0,99 €
Als Mondgöttin ist es Lunas Aufgabe, jede Nacht den Mond über den Himmel zu geleiten, und das für alle Ewigkeit. Der einzige Lichtblick in ihrem tristen Dasein ist der Sonnengott Sol, mit dem sie schon seit Jahrhunderten befreundet ist. Als Luna jedoch Gefühle für den anderen Gott entwickelt, die sie eigentlich nicht haben dürfte, steht ihre Welt plötzlich Kopf. Niemand darf davon erfahren, vor allem nicht ihre Mutter. Doch gibt es für Luna und Sol überhaupt eine Zukunft? Eine Liebe, die nicht sein darf. Eine Verbindung, die unmöglich erscheint, in einer Welt, die im Chaos versinkt. Eine DIVINITAS-Novelle
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 154
Veröffentlichungsjahr: 2017
Asuka Lionera ist das Pseudonym einer deutschen Schriftstellerin. Sie wurde 1987 in einer thüringischen Kleinstadt geboren und verbrachte ihre Kindheit in einem kleinen Dorf. Als Jugendliche begann sie, Fan-Fictions zu ihren Lieblingsserien zu schreiben und entwickelte kleine RPG-Spiele für den PC. Nach ihrem Abitur schloss sie eine Lehre zur Bankkauffrau ab, arbeitete jedoch nicht lange in diesem Beruf.
2014 entdeckte sie das Schreiben wieder für sich, als sie eine alte Sicherungskopie ihrer entwickelten Spiele fand.
Asuka ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und ihren vierbeinigen Kindern in einem kleinen Dorf in Hessen, das mehr Kühe als Einwohner hat.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Sol
Luna
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Luna
Kapitel 7
Luna
Epilog
Selena
Schnell halte ich mir die Hand vor den Mund, ehe mir ein Kichern entweichen kann. Dann presse ich meinen Körper wieder hinter den Baumstamm, wobei sich die raue Rinde an meiner Haut reibt. Ich spüre sie sogar durch das dünne Gewand, das ich trage.
Noch immer schlägt mein Herz wie wild nach diesem Rennen, aus dem ich als Siegerin hervorgegangen bin. Er hat mich gewinnen lassen, das weiß ich, und doch beschert mir dieser Sieg ein Glücksgefühl.
Eigentlich verspüre ich an solchen Tagen nichts anderes als pures Glück.
Ich höre Schritte hinter mir im Gras und halte die Luft an, während ich mir auf die Lippe beiße, um nicht aufzukeuchen. Wird er mich finden? Oder ist diesmal mein Versteck gut genug?
»Ich weiß, dass du hier bist«, sagt eine sehr vertraute Stimme ganz nah hinter mir und ich denke schon, dass er mich gleich gefunden hat, doch dann entfernen sich seine Schritte wieder ein paar Meter. Erleichtert atme ich auf, nur um gleich wieder zu erstarren. »Hab dich!«, flüstert er in mein Ohr und lässt dadurch einen Schauer durch meinen Körper laufen.
»Wie konntest du so schnell hier sein?«, frage ich, nachdem ich mich zu ihm umgedreht habe.
Ein träges Lächeln umspielt seine Lippen, als er sich zu mir herunterbeugt. »Ich war niemals weg.«
»Aber ich hab doch gehört, wie du …«
»Alles nur Ablenkung, meine Liebe.« Er greift nach einer Strähne meines rabenschwarzen Haares und lässt sie zwischen seinen Fingern hindurchgleiten. »Als ob ich jemals den Blick von dir abwenden würde.«
Ich lasse meine Hände an seinen Armen nach oben fahren und verschränke sie dann in seinem Nacken, wo meine Finger sofort beginnen, mit dem langen geflochtenen Zopf seines goldenen Haares zu spielen. Es ist nur eine dünne Strähne, die so lang ist, dass er sie flechten kann, und doch übt sie auf mich eine seltsame Faszination aus. »So? Und warum spielen wir dieses sinnlose Spiel dann jeden Tag?«
»Weil wir sonst nichts anderes zu tun haben«, antwortet er, beugt sich ein Stück nach unten und küsst mich auf die Stirn, direkt auf mein Halbmond-Mal. Ich erschauere kurz, ehe ich mich wieder zusammenreißen kann, und unterdrücke ein Seufzen. »Wir sind Götter und langweilen uns jeden Tag fast zu Tode. Irgendwas müssen wir schließlich machen.«
»Weißt du noch? Die Flutkatastrophe, die ich vor ein paar Hundert Jahren ausgelöst habe.«
»Oder mein Jahrhundertsommer. Ja, das waren noch Zeiten …« Wehmütig blickt er über meinen Kopf hinweg in die Ferne. »Aber in den letzten dreihundert Jahren ist nicht viel geschehen.«
»Meine Mutter und dein Vater sind einfach zu sehr mit ihren neuen Schöpfungen beschäftigt«, merke ich säuerlich an und verziehe das Gesicht. »Wenn ich Mutter mal treffe, redet sie nur von Menschen hier, Menschen da. Als ob mich das interessieren würde!«
»Mir geht es ähnlich mit Vaters Elfenrasse. Uns scheinen sie komplett vergessen zu haben.«
»Es ist lächerlich, wie wenig sie uns zutrauen. Ich meine, wir sind Götter! Und alles, was wir tun dürfen, ist, die Himmelsgestirne zu bewegen? Wir machen diese Arbeit jetzt seit Jahrtausenden und ich habe wirklich keine Lust mehr darauf.« Missmutig schürze ich die Lippen, während ich mir weitere tausend Jahre voller Langeweile vorstelle.
Mein einziger Lichtblick in dieser tristen Einöde ist Sol, der Sohn des Himmelsgottes. Schon seit unserer Erschaffung sind wir beide nahezu unzertrennlich. Tagsüber ist Sol dafür verantwortlich, dass die Sonne am Firmament ihre Bahnen läuft, während ich nachts den Mond über das Himmelszelt geleite.
Wir sehen uns jeden Tag bei Sonnenauf- und Sonnenuntergang und manchmal auch dazwischen, wenn unsere Aufgabe uns zu langweilig wird. Vom ersten Tag an waren wir beide freundlich zueinander, obwohl unsere Eltern sich nie wirklich verstanden haben. Sie sind zu alt, zu verbissen, um einander zu verstehen oder sich zumindest gegenseitig zu respektieren.
Sol und ich hingegen … wir sind anders als unsere Eltern, waren es schon immer. Während die Erdgöttin und der Himmelsgott sich um die wichtigen Angelegenheiten in ihrer Welt kümmerten und sich kaum mehr im Götterhain blicken ließen, hatten wir sehr viel Zeit für uns.
Und irgendwann war da … mehr.
Zumindest glaube ich das. Jedes Mal, wenn er mich so ansieht wie gerade eben, spüre ich ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch, das mir die Sinne vernebelt. Doch mehr als gehauchte Küsse auf die Stirn oder flüchtige, ja, eher freundschaftliche Umarmungen ist bisher nie gewesen.
Und das macht mich wahnsinnig! Aber den Mut, ihn direkt darauf anzusprechen, habe ich auch nicht. Zu groß ist meine Angst, dass er mich auslachen oder zurückweisen könnte. Dass er in mir nichts anderes als eine Art kleine Schwester sieht, mit der er die Jahrhunderte verbringt. Dass danach nichts mehr so ist wie bisher. Was soll ich denn ohne ihn tun? Mein Leben ist auch so schon trist genug, aber ohne Sol … Ohne Sol, ohne die Sonne an meiner Seite würde ich verkümmern. Jahrhunderte, ach was, Jahrtausende ist er bereits bei mir, hört mir zu, wenn ich mich mal wieder über meine Mutter oder mein Los als Mondgöttin beklage, und findet immer die richtigen Worte, um meine Welt erstrahlen zu lassen. Lange Zeit dachte ich über ihn wie über einen Bruder, den ich nie hatte, doch mittlerweile gehen meine Gedanken in eine ganz andere Richtung, wenn ich ihn sehe. Aber was das genau ist, weiß ich selbst nicht.
Wir Götterkinder sollten eigentlich nicht so denken, sollten es überhaupt nicht denken können, denn Gefühle sind für uns ein Fremdwort. Klar, wir verspüren Wut, Langeweile oder Missgunst, aber so extreme Gefühlsregungen wie Hass, Trauer oder Liebe sind uns nicht geläufig. Das ist etwas, um das ich Mutters Menschen beneide. Sie kämpfen und töten einander zwar aufgrund dieser starken Gefühle, aber wenigstens sind sie dazu fähig, sie überhaupt zu spüren.
Woher ich plötzlich diese Gefühlsregungen, die ich nicht näher benennen kann, habe, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie in direktem Zusammenhang mit Sol stehen. Jeden der anderen niederen Götter kann ich anschauen, ohne dabei etwas Vergleichbares zu spüren. Egal, ob es einer der Jahreszeitengötter ist, die Mutter extra für ihre kostbare Welt erschaffen hat, oder der schmächtige Gott des Regens, der immer eine sauertöpfische Miene zieht. Sie alle sind so etwas wie Familie für mich, aber für keinen von ihnen empfinde ich eine Regung, die über Respekt hinausgeht. Mit keinem von ihnen verbringe ich meine freie Zeit, wenn es sich vermeiden lässt. Sie sind zwar hier im Götterhain, wenn sie gerade keine Aufgabe zu erfüllen haben, aber sie interessieren mich nicht.
Ich habe nur Augen für ihn. Und das macht mir Angst.
Ich dürfte diese Gefühle nicht haben und schließe sie deswegen ganz tief in mir ein, auf dass niemand je diesen Sturm in mir sehen kann. Ich lächle unverbindlich, wenn ich in seiner Nähe bin, und hoffe, dass er mein wild klopfendes Herz nicht hören kann. Ich mache mir selbst etwas vor, das weiß ich, aber der Ausgang ist mir zu ungewiss. Selbst wenn Sol mich nicht sofort auslacht, wenn ich ihm meine veränderten Gefühle für ihn gestehen würde, so würde mich doch Mutters Zorn treffen, wenn sie es herausbekäme. Und das würde sie, denn sie ist die Herrscherin über alles Leben - und auch über mich. Sol ist zwar vom Himmelsgott erschaffen worden, doch ich bin mir sicher, dass auch sein Vater alles andere als erfreut wäre.
Für uns Götter gibt es keine Romanzen, keine Liebe, kein Bis ans Ende aller Tage. Wir sind das Ende aller Tage, denn wir leben ewig, werden nie krank und … können uns eigentlich auch nicht verlieben. Das, was ich empfinde, muss also etwas anderes sein. Vielleicht geht es genauso schnell wieder vorbei, wie es gekommen ist. Vielleicht muss ich einfach nur abwarten und mich verhalten wie immer. Sol tut es doch genauso. Ich bilde mir zwar ein, dass er mich häufiger als früher wie zufällig berührt und noch öfter meine Nähe sucht, aber ich mache mir sicher nur etwas vor, achte auf diese Dinge nun anders als noch vor ein paar Jahrzehnten.
Zeit hat für uns keinerlei Bedeutung. Wir leben von einer Aufgabe zur nächsten, und im Fall von Sol und mir sind diese Aufgaben immer gleich und somit auch gleich langweilig. Kein Wunder also, dass ich mich nach etwas Zerstreuung sehne. Während beispielsweise der Regengott immerhin mit seinen Regengüssen variieren und hin und wieder auch mal Hagel auf die Welt loslassen kann, habe ich mich um nichts anderes zu kümmern, als dem Mond seinen immer gleichen Weg über den Nachthimmel zu zeigen. Ich darf noch nicht einmal beeinflussen, ob es Halb- oder Vollmond sein soll. Alles muss Mutters vorgegebenen Richtlinien entsprechen. Ich könnte so viel mehr, das weiß ich. Aber niemand lässt es mich versuchen, weder Mutter noch der Himmelsvater, der älteste Gott, den wir kennen. Sie sind so verbissen darauf bedacht, dass alles seinen gewohnten Gang geht, dass sie mir nicht einmal zuhören würden, wenn ich sie um eine neue Aufgabe bäte, also versuche ich es gar nicht erst.
»Müsstest du nicht schon längst den Götterhain verlassen haben und deine Sonne aufgehen lassen?«, ziehe ich Sol auf und stupse ihn mit dem Zeigefinger an den Oberarm. Ich genieße das Gefühl seiner harten Muskeln bei dieser kurzen Berührung.
Breit grinsend beugt er sich näher zu mir hinab. »Ich glaube, die Welt kann heute auch mal ohne Sonne auskommen. Vorhin habe ich gesehen, wie Turba nach unten gegangen ist.«
Turba, der Regengott, gehört neben den Jahreszeitengöttern zu Mutters jüngsten Schöpfungen. Sie alle sind anders als Sol und ich. Ihnen fehlt ihr Innerstes. Sie sind nicht mehr als leere Puppen, die stumpf ihre Aufgaben verrichten. Manchmal glaube ich, dass sie nicht in der Lage sind, selbst zu denken. Im Gegensatz zu Sol und mir regen sie sich nie über ihre Aufgaben auf und verrichten sie immer tadellos. Selbst jetzt springen sie sofort ein, wenn einer von uns seinen Einsatz verpasst. Ich kann darüber nur den Kopf schütteln, denke mir aber, dass sich das mit den kommenden Jahrhunderten auch noch legen wird. Vielleicht entwickeln sie dann alle noch so etwas wie eine Persönlichkeit. Oder Mutter hat aus ihrem Fehler bei mir gelernt. Ich, als ihre erste Tochter, gelte als halsstarrig und eigenwillig, wie Mutter nie müde wird zu betonen, wenn ich die Nächte in ihrer Welt mal wieder im Dunkeln lasse, um meine Zeit lieber hier im Götterhain zu verbringen. Mit Sol, versteht sich.
»Was wollen wir denn sonst machen, wenn du dir schon einen Tag frei nimmst?«, frage ich und mein Herz macht dabei einen aufgeregten Satz. Was, wenn er den restlichen Tag mit mir verbringen will? Das wäre nicht ungewöhnlich, aber … in letzter Zeit fühlt es sich anders an. Vor allem, wenn ich allein in seiner Nähe bin, fern von den anderen Göttern, die sich ebenfalls hier im Hain tummeln.
»Wir waren schon lange nicht mehr unten.«
Mit unten meint er Mutters Welt, ihre geliebte Schöpfung.
»Wir sind jeden Tag da unten«, halte ich dagegen. »Wenn wir unseren langweiligen Aufgaben nachgehen.«
Wieder schenkt er mir ein Lächeln, das ein seltsames Kribbeln in meinem Bauch auslöst. »Nein, Dummerchen. Ich meine, richtig unten. Wann haben wir zuletzt wirkliche Erde unter den Füßen gespürt? Oder den Wind auf der Haut?«
»Ich würde gern ans Meer«, murmle ich, ohne weiter darüber nachzudenken, doch sofort schelte ich mich dafür. »Aber wir dürfen nicht nach unten, zumindest nicht so. Dein Vater würde aus der Haut fahren, wenn er mitbekommt, dass wir unter den Sterblichen wandeln.«
»Wer sagt denn, dass er es je erfahren wird?« Sein schelmisches Grinsen ist ansteckend und beseitigt fast vollständig meine Zweifel. »Nur du und ich, so wie immer. Keiner wird merken, dass wir weg sind.«
»Und wenn doch?«, frage ich unsicher. »Die beiden werden toben. Wir überschreiten da eine Grenze, Sol, die wir vielleicht lieber nicht überschreiten sollten. Es ist verboten.«
Er zieht einen Schmollmund. »Du bist so eine Spielverderberin! Vor nicht einmal hundert Jahren hättest du sofort Ja gesagt.«
»Ich würde immer noch Ja sagen, aber …« Aber was? Ich kann ihm unmöglich sagen, dass ich auf keinen Fall Mutters Aufmerksamkeit mehr als nötig auf uns beide lenken will. Ich will nicht, dass sie erfährt, dass mit meinen Gefühlen etwas nicht stimmt. Also halte ich mich lieber bedeckt, so liebend gerne ich auch die Zeit unbeschwert - und vor allem unbeobachtet - mit Sol verbringen würde. Aber ein unbeschwerter Tag ist es mir nicht wert, um vielleicht länger von ihm getrennt zu sein.
»Ach, komm schon, Luna! Nur einen Tag! Niemand wird es erfahren, weder deine Mutter noch mein Vater.« Er beugt sich ganz nah zu mir hinab und flüstert in mein Ohr: »Nicht einmal einer der anderen Götter wird es erfahren. Wir schleichen uns weg, nur du und ich.«
Sein Atem streicht über meine Wange und beschert mir trotz der immer gleichbleibenden Wärme hier im Götterhain eine Gänsehaut. Wider besseres Wissen nicke ich und lächle auch noch dabei.
Ein freier Tag mit Sol und niemand wird davon erfahren. Was kann schon passieren?
In dem Moment, in dem er meine Hand nimmt und wie selbstverständlich seine Finger mit meinen verflechtet, vergesse ich alle Bedenken, die ich kurz zuvor noch hatte. Grinsend folge ich ihm zum geheimen Pfad, der den Götterhain mit Mutters Welt verbindet. Ich nutze ihn jeden Tag, genau wie die anderen Götter, denn er stellt die einzige Verbindung zwischen Erde, Himmel und Götterhain dar, und doch fühlt es sich heute komplett anders an als sonst. Heute nutze ich ihn nicht, um Sol bei seiner Aufgabe abzulösen und meine Arbeit anzutreten. Heute nutze ich ihn, um etwas wirklich Verbotenes zu tun, dennoch fühle ich in mir nichts als pure Freude. Ich weiß nicht, ob die Ängste zurückkehren, sobald Sol mich nicht mehr berührt, aber darüber mache ich mir gerade keine Gedanken. Jetzt im Moment hält er meine Hand und nur das zählt.
Ob er bemerkt, dass meine Finger zittern?
»Wir suchen uns ein Fleckchen aus, in dem Turba gerade nicht sein Unwesen treibt«, sagt Sol und dreht seinen Kopf ein Stück nach hinten, damit ich ihn verstehen kann. Den Regengott habe ich ganz vergessen. Dass unser kleiner verbotener Ausflug nun anscheinend buchstäblich ins Wasser fällt, ist keine schöne Aussicht, doch auch das sind nur Kleinigkeiten, wenn ich bedenke, dass ich die Zeit mit Sol verbringen kann, ohne gestört zu werden. Und er hat recht: Sicherlich finden wir irgendwo in Mutters nahezu endloser Welt ein Eckchen, das von Turbas Regengüssen verschont bleibt.
Der Weg nach unten gleicht einem freien Fall. Mein Magen sackt herab und für einen winzigen Moment überkommt mich wie immer Panik, bis ich mir wieder ins Bewusstsein rufe, dass ich eine Göttin bin. Völlig unbeschadet landen wir beide unten in Mutters Welt.
Gierig atme ich den Duft nach Gras und Erde ein, der hier so viel facettenreicher ist als der im Götterhain. Ich gehe in die Hocke und streiche mit der freien Hand über die Grashalme, an denen noch der Morgentau hängt.
Als ich nach oben schaue, begegne ich Sols Blick, den ich unmöglich deuten kann. Sehr genau beobachtet er mich und bei der Art, wie sein Blick an meinem Gesicht entlangwandert, läuft mir ein Schauer durch den Körper. Findet er mein Verhalten seltsam? Unsicher reibe ich meine vom Tau feuchten Finger aneinander und stehe wieder auf.
»Also, wo wollen wir hin?«, frage ich dann, um die peinliche Stille zu überspielen, die sich zwischen uns ausgebreitet hat.
Sol blinzelt mehrmals hintereinander, ehe er antwortet: »Du wolltest ans Meer, oder? Ich habe zwar nie verstanden, was du an dieser Wasseransammlung findest, aber von mir aus können wir unseren freien Tag dort verbringen.«
»Den Geruch«, antworte ich. »Ich liebe den salzigen Meeresgeruch.«
Spöttisch verzieht er das Gesicht. »Wenn du meinst. Mir soll es recht sein. Meinst du, wir können es riskieren, uns dorthin zu portieren?«
Ich denke einen Moment darüber nach. Für uns Götter gibt es weder Zeit noch Entfernung dank unserer Fähigkeiten. Jedoch können wir durch diese auch aufgespürt werden, beispielsweise durch Mutter, die es sofort merken würde, wenn ich meine Magie tagsüber in ihrer Welt einsetze. Das Risiko, sofort entdeckt zu werden, ist mir zu groß, also schüttle ich den Kopf.
»Zu Fuß werden wir aber unmöglich das Meer erreichen«, gibt Sol zu bedenken, doch ich zucke nur mit den Schultern.
»Dann eben nicht das Meer. Vielleicht finden wir in der Nähe einen Fluss, das ist doch fast dasselbe.« Das stimmt natürlich nicht, und selbst in meinen eigenen Ohren hört sich diese Ausrede lahm an. Aber im Grunde ist es mir egal, wo wir diesen Tag verbringen, solange wir zusammen sein können.
Wieder lächelt Sol und zieht mich scheinbar wahllos in eine Richtung. Wir streifen durch kniehohes Gras und ich bin froh, dass der Regen dieses Fleckchen noch nicht erreicht hat. Zwar scheint auch keine Sonne, da Sol gerade seine Zeit mit mir verbringt, aber trotzdem ist es warm, beinahe schwül.
Wir plaudern über Belanglosigkeiten, so wie fast immer, und doch fühlt es sich anders an. Wir sind uns näher, ich kann die Hitze seines Körpers an meiner Haut spüren und genieße jede einzelne Sekunde in seiner Nähe.
Und ich bilde mir ein, dass es ihm ebenso ergeht.
Ich habe keine Ahnung, wie lange wir durch Mutters Welt streifen. Wie gesagt, Zeit hat keinerlei Bedeutung für uns, weshalb ich auch sehr schlecht darin bin, diese zu schätzen.
Irgendwann, nachdem wir durch einen lichten Wald gestreift sind, kommen wir tatsächlich an einen Fluss.
»Es ist zwar nicht das Meer«, beginnt Sol und zieht mich ans Ufer, »aber es ist besser als nichts, oder?«