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Lebenslinien – Liebeslinien – Liebesmuster Eine Frau wird von einer Fremden angesprochen, die behauptet, sie hätten beide denselben Vater. Die überraschende Begegnung bleibt flüchtig, löst in ihr aber eine Welle von Emotionen aus. Fragen drängen sich auf, über Ehe und Mutterschaft, über Adoption und andere Familiengeheimnisse, über Wahrheit überhaupt. In ›Das Vorkommnis‹ erzählt Julia Schoch – eine der eindrücklichsten Stimmen autofiktionalen Erzählens in der deutschen Literatur – von einem Leben, das urplötzlich eine andere Richtung bekommt. Fesselnd und klarsichtig, so zieht sie hinein in den Strudel der ungeheuerlichen Dinge, die gleichzeitig auch alltäglich sind. Ein Roman von großer literarischer Tiefe und Schönheit, im Werk von Julia Schoch ein neuer Höhepunkt.
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Seitenzahl: 203
Veröffentlichungsjahr: 2022
Julia Schoch
Das Vorkommnis
Biographie einer FrauErstes Buch
Roman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
What’s that on your pocket?
That’s nothing. It’s just a little blood.
Kay (Meg Ryan) zu Arlis (Dennis Quaid) in »Flesh and Bone«
An dem Tag, einem Dienstag im Dezember, war ich zu Gast im Kulturhaus einer norddeutschen Stadt und las aus meinem neuen Roman vor. Nach der Veranstaltung trat eine Frau zu mir an den Tisch, an dem ich noch sitzen geblieben war, um das eine oder andere Buch zu signieren. Sie schob mir ihr Exemplar hin. Während ich mich darüberbeugte und meinen Namen hineinzuschreiben begann, sagte sie:
Wir haben übrigens denselben Vater.
In meiner Erinnerung bricht mir bei diesem Satz der Füller aus. Die Feder entgleist, und es entsteht eine lange, tiefe Linie auf dem Papier. Eine Linie des Schocks. Als wäre ich mitten in der Unterschrift von einer Kugel getroffen worden.
In Wirklichkeit – und zu meiner eigenen Verblüffung, wie ich später oft dachte, ja im Grunde bis heute denke – sprang ich sofort auf und fiel der wildfremden Frau schluchzend um den Hals.
Die anderen Gäste, es waren nur sehr wenige, waren schon im Aufbruch begriffen. Der Leiter des Kulturhauses hatte die Mikrofonanlage abgebaut und wartete mit einem Schlüsselbund in der Hand am Ausgang. Es war verabredet, dass wir nach der Lesung noch etwas essen gehen würden. Auf dem Weg ins Restaurant erzählte ich ihm von einer Frau aus dem Publikum, die mich angesprochen habe. Ich tat es beiläufig, eine schräge Anekdote, wie man sie manchmal erzählt, wenn jemand bei einer Lesung eine seltsame Frage gestellt hat oder einem im Anschluss einen Ordner mit seiner selbst verfassten Lebensgeschichte überreichen wollte. Der Kulturhausleiter lachte kurz, er schien mit den Gedanken woanders.
Wenig später, beim Essen, konnte ich mich nur schlecht auf das Gespräch konzentrieren und brach bald unter einem Vorwand auf, was er sichtlich erleichtert hinnahm.
Den darauf folgenden Vormittag verbrachte ich damit, durch die mit Lichterkugeln und Tannenzweigen geschmückte Einkaufsstraße der Stadt zu gehen. In einem großen Niederegger-Geschäft kaufte ich Marzipanpralinen für das bevorstehende Weihnachtsfest. (Weder mein Mann noch das ältere Kind mochte Marzipan, aber mir gefiel die rot-gold glänzende Verpackung, die bereits wie ein Geschenk aussah.) Später stieß ich zwischen den üblichen Drogerieketten und Allerweltsläden auf das Geschäft eines Playmobil-Sammlers, in dem ich verschiedenes Feuerwehr-Zubehör kaufte – etwas, von dem das ältere Kind zu der Zeit fasziniert war, unter anderem ein rotes Sprungtuch, einen Hydraulikspreizer und eine winzige Rettungssäge –, bevor ich in den Zug stieg und in eine andere Stadt weiterreiste, zur nächsten Lesung.
Unterwegs blätterte ich in einem Buch über die USA. Vor allem las ich die Seiten über den Norden Ohios, wo ich demnächst für ein paar Monate leben würde.
Nach meiner Ankunft schrieb ich E-Mails, ich gab ein Interview für eine Stadtzeitung, ich absolvierte meine Lesung. Dieser Tagesablauf wiederholte sich ein paarmal. Am letzten Abend der sieben oder acht Tage dauernden Reise ging ich mit einem Universitätsprofessor, seiner Frau und ein paar Studenten im Anschluss an die Veranstaltung in einen Kartoffelpub.
Ich erwähne diese alltäglichen Verrichtungen, weil die meisten überraschenden Vorfälle in unserem Leben gleichsam nebenbei passieren. Wir setzen nicht aus. Wir halten nicht inne. (Ich habe das Innehalten immer für eine eigentümliche, in Wahrheit kaum durchführbare Übung gehalten.) Wir bauen, was uns überrascht hat, in unser gewohntes Leben ein. Wir gehen unserer Arbeit nach. Wir funktionieren. Vielleicht ist es besser so. Auf diese Weise versuchen wir, der zerstörerischen Kraft unerwarteter Veränderungen aus dem Weg zu gehen. Dem Schock auszuweichen, jenen unzähligen kleinen und größeren Erschütterungen im Leben, die am Ende womöglich sogar der Kitt sind, der die anderen Geschehnisse, die harmloseren, alltäglichen, zusammenhält.
Jahrelang habe ich über das Vorkommnis nachgedacht. Hin und wieder unternahm ich den Versuch, darüber zu schreiben. Ich ermahnte mich, dass ich nicht noch mehr Zeit verlieren dürfe, wenn ich darüber schreiben wollte. Dass mir die Erinnerungen daran sonst abhandenkämen. Dann aber wurde mir klar, dass ich schon vieles nicht mehr wusste, ja an bestimmte Dinge hatte ich mich schon am nächsten Tag kaum mehr erinnert. Zum Beispiel daran, welche Worte zwischen der Frau und mir gefallen waren. Was hatten wir gesagt, wie lange hatte unser Gespräch an meinem Lesungstisch gedauert?
Andere, scheinbar unwesentliche Details hingegen sind mir bis heute sehr genau im Gedächtnis. Die Farbe ihrer Jacke (grün-schwarz), einer Wetterjacke, auf deren linken Ärmel ein Logo gestickt war, ein Reiter im Sprung. Dazu flache, praktische Schuhe (was ich vielleicht nur daraus schließen konnte, wie sie dagestanden hatte). Vielleicht lag es am Schreck, dass ich mehr als ihren Anblick das zurückbehalten habe: Sie hatte sich mir höflich genähert, fast zögerlich. Ihre freundliche Stimme sprudelte nicht drauflos. Und obwohl sie keine zierliche, zarte Person war und viel größer als ich, wich sie bei meiner Umarmung einen winzigen Moment zurück. Mit so viel Schwung hatte sie nicht gerechnet.
Vor allem scheint sich erst jetzt, mit dem Abstand von Jahren, in großer Klarheit zu zeigen, wie die Dinge, die in den Monaten und Jahren danach passiert sind, miteinander zusammenhängen. Erst jetzt kann ich mich zurückfallen lassen in jene Zeit, den Winter in Ohio, der der Anfang einer langen Phase war, in der ich unfähig wurde, etwas zu empfinden, zu denken und auf unbeschwerte Art zu leben, ja mir sogar die Sprache wegblieb, sodass ich mein Leiden einem Neurologen gegenüber nur mit den Worten beschreiben konnte, ich säße in einem schwarzen Loch, dem gewöhnlichsten aller Bilder, wenn man versucht zu erklären, dass man in einen ausweglosen Zustand geraten ist. (Tatsächlich schämte ich mich für den abgedroschenen Ausdruck mehr als für meinen Zustand.) Es waren Monate und Jahre, in denen sich alles zu verändern schien, meine Sicht auf die Welt, die Liebe, auf meinen Mann und meine Kinder.
Wobei mir das Wort »mein« in diesem Zusammenhang inzwischen anmaßend vorkommt.
An dem Abend im Dezember hatte ich keine Sekunde ans Schreiben gedacht. Ich verspürte nicht das Bedürfnis, irgendetwas von der Begegnung mit der fremden Frau zu notieren. Nachdem ich mich vom Leiter des Kulturhauses verabschiedet und das Restaurant verlassen hatte, ging ich durch die menschenleere Innenstadt, vorbei an den geschlossenen Geschäften. Im Gehen kramte ich nach meinem Telefon. Ohne zu zögern, wählte ich die Nummer meiner Schwester. Meiner richtigen, wie ich mir sagte. Sogleich überkam mich ein eigenartiges Gefühl. War es Schuld? Scham? Ich rief sie an, ohne dass ich darüber nachgedacht hätte. Ich tat es automatisch, oder anders – ich folgte einer absoluten Überzeugung, die besagte, dass es nur einen Menschen gab, den das, was an dem Abend passiert war, etwas anging: meine Schwester.
Aufgebracht schilderte ich, was vorgefallen war. Ich musste nicht sehr lange reden. Meine Schwester gab mir sofort recht. Wie absurd! Was für ein dreister Übergriff! Wir waren uns einig. Wir machten sogar ein paar Scherze, um der Situation das Ungeheuerliche zu nehmen. Ich war beruhigt.
Als ich das Telefon wieder verstaut hatte, begann es zu schneien, und mir fiel auf, dass ich meine Schwester schon sehr lange nicht mehr angerufen hatte. Fast war ich der fremden Frau dankbar. Ihr unerwarteter Auftritt hatte uns eine Möglichkeit gegeben zusammenzurücken. Unser monatelanges Schweigen, ihr Groll, all das schien mit einem Mal vergessen. Dank dieser Frau waren meine Schwester und ich uns plötzlich wieder nah.
Zurück in meinem Hotelzimmer, stellte ich den Fernseher an und ging ins Bad, wo ich zu weinen anfing. Ich habe später, wenn ich über die ganze Geschichte nachdachte, nie mehr so geweint wie an diesem Abend. Später machte ich mir Gedanken, ich wog die Dinge ab, forschte nach Ursachen, stellte rationale Überlegungen an. An diesem Abend aber stand ich in der Dusche, die Stirn an die Fliesen gelehnt, den Duschkopf an mich gepresst, und weinte.
Möglicherweise, sage ich mir jetzt, gab es für meine Tränen noch einen anderen Grund als nur den überraschenden Auftritt der Frau. Möglicherweise verbanden sich mehrere emotionale Zustände miteinander und verschafften sich auf diesem Wege Ausdruck: Ich hatte die kurze Lesereise dafür genutzt, die Milch in meiner Brust loszuwerden, mit der ich fast sieben Monate lang mein jüngeres Kind versorgt hatte. Bislang hatte ich es erlösend gefunden, dass das Kind so weit weg von mir war. So kamen wir beide nicht in Versuchung. Wenn das weiße Rinnsal im Abfluss irgendeines Waschbeckens oder einer Badewanne unter mir verschwand, hatte ich ohne Bedauern zugeschaut. An diesem Abend aber gab mir der Anblick der weggespülten Milch einen Stich. Ich wusste, dies war das letzte Mal, mein Auftrag war erfüllt. In ein paar Tagen wäre ich wieder wie vorher, ich würde aussehen, als wäre nichts geschehen. Die Mutter-Kind-Blase hätte sich für immer geteilt und würde fortan in Form zweier getrennter Blasen durch die Welt treiben.
Jetzt, nach all den Jahren, haben sich die beiden Ereignisse miteinander verknüpft. In dem Moment, in dem ich ein Familienmitglied von mir abtrennen wollte, war ein neues aufgetaucht. Ich kappte eine Verbindung, und im selben Augenblick wurde eine neue Verbindung hergestellt. Als sollte ein Ausgleich geschaffen werden. Eine Art Gerechtigkeit, verordnet von einer Instanz, die, wie ich mir hin und wieder ausmale, ausschließlich für eine solche Entschädigung zwischen den Erdenbewohnern zuständig ist.
Die wesentlichen Punkte dieser Geschichte sind mir erst später bewusst geworden.
Zum Beispiel: Ich hatte meiner Schwester nicht alles erzählt.
Bei unserem Telefonat hatte ich verschwiegen, dass ich der fremden Frau um den Hals gefallen war. Oder hatte ich es einfach nur unerwähnt gelassen? Gibt es einen Unterschied zwischen verschweigen und unerwähnt lassen?
Tatsache ist, ich habe nichts davon gesagt. Ich schämte mich für die Umarmung. Ich wunderte mich über mich selbst. Wieso hatte ich das getan? Es kam mir vor, als würde diese Geste etwas über mich verraten, was ich mir nicht einmal selbst eingestand.
Vielleicht dachte ich auch, meine Schwester wäre gekränkt, hätte ich ihr davon erzählt. Wann war ich ihr zum letzten Mal so um den Hals gefallen, spontan, einem blinden Impuls folgend und voller Emotionalität? Allerdings wusste ich nicht, ob sie so etwas überhaupt von mir erwartete. Wir beide haben überschwängliche Gefühlsbezeigungen immer als übertrieben abgetan.
Wie dem auch sei. Hätte ich ihr erzählt, dass ich die Frau – eine Fremde! – stürmisch umarmt hatte, hätte sich unser plötzliches Bündnis sofort wieder gelöst. Dieser kurze Augenblick, in dem wir, meine Schwester und ich, geschlossen einem gemeinsamen Feind gegenüberstanden, wäre vorbei gewesen, kaum dass er dagewesen war. Sie hätte mich als Überläuferin betrachtet, als Verräterin. Sie hatte es nicht ausgesprochen, aber etwas an ihrem Ton hatte mir klar zu verstehen gegeben, dass ich mich für eine Seite entscheiden musste. Oder vertraute ich einer Fremden etwa mehr als ihr?
Was sie darüber dachte, hatte sie gezeigt. Ihr Unwillen gegenüber diesem Eindringling, diesem Möchtegern-Familienmitglied, war deutlich zu spüren gewesen. Ihre entschiedene Abwehr. Unter keinen Umständen durfte man so etwas hinnehmen. Da könnte ja jeder kommen. Im Übrigen beruhte das alles ohnehin auf einer Verwechslung.
Meine Schwester, die Meisterin des Abstandhaltens. Ihre Entschlossenheit hatte mich erleichtert. Zumindest für den Moment. Was sie sagte, klang vernünftig. Während ich in den kleinen und größeren Katastrophen des Lebens jedes Mal zu versinken drohte, ließ sie die Dinge gar nicht erst an sich heran. Man durfte die Dinge nicht an sich heranlassen – das war die einzig richtige Einstellung. Damals wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen, dass es sich bei ihrer Reaktion nur um eine Strategie handelte. Eine Strategie, wie mit dieser ganzen Geschichte umzugehen war.
Genau wie mein Eintauchen darin, das ich »schreiben« nenne, eine Strategie ist.
»Im Übrigen beruhte das alles ohnehin auf einer Verwechslung.« Wie gern hätte ich es so gesehen, wie gern hätte ich geglaubt, es handle sich um eine Verwechslung, ein Missverständnis.
Die Wahrheit ist: Auf eine bestimmte, untergründige Weise hatte ich immer damit gerechnet, dass es passieren würde. Dass wir uns irgendwann begegnen würden, die fremde Frau und ich. Ich wusste es, wie man etwas Abstraktes weiß und dann doch gleichsam erschlagen ist, wenn es konkrete Gestalt annimmt. Ein schutzloses, in sein alltägliches Tierleben versunkenes Tier, war ich von der Erinnerung überfallen worden.
Es gibt, wie es scheint, in diesen Angelegenheiten fast immer ein Vorwissen, ungewusst gewusste Sätze, Ahnungen, die aus kurzen Bemerkungen, aus winzigen Mitteilungen entstehen, die einer Mutter, einer entfernten Cousine oder sonstwem entschlüpfen, hingeworfenen Brocken, die sich ihren Weg zielsicher bahnen und der eigentlichen Offenbarung vorausgehen. Wäre ich sonst auf eine Wildfremde zugestürzt, ohne dieses Wissen? Hätte ich sie nicht bezweifelt, die Ungeheuerlichkeit, wenn ich sie dort, an meinem Lesungstisch, wirklich zum ersten Mal vernommen hätte? In der Annahme, mich verhört zu haben, hätte ich die Frau verständnislos angesehen, anstatt ihr an den Hals zu fliegen.
Ich hatte gewusst, dass es da noch ein Kind gab. Ein Mädchen, das ein Jahr vor meiner Schwester und sechs Jahre vor mir zur Welt gekommen war, in einem Sommer am Ende der Sechzigerjahre. Ein Mädchen, von dem vielleicht nie jemand erfahren hätte, wäre meiner Mutter nicht einige Zeit nach ihrer ersten Entbindung zufällig ein Zettel in die Hände gefallen, der sie über die Existenz dieses anderen Kindes informierte. Um genau zu sein, handelte es sich um eine Quittung, ein amtliches Schreiben über gezahlte Alimente, das sie in der Jackentasche ihres Mannes gefunden hatte.
Sie las das Schreiben mehrmals aufmerksam durch. Dann faltete sie den Zettel wieder zusammen und wartete, dass ihr Mann von der Arbeit nach Hause kam (was hieß: in das Zimmer, in dem sie zu dritt zur Untermiete wohnten). Bevor sie ihn zur Rede stellte, hob sie ihr gemeinsames Kind aus dem Gitterbettchen und nahm es auf den Arm, als Schutzschild vielleicht, als Bollwerk oder Beweis, als Erinnerung für ihn. Meine Schwester, gerade ein Jahr alt, hatte stumm zwischen beiden hin und her geblickt, gespannt auf das, was nun folgen würde.
Wie sich herausstellte, war die Geschichte abgeschlossen, eine Zahlung von Alimenten nicht mehr nötig, die Aufregung umsonst: Das Kind, für das er die Vaterschaft übernommen hatte, war von der Mutter einige Wochen nach der Geburt zur Adoption freigegeben worden.
Die Geschichte ist meiner Mutter nicht versehentlich herausgeschlüpft. Sie hat sie uns erzählt. Wann? Ich erkundige mich bei meiner Schwester. Wann haben wir zum ersten Mal davon gehört?
Sie erinnert sich nicht. (Natürlich nicht. Habe ich wirklich damit gerechnet?)
Vielleicht ist es unwichtig. Vielleicht besagt es nichts, dass sich das Datum, der genaue Zeitpunkt, als ich von der Existenz einer anderen Schwester erfahren habe, nicht mehr bestimmen lässt. Fest steht, ich habe schon vor ihrem Auftauchen bei meiner Lesung von ihr gewusst.
Ein Großteil meines Lebens als Erwachsene fand zwischen diesen Polen statt, meiner jahrelangen Ruhe, mit der ich dieses Wissen hingenommen habe, und dem plötzlichen Ausbruch, dem Moment, in dem ich die Tragweite dieses Wissens vollends erkannte.
Das wird mir jetzt klar.
Was mir auch klar wird: Wir sind nicht immer aufnahmebereit für das, was uns betrifft. Ich meine das, was uns wirklich betrifft.
Zu jenem fernen, unbestimmbaren Zeitpunkt war ich nicht interessiert an der Enthüllung eines Familiengeheimnisses. Hielt ich es überhaupt für eines? Ich nehme an, ich habe auch das als Anekdote verbucht. Sämtliche Fragen, die das Thema Familie betrafen, sollten mich nichts angehen.
Ich entsinne mich meiner Gleichgültigkeit, einer gewissen Großzügigkeit, die ich dem Leben meiner Eltern damals entgegenbrachte. Zu ihrer Scheidung beglückwünschte ich sie. Während meine Schwester unter Tränen der Wut und Enttäuschung das Restaurant verließ, in dem sie uns ihren Entschluss verkündet hatten, sagte ich: Na endlich! Jede Art von Veränderung erschien mir begrüßenswert, außerdem, sagte ich mir, hätten mein Vater und meine Mutter nie sonderlich gut zueinander gepasst. Doch was weiß man von der Liebe, dem Leben seiner Eltern vor der eigenen Geburt, diesem undurchdringlichen Raum, dem Vorzimmer zum eigenen Leben.
Zu der Zeit lebte ich in einem beständigen Hochgefühl. An der Universität hatte ich einen jungen Mann kennengelernt. Wir trafen uns jeden Vormittag in der Cafeteria, wir redeten über Charles Baudelaire und Chet Baker, über Peter Handke und Jackie Chan. Abends fuhren wir mit seinem Auto, einem braunen VW Jetta, durch die Landschaft. In der Dämmerung flogen Fasane vor uns auf. Als ich das Fenster herunterkurbelte, brach die Kurbel ab. Den ganzen Sommer über fuhren wir so, mit halb heruntergelassenem Fenster. In den Nächten schliefen wir auf dem Balkon, und wenn ich morgens aufwachte, lag er immer noch neben mir, dieser Mann, von dem ich noch nicht wusste, dass er einmal mein Mann sein würde. Ich war wie berauscht zu jener Zeit, ich rannte und lief und dachte: Das ist mein Leben! Ich ging über die Brücken der Stadt, unter mir der dunkle Fluss. Meine Turnschuhe waren mit Kugelschreiber bemalt. Der Schnitt der Kleider, die ich trug, hieß Babydoll. Wir würden zusammen für ein Jahr nach Frankreich gehen (was mir vorkam wie für immer). Der Gedanke ans Weggehen, daran, alles hinter sich zu lassen, erfüllte mich mit einer solchen Begeisterung, dass ich es allen anderen auch empfahl – geh und mach für immer die Tür hinter dir zu!
Damals kam es nur darauf an.
Worauf es noch ankam: unter sieben Stunden zu bleiben, wenn ich von Marseille zu ihm nach Paris trampte.
Es kam darauf an, mit möglichst wenigen Autos ans Ziel zu gelangen.
Es kam darauf an, die gefährlichen Fahrer zu unterscheiden von den ungefährlichen, den durchschaubaren (die einem nur eine Hand aufs Knie legten).
Es kam darauf an, es rechtzeitig zum vereinbarten Treffpunkt zu schaffen, sechzehn Uhr am Springbrunnen vor dem Centre Georges Pompidou.
Ich erinnere mich, dass ich mir für diese Touren jedes Mal einen Rock anzog. Auf diese Weise hoffte ich, die Autofahrer zum Anhalten zu bewegen.
Ich erinnere mich, dass ich die Fahrten auch damit zubrachte, an einer Täter-Opfer-Theorie zu werkeln. Heißhungrig und zugleich kaltblütig wartete ich darauf, dass etwas passierte. Ich sage bewusst nicht: dass mir etwas zustoßen würde.
Einmal, nachdem mir klar geworden war, dass ich auf der falschen Seite der Autobahn stand, kletterte ich morgens, es war noch dunkel, mit meiner Reisetasche über eine kleine Mauer, die zwischen den Fahrbahnstreifen der Autobahn verlief. Als ich von der Mauer sprang, rutschte mein Notizbuch aus der Jackentasche und landete auf der Fahrbahn. Einen Augenblick lang stand ich da, starr, im Morgengrauen auf der Autobahn. Ich überlegte kurz, dann warf ich meine Tasche, so weit ich konnte, voraus, griff das Notizbuch und rannte hinüber zum anderen Straßenrand.
Vor Lyon lief ich durch einen kilometerlangen Autobahntunnel und dachte: Niemand weiß davon. Nur diesen Satz, den ich wie ein Mantra vor mich hin sprach, während ich auf das buchstäbliche Licht am Ende des Tunnels zustapfte, eng an die Betonwand gepresst, um den hupenden Lkws zu entgehen, die mich um Haaresbreite streiften.
Für eine Weile war es mir tatsächlich gelungen, so zu tun, als gäbe es nichts, was mich festband oder einschloss. Wie ein Kind, das sich die Hände auf die Ohren legt und laut singt, um nicht hören, ja nichts wahrnehmen zu müssen.
Für eine Weile war es möglich gewesen, ohne Ursprung oder Herkunft zu leben.
Ohne Familie.
So ein Rausch hält nicht lange an. Irgendwann ist es zu Ende. Man selbst bereitet all dem ein Ende. Aber bevor es so weit ist, kann es vorkommen, dass man rennt und glaubt, die Brücke unter einem hört nicht auf, das dunkle Wasser funkelt ewig.
Jede Familie lässt sich einer geometrischen Form zuordnen. Manche gleichen ihrem Wesen nach einem Dreieck, andere eher einem Kreis, einem Vieleck oder einem Stern. Es gibt übersichtliche Formen wie zwei eng aneinandergeschmiegte Punkte, beschützende, seltsam verquere und solche, die für die Mitglieder ein Gefängnis darstellen.
Ein Freund, dessen ältester Sohn im Sommer bei einem Fahrradunfall tödlich verunglückt ist, sagt zu mir: Jetzt sind wir nur noch zu dritt. Er spricht von einer extremen Schieflage, die durch den Tod seines Sohnes entstanden sei. Ein Stützpfeiler, der dem Ganzen Stabilität verliehen habe, sei gewaltsam weggeschlagen worden. Er betont, wie anfällig und fragil das Familiengebilde dadurch geworden sei. Sehr ruhig spricht er davon. Das Viereck habe eine Logik besessen, das Dreieck hingegen werde ihm immer wie etwas Dürftiges vorkommen. Eine für alle Zukunft ungenügende Form.
Was meinen Fall anging, so hatte ich keine Todesnachricht erhalten. Bei mir handelte es sich um Zuwachs, nicht um einen schrecklichen Verlust. Trotzdem war es eine Art Verschiebung. Etwas an dem gewohnten Bild stimmte nicht mehr.
Ich erinnere mich, dass meine Verwirrung zuallererst damit zu tun hatte. Mein Unbehagen angesichts eines zusätzlichen Familienmitglieds betraf die Geometrie. Bislang hatte die Familie, aus der ich kam, einem Quadrat geglichen. (Obwohl in dem überschaubaren Wohnzimmer bei uns zu Hause immer ein runder Esstisch gestanden hatte.) Einem recht großen Quadrat, die Ecken weit voneinander entfernt, aber noch in Sichtweite.
Dieses Bild gab es mit einem Mal nicht mehr. Ein Bild, das selbst dann noch bestanden hatte, als mir längst klar geworden war, dass es der begrenzten, nebelhaften Zeit meiner Kindheit entstammte. Weder die Tatsache, dass meine Schwester früh das Haus verlassen und später mit ihrem Mann und den Kindern weit weg gewohnt hatte, noch dass ich ins Internat gegangen und kurz darauf ebenfalls bei meinen Eltern ausgezogen war, hatte ihm etwas anhaben können. Ja nicht einmal der Umstand, dass meine Eltern sich getrennt hatten und alles wie bei einer lautlosen Explosion auseinanderriss, die Einzelteile in unterschiedliche Richtungen davongetragen wurden. All diese Dinge hatten meine Vorstellung nicht gestört.
Erst mit ihr, der fremden Frau, verschwand das Bild eines stabilen Quadrates. In dem Augenblick, als sie an meinen Tisch getreten war, wurde aus der sauberen geometrischen Form ein struppiges Gewächs.
In gewisser Weise ist es typisch, dass ausgerechnet das, was am weitesten zurücklag – etwas, das noch vor dem Beginn meines Lebens stattgefunden hatte –, die Macht besaß, an diesem Bild zu rütteln. Man schlägt in Psychologiebüchern nach und weiß, dass es so ist. Man weiß Bescheid über das Fortbestehen gewisser familiärer Themen, über ihre Beständigkeit. Dass gerade die prähistorischen Dinge – und ist nicht der Lebenslauf eines jeden Menschen eine Historie? – eine lange Wirkungszeit haben. Aber dieses Wissen ändert nichts daran, dass sie erst viel später, zu einem anderen Zeitpunkt, wirklich eine Rolle spielen.
Es heißt, solange man die Geschichte seiner Eltern nicht kennt, kennt man sich selbst nicht.
Zwei oder drei Wochen nach der Begegnung mit der Frau, um die Weihnachtszeit herum, als unser Vater uns den Hergang der Schwesternsache schilderte, erinnerte ich mich an das, was ich schon einmal darüber gewusst hatte. Ich erkannte Bruchstücke wieder (vorausgesetzt, ich hatte darüber jemals mehr als Bruchstücke gewusst) und fragte mich, wie ich sie hatte vergessen können. Auf welchem Wege geht einem das Wesentliche verloren, und warum?
Mein Vater schilderte uns, wie es sich zugetragen hatte. Etwas, das über vierzig Jahre zurücklag.
Wir trafen uns zu dem Gespräch in der Wohnung meiner Schwester, in die sie nach ihrer Scheidung gezogen war. Ich erinnere mich, dass ich an jenem Tag dachte, es sind die Apartments der Frauen, übersichtlich und geschmackvoll, die nach den Ehen kommen, nach dem Zusammenleben der Familie, wenn die Kinder aus dem Haus, das Spielzeug und die Hamsterkäfige entsorgt und die langen polierten Küchenzeilen gegen kleine praktische Ecklösungen eingetauscht worden sind. Ein Apartment, das eines Tages auch mir bestimmt sein würde. Ich weiß nicht mehr, ob der Gedanke an jenem Tag erleichternd oder beängstigend war.
Während unser Vater erzählte, saß meine Schwester skeptisch da, die Arme verschränkt, das rötliche Haar, sonst offen, war straff im Nacken zusammengebunden. Kurz schaute sie zu mir herüber, ein durchdringender und zugleich rätselhafter Blick, wie so oft bei ihr. Sie hatte sich bereit erklärt, uns zu empfangen, sie hatte sich entschlossen zuzuhören, bitte sehr, aber sie würde wegen dieser Sache kein Fass aufmachen, so viel stand fest.
Und hatte sie nicht recht mit dieser Haltung? Was ging sie uns eigentlich an, diese Geschichte, in der ein sehr junger Mann, der gerade Unteroffizier geworden war, hin und wieder bei einer Frau, geschieden und deutlich älter als er, einkehrt? Hin und wieder – das hieß nach den damaligen Ausgangsregelungen für junge Offiziere: ein- bis zweimal im Monat. Mit dem Motorrad war es nicht weit von der Division bis zu ihrem Haus. Er wusste, er war nicht der Einzige. Die Frau war bekannt bei den Männern des Stützpunktes, vielleicht auch bei denen im Ort. In ihrer Küche stand eine Badewanne. Während ihre Besucher badeten, machte sie ihnen am Herd ein Essen warm. Die Männer kamen vorbei, nahmen ein Bad, aßen sich satt. Sie entspannten sich. Vielleicht dachten sie in diesen Momenten an ihre Kindheit, an die Behaglichkeit eines Zuhauses. Die Besuche blieben auf ein paar Stunden beschränkt, höchstens eine halbe Nacht.