers begleitet. Diese galten von Zeit zu Zeit auch mir, denn ich saß am Lenkrad des Motorbootes und bemühte mich um gleichmäßige Fahrt. Doch immer verfiel ich angesichts der Tropfenspuren auf der Frontscheibe in Gedanken und preschte weit vor den Mädchen davon. Wenn ich dann ruckartig den Hebel herunterriss, um zu verlangsamen, schlugen die Wellen in ihre Boote, und der Trainer wurde in die Polster seines Igelitsessels gedrückt. Dann wieder war ich zu langsam, und wir schaukelten hinter ihnen her, bis ich erneut heranfuhr und uns auf gleiche Höhe brachte.
Es konnte an meinen Fahrkünsten liegen, dass der Trainer nicht nur nach fünf weiteren Stößen mit mir den Platz getauscht hatte, sondern auch einen anderen Vierer für die darauffolgenden Tage fand und so die herrliche Aussicht auf einen Winter fern vom Wasser für mich zunichte machte.
Immer noch war es kalt und doch zu warm. In den Nächten schlug eisiger Nieselregen an die Fenster, der morgens aus tief hängenden Wolken nur noch vereinzeltes Tropfen war. Die Metallgestelle, in denen die Boote lagen, glitzerten feucht in der Morgendämmerung. Manchmal blieben die Finger daran haften. Die Mädchen befanden sich seit sieben Uhr auf den Liegebrettern im Kraftraum und schwitzten oder weinten in ihre Handtücher. Ich hatte nichts mehr entgegnen können, als sie mit jaulenden Lauten die Gewichte nicht mehr zu ihrer Brust ziehen wollten und sie schließlich fallen ließen auf die abgeschabten Matten unter ihnen. Auf jede Seite hatte ich noch einmal je ein Kilo gesteckt und dann vorgegeben, mich um das Ersatzboot kümmern zu müssen.
Es kostete mich einige Mühe, die große metallene Rolltür der Bootshalle aufzuschieben, in der ich mit einer Taschenlampe die Regale abzuleuchten begann. Außen drückte der Wind gegen die rostigen Wände. Als ich die Luftklappen des dunkelgrünen Bootes öffnete, das über Wochen ungefahren auf den Böcken in der Halle gelegen hatte, sah ich einen Teichmolch. Winterstarr saß er zwischen den muffigen Bugleisten. Ich nahm einen Holzspan vom Boden und warf ihn zu ihm hinein. Stockend kroch er mir entgegen, als säße er seit Hunderten von Jahren dort und finge gerade erst an zu atmen. Bedächtig und müde schwenkte er seinen winzigen Kopf. Aber ich wusste schon, dass ich diese Geste als Aufforderung nehmen musste, den Bewegungen und dieser Jahreszeit selbst ein Ende zu bereiten.
Dass ich in diesem Winter zum wiederholten Mal schon nach den ersten Metern von einer Wellengruppe überspült wurde, lag nicht nur an den Böen, die aus dem rappligen Wasser Schaumkämme machten, sondern an der »Charlottenhof« und dem »Alten Fritz«, die das ganze Jahr über auf den eisfreien Havelseen fuhren. Die Dampfer waren heimtückisch, denn sie näherten sich trotz ihrer Größe fast lautlos. Erst in einiger Entfernung wuchsen die Wellen, die vorn an ihrem breiten Bug noch gar nicht zu erkennen waren. Wenn sie an uns vorbeizogen, war es meistens schon zu spät, um das Boot noch in einen spitzen Winkel zu ihnen zu stellen. Ich konnte nur noch die Augen schließen und mir die Fäustlinge auf die Ohren pressen. Dann versuchte ich, in meiner Wasserschale ein Fisch zu werden, dem dieses flüssige Material gefallen konnte. Oder ich stellte mir vor, dass ich nur ein Kopf wäre, dessen Körper zu rein maschinellen Zwecken genutzt wurde und keine Sensoren auf der Haut trug. Stumm begann ich, Lieder zu singen, denn bis zum Gemünde waren es noch fünfzehn Kilometer.
Dabei war es immer noch besser, von einer Welle überrascht zu werden, als sie von Weitem heranrollen zu sehen. Das hatte ich schon nach den ersten Tagen als Steuerfrau gewusst, als ich das Boot noch stumm und in großen Schleifen durch das blühende Wasser geführt hatte. Ich zog kräftig an den straff gespannten Seilen links und rechts neben meinen Händen. Verzweifelt schaute ich nach vorn und wieder auf die Welle, die weit hinten lässig herangeschaukelt kam, versuchte, das Boot zu verschieben, es zu platzieren, ja sogar mich luvwärts zu legen, obwohl ich bereits sah, dass sie ohne Weiteres über die Holzreling schwappen und sich von dort durch den schon feuchten Stoff meiner kratzigen Trainingsjacke bis zu meiner Haut vorarbeiten würde. Sprang sie mir von hinten in den Nacken und den Mädchen über die Knie, saß ich zwar augenblicklich hellwach in meiner Nuss, hatte es aber schnell überstanden, während die Welle, schon klein geworden, am Ufer zerlief.
Doch nun schien mir das Wasser fast wie eine frohe Ankündigung, auf einen nächsten Tag. Der Molch saß noch im Bug, verschlossen unter der Klappe im trockenen Raum. Tag oder Nacht spielten keine Rolle für ihn, er hielt die blinden Augen geschlossen.
Am darauffolgenden Morgen griffen die Mädchen schweigend in die Rollbahnverstrebungen und hoben das Boot über ihre Köpfe. Vorsichtig liefen wir über den Steg, auf dem sich über Nacht eine glatte Rauhreifschicht gebildet hatte – wie ein weißer unregelmäßiger Teppich lag sie auf den dunklen Planken –, und setzten den Vierer ins Wasser. Unter unseren Bewegungen schmatzte es gegen das Holz. Als die Mädchen ihre Schuhe auszogen und auf Zehenspitzen ins Boot stiegen, blieben ihre Socken bei jedem Schritt kleben. Wir stießen uns ab, schabend mit den Blättern über den angefrorenen Steg, und ich sah, während wir uns entfernten, die zurückgebliebenen bunten Fasern auf der weißen Fläche. Daneben lagen die Turnschuhe, als stünden Menschen schweigend unter einer Tarnkappe und blickten uns nach, wie wir in der steifen, spiegligen Wasserlandschaft verschwanden. Ich dachte, dass die Havel auch der Styx sein konnte, denn wir durchquerten feuchte Nebelfelder in eine andere Welt.
Wie eine Genugtuung kam es mir diesmal vor, dass wir die Landschaft mit den Blättern und der Steuerflosse nicht nur ritzten, sondern tief aufschnitten. Wir holten sie aus ihrem Schlaf, zerstörten ihre glatte Haut, die in jeder Nacht wieder neu zusammenwuchs. Ich schob den noch heißen Teekanister zwischen meine Schenkel und den Schal über das Kinn. Die Mädchen ließen das Boot nur zögerlich laufen, denn sie dachten, ich sähe in dieser Gräunis genauso wenig wie sie. Wortlos waren sie sich einig geworden, dass mir selbst bei klarstem Wetter nicht zu trauen war. Dagegen wusste ich wenig einzuwenden. Immerhin war ich einmal in eine Vogelinsel hineingefahren, weil ich die Augen geschlossen gehalten hatte.
In der frühen Morgensonne, die flach über den See geschossen kam, war der Horizont ein Kaleidoskop geworden, das meine Lider zum Flattern gebracht hatte. Das ruhige Schieben der Rollsitze bewegte uns rasch vorwärts. Als ich Sekunden später die Augen kurz öffnete, streiften die Blätter schon das Schilf, das steuerbord lag und erst in den Tagen zuvor zu einem breiten Band geworden sein musste. Und während ich noch über die Vielfalt der Bezeichnungen für Grüntöne bei anderen Völkern nachdachte, musste da, wo vorher nur Wasser gewesen war, plötzlich eine Insel entstanden sein, auf die unser schmales Boot mit dumpfem Geräusch auflief. Gleichzeitig mit einem Kommando, das es nicht mehr über meine Lippen schaffte, gruben sich die Skulls tief in den Schlick und rissen die Enden mit den Gummigriffen, die von den Händen der Mädchen noch umklammert waren, in die Höhe. Die Dollen sprangen auf und verbogen sich mit lautem Knirschen. Der Bugball vor mir hatte sich in ein Nest geschoben und lag dort wie ein weiteres Ei, während sein Bewohner, ein großer Schwan, auf die Bespannung vor mir sprang und seinen leuchtenden Schnabel in die Kunststoffhaut trieb. Rallen und Lietzen flogen auf und uns um die Ohren, andere bekamen nicht sofort den Kopf aus dem schlafenden Gefiederkörper, rollten im Schrecken zur Seite und von dort ins Wasser, wo sie mit panischem Flügelschlag davonruderten. Das Geschrei der Vögel vermischte sich schnell mit dem der Mädchen, die sich über die blutigen Fingerknöchel leckten. Ich schwieg und steckte unbemerkt eine große weiße Schwanenfeder unter meine Trainingsjacke. Vielleicht fehlte mir nur die richtige Ausrüstung, hatte ich gehofft, denn die Zeilen müssten aus dem passenden Schreibgerät wie von selbst fließen.
Ein Seniorentrainer hatte uns später bei seiner