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Wie lieben die Menschen heute? In welchem Gewand kommt die Liebe zu ihnen? Da ist ein junges Mädchen, das allzu sehr dem Horoskop vertraut. Aber hilft das? Dann gibt in diesem heiteren Roman eine bezaubernde Blumenverkäuferin, die scheinbar hoffnungslos liebt. Vielleicht macht sich ihre Ausdauer bezahlt? Und wir lernen einen sympathischen jungen Herrn kennen, der als Zeitungstante "Hedwig" bange Leserbriefe beantwortet. Marie Louise Fischer zeichnet in diesem Lesevergnügen ein buntes Bild unserer Zeit voll vergnüglicher Verwirrungen und kleiner Missverständnisse.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-
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Seitenzahl: 258
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Marie Louise Fischer
Roman
Saga Egmont
Mit einem Fuß im Himmel
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1967 by F. Schneider, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711719091
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com
Das blendend helle Licht eines jungen Frühlingstages überflutete die Stadt am Rhein und tauchte sie in strahlenden Glanz, ein durchsichtig klarer Himmel spiegelte sich in dem mächtigen Strom und ließ die Wasser leuchtend blau erscheinen. Es war, als schwölle der Großstadtverkehr unter der funkelnden Sonne zu doppelter Lautstärke an; durchdringender als sonst ertönte das Bimmeln der Straßenbahnen, das Hupen ungeduldiger Autofahrer und das Knattern der Motorräder.
Gleich am Anfang der Luegallee, einer breiten Geschäftsstraße jenseits des Rheines, lag die Blumenhandlung Oskar Hähnleins. Filiale Oberkassel, stand auf dem Firmenschild, denn das Hauptgeschäft befand sich nicht im Vorort, sondern im Zentrum der Stadt. Hier drinnen spürte man kaum etwas von dem brausenden Frühlingstag, der draußen herrschte, hier war es schattig und kühl, und nur wie aus weiter Ferne drang der tosende Straßenlärm herein.
Liselotte Klaus, die Filialleiterin, stand inmitten der süß und betäubend duftenden Blumen und beriet mit warmem, herzlichem Lächeln eine alte Dame, die sich als recht anspruchsvolle Kundin erwies. Liselotte war mit ihrem schimmernd blonden Haar, dem klaren Blick ihrer ruhigen grauen Augen und den vollen Lippen ein anziehendes und sympathisches Persönchen. Als ein rührendes Knöspchen konnte man sie allerdings nicht mehr bezeichnen, sie glich eher einer voll erblühten Rose, einer jener Teerosen, wie sie aus einem vollen Strauß hervorragend inmitten ihres Schaufensters zum Kauf lockten. Während sie die alte Dame anlächelte, strahlte sie so viel Frische, Gesundheit und Frohsinn aus, dass die kleine Evi, der Lehrling, sie immer wieder bewundernd von der Seite ansehen musste.
Für Evi war Fräulein Liselotte Ideal und Vorbild, eines Tages würde sie selbst auch so sein, hoffte sie von Herzen, würde mit genauso viel Sicherheit ihre Kunden behandeln, mit genauso viel Umsicht ihre Anweisungen geben. – Evi ahnte nicht, dass Liselotte selber sich keineswegs vorbildlich oder gar beneidenswert vorkam.
Die Entscheidung fiel der Kundin schwer. Liselotte erfuhr während der schwierigen Auswahl die ganze Lebens-, Liebesund Ehegeschichte der alten Dame, und sie lauschte mit demselben ehrlichen und ungeheuchelten Interesse, das sie allen Menschen und Dingen entgegenbrachte, derselben Anteilnahme, die Oskar Hähnlein, ihrem Chef, stets so wohl tat, wenn er bei ihr wieder einmal seine Ehesorgen ablud. Noch hatte sich die schwierige Kundin nicht entschieden, als sich die Ladentür öffnete und mit einem fröhlichen Gruß Hein Grotius eintrat. Liselotte errötete flüchtig, aber sie konzentrierte ihre Aufmerksamkeit weiterhin auf die Kundin. Der alten Dame jedoch war trotz Liselottes eher noch verstärkten Eifers weder der Eintritt des jungen Mannes noch ihr Erröten entgangen, sie schaute mit raschem Blick von einem zum andern, entschied sich plötzlich sehr schnell, zahlte und verließ mit einem zugleich taktvollen und wissenden Lächeln den Laden.
Liselotte sah ihr nach. »Was für eine reizende alte Dame!« sagte sie.
Hein Grotius versuchte, ihren Blick auf sich zu ziehen. »Liselotte! Wenn Sie wüssten, wie bezaubernd Sie aussahen … eben, als ich hereinkam!«
»Sie meinen, weil ich rot geworden bin?!« Liselotte wandte sich ihm lächelnd zu. »Aber Hein! Das werde ich doch immer, sobald Sie aufkreuzen! Haben Sie das denn noch nicht gemerkt!?«
»Wirklich?! Nein, Liselotte, nun hören Sie mal … jetzt wollen Sie mich schon wieder aufziehen!« wehrte Hein Grotius halb ärgerlich, halb geschmeichelt ab. Er war noch jung, kaum fünfundzwanzig, sah glänzend aus mit seinen vergnügten blauen Augen, dem glatten schwarzen Haar und dem sinnlichen Mund; ein Typ für Frauen. Obwohl er das wusste, genügte ihm diese Gewissheit nicht, er wollte seine Unwiderstehlichkeit immer wieder bestätigt sehen, und wenn er auch Unkosten und wirkliche Anstrengungen scheute, so sparte er doch keineswegs mit zärtlichen Blicken und überredenden Worten, sobald ein weibliches Wesen in seine Nähe geriet.
»Aber wieso denn!? Wo werd’ ich denn!« parierte Liselotte vergnügt.
»Sie wissen ganz genau, wie sehr ich Sie verehre, Liselotte!« behauptete Hein Grotius in überzeugendem Ton. »Es ist nicht nett von Ihnen, wahrhaftig nicht, dass Sie sich dauernd über mich lustig machen!«
»Sie sind zu bescheiden, Hein, das ist Ihr Fehler!« erklärte Liselotte und gab sich alle Mühe, so ernst wie möglich zu bleiben. »Spüren Sie denn nicht, dass mein jungmädchenhaftes Erröten meine Worte Lügen straft!?«
»Ach, Liselotte!« seufzte Hein Grotius. »Wenn es doch wahr wäre!«
»Es ist so, Hein! Deutlicher kann ich es Ihnen doch nun wirklich nicht machen!«
»Wir sehen uns zu selten, Liselotte! Wenn wir öfters zusammen sein könnten, wären wir längst viel weiter miteinander!«
»Wie weit, Hein? Ich begreife nicht recht, was Sie meinen!«
»Das wissen Sie sehr gut! Liselotte … Haben Sie denn wirklich nie Zeit für mich!?«
»Jeden Tag, Hein! Wir sehen uns doch fast jeden Tag!«
»Hier im Laden! Wie oft habe ich Sie schon gebeten, mal abends ins ›Tabaris‹ zu kommen! Wenn Sie mich singen hörten …«
»Ich höre Sie Abend für Abend im Rundfunk!«
»Lenken Sie doch nicht immer ab, Liselotte! Warum wollen Sie nicht mal abends mit mir zusammen sein?«
»Weil man als Frau ohne Begleitung gar nicht ins ›Tabaris‹ hineinkommt, das wissen Sie doch!«
»Ich würde Sie schon hineinschleusen, Ehrensache! Bitte, Liselotte, machen Sie mir doch die Freude!«
»Ich finde Sie reizend, Hein, und Sie geben mir fast wieder neuen Lebensmut! Aber Sie sind doch wohl nicht nur deshalb gekommen, um sich mit mir zu verabreden?!«
»Doch – hauptsächlich!«
»Und nebensächlich?«
»Als ob Sie das nicht wüssten, Liselotte! Ich wollte bloß mal wieder fragen, ob Sie nicht ein paar Blümchen für mich haben! Dürfen ruhig schon ein bisschen welk sein, ich bin nicht anspruchsvoll, wenn sie nur aus Ihrer lieben Hand kommen!«
»Evi«, wandte sich Liselotte dem Lehrling zu, »schau doch mal! Wir hatten da vorhin die Nelken fortgenommen …«
»Ja, Fräulein Liselotte, ich weiß schon!« rief Evi bereitwillig, die dem Gespräch der beiden gelauscht hatte, und verschwand im Hinterzimmer.
»Sie sind ein Engel, Liselotte!« erklärte Hein Grotius.
Evi kam mit den Nelken in der Hand hereingestürzt, Liselotte entfernte sorgfältig ein paar welke Blättchen und wickelte den Strauß in Seidenpapier. »Die sind wirklich noch ganz hübsch, Hein! Wenn Sie der Dame erklären, dass Sie eine halbe Stunde auf sie gewartet hätten, sind sie gerade richtig!«
»Von welcher Dame sprechen Sie!?« Hein Grotius spielte mit unwahrscheinlicher Vollendung den unschuldig Verdächtigten.
»Na, von der Dame, der Sie die Blumen schenken wollen!«
»Aber, Liselotte, was halten Sie denn von mir!? Glauben Sie wirklich, dass ich …?« empörte sich Hein Grotius.
»Ich halte Sie für einen vollendeten Kavalier, Hein!« lachte Liselotte.
»Wenn ich Ihnen nun schwöre …! Ich schwöre Ihnen bei allem, was mir heilig ist, Liselotte …«
»Das ist wohl nicht sehr viel, Hein!« warf Liselotte dazwischen.
Hein ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Ich schwöre Ihnen, dass ich mit diesen Blumen nichts weiter im Sinne habe, als mein bescheidenes Junggesellenheim zu schmücken! Der Schlag soll mich auf der Stelle treffen, wenn ich nicht die Wahrheit spreche!«
»Ich glaub’s Ihnen ja, Hein!« sagte Liselotte besänftigend. »Und ich finde es süß von Ihnen, dass Sie so viel Sinn für ein gepflegtes und gemütliches Zuhause entwickeln! Ein ganz neuer Zug an Ihnen!«
»Ja, nicht wahr?!«, pflichtete Hein Grotius eifrig bei. »Niemand traut mir das zu! Aber Sie sollten mich ‘mal besuchen, Liselotte, dann würden Sie sehen …! Das ist überhaupt eine Idee! Besuchen Sie mich doch einmal!«
»Tue ich, Hein, ganz bestimmt!« Liselotte reichte ihm über den Ladentisch hinweg die Hand. »Ich werde Sie einmal überfallen!«
»Das ist … ja, natürlich! Aber vielleicht wäre es doch besser … Ich meine, ich bin nicht immer zu Hause! Wollen wir nicht gleich eine Stunde ausmachen?«
»Keine Bange, Hein«, lachte Liselotte, »wir reden noch darüber!«
Vergnügt und einigermaßen erleichtert zog Hein Grotius ab, nicht ohne Evi, die ihm die Tür aufhielt, zärtlich die Wange gestreichelt zu haben. Evi blieb noch einen Augenblick draußen stehen, während sich Liselotte dem nächsten Kunden zuwandte, einem kleinen Mädchen, das schon während ihrer Unterhaltung mit Hein Grotius in den Laden gekommen war.
»Was wünschst du denn, Kleine?«
Evi schloss langsam die Tür. »Er ist in Richtung Stadt gefahren«, erklärte sie nicht ohne Bedauern.
»Natürlich«, antwortete Liselotte lächelnd, »was dachtest du denn!?«
»Dass ein so netter Mensch so lügen kann!« seufzte Evi.
»Das tun alle Männer, Evi«, erklärte Liselotte weise, »je netter sie aussehen, desto unverschämter lügen sie!« Dann wandte sie sich endgültig dem kleinen Mädchen zu, um dessen Wünsche zu erforschen.
Es stellte sich heraus, dass die Kleine ein »Fleißiges Lieschen« kaufen wollte, weil Mutter heute Geburtstag hatte, dass sie aber nur zwei Mark anzulegen vermochte. Das kleinste Fleißige Lieschen kostete aber zwei Mark und zwanzig Pfennige. Lieselotte bemühte sich eine Weile, der Kleinen zu einer anderen Topfpflanze zuzureden, aber das Kind, dessen Augen groß vor Enttäuschung geworden waren, bestand auf einem Fleißigen Lieschen. Sie hatten zu Hause eines gehabt, und das war eingegangen, und deshalb musste es unbedingt wieder ein Fleißiges Lieschen sein.
Liselotte hörte der Kleinen freundlich und geduldig zu. Das Kind tat ihr Leid. Es war ein ausgesprochenes hässliches Entlein mit strähnigem, aschgrauem Haar, aber sehr lieben Augen.
»Ich – ich wollte so gerne!« stotterte das Kind. »Mutter hätte sich bestimmt so gefreut!« Es wandte sich rasch zum Gehen, weil es fühlte, dass gleich die Tränen kommen würden.
»Hör’ mal, du!« hielt Liselotte sie zurück. »Was willst du deiner Mutter denn jetzt schenken?«
»Ich … ich weiß noch gar nicht!«
»Gib mal dein Geld!«
Zögernd legte die Kleine ihr Zweimarkstück, das feucht und warm von ihrer kleinen Hand war, in Liselottes ausgestreckte Rechte. »So«, erklärte Liselotte, »ich gebe dir jetzt das Fleißige Lieschen … und du bringst mir das fehlende Geld, wenn du es einmal übrig hast, ja?«
»Oh ja! Ich bringe das Geld bestimmt, ganz bestimmt, ich verspreche es!«
Liselotte sah in die aufstrahlenden Kinderaugen, und sie dachte daran, dass zwanzig Pfennige für ein kleines Mädchen sehr viel sind. »So wichtig ist das nicht«, erklärte sie lächelnd, »mach dir deswegen nur keine Sorgen!«
»Aber ich werde es bringen, wirklich!« beharrte die Kleine. »So, jetzt binden wir noch eine Rosette um den Topf!« Liselotte hüllte den Tontopf mit wenigen geschickten Griffen in grünes Krepppapier. »So ist er hübsch, nicht wahr?«
»Sehr!« rief die Kleine. »Genau so habe ich ihn mir vorgestellt!«
Liselotte drückte ihr den Blumentopf in die Arme. »Fall nicht damit, hörst du?« mahnte sie.
»Ja, ja, danke!« sagte die Kleine. Evi hatte schon die Ladentür geöffnet, und das Kind, den Topf eng ans Herz gepresst, stürmte hinaus.
»Wenn das Herr Hähnlein wüsste!« meinte Evi bedenklich. »Ach was! Mit dem werde ich schon fertig! Und überhaupt, was ist schon dabei!?«
»Wir dürfen die Blumen doch nicht unterm Preis weggeben!«
»Meinst du, Herr Hähnlein würde deshalb Pleite machen! So ein Unsinn!«
»Er wird’s ja schon nicht merken«, beruhigte Evi sich selber. »Das darf er ruhig, hörst du? Das ist doch absolut nichts Unerlaubtes, das ist Kundenwerbung, nichts weiter!«
»Kundenwerbung? Das verstehe ich nicht!«
»Dann spitze die Ohren, ja? Die Mutter des kleinen Mädchens hat heute Geburtstag, das hast du doch gehört, nicht wahr? Bestimmt erscheinen eine ganze Menge Onkel und Tanten und was dazu gehört, und wenn ich der Kleinen die Pflanze nicht gegeben hätte, was wäre geschehen? ›Das ist typisch für diese Geschäftsleute‹, hätten die Verwandten gesagt, ›als ob sie dem Kind die zwanzig Pfennig nicht hätten nachlassen können!‹ So aber passiert das genaue Gegenteil, die gesamte Familie wird sich sagen: ›Das ist aber mal ein nettes Geschäft und eine nette Verkäuferin!‹ Und sie werden ihren ganzen Bedarf an Blumen von nun an nur bei uns decken, verstehst du? Wie du in den Wald hineinrufst, so hallt es wider … das solltest du doch schon in der Schule gelernt haben, Evi!«
Liselotte hatte sich gehörig in Eifer geredet, und Evi hatte aufmerksam und nachdenklich gelauscht. Es dauerte eine Weile, bis sie sich über alles klar war. Dann lachte sie plötzlich vergnügt auf. »Kundenwerbung! Das können Sie mir nicht weismachen, Fräulein Liselotte … Sie sind einfach zu gut, das ist es! Sie hätten es ja nicht fertig gebracht, das Kind ohne Fleißiges Lieschen abziehen zu lassen!«
»Quatsch!« antwortete Liselotte unwillig. »Ich und gut … als ob ich mir das überhaupt erlauben könnte!« Dann schaute sie rasch und etwas verstohlen auf ihre Armbanduhr.
Evi war dieser Blick nicht entgangen. »Er muss gleich kommen«, bemerkte sie.
»Wenn er kommt!« meinte Liselotte skeptisch, aber sie warf doch einen Blick in den kleinen, hübsch gerahmten Spiegel, der hinter dem Ladentisch hing.
Und da kam er schon: die Tür ging auf und herein trat der Mann, auf dessen Erscheinen Liselotte sich jeden Tag neu freute. Heute trug er einen eleganten hellen Übergangsmantel, den Hut hatte er im Wagen gelassen. Liselotte sah den goldenen Ring an seiner linken Hand, und das Herz wurde ihr schwer.
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Sie wünschen, mein Herr?«
»Hm … einen Augenblick, bitte«, murmelte er und musterte kritisch die ausgestellten Blumen. Für Liselotte hatte er keinen Blick.
Sie kam hinter dem Ladentisch hervor und trat zu ihm. »Wie wäre es mit Veilchen?« fragte sie und nahm einen Bund aus der Vase. »Es sind die ersten im Jahr … heute Mittag frisch gekommen!«
»Wie teuer?« erkundigte er sich kurz.
»Zwei fünfzig!«
»Viel Geld für so ein winziges Sträußchen!«
»Aber schauen Sie doch nur, wie hübsch sie sind! Und wie sie duften!« Liselotte steckte ihre Nase in das Sträußchen, und es ging ihr durch den Kopf, wie glücklich sie sein würde, wenn er ihr auch nur ein einziges dieser kleinen Veilchen schenken würde.
»Also gut!« meinte er.
»Darf ich es Ihnen einschlagen?« forschte Liselotte eifrig. »Oder … sollen wir es schicken?«
»Hm … ich glaube, es ist besser, Sie senden es zu.«
»An Fräulein Gabriele Görner?« fragte Liselotte. »Die Adresse liegt noch vor!«
Zum ersten Mal sah der Herr Liselotte an, mit einem kurzen, durchaus nicht freundlichen Blick. »Bitte«, sagte er und warf das Geld auf den Ladentisch. »Guten Tag!«
»Auf Wiedersehen, mein Herr!« rief Liselotte, aber er hörte es nicht mehr, er hatte den Laden schon verlassen, noch ehe Evi herbeispringen und die Tür öffnen konnte.
Liselotte stand da, die Veilchen in der Hand, und biss sich auf die Unterlippe.
»Bei dem ist bestimmt ’ne Schraube locker!« erklärte Evi böse. Liselotte blickte vor sich nieder, ohne zu antworten.
Nein, eine lockere Schraube hatte er sicher nicht, dachte sie, eher waren seine Schrauben zu fest angezogen. Er war verkrampft, konnte sich nicht lösen, nicht aus sich herausgehen! Und doch, sie war sicher, dass er freundlich und menschlich sein, herzlich und froh lachen konnte, wenn man ihn nur richtig anpackte. Vielleicht war er anders, wenn er mit seiner Braut zusammen war! Liselotte wies diesen Gedanken sogleich von sich ab, sie wollte eine solche Möglichkeit nicht einmal in Betracht ziehen. Nein, nein, nein, das konnte nicht sein! Diese Frau verstand ihn nicht, er war nicht glücklich mit ihr, das musste doch ein Blinder sehen! Ein glücklicher Mensch würde anders auftreten. Wer wusste denn, was für eine Person sie überhaupt war, die ihn sich eingefangen hatte? Wahrscheinlich eine kalte, berechnende Schlange, die ihr Spiel mit ihm trieb, ein Vamp, der ihn zugrunde richtete. Ach, warum musste ausgerechnet er verlobt sein! Wenn er frei wäre, würde alles soviel leichter für sie sein, wäre sie ihm längst schon etwas näher gekommen. Immerhin war er noch nicht verheiratet, und das war ein Trost. Bis zur Hochzeit konnte noch manches geschehen, Gabriele Görner könnte der Schlag treffen, sie könnte unter ein Auto kommen. Was ihr nicht alles zustoßen konnte!
Liselottes Gedanken waren alles andere als freundlich, als sie da mit bösem Gesicht hinter dem Ladentisch stand und vor sich hinstarrte – sie wünschte der ihr völlig unbekannten Gabriele Görner die Pest an den Hals, und das aus ganzem Herzen! »Herr Hähnlein!« rief Evi, denn draußen war der kleine Lieferwagen vorgefahren.
Liselotte schrak auf und blickte zur Tür. Da trat er schon herein, Oskar Hähnlein persönlich. Er strahlte über das ganze runde Gesicht, gerade so, als sei er überzeugt, die liebe Sonne selbst in den schattigen Laden hereinzubringen.
Gabriele Görner zog die Wachstuchhülle über ihre Schreibmaschine, warf Stenogrammblock und Bleistift in die Schreibtischschublade, knallte sie mit kräftigem Schwung zu und rief erleichtert: »Fertig! Schluss für heute! Dem Himmel sei gedankt!«
Dann sprang sie auf, lief ans Fenster und sah vergnügt zum heiteren Himmel empor.
Wenn ihr jemand gesagt hätte, dass es einen Menschen gab, der ihr aus tiefster Seele Gift in den Morgenkaffee oder einen Dolch in den Rücken wünschte, wäre sie wahrscheinlich äußerst überrascht gewesen. Und wenn sie dazu noch erfahren hätte, dass ein junges Mädchen so unfromme Wünsche hegte, das sie um ihren Verlobten, Till Torsten, beneidete, wäre sie womöglich noch fassungsloser gewesen. Till Torsten war ein sympathischer, zuverlässiger Mensch, zugegeben, aber in Gabrieles Augen doch nichts weniger als ein Typ für Frauen, und gerade das war das Beruhigende an ihm.
Gabriele wandte sich wieder dem Büroraum und ihrer Kollegin Monika zu und sagte: »Fix! Mach dich fertig! Draußen ist herrliches Wetter!«
»Moment! Ich bin gleich so weit!« antwortete Monika und lief schnell noch einmal aus dem Zimmer.
Gabriele öffnete die Tür zu der kleinen Waschnische, knipste das Licht über dem Spiegel an und betrachtete sich prüfend, während sie Wasser laufen ließ und zur Seife griff. Sie war ein bezauberndes kleines Persönchen mit strahlenden braunen Augen, die kindlich und unschuldig in die Welt schauten. Ihr feines Näschen hatte einen optimistischen Schwung nach oben, und wenn sie lachte, zeigte sie blitzweiße Perlenzähne. Gabriele hatte allen Grund, mit ihrem Äußeren zufrieden zu sein, und sie war es auch. Rasch trocknete sie die Hände ab, kämmte die braunen Locken, schlüpfte in ihren Regenmantel und setzte die Baskenmütze aufs Ohr. »Bist du nun endlich so weit, Monika?« fragte sie ihre Kollegin, die inzwischen wieder ins Zimmer gekommen war.
»Na klar! Wir können!« gab Monika munter zurück. Nebeneinander verließen die beiden Mädchen das Büro, liefen, fröhlich nach links und rechts grüßend, die breite geschwungene Treppe hinunter und standen dann draußen, im hellen Sonnenschein.
Acht Stunden am Tag arbeiteten Gabriele und Monika als Sekretärinnen bei der Fortuna Lebensversicherungsgesellschaft A. G., die ihre Räume in einem riesigen, modernen Bürohaus in der Alleestraße hatte. Beide fanden, dass es ein herrliches Gefühl sei, die Arbeit für viele Stunden wieder einmal hinter sich lassen zu können, aus den nüchtern schattigen Bürozimmern hinauszutreten in den warmen goldenen Frühlingssonnenschein.
Die Mädchen sahen einander aufatmend an.
»Wollen wir noch eine Tasse Kaffee zusammen trinken?« schlug Monika vor. »Bestimmt kann man heute schon draußen sitzen!«
Gabriele stimmte zu und sie schlängelten sich durch die Menge der Menschen, die um diese Zeit alle ihre Arbeitsstätten verließen und nach Hause drängten, zum Corneliusplatz. »Guck mal, die Schwäne!« machte Monika ihre Kollegin aufmerksam.
»Gott, sind die hübsch!« rief Gabriele. »So elegant! Schade, dass wir nichts zum Füttern dabei haben!«
»Morgen bring ich was mit«, nahm sich Monika vor.
»Das hast du bis zum Abend bestimmt selber aufgegessen!« lachte Gabriele.
Eine Weile standen sie noch über das Geländer gebeugt und beobachteten die weißen und schwarzen Schwäne, die anmutig und selbstsicher ihre Bogen über den Stadtgraben zogen. Möwen flogen kreischend hoch, schossen nieder und versuchten, einen Anteil an den Brotstücken, die zu den Schwänen hinuntergeworfen wurden, zu erhaschen.
»Sind die frech!« empörte sich Monika.
»Was willst du?! Sie müssen ja auch leben!« gab Gabriele zu bedenken.
Dann trennten sich die beiden von dem hübschen Anblick und begannen gemächlich die Königsallee hinaufzuschlendern. Vor jedem der Schaufenster blieben sie stehen, um die Auslagen zu begutachten.
Jeder hätte Gabriele für eine typische Düsseldorferin gehalten, eines jener schicken und lebenslustigen Mädchen, wie sie der Stadt am Rhein ihr Gepräge geben – und doch wäre dies weit gefehlt gewesen. Gabriele war eine waschechte Sächsin – der Kenner hätte es leicht an ihrer unwahrscheinlich durchsichtigen und zarten Haut erraten, auf die die schönen Sächsinnen mit Recht so stolz sind – ihrer Sprache jedoch fehlte jeder sächsische Akzent, und Gabriele dankte neben dem Himmel vor allem ihrer strengen Tante Ottilie dafür, die sich so viel Mühe gegeben hatte, ihr ein reines Hochdeutsch beizubringen.
Kaum ein Jahr war es her, seit Gabriele aus Sachsen gekommen war, mit einer Empfehlung ihrer Tante Ottilie an Till Torsten, den Sohn eines geliebten Jugendfreundes.
Sie hatte Glück gehabt, oder vielmehr, die Voraussagen ihrer Tante Ottilie waren eingetroffen. Till Torsten war von ihrem Charme, der selbst den verknöchertsten Schalterbeamten zerschmelzen ließ, berückt gewesen. Er hatte ihr mit Geld und guten Ratschlägen unter die Arme gegriffen, ein möbliertes Zimmer bei Fräulein Emilie Leisegang verschafft, und nicht lange hatte es gedauert, bis Gabriele eine angenehme und gut bezahlte Stellung bei der Fortuna Lebensversicherung fand. Vor wenigen Monaten nun hatte sie sich mit Till Torsten verlobt, jetzt stand sie kurz vor der Heirat, und somit war alles im Lot.
Das Einzige, was Gabriele in Düsseldorf fehlte, war Tante Ottilie, die so prächtig Karten schlagen konnte, aber selbst dafür hatte sich ein Ersatz gefunden – das Tageshoroskop im »Ausblick«. Dieses Horoskop war nun der vertrauenswürdige Kompass, mit dessen Hilfe sie ihr Lebensschifflein über alle Klippen und Brandungen hinwegsteuerte.
Monika hatte Recht gehabt, die Tische und Stühle der Cafés waren schon auf die Straße gestellt worden, die bunten Decken und die Sonnenschirme leuchteten einladend unter dem Grün der riesigen Kastanienbäume. Schon waren die dicken, klebrigen Knospen aufgesprungen, und nicht lange mehr würde es dauern, bis die weißen Blütenkerzen aufflammen würden.
Die beiden Mädchen fanden einen freien Tisch, setzten sich und gaben ihre Bestellung auf – Gabriele verlangte ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte, Monika beschied sich mit einem Florentiner.
»Du solltest ruhig was Ordentliches essen!« mahnte Gabriele, als der Ober diensteifrig davongeeilt war.
»Kann ich mir nicht erlauben«, seufzte Monika, »ich werde ja ohnehin zu dick!«
»Unsinn! In unserem Alter spielt das noch gar keine Rolle!«
»Du hast gut reden, du bist schlank wie eine Tanne! Aber sieh mich an!«
Der Ober kam mit Kaffee und Kuchen zurück. Gabriele aß mit gutem Appetit, während Monika an ihrem Florentiner nur knabberte.
»Triffst du heute Abend deinen Bräutigam, Gaby?«
»Glaub’ ich nicht! Ich habe allerhand Krimskrams zu tun … und dann muss ich auch noch zur Schneiderin!«
»Ach ja, wegen deines Brautkleides! Herrlich! Wenn du wüsstest, wie ich dich beneide!«
»Na, du darfst wirklich nicht klagen! Du hast doch schließlich deinen Karl Egon!«
»Ja, das stimmt«, gab Monika zu, »aber heiraten wird der mich nie und nimmer!«
»Das liegt bloß an dir«, behauptete Gabriele, »man muss die Männer richtig behandeln!«
»Ich weiß nicht«, seufzte Monika, »na, jedenfalls sehe ich ihn heute Abend … und ich freue mich schrecklich!«
»Na also!«
»Sag mal, Gaby … ob er dir wohl heute wieder Blumen schickt? Ich meine, dein Bräutigam?«
»Anzunehmen! Ja, sicher!«
»Siehst du, das ist auch etwas, wozu ich meinen Karl Egon nie und nimmer bewegen könnte!«
»Schön dumm von dir!« erklärte Gabriele ungerührt.
»Ich finde, so etwas gehört sich einfach!«
»Sag’ du das mal meinem Karl Egon!«
Gabriele lachte. »Mach mich einmal mit ihm bekannt! Ich werde es ihm schon sagen!«
Monika musterte die Freundin eine Sekunde. »Lieber nicht«, meinte sie dann, »du schnappst ihn mir sonst noch weg!«
»Ist er denn nett? Ich meine, würde es sich lohnen?«
»Ach ja, nett ist er schon. Einfach fantastisch! Aber bestimmt verdient er nicht so viel Geld wie dein Bräutigam, deshalb kann er auch keine Blumen schicken!«
»So wild ist das mit dem Geldverdienen bei Till auch nicht!« erklärte Gabriele. »Er ist ja bloß Journalist!«
»Bloß? Na hör mal, ich finde das toll interessant!«
»Das schon, aber …«
»Wirst du noch weiterarbeiten, wenn du verheiratet bist? Du hast doch noch nicht gekündigt, oder …?«
»Das ist es ja eben!« sagte Gabriele. »Darüber haben wir überhaupt noch nicht gesprochen!«
»Nicht!? Das verstehe ich nicht!«
»Wenn du ihn kennen würdest! Weißt du, er ist manchmal recht schwierig. Er begreift die einfachsten Dinge nicht. Zum Beispiel, dass man nicht gerne verheiratet sein und nebenbei noch im Büro arbeiten möchte!«
»Ich dachte, du könntest so gut mit Männern umgehen! An deiner Stelle hätte ich ihm das längst klar gemacht!«
»So …!? Da sieht man mal wieder, dass du nichts von Männern verstehst! Man muss den richtigen Moment abpassen, darauf kommt es an! Merk dir das für deinen Karl Egon!«
»Den richtigen Moment?! Woran merkt man das?«
»Das muss man ganz einfach spüren! Eine Frau von Format spürt so etwas!«
»Ach so«, meinte Monika wenig überzeugt.
Kuchen und Kaffee waren inzwischen vertilgt, die Mädchen zahlten, standen auf und bummelten zum Corneliusplatz zurück. Als sie an dem Zeitungsverkäufer vorbeikamen, der mit überlauter Stimme den »Ausblick« ausrief, bat Gabriele: »Monika, schau doch mal! Hast du vielleicht einen Groschen?«
»Ich glaube schon«, antwortete Monika und begann in ihrem Portmonee zu wühlen. »Da ist einer. Wofür brauchst du ihn?«
»Kauf’ doch mal bitte einen ›Ausblick‹, ja?«
»Ach so! Wegen des Horoskops! Du bist total verrückt, Gaby, das sage ich dir!« lachte Monika und erstand ein Exemplar des »Ausblick«, das ihr Gaby aus der Hand riss. Sie schlug die Seite mit den Horoskopen auf.
Monika versuchte, ihr über die Schulter zu schauen: »Lies doch laut! Was sagen die Sterne?«
»Donnerwetter! Na so etwas!« rief Gaby. »Pass mal auf: ›Jetzt ist endlich der Zeitpunkt gekommen, wo Sie mit Vorurteilen und Missverständnissen aufräumen können! Lassen Sie sich nichts gefallen! Setzen Sie sich durch! Sagen Sie die Wahrheit! Am Abend eine kleine Auseinandersetzung mit einem geliebten Menschen!«
Gabriele ließ die Zeitung sinken und schaute Monika verklärt an. »Das ist doch toll, nicht? Darauf habe ich gewartet!«
»Na hör mal!« Monika war ehrlich entsetzt. »Du willst doch wohl nicht wirklich? Allen Leuten die Wahrheit sagen, und so?‹«
»Na klar! Was denn sonst!«
»Hör mal, Gaby, das kannst du doch nicht tun! Das … das wäre ja nicht auszudenken!«
»Ich tu’s! Ganz bestimmt tu ich es! Das Horoskop im ›Ausblick‹ hat immer Recht. Wie oft soll ich dir das noch erzählen!«
»Aber Gaby! Stell dir doch bloß vor …!«
»Wenn ich mich nicht danach richten würde, dann brauchte ich es doch überhaupt nicht zu lesen!«
»Gaby, nimm doch Vernunft an! Was glaubst du, wie viel Menschen ihr Horoskop lesen und sich doch nicht danach richten!? Die meisten, sage ich dir, alle!«
»Das sind eben Dummköpfe, sage ich dir! Entweder … oder! Du wirst sehen! Morgen geht’s rund!«
»Gaby …!«
»Tschüss, Monika! Da kommt meine Bahn! Hier, nimm deine Zeitung!«
»Willst du sie nicht behalten?« rief Monika hinter der Davoneilenden her.
»Wozu!? Behalt’ sie nur!« Sie war schon auf die Plattform gesprungen, die Straßenbahn fuhr an, und Gabriele winkte der zurückbleibenden Monika zu. »Bis morgen!«
Dann drängelte sie sich in das Innere des Wagens. Alle Plätze waren besetzt, und die Menschen standen eng beisammen im Gang.
Gabriele pflanzte sich dicht vor einem gutmütigen älteren Herrn auf und bombardierte ihn so lange mit schmachtenden Blicken aus ihren unschuldigen braunen Augen, bis er sich, leicht verlegen, einen Ruck gab, aufstand und ihr seinen Platz anbot.
»Vielen Dank, mein Herr!« Gabriele lächelte den Herrn so charmant an, dass er sich reichlich für die Aussicht entschädigt fühlte, nun wahrscheinlich bis zum Neußer Bahnhof, also fast eine Stunde, stehen zu müssen.
Gabriele öffnete ihre Handtasche, zog eine Karte heraus und vertiefte sich wieder einmal in den gedruckten Text, obwohl sie ihn selbst im Schlafe auswendig hätte hersagen können. Es war eine Aufforderung des Nordwestdeutschen Rundfunks, Köln, Abteilung Unterhaltung, sich am Freitag, den 17., im Funkhaus zur Mikrofonprobe einzustellen. Gabriele hätte diese simple Karte am liebsten mit Küssen bedeckt – sie durfte zum Vorsingen kommen, das war, sie wusste es genau, der Anfang einer großen Karriere! Ach, Herrgott, war das Leben schön! Bloß – was würde der arme Till dazu sagen?! Gabriele hatte bisher mit keinem Menschen über diesen Erfolg gesprochen. Sie wollte ihn durch vorzeitiges Reden nicht infrage stellen. Wie würde Till es aufnehmen? Zwar hatte gerade er ihr wieder und immer wieder gesagt, wie hübsch ihre Stimme sei, aber ob er mit dem Vorsingen einverstanden sein würde, und dazu noch so kurz vor der Hochzeit?
Gabriele steckte die Karte in die Handtasche zurück. Wozu sollte sie sich unnütze Gedanken machen? Die meisten Dinge lösten sich im richtigen Moment ganz von selber, und so würde es wahrscheinlich auch diesmal gehen.
»Luegplatz!« rief der Schaffner aus.
Gabriele erhob sich, gönnte dem älteren Herrn, der sich erleichtert wieder setzte, noch einen berückenden Blick, dann drängte sie sich hinaus auf die Plattform und stieg aus.
Auch Liselotte Klaus war, nachdem sie das Geschäft abgeschlossen und sich von Evi verabschiedet hatte, zum Zeitungsstand gegangen und hatte sich einen »Ausblick« gekauft. Auch sie war stehen geblieben und hatte erst einmal ihr Horoskop gelesen, mit einer trotz ihres Zweifels unbezwinglichen Neugier. Wenn ihr Horoskop gut war, freute sie sich zwar darüber, aber wenn es schlecht war, ließ sie sich keineswegs davon bedrücken, und manchmal schämte sie sich ehrlich, dass sie es überhaupt las, aber das Studieren des Horoskops gehörte zu ihren kleinen Angewohnheiten, von denen sie schlecht ablassen konnte.
Den zusammengefalteten »Ausblick« unter dem Arm machte sie sich dann auf den Weg nach Hause. Sie hatte nicht weit zu gehen, ihre Wohnung mit zwei Zimmern, Küche und Bad, lag in einer stillen Seitenstraße der Luegallee, nicht weit von der Blumenhandlung entfernt.
Jedesmal, wenn Liselotte den Wohnungsschlüssel ins Schloss der Tür steckte, überkam sie ein Glücksgefühl, das Gefühl, zu Hause und geborgen in einem schönen gemütlichen Heim zu sein. Aber heute Abend wartete sie vergebens auf dieses wohlige Empfinden, sie fühlte sich geradezu als Fremde in einer fremden Wohnung. Was war nur los mit ihr? Nachdenklich blieb sie mitten im Wohnzimmer stehen, und plötzlich überfiel sie die Erkenntnis, dass jenes Glücksgefühl nie echt und natürlich gewesen war, sondern ein Selbstbetrug, der ihr allein ermöglicht hatte, ihr sinnloses Leben zu ertragen. Sinnlos war es, dieses Leben, das fühlte sie plötzlich.
Natürlich hätte sie jetzt in die blitzblanke freundliche Küche gehen, sich ihre Suppe warm machen, den Pudding aus dem Eisschrank holen und sich an den hübsch gedeckten Tisch setzen können, natürlich hätte sie die Stehlampe im Wohnzimmer anzünden, sich in einen Sessel fallen lassen und es sich mit einem Buch gemütlich machen können, sie hätte ein Bad einlaufen lassen können und es wären nur noch wenige Schritte bis in ihr weiches, weiß bezogenes Bett gewesen – aber wozu das alles?