Mit einer weißen Nelke - Marie Louise Fischer - E-Book

Mit einer weißen Nelke E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Vor der märchenhaften Kulisse der Cote d'Azur, an der sich die Reichen und Schönen ebenso tummeln wie Gauner und Ganoven, verlieben die Frauen sich scharenweise in Tomaz de Lima, der mit seinem Charme und seinem blendenden Aussehen jede in seinen Bann schlägt. Der elegante junge Mann trägt stets eine weiße Nelke im Knopfloch. Und da beginnt das Problem, denn ein Dieb mit einer solchen Nelke im Knopfloch soll in einem der Luxushotels Schmuck und Geldbeträge in schwindelerregender Höhe entwendet haben. Für de Lima wird es eng, doch da tritt die junge Amerikanerin Pat in sein Leben – und ehe sie es sich versieht, wird sie in Ereignisse hineingezogen, die sie sich so sicher nicht gewünscht hätte.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Mit einer weißen Nelke

Roman

Saga Egmont

Mit einer weißen Nelke

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1977 by Goldmann Verlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711719107

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Der 17. April begann so trist an der Côte d’Azur, wie man das Wetter nur von London her kennt. Es regnete ununterbrochen. Der Himmel war mit schwarzen Wolken bedeckt.

Es war einer jener Tage, an denen Rémond Ferrandé, Inspektor der Sureté Nationale Section de Nice, rechte Hand des Commissaire d’Arondissement, besonders froh war, daß ihn seine Arbeit bei der politischen Polizei Frankreichs nicht mehr zum Straßendienst zwang. Er saß, in einen Berg Akten vertieft, in seinem kahlen Büroraum in der Rue Gioffre 45 in Nizza und hob nur selten den Kopf, um einen Blick auf den strömenden Regen vor den schlechtgeputzten Scheiben des Fensters zu werfen. Eine qualmende Zigarette hing ihm während der Arbeit unentwegt im Mundwinkel; wenn sie nahe daran war, ihm die Lippen zu verbrennen, ersetzte er sie durch eine neue.

Selbst als einer der beiden schwarzen Telefonapparate auf seinem Schreibtisch klingelte und er den Hörer abnahm, hielt er seinen Zigarettenstummel im Mund. Er sagte: »Ja, geht in Ordnung« und hängte ein.

Dann drückte er seine Zigarette im übervollen Aschenbecher aus und ging zur Tür. Noch ehe er sie erreicht hatte, wurde sie von außen geöffnet. Ein schlanker, breitschultriger Herr in Zivil trat ein.

»Monsieur le Commissaire«, begrüßte ihn der Inspecteur mit einem Augenzwinkern, »was für eine Überraschung. Ich möchte fast sagen, eine freudige Überraschung, Sie mal wieder bei uns zu sehen. Was gibt’s Neues in Paris?«

»Nun tun Sie mal nicht so, mein Lieber!« René Darrieux, Commissaire der Interpol, zog seinen regennassen Mantel aus, hängte ihn über einen Haken, stülpte seinen grauen Hut darüber und schüttelte sich. »Ich möchte wetten, daß Sie mich längst erwartet haben. Was für ein scheußliches Wetter ihr hier habt! Ich hatte gehofft, mich in der Sonne aalen zu können.«

Der Inspecteur schmunzelte. »Beim Angeln! Ich nehme doch an, Sie hoffen im allgemeinen Trubel fette Beute zu machen, wie?«

»Nun ja!« Commissaire René Darrieux rieb sich die langen, bräunlichen Hände. »Wenn ich offen sein soll, ich bin diesmal auf einen ganz besonderen Fisch aus! Raubfisch sozusagen. Ein Hecht im Karpfenteich.«

»Interessant. Schwimmt er etwa im politischen Gewässer? Spionage? Ich glaube zwar nicht, aber, bitte, nehmen Sie doch Platz, Monsieur le Commissaire.«

René Darrieux ließ sich auf dem unbequemen Holzstuhl gegenüber dem Schreibtisch nieder, kreuzte seine langen Beine übereinander, faltete die Hände um die Knie und erklärte: »Spionage, kaum. Obwohl dem Burschen eigentlich alles zuzutrauen ist. Alles außer Notzucht, und das auch nur deshalb nicht, weil er es nicht nötig hat. Anscheinend hat er ein ganz verteufeltes Glück bei Frauen.«

»Heiratsschwindler?« fragte Rémond Ferrandé und klopfte sich eine seiner geliebten schwarzen Zigaretten aus dem Päckchen, steckte sie sich in den Mundwinkel und streckte dann dem Commissaire der Interpol die Schachtel hin.

Der schüttelte den Kopf. »Danke, mein Lieber, immer noch nicht. Ich bin meiner Pfeife treu geblieben.« René Darrieux zog eine kurze Shagpfeife und einen ledernen Tabaksbeutel aus der Jackentasche und fragte: »Darf ich?«

»Aber selbstverständlich!«

Commissaire René Darrieux begann sich mit Bedacht seine Pfeife zu stopfen; dabei sagte er langsam: »Heiratsschwindel, das ist natürlich auch drin. Aber dabei hat er es nicht belassen, soviel steht fest. Hochstapelei kommt dazu. Der wahre Grund, weshalb wir so an ihm interessiert sind, ist der: Wir nehmen an, daß er das Haupt oder doch ein sehr wichtiges Glied einer Gangsterbande, einer internationalen Verbrecherbande ist, verstehen Sie? Überall, wo dieser Mann auftaucht, geschehen seltsame Dinge, Verbrechen, um das Kind beim Namen zu nennen. Es gibt nichts, was nicht auf seiner Liste steht – Diebstahl, Raub, Erpressung, ja, sogar Mord.«

»Beweise?« Rémond Ferrandé ließ sein Feuerzeug aufklicken und zündete sich seine Zigarette an.

»Ich wußte, daß Sie das fragen würden!« René Darrieux sah auf. »Wir haben Beweise für Straftaten, die genügen würden, ihn mindestens, na, sagen wir zwanzig Jahre hinter Gitter zu bringen. Die Beweise, die fehlen uns allerdings! Da haben Sie einen ganz wunden Punkt berührt, Inspecteur. Trotzdem, ich bin überzeugt, wenn wir diesen Mann erst haben, werden wir die Beweise finden. Es muß ein direkter Zusammenhang zwischen seinem Auftauchen und den Verbrechen bestehen. Es muß.«

»Und Sie nehmen an, daß er jetzt hier ist? Hier in Nice?«

»An der Gôte d’Azur. Soviel steht fest.«

»Nun, ich wünsche Ihnen von Herzen, daß Ihr Fisch anbeißt. Aber eigentlich scheint mir das kein Fall für die Sureté zu sein. Ich glaube, Sie arbeiten da doch besser mit der Brigade Police Mobile zusammen, Monsieur le Commissaire!«

»Habe ich auch durchaus vor. Nur bitte, widersprechen Sie mir jetzt nicht, cher Inspecteur. Ich weiß, wie empfindlich ihr Herren von der Sureté seid. Irgendwie spielt dieser Fall doch in eure Belange hinüber. Der Mann ist nämlich Ausländer, kein Franzose, das ist sicher.«

»Ach, dann können wir vielleicht Glück haben. Sie wissen, daß alle Fremden von uns ständig überwacht werden. Natürlich ist das nicht immer ganz einfach. An der Riviera überhaupt, und augenblicklich im Besonderen. Aber möglicherweise haben wir Angaben über diesen Mann vorliegen. Geben Sie mir seine Beschreibung, bitte!«

René Darrieux drückte den Tabak in seinem Pfeifenkopf mit seinem Daumen fest, sagte ohne Betonung, als ob er es von einem unsichtbaren Zettel abläse: »Alter: zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig, Größe: über ein Meter achtzig, Figur: schmalhüftig und breitschultrig, Haarfarbe: wechselnd, Schnurrbart: wechselnd. Besondere Merkmale: weiße Nelke im Knopfloch.«

Der Strand in der schönen Bucht von La Garoupe auf Cap d’Antibes war gesättigt vom Regen. Das Wasser in der Bucht war tiefgrau und ungewöhnlich bewegt, es prallte wild und mit weißem gischtigem Schaum gegen Klippen und Riffe. Wo die Bucht sich zum Meer hin öffnete, schienen Himmel und Wasser sich zu berühren.

Es war an diesem düsteren regnerischen Tag alles andere als gemütlich hier draußen, und dennoch war das Strandlokal ›Chez Keller‹ sehr gut besucht. Das Publikum bestand zum größten Teil aus Damen, sehr elegant gekleideten Damen zwischen dreißig und – nun, wir wollen nicht unhöflich sein – über dreißig. In der hintersten Ecke saß ein Paar, von dem man kaum annehmen konnte, daß es verheiratet war – ein dicklicher, nicht mehr junger Mann mit einem runden Gesicht und einer spiegelnden Glatze, Hand in Hand mit einem sehr jungen Mädchen in hellblauen Hosen, grauem Pullover, deren Haar zu blond und deren Mund zu rot geschminkt war. Die beiden streichelten sich verstohlen, warfen sich verliebte Blicke zu, flüsterten Koseworte. Sie sprachen englisch.

Niemand beachtete sie. Das Interesse der Damen galt einzig und allein dem Mann am Fenster, der die Aufmerksamkeit, die er erregte, gar nicht zu bemerken schien, sondern intensiv den ›Nice Matin‹ vom 17., dem heutigen Tag, studierte.

Keine der Damen, die diesen Mann fast mit ihren Blicken verschlangen, merkte, daß das Lächeln, das er hinter der Zeitung mit dem Ober wechselte, eine Nuance zu vertraulich war.

»Haben Monsieur le Baron schon gewählt?« fragte der Kellner mit gedämpfter, aber doch weithin vernehmbarer Stimme.

»Gaston! Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, daß Adelstitel in unserem Land ohne Bedeutung sind. Sollten Sie noch nicht bemerkt haben, daß wir in einer Republik leben?«

»Sehr wohl, Monsieur le Baron.« Gaston verbeugte sich leicht. »Pardon, Monsieur de Lima! Haben Monsieur le Baron, ich meine, haben Monsieur de Lima schon gewählt?«

»Ja, ich nehme nur eine Kleinigkeit. Zuerst eine klare Brühe, sagen wir Schildkrötensuppe, aber nicht aus der Dose, wenn ich bitten darf.«

Gaston notierte, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Dann Artischocken mit Sauce special!« Der Mann, der sich de Lima nannte, hob den Kopf und sah den Kellner fragend an. »Der Fischfang war wohl schlecht in den letzten Tagen, wie?«

»Miserabel.«

»Gut, dann nehme ich lieber Fleisch. Ein Filet mignon aux champignons, dazu Salat.«

»Gemischt?«

»Gaston! Das sollten Sie aber langsam wissen! Ich nehme nur Kresse und Sellerie! Zum Dessert kein Obst, nein, nur Käse, Roquefort passiert!«

»Sehr wohl, Monsieur de Lima. Haben Sie schon die Weinkarte gesehen?«

»Ja, eine Flasche Chablis, wenn ich bitten darf.«

Der Kellner überflog noch einmal seinen Notizzettel, tippte mit dem Bleistift an jede der Bestellungen, verbeugte sich mit einem halben Lächeln und verschwand in Richtung Küche.

Erst als der Kellner, die Weinflasche in der Hand, sich wieder dem so vielbeachteten Mann näherte, ließ dieser die Zeitung sinken und zeigte ein männliches, braun gebranntes Gesicht mit einem vollen Mund, energischem Kinn und sehr ausgeprägter Nase. In das dunkelblonde Haar hatte die Sonne schon einige helle Strähnen gebleicht. Die Augen waren so dunkel, daß man sie von weitem für schwarz halten mußte, erst aus nächster Nähe sah man, daß sie tiefblau waren. Er trug eine sandfarbene, sehr dezente Jacke über einem hellblauen sommerlichen Rollkragenpullover; im linken Knopfloch steckte eine weiße Nelke. Er warf unter langen Wimpern her einen Blick in das Lokal, der so flüchtig war, daß er unmöglich einen der Anwesenden wirklich bemerkt haben konnte. Dennoch schienen sich einige der Damen angesprochen zu fühlen, wie ihr Erröten verriet. Monsieur de Lima kümmerte es nicht. Er schaute schon wieder mit ausdruckslossem Blick auf das graue, gischtige Meer hinaus.

Gaston hatte die Weinflasche geöffnet und schenkte einen Schluck ein. Monsieur de Lima kostete und nickte zufrieden, worauf der Kellner das Glas vollschenkte.

Der Mann mit der weißen Nelke im Knopfloch nahm wieder den ›Nice Matin‹ auf und las:

»Der Kauf des Colliers, das die amerikanische Schauspielerin Barbara Hilten auf ihrer Hochzeit im Fürstentum Monaco tragen wird, wurde gestern abend endgültig mit dem Hause Cartier abgeschlossen. Es besteht aus drei Reihen gleich großer Diamanten, die in modernem Stil angeordnet sind. Dieses Kunstwerk französischer Goldschmiedekunst kostet 3,3 Millionen Franc.«

Diese Nachricht schien den Mann mit der weißen Nelke im Knopfloch nicht sonderlich zu interessieren. Erst als er die Schlagzeile las: »Internationale Gangster machen in Monte Carlo von sich reden!« zog er die Augenbrauen hoch.

Schwarz auf weiß stand im ›Nice Matin‹ zu lesen:

»Die bevorstehende Hochzeit der amerikanischen Schauspielerin Barbara Hilten und des griechischen Reeders Tankred Orsiris in Monaco hat Diebe und Gauner aus allen Teilen der Welt an die Côte d’Azur gelockt.«

Vier Tage vorher, am 13. April, war in Monaco folgendes geschehen:

Es war elf Uhr vorbei, als die Krankenpflegerin Margaret Bruno das Appartement ihres Schutzbefohlenen, eines Monsieur Alfons Dupon aus Paris, im zweiten Stock eines Luxushotels in Monte Carlo verlassen hatte und mit müden Schritten zum Lift ging, um in ihr Zimmer im fünften Stock hinaufzufahren.

Mademoiselle Bruno war nicht gerade guter Laune, im Gegenteil, sie war ärgerlich, enttäuscht, fast verbittert. Sie hatte sich darauf gefreut, die Hochzeitsfeierlichkeiten der Schauspielerin aus nächster Nähe miterleben zu dürfen. Sie hatte schon begeisterte Ansichtskarten ihren Freunden und Bekannten nach Paris geschickt, und jetzt auf einmal hatte ihr Monsieur Dupon erklärt, daß sie morgen im Laufe des Tages abreisen würden. Mademoiselle Bruno konnte nicht umhin, das für eine ausgesprochene Schikane zu halten. Schließlich hatte Monsieur Dupon so viel Geld, seine Unternehmungen liefen so gut, auch wenn er sich nicht darum kümmerte – warum konnte er dann nicht ihr und auch sich selber die aufregenden Tage in Monte Carlo gönnen?

»Wir beiden alten Nebelkrähen wären hier nur im Wege«, hatte er gesagt, als sie sich einen zaghaften Protest erlaubt hatte.

Nun, Monsieur Dupon war alt, das stimmte. Aber sie selbst – sie war noch eine Frau in den besten Jahren. Und von Nebelkrähe konnte wirklich keine Rede sein.

Mademoiselle Bruno seufzte tief, als sie den Lift verließ. Sie hätte so gerne Barbara Hilten in ihrem Hochzeitsstaat gesehen. Sie hätte so gerne zu Hause eine farbige Schilderung ihrer Eindrücke gegeben. Aber wenn Monsieur Dupon sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, das wußte sie aus Erfahrung, dann war nichts zu machen. So ging es einem eben, wenn man nicht zu den reichen Leuten gehörte, die das Geld unabhängig machte. Arme Leute durften keine speziellen Wünsche haben.

Ihr Zimmer mit der Nummer 517 lag ganz am Ende des Ganges. Hier oben war nichts von dem Glanz der unteren Räumlichkeiten zu spüren. Der rote Teppich war abgetreten, die Zimmer waren viel kleiner, sie lagen eng nebeneinander Tür an Tür.

Mademoiselle Bruno pflegte das fünfte Stockwerk immer die »Dienstbotenetage« zu nennen, aber tatsächlich war sie gar nicht unglücklich, daß sie hier untergebracht war. Von ihrem Fenster aus hatte sie einen herrlichen Blick über die Dächer von Monte Carlo, auf das blaue Meer hinaus, wo die weißschimmernden Luxusjachten verankert waren. Außerdem hatte ihr Zimmer kein Telefon, so daß Monsieur Dupon sie, wenn sie sich erst einmal getrennt hatten, nicht alle fünf Minuten mit irgendeinem Wunsch belästigen konnte.

Als Mademoiselle Bruno den Schlüssel im Schloß drehen wollte, merkte sie mit leichter Überraschung, daß die Tür nicht abgeschlossen war. Sollte sie das vergessen haben? Sie mußte versuchen, ihre Gedanken besser zusammenzuhalten. Monsieur Dupon hatte kein Verständnis für Nachlässigkeiten und Unachtsamkeiten seines Personals.

Sie öffnete die Tür. Drinnen brannte Licht, die kleine Nachttischlampe unter dem rosaroten Tuch, das sie selber darüberzulegen pflegte, um ihr Zimmer heimeliger zu machen.

Mademoiselle Bruno stutzte, trat dann, immer noch weit entfernt, irgendeine Gefahr zu wittern, entschlossen ein.

Sie prallte fast gegen den großen schlanken Mann, der, die Hände in den Hosentaschen, mitten im Zimmer stand, mit dem Rücken zum Licht.

Mademoiselle Brunos Augen weiteten sich vor Entsetzen, ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei.

»Madame«, sagte der Fremde mit einer leichten Verbeugung, »entschuldigen Sie, Madame, habe ich die Ehre, mit Madame Durand zu sprechen?«

Seine Stimme klang ein wenig rauh, aber durchaus sympathisch.

Mademoiselle Bruno faßte sich sofort. »Nein«, sagte sie, »nein.«

Wieder verbeugte sich der Fremde. »Dann entschuldigen Sie bitte die Störung!« sagte er formell.

»Aber wie kommen Sie dazu, was fällt Ihnen ein?!«

»Guten Abend!« Der Fremde trat ruhig an ihr vorbei auf den Flur hinaus.

Mademoiselle Bruno blickte ihm nach, wie er gemächlich, die Türnummern auf beiden Seiten im Auge behaltend, den Flur entlang und auf die Treppe zuschritt. Dann verschwand er hinter der Biegung des Ganges.

Mademoiselle Bruno trat in ihr Zimmer zurück. Sie drehte den Schlüssel zweimal im Schloß herum, dann erst wagte sie aufzuatmen. Ihr Herz klopfte bis zum Halse. Sie hatte das Gefühl, einer großen Gefahr entronnen zu sein, schalt sich aber im selben Augenblick albern. Natürlich, es war nicht gerade angenehm, einem Fremden unverhofft im eigenen Hotelzimmer gegenüberzustehen, aber andererseits – der Mann hatte ihr ja nicht das Geringste getan, im Gegenteil, er war ausgesprochen höflich gewesen.

Hatte er wirklich nichts getan? Ein eisiger Schreck durchzuckte Mademoiselle Bruno. Vielleicht hatte er ihr etwas gestohlen?

Es war nicht viel, was sie besaß, und noch weniger hatte sie auf ihre Reise nach Monte Carlo mitgenommen. Ihre beiden traubenförmigen Perlenohrringe – sie waren echt, ein Erbe ihrer verstorbenen Mutter – trug sie in den Ohren. Das dünne Goldkettchen mit dem Rubinkreuz, das sie zur Kommunion erhalten hatte, hing um ihren Hals. Aber ihr Portemonnaie hatte sie, während ihrer Abwesenheit unter ihrer Wäsche versteckt, in dem schmalen Schrank gelassen. Sie fuhr mit der Hand unter die Wäscheteile, unter die sie das Portemonnaie gesteckt hatte, tastete blind, wühlte – nichts. Das Portemonnaie war fort. Sie warf die ganze Wäsche, Hosen und Hemden, Büstenhalter, Unterröcke und Strümpfe auf das Bett und räumte den Schrank vollständig aus. Es half ihr nichts. Das Portemonnaie war verschwunden. Sie suchte in der Kommode, im Nachttisch, in ihrem Koffer, aber das Portemonnaie war nicht da.

Mademoiselle Bruno war den Tränen nahe. Sechshundert Franken waren in dem Portemonnaie gewesen, das wußte sie ganz genau, nicht eben viel, aber für sie, eine Krankenschwester, die nur von ihrer Arbeit lebte, immerhin ein Betrag, den sie nicht mit leichtem Herzen verschmerzen konnte.

Wenn sie diesen Fremden doch nicht einfach hätte gehen lassen! Wenn sie ihn festgehalten hätte! Wenn sie wenigstens sofort die Hotelleitung alarmiert hätte!

Aber zu Selbstvorwürfen war es jetzt zu spät. Bestimmt hatte der Dieb das Hotel längst verlassen.

Wenn sie ihren Verlust jetzt meldete, würde sie damit höchstens Monsieur Dupon ärgern, der es nicht ertragen konnte, im Mittelpunkt der allgemeinen Neugier zu stehen. Mademoiselle Bruno war sicher, daß er ihr nicht einmal glauben würde, daß sie ihr Zimmer überhaupt abgeschlossen hatte. Noch nicht einmal die Polizei würde ihr glauben. Sie würden annehmen, daß sie ihr Portemonnaie irgendwo verloren oder verlegt hatte. Die Geschichte mit dem Unbekannten, der plötzlich vor ihr im Hotelzimmer gestanden hatte, klang auch tatsächlich zu unwahrscheinlich. Wie hätte sie es beweisen können? Sie konnte ihn ja nicht einmal beschreiben, denn sein Gesicht hatte während ihrer ganzen Unterhaltung immer im Schatten gelegen. Sie war viel zu aufgeregt gewesen, um sich irgendwelche charakteristischen Einzelheiten zu merken. Nur daß er groß und schlank gewesen war, das wußte sie, er hatte einen dunklen Anzug getragen, ja, wahrscheinlich einen Smoking, und – erst jetzt fiel Mademoiselle Bruno wieder ein, was von Anfang an merkwürdigerweise beruhigend auf sie gewirkt hatte – der Dieb hatte eine weiße Nelke im Knopfloch getragen.

Die Amerikaner Mr. und Mrs. Matheus Mac Closky bewohnten ein Luxusappartement im ersten Stock.

Sie weilten als persönliche Gäste der Filmschauspielerin Barbara Hilten in Monte Carlo, sie waren langjährige Freunde ihrer Eltern.

Das kleine Fürstentum Monaco bezauberte sie, sie fanden Monte Carlo einfach himmlisch, und sie wollten sich keine Sekunde des herrlichen Urlaubs in Europa, von dem sie noch ihren Enkelkindern erzählen würden, entgehen lassen. Sie besuchten in ihrer ersten Nacht an der Riviera das Spielkasino, durchstreiften dann mit einem Rudel befreundeter Amerikaner sämtliche Nachtlokale der Stadt und kamen erst in den frühen Morgenstunden in ihr Hotel zurück. Mrs. Mac Closky fühlte sich taumelig vor Müdigkeit und vom reichlich genossenen Champagner, sie brachte gerade noch die Selbstüberwindung auf, ihr Gesicht abzuschminken und sich auszuziehen. Ihren Schmuck fortzuschließen schien ihr entschieden zuviel verlangt.

Als sie unter die Daunendecke schlüpfte, wollte sie noch ein paar Worte über die Eindrücke des heutigen Abends sprechen, aber Mr. Mac Closky, Verleger und Zeitungsbesitzer in Philadelphia, erwies sich als noch viel weniger standfest als sie selbst – er schnarchte schon.

Das Ehepaar hatte keine Anweisung gegeben, geweckt zu werden, sie hatten die schweren Samtvorhänge vor die Fenster gezogen, damit kein Tageslicht eindringen konnte, und so kam es, daß sie erst gegen Mittag erwachten.

Mrs. Mac Closky knipste ihr Nachttischlämpchen an, streckte gähnend die weißen molligen Arme, sagte mit einem kleinen, fast wollüstigen Seufzer: »Oh, Matheus, ist es nicht wundervoll hier im alten Europa? Was für eine unvergeßliche Nacht! Die Musik, der Champagner und …« Sie stieß ihren Gatten in die Seite. »Warum sagst du denn nichts, Matheus!«

Mr. Mac Closky brummte etwas Unverständliches. Er war bei weitem nicht so gesprächig wie seine Gattin, und am frühen Morgen schon gar nicht.

Mrs. Mac Closky hatte auch gar keine Antwort erwartet, sie hatte sich nur vergewissern wollen, daß ihr Gatte wach war. Jetzt sprang sie mit beiden Beinen aus dem Bett, lief zu den hohen Fenstern und zog die Vorhänge zurück. »Wie schade!« sagte sie enttäuscht. »Jetzt müßte die Sonne scheinen!«

Da ihr Gatte auch auf diese Bemerkung nicht reagierte, tröstete sie sich selber. »Macht nichts, bei Barbaras Hochzeit scheint bestimmt die Sonne. Hast du auch so einen Bärenhunger, Matheus? Ich werde jetzt das Frühstück bestellen. Oder möchtest du lieber unten essen?« Wieder wartete sie eine Antwort nicht ab, sondern nahm den Telefonhörer auf und ließ sich mit dem Etagenkellner verbinden.

Wenig später – Mrs. Mac Closky hatte sich gerade ihren himmelblauen Morgenrock übergezogen – schoben zwei Kellner, der eine im schwarzen Frack, der andere in weißer Jacke, einen ovalen kleinen Serviertisch auf Rädern in das Zimmer und öffneten mit weißen Servietten glutheiße Silberschüsseln, in denen Spiegeleier, Speck und gebratene Nieren noch bruzzelten, gossen Grapefruit aus einer kristallenen eisumschichteten Karaffe in schimmernde Gläser, schoben Schüsselchen mit goldgelbem Honig und Quittenmarmelade zurecht und servierten Butterstücke auf Eiswürfeln.

Die Mac Closkys frühstückten mit gutem Appetit, sie ließen sich Zeit dabei, und ganz allmählich wurde auch Mr. Mac Closky gesprächiger und aufnahmefähiger. Er ging, während Mrs. Mac Closky sich die Kleidungsstücke, die sie anziehen wollte, zurechtlegte, als erster ins Bad. Mrs. Mac Closky wählte eine hauchdünne Perlonbluse, ein graues modisches Kostüm, dazu einen korallenroten kleinen Hut, der für sie den letzten Schrei bedeutete.

Sie hängte das Cocktailkleid, das sie am Abend zuvor getragen und ziemlich achtlos über einen Stuhl geworfen hatte, wieder sorgfältig auf einen Bügel und in den Schrank, nahm ihren Schmuck, ein Diamanthalsband und dazu passende Diamantohrclips vom Nachttisch, um sie in ihr Schmuckkästchen zurückzutun. Sie hatte es am Abend, bevor sie mit ihrem Mann und ihren Freunden das Hotel verließ, in den Schrank gestellt.

Aber es war verschwunden.

Ehe Mrs. Mac Closky das begriff, dauerte es eine ganze Weile. Sie wühlte, tastete, warf schließlich den ganzen Inhalt des Schrankes in weitem Bogen auf den Boden. Das Schmuckkästchen blieb verschwunden.

Mrs. Mac Closky schrie gellend. Dieser Schrei verschaffte ihr eine gewisse Erleichterung.

Sie rannte nebenan ins Badezimmer, wo ihr Mann ahnungslos unter der Brause stand. Das Geräusch des herabstürzenden Wassers hatte ihren Schrei übertönt. Mrs. Mac Closky drehte die beiden Hähne der Dusche ab, ungeachtet dessen, daß sie selber dabei einen Schwall warmen Wassers auf das wohlgepflegte aschblonde Haar bekam, sagte mit zitternder, aber immerhin bemerkenswert gefaßter Stimme: »Matheus! Mein Schmuck ist gestohlen!«

»Das bildest du dir doch nur ein!« erwiderte der Gatte ungerührt.

»Aber wenn ich dir doch sage …«

»Beruhige dich, Schätzchen, er ist wirklich nicht fort. Ich habe ihn ja noch eben auf deinem Nachttisch liegen sehen.«

»Aber ich meine doch nicht den, Matheus! Den anderen! Den in meinem Schmuckkästchen! Das ganze Schmuckkästchen ist weg. Verstehst du denn nicht!? Ich habe es gestern abend in den Schrank gestellt. Ganz hinten, hinter die Wäsche. Ich habe alles ausgeräumt. Er ist nicht mehr da!«

Jetzt war auch Mr. Mac Closky alarmiert. Er kletterte aus der Badewanne, schlang sich das große, vorgewärmte Badetuch um den Körper und stapfte ins Schlafzimmer zurück, wobei er eine Tropfspur bis zu dem sperrangelweit geöffneten, gähnend leeren Schrank hinterließ.

»Was sollen wir jetzt bloß tun? Was soll ich tun?« jammerte Mrs. Mac Closky.

»Hm«, sagte Mr. Mac Closky und griff mit seiner nassen Hand zum Telefon, »ich werde den Manager kommen lassen.«

Kaum eine halbe Minute später wurde an die Tür des Appartements geklopft, und Direktor Mercier trat ein. Er war ein schmaler, sehr gepflegter Herr, dessen glattes dunkles Haar schon schütter zu werden begann und deshalb besonders sorgfältig frisiert wurde. Als er den ausgeräumten Schrank und davor den nassen Mac Closky sah, der immer noch seine Blöße lediglich mit einem Badetuch bedeckte, trat in seine großen dunklen Augen ein nervöses Zwinkern.

»Wir sind bestohlen worden«, erklärte Mr. Mac Closky mit einer dramatischen Handbewegung.

»Ihre Anzüge?« fragte Direktor Mercier beunruhigt.

»Nein, natürlich nicht! Wie kommen Sie darauf?« Mr. Mac Closky wurde sich jetzt erst bewußt, in welchem Aufzug er sich befand. »Ach so«, sagte er, »nein, darum handelt es sich nicht. Der Schmuck meiner Frau ist gestohlen worden!«

»Er war in einem roten Lederkästchen«, fügte Mrs. Mac Closky aufgeregt hinzu. »Ich hatte es gestern abend in den Schrank gestellt! Hierhin! Als ich eben danach sehen wollte, war es weg. Der Schmuck und das Kästchen!«

»Das ist sehr bedauerlich, Madame!«

»Mehr haben Sie dazu nicht zu sagen?« rief Mr. Mac Closky empört.

»Ich kann nur noch einmal betonen, daß ich diesen Zwischenfall zutiefst bedaure, Monsieur«, sagte Direktor Mercier, »allerdings, ich kann Ihnen nicht verhehlen, Sie hätten entschieden klüger daran getan, Ihren Schmuck den Hotelsafes zur Aufbewahrung anzuvertrauen.«

»Wir konnten ja nicht ahnen, daß es in Ihrem Hotel von Dieben wimmelt!«

»Das, Monsieur, scheint mir nun doch übertrieben!« Monsieur le Directeur verlor nicht eine Sekunde die Ruhe. »Jedoch muß man bei dem Ereignis der vor der Tür stehenden großen Hochzeit unbedingt damit rechnen, daß … Die Hotelleitung trifft ganz gewiß kein Vorwurf. Wir haben die Anzahl unserer Privatdetektive schon seit Wochen verdoppelt. Übrigens darf ich doch wohl annehmen, daß der Schmuck versichert war?«

»Versichert? Aber selbstverständlich!« sagte Mr. Mac Closky.

»Das freut mich, das freut mich ungemein. Es wird Ihnen also kein Schaden entstehen, und somit denke ich …«

»Kein Schaden entstehen?« Mrs. Mac Closky, die bisher in bewundernswerter Weise Ruhe bewahrt hatte, verlor plötzlich die Nerven. »Was reden Sie denn da? Kein Schaden entstehen! Ja, wir werden die Versicherungssumme ausbezahlt bekommen, wenn wir Glück haben, aber was nutzt uns das? Was soll ich bei der Hochzeit von Barbara anziehen? Wie kann ich mich überhaupt unter die Gäste wagen? Ohne Schmuck? Genauso gut könnte ich nackt gehen! Keinen Schaden! Wie Sie es wagen können, so etwas zu sagen!«

»Beruhigen Sie sich, Madame«, sagte Directeur Mercier und fügte mit echt französischer Galanterie hinzu: »Ihre Schönheit würde ohnehin jeden Schmuck überstrahlen.«

»Oh«, sagte Mrs. Mac Closky und errötete tief. Sie war mollig und nicht mehr ganz jung, aber sie war nur zu gern bereit, dieses Kompliment als ehrliche Überzeugung zu nehmen.

»Ich werde selbstverständlich sofort die Police Monegasque verständigen, aber wenn ich mir eine Bitte erlauben darf: Die Hotelleitung und ich, wir wären Ihnen außerordentlich dankbar, wenn die unliebsame Angelegenheit diskret erledigt werden könnte. Sie werden verstehen, wir möchten verhindern, daß auch nur der kleinste Schatten auf die bevorstehende Hochzeit fällt!«

Obwohl Mr. und Mrs. Mac Closky strengste Diskretion – schon im Interesse ihrer »lieben Barbara« – versprachen, wußte eine knappe Stunde später das ganze Hotel vom Diebstahl des Schmuckkästchens. Mademoiselle Bruno und Monsieur Dupon, ein weißhaariger, spitzbärtiger alter Herr, saßen in der Hotelhalle beim Mokka, als auch zu ihnen diese Nachricht drang.

Ein amerikanischer Geschäftsfreund Monsieur Dupons war bei ihnen stehengeblieben und hatte es ihnen erzählt.

»Ein Dieb hier im Hotel?« sagte Monsieur Dupon. »Das scheint mir ganz unglaublich. Sehen Sie sich doch nur einmal um. Es wimmelt hier nur so von Privatdetektiven und Polizisten in Zivil!«

»Ja, es ist kaum zu glauben«, stimmte der Amerikaner zu, »aber die Tatsache steht ganz außer Zweifel. Die Mac Closkys würden so etwas nicht erfinden. Warum sollten sie auch?«

»Vielleicht war ihr Schmuck nicht der Rede wert!«

»Sie kennen die Mac Closkys nicht«, sagte der Amerikaner, »sie gehören zu den reichsten Leuten von Philadelphia. Matheus sagte mir, daß der Schmuck für sieben Millionen Franken versichert ist. Ich bin sicher, daß der alte Junge nicht lügt.«

»Sieben Millionen?« Monsieur Dupon zog die Luft durch die Zähne. »Alle Achtung. Dann scheint mir jemand ein gutes Geschäft gemacht zu haben. Und Steuern braucht so ein Bursche ja auch nicht zu zahlen.« Er sah Mademoiselle Bruno an. »Was machen Sie denn für ein Gesicht? Ist Ihnen nicht gut?«

»Oh, doch, nur ich glaube, ich habe den Dieb gesehen!« platzte die Krankenschwester heraus.

»Sie? Nun machen Sie aber keine Geschichten!«

»Doch, Monsieur Dupon, ich habe ihn nicht nur gesehen, er hat mich auch bestohlen! Ganz bestimmt. Gestern abend, als ich in mein Zimmer kam …« Mademoiselle Bruno erzählte ihr Erlebnis.

»Warum haben Sie mir das nicht gleich gestern abend gesagt, Sie dumme Gans!« herrschte Monsieur Dupon sie an.

»Ich … aber … ich wußte doch nicht …«

»Auf jeden Fall müssen Sie es sofort der Polizei melden!« sagte der Amerikaner.

»Der Polizei? Aber warum denn? Jetzt ist es doch zu spät, und …«

»Laufen Sie! Marsch, marsch! Sie haben keine Zeit zu verlieren. Und vergessen Sie nicht, daß wir noch heute abend nach Paris zurückfahren!«

So kam es, daß Mademoiselle Bruno dennoch der Polizei Rede und Antwort stehen mußte. Sie tat es nach bestem Wissen und Gewissen, aber ihre Aussage war so verschwommen, daß wirklich nicht viel mit ihr anzufangen war. Ein Mann mit einer weißen Nelke im Knopfloch – was hatte das zu besagen in einem Land, das zum großen Teil von der Nelkenzucht lebt. Nichts, gar nichts. Mehr als das und daß der Unbekannte groß und schlank gewesen war, konnte Mademoiselle Bruno nicht aussagen, obwohl man sie wieder und wieder verhörte. Man brachte sie mit einigen Taschendieben und kleineren Gaunern zusammen, die man in der letzten Nacht in Monte Carlo verhaftet hatte, aber in keinem von ihnen erkannte Mademoiselle Bruno den Fremden von der gestrigen Nacht, ja, sie war sogar ganz sicher, daß der Fremde anders ausgesehen hatte.

Die Zahl der Privatdetektive und Geheimpolizisten wurde in allen Hotels Monte Carlos verstärkt. Die Gäste, durch die alarmierenden Vorfälle gewarnt, legten von nun an größte Vorsicht an den Tag. Keiner der Herren versäumte es, größere Barbeträge im Hotelsafe zu deponieren, und auch die Damen pflegten von nun an getreulich ihren Schmuck dort abzugeben.

Dennoch fand kaum zwei Tage später der nächste Hoteldiebstahl statt, und zwar wurde er mit einer Frechheit und Kaltblütigkeit durchgeführt, die ganz klar darauf schließen ließ, daß es sich bei dem Dieb keineswegs um einen Amateur handeln konnte.

Miss Moreen Pamp, Ehrenjungfer von Barbara Hilten, hatte ihren Schmuck jeden Abend ins Hotelsafe gegeben, hatte ihn sich aber am 16. April früh aushändigen lassen, weil sie eine goldene Brosche für ihr weißes Kostüm herausnehmen wollte. Da es ihr unangenehm war, Direktor Mercier, der den Schmuck in Verwahrung genommen hatte, zuviel Umstände zu machen, wollte sie ihn nicht schon eine halbe Stunde später wieder abgeben, sondern zog es vor, ihre Schmuckdose in der Kommode zu verstecken. Um zehn Uhr früh verließ sie das Hotel und kehrte erst gegen sechs Uhr abends zurück, um sich für einen Empfang umzuziehen. Dabei stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, daß ihr Schmuck gestohlen worden war. Zwar war auch ihr Schmuck versichert, dennoch empfand sie den Verlust als ungemein ärgerlich, weil sie als Brautjungfer zur Hochzeit geladen worden war.

Für die Geheimpolizisten und Privatdetektive war dieser dritte Diebstahl möglicherweise noch ärgerlicher, denn sie wurden allesamt ganz gehörig gerüffelt. Alle Stubenmädchen, Kellner und Pagen wurden verhört, aber niemand hatte während des ganzen Tages auf dem Gang, an dem Miss Pamps Zimmer lag, irgend etwas Verdächtiges bemerkt. Zweifellos wäre es auch niemandem aufgefallen, wenn der Dieb mit der nötigen Selbstverständlichkeit das Zimmer aufgeschlossen und darin verschwunden wäre. Die meisten der Hotelangestellten wußten nicht, welcher Gast in welchem Zimmer wohnte.

Eine fieberhafte Fahndung nach dem unbekannten Täter setzte ein. Die Polizei überprüfte noch einmal die Liste der Gäste des Hauses, ohne jedes Ergebnis. Der unbekannte Dieb blieb verschwunden. Eines wurde von Ohr zu Ohr geflüstert, der Dieb sollte eine weiße Nelke im Knopfloch tragen. Sollte! Gesehen hatte ihn nur Mademoiselle Bruno, und die war bereits mit ihrem Brotgeber, Monsieur Dupon, nach Paris unterwegs.

Monsieur de Lima legte die Zeitung ›Nice Matin‹ aus der Hand, als Gaston die Schildkrötensuppe servierte. Er kostete, der Ausdruck seines Gesichtes verklärte sich: »Delikat!«

»Unser Chefkoch wird sich geehrt fühlen, wenn ich ihm berichten kann.« Gaston beugte sich ein wenig vor und warf einen Blick auf die aufgeschlagene Zeitung. »Hoteldiebstähle in Monte Carlo«, sagte er und schnalzte mit der Zunge, »das war ja wohl nicht anders zu erwarten. Diese Amerikanerinnen! Schmuckkassetten im Hotelzimmer zu verstecken! Welch himmelschreiender Leichtsinn! Man sollte …«

Der Mann mit der weißen Nelke lächelte undurchsichtig und tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. »Sie sind wohl heute noch nicht dazu gekommen, die Zeitung zu lesen?«

»Entschuldigen Sie bitte, Monsieur de Lima, ich bitte vielmals um Verzeihung. Ich weiß, es ist eine Ungezogenheit von mir.«

»Schon gut, Gaston.« Monsieur de Lima faltete die Zeitung zusammen und drückte sie dem verdutzten Kellner in die Hand. »Behalten Sie sie und studieren Sie sie in Ruhe!«

»Aber, Monsieur le Baron, danke. Vielen Dank.« Gaston servierte die leere Suppentasse ab und kam bald darauf mit den Artischocken wieder.

Der Mann mit der weißen Nelke begann das Gemüse bedachtsam zu zerpflücken und tunkte das erste Blatt in die Sauce special.

»Zufrieden, Monsieur?« fragte Gaston erwartungsvoll.

»Vielleicht, eine Idee Ingwer?«

»Ingwer?«

»Jawohl. Aber lassen Sie nur«, fügte er hinzu, als Gaston sich sofort geflissentlich entfernen wollte. »Die Sauce special ist im großen und ganzen ausgezeichnet, nur für das nächste Mal. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dem Küchenchef meinen Tip mit dem Ingwer weitersagen würden.«

»Er wird Ihnen dankbar sein, Monsieur le Baron!«

Der Mann mit der weißen Nelke im Knopfloch aß die Artischocken, das Filet mignon aux champignons, den Salat und den Käse, er aß alles mit derselben anmutigen Gelassenheit des geborenen Genießers.

Dann schlug Gaston vor: »Noch ein Kännchen Mocca vielleicht, Monsieur le Baron?«

»Nein, danke, ich werde meinen Kaffee im Pavillon vom Eden Rock nehmen. Das heißt, seien Sie doch so gut, ich möchte in fünf Minuten Ihren Chef sprechen.«

Sofort verschwand Gaston und kam kaum eine Minute später mit Monsieur Keller, einem gutaussehenden Mann Ende vierzig, zurück. Er beugte sich zu de Lima hinab und fragte mit einem verbindlichen Lächeln: »Beschwerden, Tomaz? Ich hoffe doch nicht, daß …«

»Nein, mein Lieber, sagen Sie Ihrem Chefkoch mein aufrichtigstes Kompliment, nur«, der Mann, der sich Tomaz de Lima nannte, senkte seine Stimme, »es ist mir entsetzlich peinlich, alter Junge.«

Monsieur Kellers Lächeln vertiefte sich. »Sie können wohl wieder nicht zahlen, verehrter Freund! Unser Glück. Denn sonst hätten Sie es sicher vorgezogen, in feudalerer Umgebung zu speisen.«

»Nicht doch! Aber nicht doch! Ihre Küche ist wirklich untadelig, aber, allen Ernstes, ich bin total abgebrannt.«

»Wieviel?«

»Fünfhundert wäre das mindeste.«

»Mit Vergnügen! Nein, bitte, bedanken Sie sich nicht, Tomaz, ich bin es, der Ihnen zu danken hat, Sie bringen mir Gäste, gute Gäste. Und bei diesem Wetter«, er wies mit einer großen Handbewegung auf den düsteren Himmel, »verirrt sich niemand hier heraus.«

Bei einem Händedruck wechselten fünfhundert Francs ihren Besitzer.

Der Mann mit der weißen Nelke im Knopfloch stand auf, ließ sich von Gaston, dem er anscheinend ein nicht kleinlich bemessenes Trinkgeld in die Hand gedrückt hatte, in seinen hellen Regenmantel helfen, schlug den Kragen hoch und trat durch die Glastür ins Freie. Barhäuptig, die Hände in den Taschen, die Schultern hochgezogen, nahm er mit großen Schritten die Treppe zur Straße hin. Der Regen hatte im Augenblick nachgelassen, aber es ging ein schneidend kalter Wind. Bis zum Pavillon vom Eden Rock hatte er noch einen Fußmarsch von gut einer halben Stunde vor sich, bei diesem Wetter nicht gerade ein Vergnügen.

Tomaz de Lima wollte gerade nach links abbiegen, als er das Mädchen sah.

Unwillkürlich blieb er stehen und starrte sie an. Sie war groß und schlank und besaß unwahrscheinliche Maße. Das honigblonde Haar hing ihr wie eine Löwenmähne über die Schulter, ihre Beine waren lang und schlank, wunderbar geformt mit den zartesten Fesseln, die er je gesehen hatte.

Dennoch wäre das alles für Tomaz de Lima kein Grund gewesen, stehen zu bleiben und ein wildfremdes Mädchen anzustarren, wenn sie nicht noch durch etwas anderes als durch ihre Schönheit seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Das Mädchen war barfuß und bloßbeinig, trug trotz des Regens und der Kälte nichts weiter als einen hellblauen Faltenrock und eine weiße sportliche Bluse, die zudem nicht einmal ganz zugeknöpft war, sondern bis zum Ansatz des kräftigen runden Busens offen stand. Das Seltsamste an ihr aber waren ihre unnatürlich weit aufgerissenen tiefschwarzen Augen.

Ohne es selber zu wissen und zu wollen ging er ihr einen Schritt entgegen. Sie taumelte auf ihn zu, sank gegen ihn, hing schwer in seinen Armen, die Augen immer noch weit aufgerissen. Sie waren von einem seltsam stumpfen Schwarz.

Tomaz de Lima packte das Mädchen fest bei den Schultern, schüttelte sie. »Nehmen Sie sich doch zusammen!« sagte er energisch. »Sie können doch hier nicht – man schaut schon zu uns her.«

Tatsächlich hatten sich trotz des schauderhaften Wetters in Sekundenschnelle einige Neugierige gefunden, die sich das interessante Schauspiel nicht entgehen lassen wollten.

Das Mädchen reagierte auf de Limas Worte nicht, sie stöhnte nur.

»Verdammt!« Tomaz de Lima spürte, daß das Mädchen, sobald er es losließ, zusammensacken würde wie eine Puppe. »Können Sie gehen? Nein, natürlich nicht.« Er hob den Kopf und sah, daß die Neugierigen näher kamen. »Wenn wir uns nicht aus dem Staub machen, ist in fünf Minuten die Polizei hier!«

»Nicht … Polizei!« Das Mädchen hatte diese beiden Worte in deutsch hervorgestoßen.

Tomaz de Lima sah sie alles andere als liebevoll an. »Auch das noch!« sagte er. »Dein Vater hat wohl versäumt, dir den Popo zu versohlen. Warte, was machen wir denn nur mit dir?«

In diesem Augenblick klappten die Augen des Mädchen zu, sie wurde ganz schlapp in seinen Armen. Ohne noch eine Sekunde zu überlegen, hob er sie hoch, sagte zu den Umstehenden: »Sie sehen, die Dame ist krank, ich muß sie …« Sein Blick fiel auf einen muskulösen Mann in einer Metzgerschürze. »Bitte, nehmen Sie sie einen Augenblick, damit ich mal den Wagen …« Er drückte dem Verdutzten die schöne Last in die Arme, schloß den ersten besten Wagen, einen riesigen amerikanischen Straßenkreuzer, auf, setzte sich ans Steuer, öffnete die hintere Wagentüre von innen, half dem Metzgerburschen, das Mädchen zu betten.

Dann knallte er die Türe zu, ließ den Motor an – niemand merkte, daß er dazu statt eines Zündschlüssels ein seltsam gebogenes Stückchen Draht benutzte – fuhr rückwärts hinaus, riß dann das Steuer herum und brauste um die Ecke.

Der ganze Zwischenfall hatte sich so schnell abgespielt, daß die meisten der Umstehenden noch gar nicht begriffen hatten, was eigentlich geschehen war, als der Straßenkreuzer schon ihren Blicken entschwand. Sie standen beieinander, tauschten ihre Beobachtungen aus, gaben ihre Meinung kund, wobei der Metzgerbursche verständlicherweise das große Wort führte, als die Glastüre des Restaurants ›Chez Keller geöffnet wurde und der dickliche Herr, seinen superblonden Teenager am Arm, die Stufen heraufgestiegen kam.

Sein rundes Apfelgesicht erstarrte vor staunendem Schreck zu einer fast komischen Grimasse, als er den Platz leer fand, wo er vor zwei Stunden seinen Wagen abgestellt hatte. Daß der Boden dort im Vergleich zu dem übrigen Pflaster verhältnismäßig trocken war, bewies, daß das Auto erst vor ganz kurzer Zeit verschwunden sein konnte. »Aber«, war alles, was der Besitzer des Straßenkreuzers hervorbringen konnte, »aber …«

Das junge Mädchen fand seine Fassung eher wieder. »Dein Wagen ist weg«, sagte sie.

»Aber das ist doch unmöglich! So etwas, das gibt es doch nicht!«

»Er ist weg!« sagte das junge Mädchen, und fast hätte man glauben können, daß sie ihrem Freund das Mißgeschick gönnte, so unbeteiligt klang ihre Stimme.

»Nein, vielleicht, wenn ich ihn woanders abgestellt habe …«

»Hier hat er gestanden, das weißt du ganz genau!«

Jetzt erst schien der Mann das Maß des Unglücks voll zu ermessen. »Mein Wagen ist weg!« brüllte er laut. »Jemand von diesen verdammten«, er schluckte gerade noch den Ausdruck, den er schon auf der Zunge gehabt hatte, »… hat mein Auto gestohlen! Polizei! Polizei!«

Das Mädchen versuchte, ihn am Arm ins Lokal zurückzuzerren. »Johnny! Ich bitte dich, Johnny! Du kannst doch nicht die Polizei um Hilfe rufen!«

»Und warum nicht?« rief er wild und riß sich von ihr los. »Glaubst du etwa, ich lasse mir mein Auto stehlen? Mein funkelnagelneues Auto! Bildest du dir ein, daß ich deswegen nach Europa gekommen bin?« Er wandte sich von ihr ab und schrie wieder wild in die Gegend: »Hilfe! Polizei!«

Die Umstehenden hatten das interessante Nachspiel aus vollen Zügen genossen. Obwohl die Unterhaltung in Englisch geführt worden war, was niemand von ihnen beherrschte, waren die Gesten der beiden so beredt, daß man auch ohne Sprachkenntnisse unschwer verstehen konnte, um was es sich handelte.

Jetzt sah der Metzgerbursche seine große Stunde gekommen, er trat vor und versuchte dem aufgebrachten Dicken den Ablauf der Ereignisse zu erklären. »Eine Dame …« sagte er, »eine sehr schöne Dame, sie ist in Ohnmacht gefallen. Ein Herr mit einer weißen Nelke im Knopfloch, ein Kavalier, ein wirklicher Kavalier, ich selber habe die Dame in seinen Wagen gelegt, und er ist mit ihr davongefahren.«

Diese Erklärung war in französischer Sprache abgegeben worden.

Der Dicke fragte ungeduldig seine Begleiterin: »Was hat er gesagt?«

Sie erklärte es ihm. »Vielleicht hat jemand den Wagen nur ausgeliehen«, setzte sie hinzu, »vielleicht, wenn die Dame ohnmächtig war?«

»Alles Schwindel! Augenauswischerei! Aber mit mir kann man das nicht machen!« Johnny ließ sich nicht beruhigen. »Ich bin nicht von gestern. Ich weiß, was hier gespielt wird. Man will mich davon abhalten, sofort Anzeige zu erstatten.« Er wies mit dem Daumen auf den Metzgerburschen. »Wer sagt mir denn, daß dieser Kerl nicht lügt?« Ohne sich selbst um seine Begleiterin zu kümmern, drehte er sich um und stolperte die Stufen zum Restaurant hinunter.

Sie lief hinter ihm her. »Wo willst du hin!?«

»Die Polizei benachrichtigen. Was denn sonst? Weiße Nelke im Knopfloch, wenn ich so was schon höre!«

Commissaire Emil Leblanc von der Brigade Police Mobile war ein schmalgliedriger, zierlicher, beweglicher Südfranzose, ein echtes Kind der Côte d’Azur. Er war in Valauris geboren, wo sein Vater eine keramische Werkstätte besaß, in der seine beiden älteren Brüder und seine jüngere Schwester ebenfalls arbeiteten. Er war als einziger aus der Art geschlagen und hatte sich dem so unkünstlerischen Beruf eines Polizisten zugewandt, wobei aber gesagt werden muß, daß er die Jagd auf Verbrecher mit der Besessenheit eines wahren Künstlers zu betreiben pflegte.

So hatte er auch mit blitzenden Augen den Bericht seines Kollegen René Darrieux von der Interpol angehört, und der Commissaire aus Paris hatte seinen Eifer eher dämpfen als anstacheln müssen. Eine Sekunde lang hatte er geradezu befürchtet, daß Emil Leblanc imstande sein würde, jeden Mann, der es wagen sollte, eine weiße Nelke im Knopfloch zu tragen, auf der Stelle zu verhaften.

»Wir werden ihn fangen«, sagte Emil Leblanc begeistert, »wir werden, verlassen Sie sich darauf! Nichts gegen die Kollegen aus Paris, aber man weiß doch, daß sich dort die Verbrecher jahrelang verborgen halten können, aber hier bei uns ist das was anderes. Unsere Leute sind auf Draht, das können Sie mir glauben.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte René Darrieux mit ernstem Gesicht, konnte aber nicht verhindern, daß sich die Lachfältchen um seine Augen vertieften, »ich bin sicher, Sie werden Ihr Bestes tun!«

»Mein Bestes wäre nicht gut genug, wenn wir ihn nicht fangen!« Emil Leblanc drückte auf einen Knopf der Tastatur auf seinem Schreibtisch, gab durch Lautsprecher die Beschreibung des Mannes mit der weißen Nelke im Knopfloch durch.

Dann begann er mit elastischen kleinen Schritten im Raum auf und ab zu gehen, die Hände auf dem Rücken, das dunkle Haar zerzaust, weil er sich alle Augenblicke mit den Fingern hindurchfuhr. »Selbstverständlich bin ich bereit, den Ruhm und Glanz Ihnen zu überlassen, Ihnen und Interpol.«

René Darrieux grinste. »Ich glaube, es ist besser, mon cher, wir verteilen das Fell des Bären nicht, bevor wir ihn erlegt haben!«

»Wir werden ihn erlegen! Ich bin sicher, dieser Kerl ist in Monte Carlo.« Bevor er seinen Satz zu Ende sprechen konnte, wurde an die Tür geklopft. Emil Leblanc drehte sich herum, rief: »Entrez!«

Ein uniformierter Beamter trat ein, nahm andeutungsweise Haltung an und sagte: »Meldung vom Funkwagen sieben. Ein Pontiac, Baujahr 1970, amerikanisches Kennzeichen, von der Promenade La Garoupe gestohlen.«

»Na und?« fragte Emil Leblanc. »Warum sagen Sie mir das? Glauben Sie etwa, daß ich dem Dieb nachrennen soll?«

Der Polizist, ein jüngerer Mann, wurde verlegen. »Nein, natürlich nicht. Nur, Sie haben doch eben durchgegeben, daß ein Mann mit einer weißen Nelke im Knopfloch gesucht wird.«

René Darrieux wurde aufmerksam. »Stimmt«, sagte er.

»Ich sollte vom Funkwagen berichten, ich meine, der Amerikaner, dem der Wagen gestohlen worden ist, sagt …«

»Wer sagt nun was?« unterbrach Emil Leblanc ihn scharf.

Der Polizist holte tief Luft. »Die Zeugen«, sagte er, »die Zeugen des Diebstahls berichten übereinstimmend, daß der Mann, der mit dem Wagen davongefahren ist, eine weiße Nelke im Knopfloch trug.«

René Darrieux und Emil Leblanc wechselten einen Blick.

»Donnerwetter!« rief Leblanc dann. »Das nenne ich Glück! Jetzt brauchen wir nur noch …« Er unterbrach sich selber. »Was rede ich da. Als wenn es so einfach wäre, einen Pontiac zu jagen, selbst wenn man das Kennzeichen weiß.« Er wandte sich an René Darrieux. »Sie denken doch auch, wenn es tatsächlich der Mann ist, den wir suchen …«

»… wird er selbstverständlich die Kennzeichen austauschen.«

»Dann bleibt mir nichts übrig, als durch Kontrollen an allen Ausfallstraßen von Antibes, Juan-les-Pins und Nizza jeden Pontiac Baujahr 1970 zu stellen.«

»Ausgezeichnet!« sagte Commissaire René Darrieux. »Wenn man dann noch die Garagen und Werkstätten warnt …«

»Oh, daran brauchen Sie mich nicht zu erinnern, das wollte ich gerade tun! Wir werden alle Maßnahmen treffen, Monsieur. Es würde wirklich mit dem Teufel zugehen, wenn wir ihn diesmal nicht fangen würden.«

Tomaz de Lima sauste in lebensgefährlichem Tempo die regennasse kurvenreiche Uferstraße entlang. Er hatte kein Auge für die mächtigen Palmen, die blühenden Kakteen, das zornige Meer. Voller Anspannung blickte er geradeaus vor sich auf die Straße, riß den schweren amerikanischen Wagen immer wieder links und rechts in die Kurven, die Tachometernadel zitterte auf hundertsechzig.

Kurz bevor er die Auffahrt zum Felsenschlößchen erreicht hatte, hörte er hinter sich die Polizeisirenen heulen. Er spürte, wie kalter Schweiß ihm auf die Stirn trat, dann stellte er mit Erleichterung fest, daß das riesige schmiedeeiserne Tor offen stand. Er schwenkte so rasch rechts ein, daß er fast den Pfosten gestreift hätte und raste in einem Höllentempo die gepflasterte Auffahrt hinauf, über den gepflegten Rasen, umfuhr das Schloß und trat erst, als er sicher war, daß das Auto von der Straße her nicht mehr zu entdecken war, auf die Bremse. Er warf über die Schulter zurück einen Blick auf das blonde Mädchen, dessen Gesicht eine erschreckende wächserne Blässe angenommen hatte. Auch die ungeschminkten vollen Lippen waren farblos, das honiggelbe Haar und die schwarzen seidigen Wimpern gaben dem jungen Gesicht etwas Puppenhaftes. Der hellblaue Faltenrock war ihr bis über die Knie hinaufgerutscht, aber sie wirkte in dieser Haltung nicht aufreizend, sondern höchstens bemitleidenswert.

In diesem Augenblick bereute Tomaz de Lima heftig, sich auf das Abenteuer eingelassen zu haben – ein Abenteuer, das höchst unnütz war, das ihm nichts einbrachte, sondern nur schaden konnte. Gleichzeitig aber war er sich bewußt, daß jede Reue zu spät kam. Er hatte sich hinreißen lassen zu helfen, und er mußte diese Tat zu Ende führen, weil er schon zu tief eingestiegen war.

Tomaz de Lima öffnete die rückwärtige Tür des Autos, hob das bewußtlose, ganz schlaffe Mädchen heraus, trug sie auf beiden Armen die breite Treppe zur Terrasse hinauf, stieß die Glastür mit dem Fuß auf, schritt über dicke Perserteppiche zu einem schön geschwungenen antiken Sofa, bettete das Mädchen behutsam, legte den Finger auf ihren Puls. Er fuhr hoch, als er Schritte hinter sich hörte.

»Bonjour, Monsieur de Lima«, sagte eine sehr nasale, leicht affektierte Stimme, »welch eine Überraschung!«

Betont langsam drehte Tomaz de Lima sich um. »Guten Tag, Monsieur Galé«, sagte er gelassen, »sagten Sie mir nicht beim Abschied, Sie wären überzeugt, mich früher oder später wiederzusehen?«

»Ja, aber nicht mit einer Leiche!« Josef Galé hob sein goldenes Lorgnon, das an einer langen Kette um seinen Hals hing, auf, betrachtete das blonde Mädchen mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. Er war ein grauhaariger kleiner Herr mit einem scharf geschnittenen Vogelgesicht, der es liebte, sich altmodisch zu kleiden, und überzeugt war, sich dadurch das Air eines vornehmen Herrn zu geben.

Tomaz de Lima, der ihn seit Jahren kannte, hielt ihn für einen Gauner. »Holen Sie sofort den Apotheker!« sagte er in verändertem Ton. »Sie sehen doch, es ist höchste Zeit!«

»Ist man Ihnen auf den Fersen?« Jetzt war es Tomaz de Lima, der sich eine genaue Betrachtung durch das Lorgnon gefallen lassen mußte. »Mir war so, als wenn ich eben eine Polizeisirene hörte.«

»Würde es Ihnen etwa gefallen, wenn dieses Mädchen in Ihrem Haus stirbt?« rief Tomaz de Lima.

»Es wäre mir völlig gleichgültig«, gab Josef Galé zurück, »ich kenne sie gar nicht.«

»Bitte. Wenn Sie versuchen wollen, das der Polizei klarzumachen …«

Einen Augenblick schien Josef Galé zu überlegen, dann sagte er plötzlich unterwürfig: »Ich gehe ja schon, ich gehe! Aber Sie werden mir auch einen kleinen Gefallen dafür tun, nicht wahr, Monsieur de Lima? Sie wissen doch, um was ich Sie gebeten habe.«

»Ich weiß, daß jede Rechnung bezahlt werden muß, Monsieur Galé!« sagte Tomaz de Lima kalt. »Früher oder später. Seien Sie beruhigt, ich werde Ihre Heiratskandidatinnen ausführen, aber gehen Sie jetzt um Himmels willen, holen Sie Claudarde!«

Während Josef Galé davoneilte, zündete sich Tomaz de Lima eine Zigarette an. Er war nervös, und er spürte es selber. Von dem Moment an, wo er das Mädchen in den gestohlenen Wagen geladen hatte, hatte er ein schlechtes Gefühl gehabt. Er wußte, daß er besser gehandelt hätte, seine Finger aus dieser Angelegenheit zu lassen. Aber wäre das überhaupt möglich gewesen? Hätte er das Mädchen einfach umfallen lassen sollen?

Es hatte keinen Zweck, sich Vorwürfe zu machen. Wichtiger war es jetzt, klaren Kopf zu behalten. De Lima war überzeugt, daß er auch dieser Situation gewachsen war. In seinem ganzen Leben hatte ihm, wenn er in ernstliche Schwierigkeiten geraten war, immer noch im letzten Moment das Glück zur Seite gestanden.

Tomaz de Lima hatte seine Zigarette noch nicht zu Ende geraucht, als Josef Galé mit dem Apotheker zurückkam. Claudarde war noch keine fünfzig Jahre alt, aber wer es nicht wußte, hätte ihn leicht für siebzig halten können. Er war ein Wrack von einem Menschen, ein alter Kokser. Seine Nase war aufgeschwollen, seine Augen glänzten unnatürlich. Tomaz de Lima sah sofort, daß er sich vor kurzem vollgepumpt hatte.