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Markus Franck ist Einkäufer in einem Großkaufhaus, verheiratet mit der hübschen Leona und Vater zweier entzückender Kinder. Leona ist vielleicht etwas konservativ, aber das trübt das bürgerliche Glück zunächst nicht. Wenn da nicht die attraktive und weltgewandte Direktrice Aline van Dam wäre, die das Leben von Markus vollkommen durcheinanderbringt. Leonas Freundin Jo ist beruflich sehr erfolgreich. Sie ist mit Dr. Armin Renner, Assistenzarzt in einer Privatklinik, verheiratet, der unter der Überlegenheit seiner Frau sehr leidet. Da tritt die blutjunge Studentin Vreny in sein Leben; Armins Herz steht in Flammen. Die beiden Freundinnen Leona und Jo beschließen, um ihr Glück zu kämpfen.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-
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Seitenzahl: 287
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Marie Louise Fischer
Roman
Saga Egmont
Mit der Liebe spielt man nicht
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1974 by Bertelsmann Verlag, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711719077
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com
Der Abend hatte so wunderbar begonnen.
Natürlich hatte es die übliche Aufregung gegeben, bevor Leona und Markus Franck endlich die Wohnung verlassen, ins Auto steigen und in Richtung City fahren konnten; Urs hatte ein Glas mit Tomatensaft umgestoßen und sich den Schlafanzug von oben bis unten bekleckert, die Babysitterin war erst im letzten Augenblick gekommen, und der Reißverschluss am Rücken von Leonas kleinem Schwarzen hatte sich beim Zuziehen verklemmt.
Leona war nervös und nervöser geworden, und rote Flecken hatten sich auf ihren hohen Wangenknochen gebildet, während Markus, tipptopp angezogen wie immer in dunkelgrauem Anzug, blütenweißem Hemd und silbergrauer Krawatte und längst zum Ausgehen bereit, mit einer fast unbeteiligten Gelassenheit in der kleinen Diele gewartet hatte.
Nur ein einzigesmal hatte er seine Manschette zurückgeschoben und einen Blick auf das Zifferblatt seiner goldenen Automatic geworfen. »Wenn du jetzt nicht kommst, schaffen wir es nicht mehr«, hatte er gesagt.
Aber gerade da war Leona fertig gewesen, hatte Urs und Tina einen letzten Kuss, Celia, der Babysitterin, die letzten Anweisungen gegeben und war, atemlos, die braunen, fast schwarzen Augen leuchtend vor Erwartung, aus dem Kinderzimmer gestürzt. »Ich bin’s!« rief sie und ließ sich von ihrem Mann in den schwarzen pelzbesetzten Mantel helfen, während sie schon nach Handtasche und Handschuhen griff, die sie sich vor dem Garderobenspiegel zurechtgelegt hatte.
Ja, es war eine Hetze gewesen, aber sie hatte sie trotz allem genossen, denn das Wichtigste war doch, dass es heute zu dem seit langem geplanten Theaterbesuch gekommen war: Markus hatte Zeit und Lust gehabt, sie hatten die Karten, Celia hatte versprochen, sich um die Kinder zu kümmern, und weder Urs noch Tina war im letzten Moment krank geworden. Das war für Leona Grund genug, glücklich zu sein; denn seit Urs, der Vierjährige, auf die Welt gekommen war, hatte sie nicht mehr oft Gelegenheit gehabt auszugehen. Dazu kam, dass Markus Karriere gemacht hatte.
Er war Einkäufer im Kaufhaus Lassmann in der Bahnhofstraße geworden. Das bedeutete einen guten Verdienst, aber auch, dass er häufig auf Reisen war und, wenn er in Zürich weilte, allzuoft Unterlagen und Abrechnungen mit nach Hause brachte, um sie abends zu erledigen.
Leona beklagte sich nicht. Sie war glücklich mit ihren Kindern und hatte Verständnis dafür, dass ihrem Mann der Beruf fast wichtiger war als die Familie. Aber gerade deshalb genoss sie es, dass heute abend einmal alles anders war, fast wie in jener Zeit vor ihrer Ehe, wo sie sich so häufig wie möglich getroffen hatten und miteinander ausgegangen waren, meist ins Kino, aber manchmal auch ins Schauspielhaus wie heute oder ins Konzert. Damals war sie noch Verkäuferin bei ›Jelmoli‹ gewesen und er ein ehrgeiziger junger Substitut.
Wie in alten Zeiten tastete sie nach seiner Hand, als sie ihre Plätze, - zwölfte Reihe Parkett, ziemlich an der Seite, im Schauspielhaus eingenommen hatten und es im Zuschauerraum dunkel wurde. Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch.
Es war eine englische Gesellschaftskomödie, die gegeben wurde, und das Bühnenbild stellte das Frühstückszimmer in einem britischen Landhaus in der Mitte des vorigen Jahrhunderts dar. Während die Lords und Ladys, die Counts und Honorables nacheinander hereinkamen, sich an dem großen Buffet bedienten, mit- und übereinander Bemerkungen austauschten und wieder hinausspazierten, entwickelte sich die Intrige der Handlung. Der Dialog glitzerte und funkelte, ein geistreiches Bonmot jagte das andere und wurde von dankbarem Gelächter aus dem Publikum belohnt. Auch Leona genoss den intelligenten Spaß aus vollem Herzen, aber irgendwann - sie hätte den Zeitpunkt auch später nicht bestimmen können, denn sie merkte gar nicht, dass es geschah - begannen ihre Gedanken abzugleiten. Das Bild ihrer eher gemütlich als supermodern eingerichteten Neubauwohnung im Oberstrassquartier schob sich ihr vor die aufwendige Szenerie vorn auf der Bühne. Tina und Urs schliefen jetzt sicher schon. Aber schliefen sie wirklich? Tina hatte sehr gut gegessen, aber sie hatte einen empfindlichen Magen, und sie war aufgeregt gewesen, weil die Eltern sich feingemacht hatten und ausgegangen waren. Sie war zwar erst zwei Jahre alt und konnte sich noch nichts unter einem Theaterbesuch vorstellen. Aber dass etwas Ungewöhnliches im Gange war, hatte sie natürlich doch gemerkt.
Was war, wenn sie spucken musste? Das passierte bei ihr gar nicht so selten. Würde Celia so schlau sein, sie lauwarm abzuwaschen und ihr ein neues Hemdchen anzuziehen? Würde sie im Stande sein, frisches Bettzeug herauszusuchen?
Celia war ein nettes, verlässliches Mädchen, aber mit ihren vierzehn Jahren eigentlich doch noch ein Kind. War es nicht leichtsinnig gewesen, ihr Urs und Tina anzuvertrauen?
Leona versuchte, ihre sorgenvollen Gedanken abzuschütteln, sich einzureden, dass sie Hirngespinste wären, aber es gelang ihr nicht. Sie sah Tina förmlich vor sich, wie sie, hilflos und beschmutzt, mit verklebtem Haar in ihrem Bettchen lag. Konnte es nicht sogar passieren, dass ein Kind an seinem eigenen Erbrochenen erstickte?
Mit aller Kraft kämpfte sie gegen den Impuls, aufzuspringen, sich aus der Reihe zu drängen und nach Hause zu eilen.
Es war ja noch Urs da, sagte sie sich, Urs würde auf die kleine Schwester aufpassen. Er hatte einen leichten Schlaf und würde bestimmt aufwachen, wenn etwas mit Tina nicht in Ordnung war. Erst vor drei Tagen war er nachts durch die Wohnung gegeistert, und sie hatte ihn einfangen und wieder ins Bett stecken müssen.
Der Gedanke an ihren Sohn beruhigte Leona nur für Sekunden. Dann verdrängten neue, schreckliche Visionen das Bild der um Luft ringenden Tina: Urs, wie er auf den weißen Hocker stieg und versuchte, das Fach mit den Medikamenten im Badezimmerschrank zu öffnen - hatte sie es auch wirklich abgeschlossen? Urs, wie er die Flasche mit einem flüssigen Reinigungsmittel an die Lippen setzte, um seinen Durst zu stillen. Urs, wie er sich weit aus dem Fenster beugte und auf der Straße nach seinen Eltern Ausschau hielt, während Celia bei allem vor dem Fernseher saß und nichts von dem, was die ihr anvertrauten Kinder bedrohte, sah oder hörte.
Oben auf der Bühne polterte Gustav Knuth in der Rolle eines viktorianischen Landedelmanns eine besonders komische Bemerkung hervor, die im Publikum helles Gelächter auslöste. Auch Markus lachte herzlich, und unwillkürlich blickte er seine Frau an, um das Erlebnis mit ihr zu teilen. »Das war gut, wie?«
Aber Leona hatte den Spaß gar nicht mitbekommen. Sie zwang sich, sein Lächeln zu erwidern, doch es war leer wie das einer Maske.
Als sich der Vorhang nach dem ersten Akt zur großen Pause zusammenschloss, sprang Jo Renner auf, lehnte sich über die samtbezogene Brüstung im dritten Rang und klatschte frenetisch. Als die Schauspieler sich, Hand in Hand hervortretend, verneigten, schrie sie ihnen sogar ein lautes »Bravo!« zu.
»Bitte, Jo, übertreib nicht so!« mahnte Armin Renner, ihr Mann.
Sie blickte ganz erstaunt zu ihm auf. »Hat es dir denn etwa nicht gefallen?«
»Doch. Aber das ist doch kein Grund, sich so aufzuführen.«
»Ich freue mich doch nur.«
»Von mir aus. Aber leise.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, denn er war einen guten Kopf größer als sie, und brachte ihm mit einer flinken Bewegung das braune, glatt zurückgebürstete Haar in Unordnung. »Sei doch kein Spielverderber, Armin!«
»Sehr witzig!« Mit beiden Händen war er bemüht, seine Frisur, die seine hohe Stirn mit den ausgeprägten Geheimratsecken betonte, in Ordnung zu bringen.
Sie kümmerte sich schon nicht mehr um ihn, sondern lehnte sich abermals über die Brüstung. »Du, guck mal. Leona und Markus sind auch da!« Sie winkte, um die Aufmerksamkeit der Freundin auf sich zu ziehen, und hätte gern ›Huhu‹ gerufen.
Er schien etwas Ähnliches zu befürchten, denn er packte sie fest beim Arm und zog sie zurück. »Nun komm schon, Jo. Wir treffen sie bestimmt unten im Foyer.«
So war es auch. Leona und Jo entdeckten sich fast gleichzeitig.
»Das sind Jo und Armin«, sagte Leona zu ihrem Mann.
»Auch das noch!«
»Was du nur gegen sie hast! Sie sind doch sehr lieb.«
»Ich mag es bloß nicht, dass ihr dauernd zusammenhockt.« Leona hätte ihm entgegnen können, dass Jo Renner, die im selben Haus wie sie selber in Oberstrass wohnte, oft außer den Kindern die einzige Gesellschaft für sie bildete, wenn er tagelang unterwegs war. Aber sie unterdrückte diese Bemerkung, die Markus als Beschwerde hätte auffassen können. »Sei nett zu ihnen!« bat sie nur.
Jo, ein zierliches, schmales Persönchen in einem karminroten Abendanzug, kam auf sie zugewirbelt. »Du Schlange!« rief sie statt jeder Begrüßung. »Du hast mir mit keinem Wort verraten, dass du auch heute abend hier sein würdest!«
Leona zeigte sich nicht gekränkt, denn sie wusste, dass Jo es nicht böse meinte. »Ich habe mich nicht getraut«, gestand sie. Markus, der inzwischen Armin begrüßt hatte, runzelte die Stirn. »Willst du damit etwa andeuten, dass ich dir nicht erlaubt hätte…«
Jo schüttelte lachend ihren blonden Lockenkopf. »Oh, Himmel, was seid ihr Männer altmodisch! Bildet ihr euch etwa allen Ernstes ein, ihr könntet uns noch was verbieten!?«
»Nein, so war es nicht«, versuchte gleichzeitig Leona in ihrer ernsten Art zu erklären, »sondern… wir haben doch schon so oft etwas geplant, und immer wieder ist was dazwischengekommen! Da wollte ich es einfach nicht… berufen.«
»Schon gut, schon gut«, sagte Jo großzügig, »es sei dir verziehen.«
Die beiden jungen, fast gleichaltrigen und doch so verschiedenen Frauen kannten sich gut. Sie hatten sich in einer Zeit einander angeschlossen, als sie sich, Leona aus dem Engadin und Jo aus Hamburg kommend, beide noch fremd in Zürich gefühlt hatten. Ihre Männer, Züricher von Geburt, die einander recht gut leiden konnten, sahen diese Freundschaft nicht allzu gern, weil sie fürchteten, dadurch in den Mittelpunkt allzu intimer Gespräche zu rücken.
»Hauptsache, dass wir uns doch noch getroffen haben!« meinte Jo. »Ist das nicht wieder mal eine herrliche Inszenierung? Und dieser Gustav Knuth… der ist doch einfach Zucker!«
Es ergab sich ganz zwangsläufig, dass sie beieinander stehen blieben und über das Stück, die Aufführung und die Schauspieler sprachen. Leona, die ihre Beklemmung inzwischen überwunden hatte, hielt sich dabei zurück, denn sie hatte nur die Hälfte mitbekommen. Es wäre ihr lieber gewesen, sie hätte, bei Markus eingehängt, weiter mit ihm flanieren dürfen. Sie hatten ihn selten genug für sich allein und war stolz, sich an seiner Seite zeigen zu dürfen. Er sah blendend aus, blond und breitschultrig, mit dem gut geschnittenen, von Höhensonne gebräunten Gesicht, in dem die blauen Augen besonders hell wirkten. Mit ihrem eigenen Aussehen war sie nicht so zufrieden. Die Locken, die sie sich am Nachmittag ausnahmsweise vom Friseur - Coiffeur, wie man in Zürich zu sagen pflegt - hatte legen lassen, hatten sich, da sie bei der Hetze des Aufbruchs ins Schwitzen geraten war, schon wieder aufgelöst, und das braune Haar fiel ihr, wie gewöhnlich, ziemlich kunstlos über die Schultern. Noch schlimmer aber war, dass sie ein paar Kilo zu viel wog, was sich besonders um die Hüften herum bemerkbar machte, wo sich ihr Kleid, trotz des Halters, spannte. Und doch, an der Seite ihres gut aussehenden Mannes wirkte auch sie, fand sie, ganz passabel.
»Was habt ihr nach dem Theater vor?« fragte Jo, und ohne eine Antwort abzuwarten fügte sie gleich hinzu: »Wollen wir nicht noch etwas unternehmen? Vielleicht ein Gläsli zusammen trinken?«
»Zu Hause?« fragte Leona.
»Ach was. Da hocken wir doch dauernd.«
»Das kann ich eigentlich nicht behaupten«, widersprach Armin, »du bist doch, im Gegenteil, mindestens an vier Abenden in der Woche unterwegs.«
»Erstens ist das maßlos übertrieben, und zweitens meine ich nicht mich, sondern Leona, du Dummer!« Jo gab ihm einen leichten Nasenstüber und wandte sich wieder der Freundin zu. »Wirklich, Liebes, da du dich ausnahmsweise mal aus deiner Höhle herausgewagt hast, sollten wir nicht gleich nach Hause fahren. Ich kenne da eine süße alte Weinstube am Limmatquai… nur fünf Minuten zu Fuß von hier…«
»Nein, danke, wirklich nicht!« unterbrach Leona sie. »Das heißt, ich möchte ja zu gerne… aber es geht nicht. Wegen der Kinder.«
»Aber du hast doch bestimmt einen Babysitter!«
»Celia, ja. Aber ich habe ihr versprochen, gleich nach dem Theater nach Hause zu kommen.«
Jo tat diesen Einwand ab. »Ach, rufen wir einfach von unterwegs aus an!«
»Nein, Jo«, widersprach Leona sanft, doch entschlossen, »das geht nicht. Wenn ich so etwas einmal mit ihr mache, kommt sie nie wieder.«
»Ach, was! Gibst ihr eben ein paar Franken mehr!«
»Sie ist ja selber noch ein Kind und gehört ins Bett.«
»Dann kann sie sich doch bei euch hinlegen.«
»Nein, Jo, ich weiß, du meinst es gut, aber ich… ich hätte einfach keine Ruhe.«
»Herrje!« rief Jo mit bewusst übertriebener Entrüstung. »Was bist du bloß für ein dickköpfiges, verbohrtes Wesen! Aber wie schon der alte Karl May sagte: Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, aber manchmal auch seine Hölle. Warum redest du ihr nicht zu, Markus?« Er lächelte auf sie herab. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du uns gerade eben doch zu verstehen gegeben, dass wir Ehemänner euch nichts mehr zu erlauben oder zu verbieten haben.«
»Aber du könntest doch bitten!«
»Hört, hört!« sagte Armin. »Da hast du die ganze Jo!«
Sie plauderten, bis das Pausenzeichen zum zweitenmal ertönte und sie sich trennten, um sich auf ihre Plätze zu begeben.
»Tut es dir leid, Markus?« fragte Leona und legte ihre Hand auf seinen Arm.
»Was?«
»Dass wir nicht mit den anderen ausgehen können.«
»Das bin ich doch schließlich mittlerweile gewöhnt.«
Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. »Wenn du wirklich möchtest…«
»Nein, nein, lass nur!« wehrte er ab. »Keine Aufopferung! Und um die Wahrheit zu sagen: Ich werde froh sein, wenn ich im Bett liege. Morgen habe ich einen schweren Tag. Der Montag ist immer besonders schlimm.«
Leona atmete auf; der Schatten, der sich über ihre Welt gelegt hatte, schien schon wieder gewichen.
»Eigentlich bin ich ganz froh, dass die Francks nicht mitkommen«, erklärte Jo, als ihr Armin nach Theaterschluss in das Samtcape half, »ich hätt’s Leona, der Armen, ja gegönnt, aber zu zweit ist es doch netter.« Sie musterte im hohen Spiegel wohlgefällig ihr kleines Gesicht, in dem die Augen durch ein starkes Augen-Make-up - blaue Lidschatten, silbern aufgehellt unter den Brauen, schwarze, sanft gebogene falsche Wimpern - riesig groß wirkten, und schob sich eine widerspenstige Locke zurecht. »Gehen wir tanzen, ja? Und sag mir bloß nicht, dass du keine Lust hast! Wenn ich warten wollte, bist du die hättest, könnte ich alt und grau werden!«
Er war in den hellen Regenmantel geschlüpft und betrachtete sie durch die Gläser seiner Hornbrille mit dem sachlichen Interesse eines Gelehrten, der ein Insekt unter dem Mikroskop betrachtet. »Du hast also über den weiteren Verlauf des Abends bereits entschieden«, stellte er fest.
Sie wirbelte mit einer raschen Drehung zu ihm herum und strahlte ihn entwaffnend an. »Ja, wenn du nichts dagegen hast! Da es mir mal gelungen ist, dich hinter deinen Büchern hervorzulocken, will ich auch was von dir haben.« Sie hängte sich bei ihm ein, und nebeneinander ließen sie sich von dem hinausströmenden Publikum auf die Rämisstraße schieben.
»Ich muss arbeiten, wenn ich weiterkommen will«, entgegnete er, »schließlich will ich dir nicht ewig auf der Tasche liegen.«
»Du brauchst dich nicht zu verteidigen, Schatz! Ich mache dir ja gar keinen Vorwurf!« Draußen war die Luft herbstlich kühl, und unwillkürlich schritten beide kräftig aus, wobei Jo, obwohl sie auf ihren hohen Absätzen und den Plateausohlen Mühe hatte, das Tempo ihres Mannes einzuhalten, ihn doch entschlossen dem vorgefassten Ziel entgegensteuerte, der Diskothek ›Big Man‹, die, kaum fünfthundert Meter entfernt, im Souterrain eines Eckhauses lag.
Noch einmal versuchte Dr. Renner sich zur Wehr zu setzen. »Hier hinein?« fragte er und musterte stirnrunzelnd das erleuchtete Türschild. »Du musst verrückt sein! Das ist doch etwas für ganz junge Leute!«
Sie lachte unbekümmert. »Na eben. Wir sind doch noch jung!« Sie zog ihn über die Schwelle. »Nun hab dich nicht so! In einer knappen Stunde ist ja sowieso Feierabend!«
Hinter einem schweren Vorhang ging es ein paar Stufen hinunter, und dann kamen sie in einen großen rot beleuchteten und verrauchten Raum, in dem sich, im ersten Augenblick nur schattenhaft zu erkennen, allerhand junges Volk auf der Tanzfläche tummelte, die den größten Teil des Lokales einnahm. Es gab nicht mehr als fünf Tische, die, wie Jo mit einem Blick feststellte, alle besetzt waren, und so steuerte sie auf die Bar zu, schlüpfte aus ihrem Cape und schwang sich auf einen der Hocker.
»Zwei Ginfizz«, bestellte sie beim Barkeeper, einem mageren jungen Mann, und schenkte ihm, nur mal zur Probe, einen verführerischen Blick unter ihren langen Wimpern her. »Zieh doch deinen Mantel aus, Armin!«
»Wozu?«
»Er wird dich beim Tanzen stören!«
»Ich denke nicht daran, zu tanzen.«
»Das sieht dir mal wieder ähnlich!« Ihre gute Laune geriet ins Wanken. »Du musst mir ja jeden Spaß verderben!«
»Es war nicht meine Idee, hierher zu kommen!«
Sekundenlang sahen sie sich mit offener Feindschaft an.
Dann lachte Jo auf. »Ach was, ich lasse mich nicht von dir ärgern! Ich werde schon einen anderen Tänzer finden!« Sie kippte den Inhalt ihres Glases, das ihr der Keeper zugeschoben hatte, zur Hälfte hinunter und sah sich im Raum um.
Der Diskjockey, ein bärtiger Mensch, die dicken Kopfhörer auf den Ohren, saß in seinem gläsernen Kasten gegenüber der Bar. Aus den Lautsprechern drang ein früher Rock ’n’ Roll, der gerade wieder modern geworden war; dazu wurde aber ziemlich zahm getanzt. Das Publikum, vorwiegend junge Leute um die zwanzig und jünger, war zwanglos gekleidet; Mädchen und Jungen trugen Jeans, Cordhosen, Pullis.
Jo war sich bewusst, dass sie in ihrem eleganten Abendkleid aus dem Rahmen fiel und dementsprechend auffallen musste. Aber das störte sie, im Gegensatz zu Armin, der sich denkbar unbehaglich fühlte, nicht im Geringsten. Sie nahm einen schlaksigen Jungen aufs Korn, der, die Hände in den Taschen, verdrossen auf das Gewühl starrte, und es dauerte nicht lange, bis er verstand, sich von der Wand löste und auf die Bar zukam.
Sofort rutschte Jo vom Hocker. »Du hast doch nichts dagegen, Armin«, sagte sie, und es klang wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage.
Tatsächlich hatte er sehr viel dagegen. Zwar war er nicht eifersüchtig, denn er wusste wohl, dass Jo, wenn überhaupt, nur einen Flirt im Sinn hatte.
Sie wollte tanzen, und also tat sie es, ohne auf ihn und seine Wünsche Rücksicht zu nehmen. Gerade das war es, was ihn ärgerte. Er fühlte sich überflüssig, abgehalftert, beiseite geschoben und lächerlich gemacht.
Wütend leerte er sein Glas und bestellte einen neuen Drink. Schon erwog er, zu zahlen und zu gehen. Das wäre eine Lösung gewesen. Nur hätte er seiner Frau damit auf keinen Fall imponieren können, das wusste er aus Erfahrung. Er verfluchte sich, dass er sich hierher hatte verschleppen lassen.
Dann sah er das Mädchen. Sie fiel ihm sofort auf, weil sie einen kurzen Rock trug. Das silberblonde Haar fiel ihr ganz glatt und seidig auf die Schultern. Sie kam vom Waschraum her, nahm im Vorbeigehen ihren Mantel vom Stuhl und steuerte dicht an Dr. Renner vorbei zum Ausgang. Ihr Augen, große, grüne Augen, waren von Tränen gerötet.
Er begriff sofort: Entweder hatte sie sich mit ihrem Freund gestritten oder er hatte sie versetzt.
»Gehen Sie noch nicht«, bat er mit einer Impulsivität, die sonst gar nicht seine Art war.
Sie blickte ihn verblüfft an, blieb aber stehen.
»Trinken Sie einen Schluck mit mir, das wird Ihnen gut tun.« »Eigentlich möchte ich lieber nicht«, sagte sie unentschlossen. »Aber uneigentlich werden Sie tun, was ich Ihnen sage! Ich bin Arzt, und ich weiß, was Sie jetzt brauchen… einen guten, starken Whisky mit Eis!« Er gab dem Keeper die Bestellung und nannte seinen Namen.
»Ich heiße Vreny Ochs«, sagte das Mädchen.
Jo sah die beiden, aber sie dachte nicht daran, zu ihrem Mann zurückzukehren.
Das Haus im Stadtteil Oberstrass, in dem das Ehepaar Franck mit seinen Kindern wohnte, lag in der Blümlisalpstraße, ein modernes, solides Gebäude mit acht Stockwerken. Für die Miete musste Markus etwa die Hälfte seines Verdienstes aufbringen, aber das war es ihnen wert, noch innerhalb des Stadtbereiches mit so guten Verbindungen zur City zu wohnen und gleichzeitig so nahe dem Waldgebiet des Zürichberges.
Sie fuhren mit dem Lift nach oben. Leona konnte nur mühsam ihre nervöse Ungeduld beherrschen und trat von einem Fuß auf den anderen, während er die Wohnungstür aufschloss. Sie stürzte hinein, lief, ohne erst ihren Mantel auszuziehen, in das Kinderzimmer und war unendlich erleichtert, als sie beide, Urs und Tina, mit roten Bäckchen friedlich schlafend fand.
Auch im Hinblick auf die Babysitterin hatte sie sich getäuscht: Celia hatte nicht ferngesehen, sondern gelesen. Leona bedankte sich bei dem Mädchen, das sich sogleich zum Aufbruch rüstete, und fragte, ob es Schwierigkeiten gegeben hätte.
»Nein, es war gar nichts los«, antwortete die Kleine, »einmal hatte das Telefon geklingelt. Aber dann war niemand dran!«
Als sie gegangen war, legte Leona ihren Mann die Arme um den Hals. »Ist es nicht schön, dass wir wieder zu Hause sind? Wir werden uns einen gemütlichen Abend machen!«
Ehe er noch etwas erwidern konnte, läutete das Telefon. Leona nahm den Hörer ab und meldete sich. Sie hörte, wie auf der anderen Seite aufgelegt wurde. »Komisch«, meinte sie, machte sich aber weiter keine Gedanken darüber, sondern ging in die Küche, um den Käseschinkentoast in den elektrischen Ofen zu schieben und die Flasche Veltliner und die Gläser hereinzuholen.
Als sie eine halbe Stunde später beim Essen saßen, läutete das Telefon abermals. Markus stand hastig auf und ging zum Apparat. Leona beobachtete ihn, wie er den Hörer abnahm. In seinem Gesicht ging eine seltsame Verwandlung vor: Es war, als fiel eine Maske von ihm ab.
Dieser Eindruck dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann wandte er ihr den Rücken zu. Sein »Ja?« klang trocken genug.
Und dennoch war Leona ganz sicher, dass eine Frau am anderen Ende der Leitung war, eine Frau, von der sie nichts wusste und die in seinem Leben eine große Rolle spielte.
Die Erkenntnis, dass er sie betrog, traf sie völlig überraschend wie ein körperlicher Schlag.
Sie saß da wie erstarrt. Angestrengt versuchte sie, sich ihren schrecklichen Verdacht auszureden, und doch, jedes Wort, das Markus am Telefon sprach, verriet ihn.
»Ja«, sagte er, und nach einer Pause wieder: »Ja… ich habe verstanden.« Er legte auf, ohne seine Gesprächspartnerin - denn dass es eine Frau war hätte Leona schwören können - ein einziges Mal angeredet zu haben, ohne Gruß und ohne Abschiedswort.
Sekunden blieb er, mit abgewandtem Gesicht, stehen. Als er zum Tisch zurückkam, war seine Miene so gelassen, wie gewöhnlich. Er schnitt sich ein Stück Toast ab, steckte es in den Mund und spülte mit einem Schluck Veltliner nach. Schweigen lag über dem Raum.
Leona spürte, dass er eine Frage erwartete, aber sie brachte kein Wort über die Lippen, sah ihn nur an.
Er räusperte sich. »Das bringt natürlich alle meine Pläne durcheinander«, äußerte er mit ungewohnter Lebhaftigkeit, »stell dir nur vor, Fräulein Löll, meine Sekretärin, ist krank geworden.
Jedenfalls behauptet sie das. Auf dieses Mädchen ist ja nie Verlass. Wenn sie einen Kerl kennen lernen, ist die Arbeit nicht mehr so wichtig. Auf alle Fälle: Sie feiert krank. Und das bedeutet für mich, dass ich morgen nicht nach München fliegen kann.«
»Und warum nicht?« fragte sie mit trockenen Lippen.
»Na, jemand muss doch im Haus sein, der Bescheid weiß. Das müsste ich dir doch eigentlich nicht erst erzählen.« Er lächelte ihr zu. »Ein bisschen verstehst du schließlich auch noch von der Branche.« Er aß mit gutem Appetit weiter. »Dein Schinkentoast ist mal wieder ausgezeichnet.«
»Das ist doch kein Kunststück«, sagte sie matt und sah ihn an, er wirkte so zuverlässig mit seinen breiten Schultern, dem offenen, männlichen Gesicht, den klugen hellen Augen, und doch konnte sie ihm nicht glauben. Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, misstraute sie ihm.
Er schien nicht zu bemerkten, was in ihr vorging, plauderte weiter, munterer als gewöhnlich, wodurch sich ihr Misstrauen noch verstärkte, denn sie gewann den Eindruck, dass er sie abzulenken suchte.
Nachher ging er wie gewöhnlich als Erster ins Bad, während sie das große Zimmer zum Schlafen umräumte, den Tisch abdeckte und die über Eck stehenden Couchen in Betten verwandelte. Ihre Wohnung hatte nur zwei Räume; der eine war als Kinderzimmer eingerichtet, der andere musste gleichzeitig zum Wohnen, Essen und Schlafen dienen. Das ging ganz gut, da Markus viel unterwegs war und sich nur selten Arbeit mit nach Hause nahm.
Als er zurückkam - in seinem eleganten hellblauen Schlafanzug aus reiner Seide, der so schwer zu bügeln war -, frisch gewaschen, das blonde Haar feucht von der Brause, nahm er sie in die Arme und küsste sie erst zärtlich, dann mit wachsender Leidenschaft. Er schmeckte frisch nach Zahnpaste und Mundwasser. Leona liebte ihn. Sie hatte sich wie er als Abschluss dieses Abends eine Liebesstunde erhofft. Aber jetzt war alles wie tot in ihr. Sie wurde steif in seinen Armen und legte den Kopf in den Nacken, um ihm ihre Lippen zu entziehen.
»Was ist?« fragte er irritiert. »Stimmt etwas nicht?«
»Ich bin bloß… wahnsinnig müde«, log sie. »Und Kopfschmerzen hab’ ich obendrein.« Wider jede Vernunft hoffte sie, er würde begreifen, was in ihr vorging, würde sich um sie bemühen und ihren Verdacht entkräften.
Aber er ließ sie so jäh los, dass sie taumelte. »Immer dasselbe«, sagte er zornig, »ich hätte es mir ja denken können.«
Plötzlich fühlte sie sich in die Verteidigung gedrängt. »Aber, Markus«, stammelte sie, »wie kannst du sagen… das ist doch einfach nicht wahr!«
Aber er würdigte sie keines weiteren Wortes, schlüpfte in sein Bett, knipste die kleine Lampe auf der Ablage am Kopfende an und schlug das dicke Buch auf, das sich mit Fragen des Managements in Wirtschaft und Politik befasste.
Vreny Ochs das junge Mädchen, das Armin Renner in der Diskothek kennengelernt hatte, während seine Frau mit einem anderen tanzte, war nach dem Whisky, den er ihr spendiert hatte, ganz zutraulich geworden. Sie hatte erzählt, dass ihre Eltern ein Hotel am Vierwaldstätter See betrieben und sie selber in Zürich Kunstgeschichte studierte. Nur über ihren Kummer hatte sie nicht gesprochen, und Armin war auch nicht sehr interessiert daran gewesen, sondern hatte vielmehr versucht, ihr seelisches Gleichgewicht und ihre gute Laune wiederherzustellen. Als sie endlich, trotz ihrer vom Weinen geröteten Augen, ein Lächeln zu Stande brachte, fühlte er sich königlich belohnt.
Sie war lieb, diese Vreny, so anmutig in ihrem minikurzen Kleidchen, dessen Rocksaum ihr auf dem Barhocker, obwohl sie dauernd daran herumzupfte, bis zum Schoß hinaufrutschte. Ihre Beine waren gerade gewachsen und gut geformt, wenn auch ein wenig zu stämmig, aber gerade das verlieh ihr den Reiz eines ungelenken Füllens. Ihr Hals, der aus einem spitzen Ausschnitt stieg, war stark und milchweiß, und allein die Bewegungen ihres Kehlkopfes zu beobachten, war für Armin ein faszinierendes Spiel. Ihre Haut war klar und ungeschminkt, nicht einmal die Wimpern hatte sie getuscht; sie umrahmten sehr dicht und sehr hellgrüne unschuldsvolle Augen.
Armin kämpfte mit sich, ob er sie um ein Wiedersehen bitten sollte. Er hätte es gern getan, zögerte aber dennoch. Er war ein verheirateter Mann - was konnte er ihr bieten?
Der Diskjockey verkündete mit einer Stimme, aus der trotz der Verstärker und des gewollten Schwungs die Müdigkeit der Routine klang: »Und jetzt, meine Damen und Herren… auf allgemeinen Wunsch eines einzelnen Herrn… kommen wir zum Höhepunkt und Rausschmeißer des heutigen Abends! Unsere letzte Nummer heißt… wie könnte es anders sein… Rock around the clock!«
Die jungen Leute äußerten Begeisterung, während schon der scharfe Rhythmus einsetzte.
»Tanzen Sie denn gar nicht?« fragte Vreny mit erhöhter Stimme, um den Lärm zu übertönen.
»Ich bin zu alt für solche Späße!«
»Sagen Sie doch so was nicht!« widersprach sie. »Ich wette, Sie könnten, wenn Sie nur wollten… aber mir sind die anderen Tänze auch lieber…«
»Was zum Beispiel?«
»Na, Walzer… und Blues…« Sie zerrte wieder an ihrem Rocksaum.
Lächelnd sah er auf ihre strammen Schenkel. »Darüber ließe sich reden…«
Erst als Jo vor ihnen stand - sie hatte sich mit der Plötzlichkeit eines Wirbelwindes von ihrem Partner und aus dem Gewühl der Tanzenden gelöst -, wurde ihm bewusst, dass er ihre Anwesenheit seit Minuten völlig vergessen hatte.
»Das war’s«, verkündete sie atemlos, »hast du gezahlt oder soll ich? Na, mach schon! Gleich ist Schluss der Veranstaltung, dann gibt’s ein Gedränge!« Sie drückte ihm ihr Cape in die Hand, damit er ihr hineinhalf.
Er tat es mechanisch, von dem Gefühl übermannt, dass sie ihn wieder einmal in eine Situation hineinmanövriert hatte, der er nicht gewachsen war. Sie gab ihm keine Gelegenheit, ihr Vreny vorzustellen, und er wusste nicht einmal, wie er sich unter diesen Umständen von dem Mädchen verabschieden sollte; also unterließ er es ganz und kam sich wie ein Tölpel dabei vor. Oben, auf der Straße, hängte sich Jo bei ihm ein. »Du, das hat mir gut getan!« bekannte sie. »Endlich bin ich mal wieder richtig in Schwung gekommen. Von Zeit zu Zeit brauche ich das, weißt du… damit ich spüre, dass ich noch nicht zum alten Eisen gehöre!«
»Wer sagte denn so was?«
Sie blieb stehen. »Ein Kompliment von dir? Wie süß!« Sie reckte sich auf die Zehenspitzen, nahm ihn bei den Ohren und gab ihm mitten auf der Straße - was ihm, obwohl kein Mensch sie beachtete, äußerst peinlich war - einen herzhaften Kuss. »Du hast dich aber auch ganz gut amüsierte«, fuhr sie fort, als sie weitergingen, »ich habe beobachtet, wie du mit ihr angebändelt hast. Alle Achtung! So viel Initiative hätte ich dir gar nicht zugetraut.«
»Sie war unglücklich…«
Jo lachte. »Und da sahst du dich veranlasst, sie zu trösten! Sehr edel. Sehr ritterlich. Die kleine Milchkuh wird deine Aufmerksamkeit bestimmt genossen haben.«
Er drückte die Schultern zurück. »Sie ist ein ausgesprochen nettes Mädchen.«
»Aber ich zweifle ja gar nicht daran! Wenn sie ein paar Kilo weniger auf den Rippen hätte, könnte sie sogar ganz passabel aussehen. Aber diese Formen… und dann im Minikleid… oh, oh, oh!« Jo prustete vor Lachen.
»Das ist mir gar nicht aufgefallen!«
»Mein armer, armer Liebling, doch, das glaube ich dir sogar! Du hast nun einmal gar keinen Blick für Frauen!«
»Deshalb habe ich auch anscheinend dich geheiratet!«
Sie zeigte sich gar nicht gekränkt. »Irrtum, mein Lieber, dein Gedächtnis lässt nach. Genau umgekehrt war es: Ich habe dich genommen, denn ich kann es mir zum Glück leisten, einen Mann zu ernähren.«
»Musst du mich ständig daran erinnern, dass ich von dir abhängig bin?« fragte er erbittert.
»Du lieber Himmel! Verstehst du denn gar keinen Spaß? Das war doch nur ein Witz von mir… einer meiner berühmten Witze! Du verdienst doch inzwischen längst selber… und außerdem: Besser konnte ich mein Geld doch gar nicht investieren, denn auf diese Weise bin ich Frau Doktor geworden und habe einen fabelhaften, wenn auch reichlich humorlosen Mann.« Sie drückte seinen Arm. »Nun sei nicht brummig, Schatz. Gib lieber zu, dass wir beide ausgezeichnet zusammenpassen… oder willst du das etwa leugnen?«
»Wenn ich ehrlich sein soll, Jo… das Leben mit dir ist zuweilen reichlich anstrengend. Nicht sehr angenehm. Heute abend in der Bar kam ich mir vor wie ein vergessener Regenschirm.« Sie lachte herzlich. »Dann hat es also gewirkt. Wunderbar. Das war nämlich meine Absicht, Liebling. Das nächste Mal wirst du es dir zweimal überlegen, ob du mir einen Korb gibst.«
Er hätte eine Menge dazu sagen können, verzichtete aber darauf, weil er spürte, dass er so doch nicht gegen sie ankam.
»Du hast recht, wie immer«, erklärte er friedfertig, gab sich aber keine Mühe, den schweren Seufzer, nach dem ihm zu Mute war, zu unterdrücken.
Es gab eine sehr naheliegende Möglichkeit für Leona, festzustellen, ob ihr Verdacht berechtigt oder unbegründet war, und tatsächlich spielte sie mit dem Gedanken, sie zu nutzen: Sie hätte nur in seinem Büro anzurufen brauchen. Wäre Fräulein Löll dort gewesen, so hätte sie gewusst, dass Markus nicht ehrlich gewesen war.
Aber sie konnte sich nicht dazu überwinden. In ihrer Ehe hatte bisher ein so großes Vertrauen bestanden. Es schien ihr schändlich, ihrem Mann jetzt nachzuspionieren. Ihn zur Rede zu stellen, brachte sie noch weniger über sich.
So blieb sie bedrückt, und es kostete sie Mühe, sich wenigstens den Kindern gegenüber heiter zu geben.
Am Mittwochnachmittag kam Jo nach der Arbeit auf einen Sprung zu ihr hinein. Sie tat das manchmal, denn die beiden Männer pflegten später nach Hause zu kommen, und so blieb Zeit für einen kurzen Plausch. Jo genoss es, in Leonas blitzsauberer kleiner Küche zu sitzen, bevor sie sich selber an die Hausarbeit machte.
»Nein, ich lege nicht ab«, erklärte sie und setzte sich an die Frühstücksbar, »ich kann höchstens fünf Minuten bleiben… bei mir sieht es mal wieder aus! Und du weißt, wie pingelig Armin ist.«
»Aber eine Tasse Kaffee trinkst du doch rasch?«
»Ach ja, das wäre lieb. Eine kleine Stärkung könnte ich wirklich brauchen.«
Leona setzte Wasser auf und schob dann die Kinder, die sich an Jo drängten, in ihr Zimmer ab, ließ die Tür auf und befahl ihnen recht brav zu sein. Dann tat sie eine Handvoll Bohnen in die elektrische Kaffeemaschine.
»Du weißt gar nicht, wie gut du es hast!« behauptete Jo. »Du bist den ganzen Tag gemütlich zu Hause, kannst alle Arbeiten in Ruhe erledigen…«
»Eines Tages«, erwiderte Leona und stellte das Kaffeegeschirr zurecht, »werdet ihr doch auch so weit sein. Aber, wenn ich ganz ehrlich sein soll…« Sie zögerte.
»Sprich dich nur aus!«
»So richtig als Hausfrau und Mutter kann ich dich mir eigentlich nicht vorstellen.« Rasch fügte sie hinzu: »Bist du mir jetzt böse?«
Jo lachte. »Keine Spur. Ich ja auch nicht.« Sie schlug die langen, schlanken Beine übereinander.
Leona konnte nicht umhin, sie ein bisschen zu beneiden. Die Freundin wirkte so elegant in ihrem schottischen Kostüm mit der weißen Spitzenbluse und so gepflegt bis buchstäblich in die Spitze ihrer langen lackierten Fingernägel, deren Ton haargenau dem des Lippenstiftes entsprach. Obwohl sie den ganzen Tag im Büro gearbeitet hatte, waren ihre Frisur und ihr Makeup tadellos in Ordnung. So, wie sie war, hätte sie ohne weiteres ihren Kaffee im ›Baur au Lac‹ einnehmen können, während sie selber in ihrem einfachen blauen Baumwollkleid, ungeschminkt und mit nackten Beinen erhebliche Anstrengungen unternehmen müsste, bevor sie sich in anspruchsvoller Umgebung hätte blicken lassen können.
Unwillkürlich warf sie einen Blick auf die Küchentür, als sie das kochende Wasser durch den Filter goss. »Ich muss mich noch umziehen, bevor Markus kommt.«
Jo dachte nicht daran, sie durch ein Kompliment zu beruhigen. »Ja, das würde ich dir auch raten«, sagte sie offen.