Mit dir steht die Welt nicht still - Melissa Müller - E-Book

Mit dir steht die Welt nicht still E-Book

Melissa Müller

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Beschreibung

London, 1951. Nanette Blitz und John König lernen sich auf einer Party kennen. Sie, zutiefst traumatisiert als einzige Überlebende ihrer Familie. Er, ebenfalls Vollwaise, das Ticket für die Überfahrt nach Brasilien bereits in der Tasche. Die Begegnung ist ein Moment des Glücks und der Nähe, den beide nicht mehr für möglich gehalten haben. Fast zwei Jahre schreiben sie sich Briefe, bis Nanette sich entschließt, John nach São Paulo zu folgen. Es ist ein Buch über wiedererlangte Hoffnung und Lebensfreude und eine außergewöhnliche Liebe.

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Seitenzahl: 361

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Melissa Müller

Mit dir steht die Welt nicht still

Eine Liebe nach dem Holocaust

Mit den Briefen von Nanette »Nanne« Blitz und John F. Konig, ausgewählt und ins Deutsche übertragen von Melissa Müllermit einer Bildgalerie

Diogenes

 If trauma and pain

 echo through generations,

 then so can love.

  John F. Konig

Prolog

SALVADOR DA BAHIA

September 1953

In ihrer Erinnerung leuchteten sie orange.

In seiner Erinnerung war der Sack beinahe so groß wie er selbst, und auch zu zweit konnten sie ihn nicht hochheben.

In ihrer Erinnerung dufteten sie nach einer Leichtigkeit, die ihr eben noch unmöglich schien.

Sagenhaft breit machte der Sack sich in der engen Zweiteklassekajüte, sagte seine Erinnerung, das Stockbett sah dahinter karger aus und auch schmaler, als es war, aber das nahm er im selben Augenblick zurück, er sprach doch von ihrem Hochzeitsreisebett, die obere Koje blieb während der siebzehntägigen Überfahrt von Southampton so gut wie unberührt.

Oder kam der Duft von den Zitrusblüten in ihrem Brautstrauß? Sie hatte ihn von London nach Amsterdam, zurück nach London und weiter auf das Schiff getragen und auf dem Sims über dem Handwaschbecken abgelegt, so war es, nicht wahr, John, den sonnigen, kein bisschen welken Geruch hatte sie in der Nase, wenn sie an die Ankunft in Salvador zurückdachte, das graue Nachkriegslondon weit weg, die Lebenszeichen per Luftpost an Ruth und die Tanten eine Notwendigkeit, von der die Flut an Eindrücken sie nicht abhielt, als wäre diese Leichtigkeit ohne Anker in der Vergangenheit nicht zu rechtfertigen und erst recht nicht zu ertragen.

Wir haben Tränen gelacht, sagte sie.

Du, erwiderte er und griff nach ihrer Hand, wie er sein Leben lang nach ihrer Hand griff, wann immer sie es zuließ, zulassen konnte, du hast Tränen gelacht. Und dann hat die practical woman fast alle an die Crew verteilt.

Du magst doch keine Orangen.

 

Dass Nanne und John gemeinsam von der Vergangenheit erzählten, kam nicht oft vor, meist ließ er ihr das Wort, sie hatte so viel mehr erlebt als er, und wenn er erlebt sagte, meinte er erlitten, aber bei ihrer Ankunft in Brasilien hatte er Regie geführt. Wenn es dir hier nicht gefällt, dann suchen wir uns einen anderen Ort, hatte er gesagt und dabei unbesorgt geklungen. Brasilien war bisher gut zu ihm gewesen, sein land of opportunities.

Nach Stationen in Cherbourg, Vigo, Lissabon, Las Palmas und einer Reihe von ereignislos schönen Sonnentagen auf dem offenen Meer war die RMS Alcantara aus der Frachtschiff-Flotte der Royal Mail Lines die brasilianische Küste entlanggefahren und auf ihren Zielhafen Santos zugesteuert. An einem der ersten Septembertage 1953 hatte sie zuerst in Recife gehalten, das als tropisches Venedig vermarktet wird, dann war sie siebenhundert Kilometer weiter südlich in Salvador eingelaufen, das einstige Hauptquartier der portugiesischen Kolonialherren in der Allerheiligenbucht. Wie lange das Schiff vor Anker lag, hing vom Cargo ab. Während es ent- und beladen wurde, gingen die Passagiere an Land, oft ganze Tage.

Im Hafen von Salvador wartete Manoel auf die beiden. Johns Cousin Americo hatte sich über das, was seine Eltern für seine Bestimmung hielten, hinweggesetzt und in eine brasilianische Familie eingeheiratet. Manoel Carvalheira Ramos war einer seiner Schwäger und im Vorstand der Banco do Brasil in Salvador. Er stellte sich vor Nanne auf die Zehenspitzen und umarmte sie, als habe er sie seit Langem vermisst. Manoels Familie verdanke ich meine Aufenthaltsgenehmigung, sagte John zu Nanne und zu Manoel, Nanettes Vater war auch ein Bankdirektor.

Bem-vinda à nossa família.

My family calls me Nanne, or Nan.

Einen so reich gedeckten Tisch hatte Nanne vorher nur auf den Stillleben niederländischer Meister gesehen. Seit sie sich erinnern konnte, waren Lebensmittel rationiert gewesen. Um den Tanten nicht zur Last zu fallen, war sie in London nicht selten hungrig ins Bett gegangen. Schon das üppige Speiseangebot auf dem Schiff hatte sie überwältigt.

Aqui está! Sirva-se! Ein Durcheinander auf Portugiesisch schwirrte in Nannes Richtung. Manoel, seine Frau, mehrere Kinder, Tanten und Nachbarinnen saßen um den Tisch, bestaunten sie und redeten fröhlich auf sie ein und über sie hinweg. Americos neun Jahre jüngerer Cousin fährt, um zu heiraten, nach Europa. Zwei Jahre hat er auf sie gewartet, wenn das keine Geschichte ist. Als gäbe es hier keine schönen Frauen. Sieh dir ihre blauen Augen an. Wie Kristalle. Blass ist sie. Bildschön ist sie. Warum isst sie nicht? Esst doch, dann zeigen wir euch die Stadt.

Sirva-se! – Greif zu, übersetzte John, und Nanne fand, dass er sich schon fast wie einer von ihnen anhörte. Ich habe zwei Jahre Vorsprung, sagte John, als müsse er sie ermutigen, du wirst sehen, in weniger als zwei Jahren … Nanne lächelte. Luftig ist es hier in unserer Wohnung, nicht wahr, du hast dir für deine Ankunft die angenehmste Jahreszeit ausgesucht, hörte sie Manoel sagen, während sie sich, schwarz und schwärzer vor Augen, an ihrem Stuhl festhielt und, weiter um ihr Lächeln bemüht, der schwülen Hitze und einer drohenden Ohnmacht entgegenstemmte.

Als sähe er hinter dieses Lächeln, streckte Manoel ihr ein Glas entgegen. Nanne roch daran, trank einen ersten Schluck, das ist also frisch gepresster Orangensaft.

Schmeckt er dir?, wollte Manoel wissen, er schmeckt ihr, das sehe ich ihr an.

Suco de Laranja. La-ran-ja, buchstabierte John. Drei As und keines wie das andere, die Frucht fasste er nicht an, ihre Säure hinterließ ein pelziges Gefühl in seiner Mundhöhle, die Melodie ihres Namens gefiel ihm trotzdem, sprich mir nach, La-… Das erste A klingt offen, wie bei Nanne, …-ran-…das zweite wandert vom Gaumen in die Nase, ein O mehr als ein A, …-ja, das dritte ist fast nicht zu hören.

Laran-j-a, half Manoel aus, -sch-, wie schwärmen, laranjas-da-Bahia, ihr Europäer schwärmt von Orangen als einem Symbol der Liebe, wir Brasilianer leben von ihnen. Orange werden sie übrigens nicht vom Sonnenlicht, die Kälte der Nacht färbt sie, unsere Orangen sind deshalb oft eher gelb oder grünlich. Er schenkte Nanne nach. Sie trank das Glas wieder leer, und Manoel verschwand ans Telefon.

Als er wenige Minuten später zurückkam, rief er zum Aufbruch in die Altstadt; nirgendwo wäre Brasilien authentischer als in Pelourinho. Wer von euch Kindern kommt mit, zwei Plätze sind frei. Die hohe Luftfeuchtigkeit trieb Nanne und John jedoch zurück auf das Schiff, ihre Reise ging weiter. Zwei Tage hatten sie noch bis Rio de Janeiro, einen weiteren nach Santos. Von der Hafenstadt war es nicht weit nach São Paulo, keine zwei Stunden im Auto, fast nur bergauf, an jeder Station würden Verwandte oder Freunde auf sie warten, einer herzlicher als der andere.

Manoel ließ es sich nicht nehmen, sie über aussichtsreiche Umwege an den Pier zu fahren. Mehrmals hielt er an, sie bewunderten Fassaden in allen Farben und schauten über die Bucht, als schauten sie in ihre Zukunft. I am happy when she is happy, so simple, sagte sich John, wie er es sich im Leben noch oft sagen würde. Inzwischen bauten die Orangen, die Manoel unbemerkt auf den Weg gebracht hatte, ihren Vorsprung aus, so erklärten Nanne und John sich später die imposante Überraschung in der Kabine. Kleiner Willkommensgruß. Dem Netzsack war eine Karte beigelegt, gezeichnet: Manoel e família.

 

Die Komödie von den vielen Orangen geht auf dein Konto, sagte John, als die beiden mir die Geschichte von ihrer Hochzeitsreise erzählten, dabei drückte er Nannes Hand, und es war eindeutig, dass sie seine Ironie verstand. Ich kannte Nanne und John da schon viele Jahre, wir waren einander auf Raten nähergekommen. Erst hatte ich Nanne geschrieben, um sie als Überlebende und Zeitzeugin des Holocaust zu befragen, und war auf ihr Misstrauen und ihren Widerstand gestoßen; nicht auf alle meine Fragen wollte sie damals antworten. Zwei Jahre später traf ich sie bei einer gemeinsamen, von ihrer ältesten Tochter angeregten Veranstaltung in den USA zum ersten Mal persönlich. John begleitete Nanne, aber (das verstand ich im Lauf der Jahre) wie immer, wenn sie im Mittelpunkt stand, gelang es ihm, für sie da und zugleich unsichtbar zu sein. Über ein paar freundliche Sätze kamen wir nicht hinaus. Wieder ein paar Jahre später reiste ich nach Brasilien und besuchte das Paar in São Paulo. Zum ersten Mal sprachen wir zu dritt, und in Fragmenten hörte ich ihre gemeinsame Geschichte, eine Geschichte über das Weiterleben nach der Katastrophe, über die Suche Entwurzelter nach Vertrauen, über das bedingungslose Ja zu einem anderen Menschen. Über eine Liebe, die in Briefen begann. Ich durfte diese Briefe lesen und war sicher, dass sie auch zu anderen Menschen sprechen sollten. John gab Nanne keine Gelegenheit, Bedenken anzumelden. Well then, go ahead, sagte er zu mir. Well then, sagte Nanne. Glaubt ihr an die alles überwindende Liebe, fragte ich sie. Nur Narren glauben an Märchen, antwortete John, in dieser Hinsicht bin ich gern ein Narr.

PARIS

April 1953

Du hast wieder geträumt. Für Nanne klang der Satz wie ein Vorwurf, wie jemand einen Bettnässer darauf hinweist, dass es wieder passiert ist, du hast wieder die Kontrolle verloren, schlechte Angewohnheit, und wenn in ihren Ohren Mitleid mitschwang, war es umso schlimmer.

Der einzige Weg, die Vergangenheit zu bewältigen, hatte Tante Betty bestimmt, sei, sie hinter sich zu lassen. Einen Strich solle sie ziehen, hatte Tante Marion ihr geraten, was geschehen war, sei niemals zu begreifen, darüber zu reden reiße Wunden auf, die Welt stehe nicht still, socialize, darling, unter junge Leute solle sie gehen, das Leben liege vor ihr. Seit drei Jahren wohnte Nanne in dem schmalen Reihenhaus im Nordwesten Londons bei zwei Schwestern ihrer Mutter. Wären sie nicht so herzensgut gewesen, jede der beiden auf ihre Weise aufopfernd und liebevoll, Marion a chatty spitfire mit anscheinend unbegrenzten Kraftreserven, Betty die ausgeglichenere der beiden, aber nicht weniger schlagfertig, hätte sie ihnen ins Gesicht geschrien, verschont mich mit euren Phrasen. Ihr wisst nicht, was es heißt, Angst vor dem Einschlafen zu haben, an anderen Tagen, wenn der Traum in die heile Kindheit geführt und die Geschichten weitererzählt hat, wie sie hätten kommen sollen – Angst vor dem Aufwachen. Oder vor dem Knall einer Tür. Lasst die Tür nicht wieder knallen, hatte die Mutter ihnen wie das Amen im Gebet hinterhergerufen, wenn ihr Bruder und sie sich auf den Weg zur Schule gemacht hatten, sie hatten gelacht und die schwere Tür erst recht ungebremst zufallen lassen, jeden Tag wieder dieses beiläufige Bumm.

Raus hier, macht schneller, Juden!, hatten die fremden Männer sie angeherrscht, die gepackten Notkoffer waren seit Monaten bereitgestanden, zieht den warmen Mantel über, hatte die Mutter gesagt, womöglich wird es diesmal länger dauern, dann war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, nun wusste sie, dass sie zum letzten Mal geknallt hatte, und dieser Knall der Elterntür wollte nicht verhallen. Wie macht man das – die Vergangenheit hinter sich lassen? Denkt ihr etwa, in meinem Gehirn gibt es einen Löschknopf?

So aber schwieg sie und lächelte, ließ sich von Marion und Betty und Marions Ehemann, ihrem Onkel Arnold, dem schweigsamen Gegenpol im Haus, umarmen, umarmte zurück, fragte sich, ob die Momente der Steifheit auf beiden Seiten ihrer Befangenheit geschuldet oder einfach very british seien oder ob sie auch daran lagen, dass Marion und Betty selbst keine Kinder hatten, hörte auf, sich zu wundern, verinnerlichte den trockenen Humor, der in Roe Green 16 den Umgangston vorgab, die Wortspiele, die Selbstironie, das Understatement, die Wertschätzung, und machte sich, so gut sie konnte, im Haushalt nützlich. Vor allem wollte sie den Tanten keine Last sein.

Ostern 1953 in Paris. Mehrere Anläufe hatten Nanne und Ruth genommen, erst hatte Ruth gezögert, dann war Nannes Urlaubsantrag nicht genehmigt worden. Nun aber, mit der Nachtfähre von Southampton nach Dieppe, weiter im Frühzug, das Wetter stürmisch und nass, die Temperatur knapp über dem Gefrierpunkt. Als wir endlich ankamen, fühlten wir uns wie Landstreicher, schrieb Nanne, und im nächsten Absatz: Ich habe mich in die Stadt verliebt. In den Tagträumen ihrer Kindheit war sie auf den Eif‌felturm geklettert. Am liebsten würde ich ein paar Monate dort arbeiten und die Sprache besser lernen, so beeindruckt war sie. Zur Mona Lisa in den Louvre, an Napoleons Grab, Schaufensterbummeln an den Champs-Élysées – Ich hätte ein Vermögen ausgeben können –, eine Messfeier in Notre-Dame, warum nicht, den Eif‌felturm zumindest im Vorbeifahren, Spaziergänge durchs Marais und den Montmartre. Von ihrem Vater hatte Nanne viel über Montmartre als Zentrum der Avantgarde gehört, als junger Mann hatte er von seinen Geschäftsreisen nach Paris moderne Kunst mitgebracht, nach seiner Hochzeit waren die meisten Werke auf den Dachboden verbannt worden, Nannes Mutter hatte sich mit Picasso und seinen Zeitgenossen nie angefreundet, und dann waren sie gepulst worden wie der ganze Rest.[1] Hätte der Vater sich gewünscht, dass sie nach den verlorenen Bildern sucht? Wen sollte sie nach ihnen fragen? Und sich dabei noch mehr Stoff für Albträume auf‌laden?

Du hast wieder geträumt. Nanne saß aufrecht im Bett, und während sie wartete, dass es draußen hell wurde, plante sie den Tag. Ihn auf sich zukommen zu lassen, wie man freie Tage und ihre Überraschungen auf sich zukommen lässt, besonders auf Reisen, ertrug sie genauso schlecht wie Unordnung. Ruth lag mit dem Rücken zu Nanne und schlief. Als sie aufwachte, war sie sofort hellwach, sprang aus dem Bett, verbeugte sich anmutig und warf Nanne ein kokettes Bonjour Made-moi-selle entgegen. Wo nahm sie diesen Schwung her, während Nanne die Kraft zum Schlafen fehlte?

Un pour tous, tous pour un. Was gebieten Anstand und Tagesordnung? Anscheinend wusste Ruth genau, wie sie Nanne aus dem Stegreif zum Lachen bringen konnte.

Ruth war die Tochter von Rachel, der ältesten der vier Schwestern. Rachel, Marion – Tante Marion –, Nannes Mutter Helene Victoria, die nach Amsterdam geheiratet hatte, und Clarissa Elizabeth, Tante Betty. Ruth war frecher und vorwitziger als Nanne, mindestens so eigensinnig, und sie dachte nicht daran, sich ihrem Schicksal zu ergeben. Sie war zu früh zur Welt gekommen, ihre Gesundheit von Beginn an angegriffen, Klinikaufenthalte ihr Kinderalltag, mit dreizehn erkrankte sie an Mumps. Bei einem von etwa zwanzigtausend Patienten kommt es zu schweren Komplikationen, Ruth verlor ihr Gehör, das war 1944, die Not in London war groß, die deutsche Wehrmacht bombardierte die Stadt mit Marschflugkörpern, V1 und V2 hießen sie in der Sprache der NS-Propaganda, »Vergeltungswaffen«.

Nach dem Krieg lernte sie schneidern, die Familie hielt das für eine praktikable Lösung, die nicht weiter diskutiert wurde, auch weil man sich mehr als um Ruth um deren Mutter sorgte. Rachel lebte mit einem Hirntumor und brauchte Pflege. Seit sie zu schwach war, den Haushalt zu führen, wohnten Vater, Mutter und Tochter in einer Pension, vor und nach Dienstschluss half Ruth als ihre Pflegerin aus. Wer sollte da nach Ruths eigentlichen Neigungen fragen, wenn nicht sie selbst?

Für perfekt sitzende Kleider und schwingende Röcke hatte sie eine gewisse Schwäche, die Routine in der Schneiderei langweilte sie jedoch, und weil ihre Hände nicht nur an der Näh-, sondern auch an der Schreibmaschine überdurchschnittlich flink und geschickt waren, setzte sie sich in den Kopf, Sekretärin zu werden, ließ sich in einen Schreibpool anwerben, machte Eindruck mit ihrer Klarsicht und ihrem Organisationstalent, stieg schnell auf. Das Telefon nahm eine Kollegin entgegen. Menschen, die ihre Sprechweise befremdlich fanden oder partout vergaßen, ihr, was sie ihr mitteilen wollten, ins Gesicht zu sagen, verblüffte sie mit ihrer Unbefangenheit. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir einen Blick zu gönnen, wenn Sie mit mir sprechen? Sonst höre ich Sie nicht.

Du hast wieder geträumt. Da war er, der Satz, den Nanne nicht hören wollte. Soll ich dir sagen, was du im Traum gesagt hast, setzte Ruth drauf, und zwar so, dass Nanne ihren Witz verstehen musste, sicherlich, Rebellin Ruth mit ihren übersinnlichen Kräften kann auch im Dunkeln lippenlesen. Aber erstens hatte Nanne nicht gesprochen, sondern geweint und sich gekrümmt, die Magenkrämpfe kamen ohne Vorwarnung, auch nachts, und manchmal mit solcher Wucht, dass sie um sich schlug. Und zweitens war sie wütend, dass sie ihren Empfindungen machtlos ausgeliefert war, nicht nur an grauen Tagen, sondern besonders dann, wenn ihr unbeschwerte Augenblicke gelungen waren, in denen die Vergangenheit für ebendiese Augenblicke im Unklaren zu verschwimmen drohte.

Ich habe wieder geträumt. Darüber konnte sie nicht lachen, davon sollte sie nicht sprechen, und selbst wenn sie einmal davon sprechen wollte, blieb sie stumm, wem sollte sie ihre Erfahrungen zumuten, niemand konnte sie verstehen, keiner sprach ihre Sprache, das Lager habe ich überlebt, und jetzt kann ich meine Träume nicht ertragen, wahrscheinlich hatten die Tanten recht, für ihren Verlust gab es keine hilfreichen Worte.

Hab keine Angst, könnte Ruth es trotzdem versucht und Nanne dabei in den Arm genommen haben. Von keinem Menschen fühlte Nanne sich verstanden und zugleich durchschaut wie von ihrer zwei Jahre jüngeren Cousine, sagte sie später über ihre »einzige Vertraute« der Nachkriegsjahre.

Wovor soll ich noch Angst haben, könnte Nanne geantwortet haben und sich von ihr in den Arm nehmen lassen. Aber Ruth wusste, wie sie Nanne besser helfen konnte.

Why can’t you hear a psychiatrist using the bathroom? – Because the »p« is silent. Das war typisch Ruth, darüber brach Nanne wieder in Lachen aus.

Was gibt es zum Frühstück? Croissants? Ich verhungere gleich, Made-moi-selle N.

Mit deiner Figur, Mademoiselle Ruth, würde ich drei Croissants frühstücken.

LONDON

Juli 1951

Wäre es nach ihm gegangen, hätte er den Sonntag in einem roten Samtsessel verbracht. Das Everyman Theatre in Hampstead öffnete um halb fünf, das Programm lief durchgehend bis zehn Uhr abends, die Liste von Filmen, die er sehen wollte, war lang, und in sechs Wochen legte sein Schiff ab. Sooft John in sich hineinhorchte, um nach dem vielbeschworenen Abschiedsweh zu fahnden, fühlte er sich bestätigt: In London hielt ihn nichts. Wer kein Kricket- oder Rugby-Fan ist, gilt in England als seltsam, brachte er wie zu seiner Verteidigung vor, mit seiner Statur hätte er sich als Geräteturner versuchen können, aber organisierte Leibesübungen waren ihm nicht geheuer, und er fand, dass er sich auf dem Weg zur Arbeit ausreichend bewegte. Lieber verbrachte er seine Zeit in virtuellen Welten, scherzte er im Abstand von Jahrzehnten. Er zeichnete und fotografierte, vertiefte sich, und manchmal flüchtete er in Bücher, oder er ging für ein paar Pence ins Kino, das hielt er 1951, mit vierundzwanzig, genauso wie in seiner Kindheit. Wären die Umstände anders gewesen, hätte er sich an der Royal Academy of Arts beworben oder wie Alfred Hitchcock von einer Produktionsfirma anheuern lassen. Vielleicht hätte er sogar – auf den Gedanken hatte ihn seine Mutter gebracht – bei Sándor Korda einen Fuß in die Tür bekommen, seinem Landsmann und Idol, Sir Alexander Korda, Immigrant aus Ungarn und als Produzent und Regisseur einer der bedeutendsten Akteure der britischen Filmindustrie. Stattdessen hatte John auf seinen Vater gehört und sich in Rekordzeit zum Maschinenbauingenieur ausbilden lassen. Dass man sich über ihn und sein oft isoliertes Leben wundern konnte, fiel ihm erst seit dem Tod seiner Eltern auf. Mehr Familie hatte er in London nie gehabt.

Einer der abzählbar wenigen Freunde, von denen John der Abschied schwerfallen würde, war Henry. Nach den Novemberpogromen 1938 war er mit einem der Kindertransporte aus Nazideutschland gerettet worden, jetzt überlegte er, sich in Israel einbürgern zu lassen, weil er »endlich kein alien mehr« sein wollte. Für Kino-Marathons gebe es bestimmt noch Gelegenheiten, vertröstete er John. An diesem Sonntag zog es ihn nach Hampstead Garden Suburb im Londoner Nordwesten zu einem Treffen der zionistischen Jugendbewegung, und John sollte mitkommen, er wehrte jedoch ab. I am zero interested. Als Henry ihm statt der politischen Versammlung mit enger Agenda, wie John sich das Treffen sicher vorstelle, eine legere Party im Garten eines Freundes in Aussicht stellte und dazu, so habe der Wetterdienst es versprochen, einen blauen Himmel, zuckte John, typisch für ihn, kaum sichtbar mit den Schultern und begleitete ihn dann doch.

 

Es war ein Julinachmittag, der sich in Tagebücher einträgt, so selten kommt er in London vor. Strahlend sonnig, die Luft nur so warm, dass John nicht zu schwitzen anfing, und im Garten, der zu einer stattlichen Villa gehörte, blühten überschwänglich die Strauchrosen. Henry hatte nicht zu viel versprochen.

John kannte keine Menschenseele. Er schlenderte umher, ziel-, nicht orientierungslos, seine Rolle des Beobachters war keine Frage der Wahl, aber er war geübt, und irgendwie gefiel der Künstler in ihm sich darin. Seine Augen bewegte er dann wie das Objektiv einer imaginären Kamera, er prüfte Perspektiven, Blickwinkel und Fluchtpunkte, legte Ausschnitte fest und verwarf sie wieder. Jetzt nahm er die Silhouetten mehrerer junger Damen im Gegenlicht wahr, die eine von den anderen nicht zu unterscheiden, die ausgestellten Röcke ihrer Einheitskleider, ihre in braven Wellen liegenden Einheitsfrisuren, ihre hell auf‌lachenden Einheitsstimmen, um sie herum junge Männer in einem auf sich selbst konzentrierten Wettstreit, wer die jungen Damen nachdrücklicher beeindrucken könne. Von Weitem sah er Henry in ein Gespräch vertieft. Eigentlich hätte John sich danebenstellen, zuhören, mitreden können, aber darauf kam er nicht. Dass alien im Englischen nicht nur den Ausländer bezeichnet, sondern auch den Außerirdischen, hatte ihn das je gewundert? Dann fiel sein Blick auf eine junge Dame, die für sich stand, als nehme sie sich eine Pause von der Menge, und sofort bedauerte er, dass seine Leica auf seinem Nachttisch lag. Er schaute ihr zu, wie sie ihr Kleid zurechtzog, dessen lichtblauer Stoff die Sonnenstrahlen auf sich zu ziehen schien, wie sie ihre Jacke auszog, die aus demselben Stoff war wie das Kleid, wie sie die Jacke mit mechanisch sorgsamen Handbewegungen faltete und auf ihrem angewinkelten Unterarm ablegte. Wie ein seltener Moment in der Filmgeschichte sei es für ihn gewesen, die Szenerie in Schwarzweiß und eine einzige Figur in Technicolor-Farben.

Sie stand da, und ich bewunderte ihren Blick, der nichts verriet, genau genommen war ich überwältigt.

Und dann? Dann bist du auf sie zugegangen und hast sie angesprochen?

Wo denkst du hin. In England wartet man, bis man einander vorgestellt wird, sagte John. Zur Erklärung fiel ihm ein Witz ein: Zehn Jahre lebten zwei gestrandete Briten auf einer unbewohnten Südseeinsel nebeneinanderher, ohne ein Wort zu wechseln. Und warum? Weil niemand da war, um sie miteinander bekannt zu machen.

Du hast deine Chance verstreichen lassen?

Ich habe sie den Rest des Nachmittags aus meinem Augenwinkel beobachtet. Irgendwann kam sie in meine Richtung – Kann jemand von euch mir sagen, wie ich von hier zur Busstation komme? –, und ich hörte mich als Ersten antworten: I’d be happy to take you.

Ihre Schritte waren forscher und ausgreifender als seine. An ihrer Seite musste er sein Tempo erhöhen. Die zehn Minuten Fußweg zur Haltestelle an der Hauptstraße verrannen in einem Sturzbach von Abwägungen eines Unerfahrenen. Darf ich Sie ins Kino einladen, Miss? Ich könnte Konzertkarten besorgen. Lacht sie mich an, oder lacht sie mich aus? Sie lächelt so schön. Für die Konversation mit ihr musste das Wetter herhalten; dass man damit nichts falsch machte, wusste er von George, eigentlich György Mikes, noch so ein herausragend erfolgreicher Ungar, einer, von dem John sich verstanden fühlte, weil er »die Engländer« für Menschen ohne Seele hielt, aber mit Understatement und mit Sinn für Ironie und Komik. Hunderttausendfach hatte er ihnen How to be an Alien (in Großbritannien) verkauft und sie darin so liebevoll verspottet, dass sie ihn dauerhaft großartig fanden. In George Mikes’ schmalem Buch las John, wenn er Aufheiterung brauchen konnte, also oft. Lovely day, isn’t it? – So nice and hot! – Gorgeous, I must say. – I adore it, don’t you? Immerhin entlockte er ihr noch, dass sie Nanette hieß, aus Amsterdam kam, während des Kriegs in Deutschland war, in einem Lager, und dass sie noch keine drei Jahre in London lebte.

Beim Abschied fiel sein Blick auf den Ring an ihrem Finger. Sind Sie verlobt? Und ohne auf ihre Antwort zu achten, sagte er noch: No worries, kein Problem, you are not my type anyway. Dann stieg sie in den Bus, und er wollte hinter ihr herrufen, natürlich ist das ein Problem, ich habe gerade kein größeres, und außerdem will ich dich heiraten, aber er sagte nichts, der Bus fuhr los, sie schaute sich nicht mehr um, und er stand da mit diesem missglückten Satz: Sie sind ohnehin nicht mein Typ.

 

Ich kenne niemanden, der den Verlobungsring an der rechten Hand trägt, hatte Nanne auf Johns Frage erwidert. Im Bus überlegte sie für einen Augenblick, ob er ihren Tonfall gehässig gefunden haben könnte, hochnäsiger als von ihr gewollt, aber dann dachte sie nicht mehr an ihn.

Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie den Sonntagnachmittag zu Hause verbracht, statt sich auf einen Zwist mit jemanden einzulassen, der nichts von ihr wusste und sie nichts von ihm. Lieber wäre sie auf ihrem Bett sitzen geblieben und hätte gestrickt, sie fror immer noch leicht, und die nächsten klammen Nebeltage waren selbst an einem idealen Julitag eine reale Bedrohung für sie. Vielleicht wäre Ruth vorbeigekommen, wie sonntags oft, sie hätte ihr beim Nähen geholfen und später hätten sie mit den Tanten Bridge gespielt. Vielleicht hätte sie auch noch gebügelt, nicht nur ihre Kleider, alle im Haus verließen sich inzwischen auf ihre Sorgfalt, und sie mochte den sauberen Geruch von Bügelwasser und Bügelstärke und den Anblick präzise gefalteter Hemden und Blusen. Obendrein hätte sie sich wahrscheinlich eine Lektion in ihrem Französischbuch vorgenommen oder deutsche Grammatik wiederholt, Deutsch fiel ihr leichter als Französisch. Seid froh, dass ihr Sprachen lernen dürft, hatte die Mutter gesagt, und wirklich, an den meisten Tagen war sie froh, dass sie schon als Kind fast fließend Englisch sprechen konnte, sonst würde sie wahrscheinlich nicht mehr leben. An den schlechten Tagen, wenn das Weiterleben besonders viel Kraft kostete, nahm sie sich besonders viel vor, der Mensch braucht Ziele, war ein Leitsatz ihres Vaters gewesen, er hatte ihn nicht nur an ihren Bruder gerichtet, ihr hatte er nicht weniger zugetraut, und dass das nicht selbstverständlich war, war ihr als Kind nicht aufgefallen. Im Sommer 1943 war sie zum letzten Mal in der Schule gewesen, mit vierzehn.

Tante Marion hatte es gut gemeint und sie im Queen’s College eingeschrieben, der ersten britischen Privatschule, an der ausschließlich Mädchen unterrichtet wurden, und zwar nicht nur in den Regeln der Konversation und Etikette für ihre Bestimmung als vorzeigbare Ehefrauen, sondern mit dem Ziel, sie zur Hochschulreife zur führen. Neben Art of Writing, Shakespeare Literature, Deutsch und Französisch hatte Nanne unter der Schirmherrschaft der Königin Geschichte und Geografie, Economics und Business Af‌fairs belegt, man hatte ihr great interest und very pleasing progress attestiert, doch unter den elitären Britinnen hatte sie gefremdelt – I was hardly a lady. Dann war völlig unerwartet auch noch Onkel Jacques gestorben. Er hatte in New York gelebt, ihr nach dem Krieg mehrmals Geld geschickt und angekündigt, ihr Studium zu finanzieren. Ihr Plan B, Fremdsprachensekretärin zu werden, eine, auf die ihr Chef nicht verzichten will, wurde nun schnell konkret. Sie wechselte an Mrs. Hoster’s Secretarial College, nicht weniger angesehen als das Queen’s College, aber die Berufsausbildung zielgerichteter. Die Gründerin Constance Hoster, Tochter eines bedeutenden, ursprünglich aus Pommern stammenden Talmudschülers, gefiel Nanne als Vorbild außerdem besser als die Queen. Dass sie den Kurs einschließlich Stenografie und Schreibmaschine mit einer Belobigung abschloss, beeindruckte Nanne selbst nicht, die Universität war zwar nach der Lage der Dinge für sie unerreichbar, aber nicht aus Mangel an Intelligenz. Dass sie nun endlich eigenes Geld verdienen würde, machte sie dagegen stolz. Statt auf Hilfe von der Familie zu setzen, hatte sie einen privaten Arbeitsvermittler bezahlt. Ich will das allein schaffen, hatte sie sich gesagt. Doch ihr erstes Bewerbungsgespräch hatte in Tränen geendet.

Ihrer Bewerbung liegt kein Empfehlungsschreiben bei, Miss. Wir stellen ausschließlich auf Empfehlung ein, hatte der Mann aus der Personalabteilung von Samuel Montagu & Co. zu ihr gesagt, einer privaten Handelsbank mit internationalem Ruf, und dabei hatte er unvoreingenommen geklungen, aber so bestimmt, dass Nanne ihre Hoffnung sofort begrub.

Ich habe kein Empfehlungsschreiben. Ich bin noch neu in der Stadt. Ich komme aus Amsterdam.

Aus Amsterdam? Dann hat unser Direktor recht? Er hat den Namen auf Ihrem Bewerbungsbrief gelesen und mit mir gewettet, dass Sie mit seinem Geschäftsfreund verwandt sind. Martijn Blitz.

Eine spitze Frage nach der Höhe des Wetteinsatzes schoss ihr durch den Kopf, geeignet, von dem bösartigen Brennen in ihrer Brust abzulenken. Sie behielt sie für sich und nickte stumm, der Wucht des Zufalls ausgeliefert.

Mein Beileid, Miss. Wir alle waren tief erschüttert, als wir vom Schicksal Ihres Vaters erfahren haben. Darf ich trotzdem sagen, eine bessere Empfehlung könnten Sie nicht mitbringen. Neben seinen herausragenden Qualitäten als Banker war Herr Blitz ein Mann mit Charme und Charakter. Es war ein Privileg, ihn zu kennen. Sie fangen nächsten Montag bei uns an, in Ordnung? Das klang nun so väterlich, dass Nanne sich unter der Last von Stolz und Schmerz nicht länger zusammennehmen musste und weinte.

Wahrscheinlich hätte Nanne an dem Julisonntag also gelernt, ihrem Vater waren fremde Sprachen ohne große Anstrengung zugefallen, neben Niederländisch hatte er auf Englisch, Deutsch, Schwedisch und Französisch verhandelt, und nach einem längeren Aufenthalt in Panama war auch sein Spanisch nicht schlecht gewesen. Nannes Vorgesetzter in der Handelsbank Montagu war ausgerechnet ein Deutscher. Nicht alle Deutschen waren Nazis, sagte sie sich. Und wenn er sich nach ihrem werten Befinden erkundigte oder sie mit einer Geste, die ihr seltsam befangen vorkam, früher nach Hause gehen ließ, sagte sie sich, er muss mich nicht wie ein rohes Ei behandeln, bedankte sich für seine Freundlichkeit und ging.

Wahrscheinlich hätte sie an dem Sonntag also Geschäftsdeutsch gelernt, doch Bernhard, den sie aus dem Sanatorium in Santpoort kannte, hatte sie zu dem Treffen der zionistischen Jugendgruppe eingeladen, und Tante Marion hatte Nanne beinah gedrängt, Bernhards Einladung zu folgen.

Vater konnte sich nie vorstellen, nach Palästina zu gehen, hatte Nanne gesagt. Ihre Schulfreundin Hannah habe inzwischen ein neues Leben in Jerusalem angefangen, aber ihr käme das nicht in den Sinn, ich bin nicht gerade eine glühende Zionistin,auch nicht antizionistisch, das ist für Juden doch gar nicht möglich, aber ich stimme eben nicht in allem überein. Das macht alles nichts, hatte Tante Marion dagegengehalten, du bist zweiundzwanzig, socialize, darling, das tut dir gut, du musst Bernhard ja nicht gleich heiraten.

Auf dem Weg durch Hampstead Garden Suburb verlief sie sich. Ein Polizist brachte sie ans Gartentor der Villa und ging erst wieder, als Bernhard herangerufen wurde und sie entgegennahm. Sein Bruder Ernst war der Hausherr und Gastgeber. Der Salon war voller Menschen auf Klappstühlen. Hinter dem Rednerpult stand ein äthiopischstämmiger Jude. Wir sind keine Menschen zweiter Klasse, der neue Staat darf uns nicht diskriminieren, sagte er, wir sind ein Stamm Israels, das Rückkehrgesetz muss auch für uns gelten, wir brauchen euren Beistand. Nanne fand einen freien Platz in einer hinteren Reihe.

Wollt ihr euch weiter demütigen lassen? Habt ihr denn keinen Stolz? Der nächste Redner warb um Spendengelder aus den eigenen Reihen, er sprach mit leidenschaftlicher Wut, von Satz zu Satz wurde sein Ton schärfer. Wir haben nicht für ein unabhängiges Israel gekämpft, um uns in die Abhängigkeit unserer Mörder zu begeben. Die Absicht der deutschen Regierung sei durchschaubar, sie habe nichts anderes im Sinn, als sich von ihrer Schuld freizukaufen. Reparation nenne sie das – Wiedergutmachung. Wie heimtückisch und durchsichtig! Wir wollen dieses schmutzige Geld nicht. Die Zuhörer antworteten mit Applaus.

Wir werden nicht zulassen, dass wir den Mördern unseres Volkes jemals dankbar sein müssen, nicht jetzt, niemals, setzte er fort. Das sind wir unseren Toten schuldig und erst recht unseren Überlebenden. Dabei zeigte er auf Bernhard. Der Applaus wurde lauter. Nein, wir sind nicht auf Rache aus. Aber wir sind nicht käuf‌lich! Keine Summe der Welt kann aufwiegen, was sie uns angetan haben. Israel muss Stärke zeigen und Nein sagen. Nein zu Verhandlungen mit Deutschland! Nanne brauchte Luft.

Der einzige Weg hinaus führte am Rednerpult vorbei. Sie richtete sich auf, nahm den Kopf hoch und lächelte. Wer sie nicht gut kannte, mochte die lächelnde Nanne für jederzeit stark und selbstsicher halten, manch einer prallte ab an diesem Lächeln. Nur wer ihr näherkam, lernte zu unterscheiden, wann dieses bezaubernde Lächeln als Schutzmauer in ihrem Gesicht stand und mit welchen Nuancierungen sie ein »Wie geht es dir?« wegzulächeln verstand. Bestens geht es mir!

Der Redner verstand ihr Lächeln nicht.

Miss?

Nehmen Sie die Entschädigung an, die Israel zusteht, sagte Nanne, so nüchtern und kühl, wie sie auch sein konnte, das Leid wird nicht kleiner, wenn Sie es nicht tun. Später werden Sie Deutschland um Hilfe bitten müssen. Wem soll das etwas bringen?

Niemals werden wir das Land der Täter um Hilfe bitten! Wenn uns der Aufbau Israels deshalb noch mehr abverlangt, wird uns das recht sein, entgegnete er ihr. Und dann, wütend, voreingenommen, und doch arglos: Haben Sie den Krieg etwa verschlafen?

Als Nanne ihm nicht antwortete, legte er nach: Wo waren Sie eigentlich während des Kriegs, Miss?

Nanne holte Luft und richtete sich noch weiter auf.

Belsen, Sir. Bergen-Belsen. Und Sie?

 

An Bord der RMS Andes

28./30. September 1951

 

Meine liebe Nanne,

bisher ist die Reise ruhig und ereignislos verlaufen. Ich habe einen jungen Mann aus Wien kennengelernt, und die Passagiere scheinen insgesamt ein sehr kosmopolitischer Haufen zu sein.

Die Abfahrt aus Southampton verzögerte sich wegen des Morgennebels, die Überfahrt nach Cherbourg war jedoch ruhig und sonnig; wir haben die Queen Mary längsseits begleitet und überholt, davon kann ich dir hoffentlich ein paar Bilder schicken. Den Nachmittag und Abend verbrachten wir größtenteils in Cherbourg, und seit heute früh durchqueren wir den Golf von Biskaya, wo die See weniger rau war als erwartet. Als ich aufstand, zog ich mich trotzdem schnell an und ging an Deck, um Verdruss zu vermeiden.

Meine Kabine ist winzig, und die Schiffspropeller vibrieren ziemlich stark, aber daran werde ich mich wohl gewöhnen müssen. Ich habe eine untere Koje, was wahrscheinlich ein Vorteil ist, und mindestens einer meiner Mitbewohner steigt in Lissabon aus, aber ich gehe davon aus, dass bald ein neuer nachkommt. Wenn wir in warmen Gewässern sind, werde ich ohnehin nicht mehr viel Zeit in der Kabine verbringen …

LONDON

Anfang August 1951

Jeder Mensch trägt Sätze mit sich, die er für den Rest des Lebens nicht mehr loswird. Sie sind ohnehin nicht mein Typ war so ein Satz. Na und, hatte Nanne ihm darauf geantwortet, und John hatte gerätselt, ob ihr seine Bemerkung tatsächlich na-und-egal war oder ob er sich damit eine Chance verbaut hatte oder gar sein Lebensglück; jedenfalls wäre das naheliegend. John war zwar unerfahren und in sich gekehrt, zum Grübeln neigte er aber nicht, und nach den Schicksalsschlägen der letzten Jahre malte er sich weder das Beste aus noch das Schlechteste. Wenn der Zufall es will und du sie wiedersiehst, du Hornochse, ging ihm stattdessen durch den Sinn, dann …, dann wirst du sie heiraten, natürlich, sein Gedankenspiel war absurd, in einer Achtmillionenstadt war die Gefahr gering, so ein Versprechen einlösen zu müssen, aber immerhin brachte es ihn zum Lachen, und solange er imstande war, über sich selbst zu lachen, war nichts verloren. Außerdem war er im Aufbruch.

 

Am folgenden Wochenende hielt nichts ihn davon ab, ins Kino zu gehen. Im Everyman Theatre Hampstead lief ein internationales Programm, John hatte dort italienische Filme lieben gelernt und versäumte selten einen. Nach der Vorstellung ging er direkt zur Metrostation, draußen war es noch hell. Von seinem Lieblingskino musste er sich nun bald verabschieden. Viele der inzwischen mehr als zwei Millionen Paulistanos seien so filmversessen wie er, die Leinwände in den Kinos riesig groß, hatte Stefan ihn beruhigt, der jüngere seiner beiden Cousins, die seit ihrer Kindheit in São Paulo lebten. Bisher kannte er die beiden nur von Fotos und aus ein paar wenigen Briefen.

Auf der Heath Street, die in einem sanften Bogen auf die Hampstead Underground Station zuläuft, kam Arm in Arm ein Paar auf ihn zu. Der Kerl ist viel zu alt für das Mädchen, bemerkte John im Vorbeigehen, und schon war er wieder bei den Filmsequenzen von vorhin. Wenige in sich versunkene Schritte weiter riss ihn eine plötzliche Ahnung aus seinen Gedanken. Von jetzt auf gleich wurde daraus eine Gewissheit, die alles andere beiseitewischte, und ganz gegen seine Art zögerte er nicht und wog nicht ab, machte buchstäblich auf dem Absatz kehrt, und als er das Paar überholt hatte, drehte er sich zu dem Mädchen um. Excuse me, aren’t you the girl I met at last Sunday’s party? Dabei kannte er die Antwort längst.

O ja, das bin ich.

Zu seiner Überraschung wirkte sie nicht unerfreut, und bevor ihm etwas Geistreiches einfallen musste, mit dem er sie beeindrucken oder wenigstens amüsieren würde, sagte sie, als habe sie den gemeinsamen Zehnminutengang zur Busstation nicht in allerschlechtester Erinnerung, darf ich Ihnen meinen Onkel vorstellen. John, das ist mein Onkel Isidor aus Amsterdam. Onkel Isidor, das ist John. Sie erinnert sich an meinen Namen! How do you do und noch ein paar Freundlichkeiten mehr, der Blick des Onkels musternd, als prüfe er ihn auf seine Tauglichkeit, welche Tauglichkeit, nice to see you again. Dann waren sie weg.

 

… Sobald ich aufhöre, dir solche Nebensächlichkeiten zu erzählen, fehlen mir die Worte. Du weißt, wie unglücklich ich darüber bin, dass ich dich so kurz nach unserem Kennenlernen zurücklassen musste, und du weißt auch, was ich für dich empfinde, also schreib mir bitte, und zerreiße nicht alle deine ersten Briefe. Es soll Leute geben, die aus Südamerika zurückkommen, wenn sie einen guten Grund dazu haben, und mir scheint, ich könnte einen sehr guten Grund haben.

 

Beste Grüße an die practical woman und an dich alles Liebe, John

LONDON

immer noch August 1951

Du hast dir geschworen, sie zu heiraten. Dann solltest du dich in Bewegung setzen und herausfinden, wer sie ist. John sprach sich Mut zu.

Der einzige Mensch, der ihm bei der Suche nach Nanne helfen konnte, war sein Freund Henry. Das hinreißendste Mädchen der Party, das reichte eigentlich als Beschreibung, fand John. Und immerhin konnte er ihm sagen, dass sie aus Amsterdam kam. Am Tag darauf wusste er dann, dass Henry und Nanne in Bernhard Natt einen gemeinsamen Bekannten hatten und Nanne offenbar nicht nur John beeindruckte, sondern auch diesen Bernhard, der acht Jahre älter und womöglich weniger unscheinbar war als er. Außerdem sprach er Niederländisch.

Bernhard wurde als dritter und jüngster Sohn eines angesehenen Arztes im Nordend von Frankfurt am Main geboren. 1937, ein Jahr vor seinem Abitur, war er von seinem Gymnasium vertrieben worden, und weil er damals schon bei den Werkleuten ein und aus ging, dem zionistisch ausgerichteten Bund jüdischer Jugend, und sicher war, dass er Alija machen, nämlich nach Eretz Israel auswandern wollte, begann er eine Ausbildung zum Tischler. Nach der Reichspogromnacht im November 1938 floh er in die Niederlande. Wie die Mehrheit der Menschen vertraute er darauf, dass Hitler die Neutralität des Nachbarlandes achten würde. Bernhards Visum galt für den Aufenthalt im Werkdorf in Wieringermeer, einer Art Musterdorf der Hachschara-Bewegung eine Autostunde nördlich von Amsterdam, wo sich junge Frauen und Männer auf ein Leben im Kollektiv in Palästina vorbereiteten, als Landarbeiterinnen oder Handwerker. Dann fiel, im Mai 1940, die deutsche Wehrmacht in den Niederlanden ein, eine Kriegserklärung gab es nicht. Ein paar Monate später wurde die jüdische Bevölkerung des Landes aufgerufen, sich registrieren zu lassen. Das Werkdorf verboten die Nazis.

Stolze Juden laufen nicht weg vor ihrem Schicksal, bekam Bernhard aus der jüdischen Gemeinde zu hören und dass, wer illegal handle, sich und andere in Gefahr bringe. Er meldete sich dennoch nicht und dachte auch nicht daran, sich den gelben Stern an seine Jacke zu nähen. Stattdessen besorgte er sich gefälschte Papiere, die ihn als holländischen Arbeiter auswiesen, und schlug sich in Amsterdam durch. Mehrere Hunderttausend niederländische Männer wurden von den Besatzern zur Arbeit in Deutschland gezwungen. Im Frühjahr 1943 verpflichtete sich Bernhard, immer noch getarnt als holländischer Zivilarbeiter und in der Hoffnung, seine jüdische Herkunft weiterhin verheimlichen zu können, ins Ruhrgebiet. Gerade drei Monate ging das für ihn gut, dann wurde er bei einer Kontrolle als Deutscher entlarvt. Wegen seines gefälschten Passes und vermeintlicher Fahnenflucht kam er erst ins Gefängnis, bald darauf wurde er nach Auschwitz deportiert. Schwerstarbeit, stundenlange Appelle, kaum Essen, medizinische Versuche, Misshandlungen, Selektionen. Dass er Jude war, konnte er bis zuletzt geheim halten. Politische Gefangene durften nicht vergast werden. Das, sagte er später, war sein Glück.

Nach seiner Befreiung schickte man ihn zurück nach Holland und isolierte ihn im Sanatorium Santpoort, ein Stockwerk über Nanne. Knochenmark-Tuberkulose, ein aussichtsloser Fall, fürchteten die Ärzte, aber Bernhard kämpfte sich über mehrere Jahre zurück. Seine Geschichte erfuhr John, wenn auch nur in den knappen Andeutungen, die von Lagerüberlebenden zu bekommen waren, als Henry Nannes Nachnamen und ihre Büronummer an ihn weitergab. Nach allem, was Bernhard erlebt und überlebt hatte, dachte John, musste er ein beeindruckender Kerl sein.

 

1. Oktober 1951

16, Roe Green

Kingsbury

London NW9

 

Lieber John,

ich schreibe diesen Brief in meiner bequemsten Haltung, nämlich im Bett. Hier bin ich ungestört. Kein Radio, kein Stimmengewirr oder sonst ein Lärm. Nur ich selbst, meine Gedanken, Stift und Papier. Mein Herz ist zu voll, um alles niederzuschreiben, was ich denke. Du hast mir eine herrliche Zeit beschert, aber das allein ist es nicht. Wir haben einander so gut verstanden. Deshalb ist es ein Jammer, dass wir uns verabschieden mussten. Aber du kennst meine Meinung. Du sollst London für eine Weile vergessen und dich auf deine Zukunft konzentrieren.

Heute ist das Neujahrsfest. Gestern Abend und heute hatten wir deshalb viele Gäste. In der Früh war ich in der Synagoge. Tatsächlich gehöre ich immer noch zu denen, die sich über einen guten Gottesdienst freuen können. Du weißt vielleicht, dass unser neues Jahr nicht mit dem Abreißen eines Kalenderblattes beginnt. Dieser erste Tag des Jahres ist nämlich nicht der erste Kalendertag. Er fällt in denselben Monat wie Pessach. Wir beten für Frieden, Gesundheit, das Leben und die Vergebung unserer Sünden. Wir glauben, dass wir an diesem Tag alle vor Gott treten und dass Er an diesem Tag entscheidet, wer leben und wer sterben soll. Deshalb richte ich den Wunsch auch an dich: Mögest du ins Buch der Lebenden eingeschrieben werden, jetzt und noch für viele Jahre.

Daraus schließt du hoffentlich nicht, dass ich furchtbar religiös bin, denn das bin ich nicht. Wir halten an gewissen Regeln fest, aber wir sind wirklich ganz und gar nicht orthodox. Zu deiner Information: Das ist mein erster Briefentwurf, und wenn er morgen früh meinem Urteil standhält, werde ich ihn abschicken.

Alles Gute für dich,

Nanne

 

An Bord der RMS Andes

2. Oktober 1951, 18.00 Uhr (MEZ)

 

Meine liebe Nanne,

Morgen halten wir in Las Palmas, und weil das meine letzte Gelegenheit vor Rio ist, schicke ich dir noch ein paar »Neuigkeiten«.

Wir hatten ein paar Stunden in Lissabon. Das Wetter war angenehm, aber die Gehwege waren hart, und wir waren sehr müde. Das Wir steht übrigens für eine Reihe alleinstehender junger Männer, etwa fünf von uns, die wie ein Wolfsrudel zusammen umherziehen. Ich habe in Lissabon viel fotografiert. Die Stadt ist sehr beschaulich und verströmt einen seltsamen Geruch. Alle Frauen und ziemlich viele Männer – so kommt es mir vor – benutzen durchdringendes Parfüm.

Ich habe eine Filmrolle entwickeln lassen, und dein Bild ist ganz passabel geworden. Es war schön, dich wenigstens im Negativ wiederzusehen, aber lass uns das Thema wechseln, sonst zerreißt der practical man diesen Brief auf der Stelle!

 

Ich führe gerade das Leben eines Faulenzers, und das kommt mir entgegen, denn als ich aus London fort bin, war ich todmüde, und in São Paulo werde ich hart arbeiten müssen …

Ich habe viel Tischtennis gespielt, was Spaß macht, aber auf einem schwankenden Schiff eher schwierig ist. Heute Abend wird ein Film gezeigt, na, rate mal welcher … The Man in the White Suit – Der Mann im weißen Anzug. Ich werde mich dir also sehr nah fühlen – als ob ich mich jemals sehr weit weg gefühlt hätte … Irgendwie glaube ich immer noch, dass ich dich einfach anrufen, dir Hallo sagen und mich mit dir für das Wochenende verabreden kann.

 

London, 6. Oktober 1951

 

Lieber John,