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Mit Mord gebraut E-Book

Stella Cameron

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Beschreibung

Die Vergangenheit ist nie weit weg …
Band sechs der spannenden Cosy Crime-Reihe der New York Times-Bestsellerautorin!

Hugh Rhys, der Geschäftsführer von Alex Duggins beliebten Pub The Black Dog mag verschlossen sein und sich über seine Vergangenheit ausschweigen, trotzdem genießt er Alex’ vollstes Vertrauen. Auch als kurz nacheinander zwei Frauen aus Hughs Vergangenheit in dem idyllischen Dorf Folly-on-Weir auftauchen und alles auf den Kopf stellen. Wenig später wird eine der Frauen vermisst und die Polizei beginnt, Fragen zu stellen. Dass Hugh sich sehr verdächtig verhält und in dem Teich auf seinem Grundstück eine Leiche gefunden wird, macht seine Lage nicht gerade besser. Trotzdem sind Alex und ihr Freund Tony weiterhin von Hughs Unschuld überzeugt und versuchen alles, um diese zu beweisen. Doch die Wahrheit könnte noch schockierender sein …

Weitere Titel dieser Reihe
Mord mit Schuss (ISBN: 9783968178189)
Ein Pint mit Mord (ISBN: 9783968178219)
Die Stimme des Todes (ISBN: 9783968178240)
Kein Wort zum Mord (ISBN: 9783987780127)
Der Tod sagt Prost (ISBN: 9783987780134)

Erste Leser:innenstimmen
„Auch dieser Teil der Cosy Crime-Reihe konnte überzeugen, ich liebe es einfach mit Alex mit zu ermitteln!“
„Absolute Empfehlung für Krimi-Fans! Die Geschichte ist packend und der Schreibstil flüssig und leicht verständlich.“
„Wieder ein spannender Fall, der mich an die Seiten gefesselt und zum miträseln eingeladen hat.“
„Charmant erzählter Cosy Krimi mit sympathischer Hobbydetektivin!“

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Seitenzahl: 459

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Über dieses E-Book

Hugh Rhys, der Geschäftsführer von Alex Duggins beliebten Pub The Black Dog mag verschlossen sein und sich über seine Vergangenheit ausschweigen, trotzdem genießt er Alex’ vollstes Vertrauen. Auch als kurz nacheinander zwei Frauen aus Hughs Vergangenheit in dem idyllischen Dorf Folly-on-Weir auftauchen und alles auf den Kopf stellen. Wenig später wird eine der Frauen vermisst und die Polizei beginnt, Fragen zu stellen. Dass Hugh sich sehr verdächtig verhält und in dem Teich auf seinem Grundstück eine Leiche gefunden wird, macht seine Lage nicht gerade besser. Trotzdem sind Alex und ihr Freund Tony weiterhin von Hughs Unschuld überzeugt und versuchen alles, um diese zu beweisen. Doch die Wahrheit könnte noch schockierender sein …

Impressum

Deutsche Erstausgabe April 2023

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-015-8

Copyright © 2019 by Stella Cameron Titel des englischen Originals: Trap Lane

Published by Arrangement with Stella Cameron Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Übersetzt von: Lennart Janson Covergestaltung: Thorsten Schröder unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Jacob_09, © pptara, © Andrew Roland depositphotos.com: © scenery1, © releon8211 Korrektorat: Dorothee Scheuch

E-Book-Version 26.07.2023, 15:49:40.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Mit Mord gebraut

Für Jerry

1

In der Küche des Black Dog wurde Alex Duggins von absoluter Regungslosigkeit empfangen. Regungslosigkeit und Stille, abgesehen von einem kaum hörbaren Geräusch, wie das leise Schmatzen nasser Erde nach einem Sturm. Sie schloss sachte die Tür und streckte zögerlich die Hand nach den Lichtschaltern aus. Es klickte zweimal und die Schatten der frühen Morgenstunden waren vertrieben – doch nicht die Stille.

Das Kribbeln in ihrem Nacken, das langsam in ihre Haare hinaufwanderte, beunruhigte sie.

„Los, Bogie“, sagte sie, ein wenig zu laut. „Mach’s dir auf deiner Decke gemütlich.“ Und ich werde diese alberne, sogenannte Vorahnung verdrängen und mit meinem Alltag weitermachen. Eine Vorahnung wovon überhaupt? Das war ihr nicht mehr passiert, seit … Schluss damit!

Ein Fahrzeug rollte klappernd auf den Parkplatz hinter dem Pub. Das musste die Milchlieferung sein.

So trüb der Morgen auch war, abgerundet durch Nieselregen, kalt war es nicht. Alex hatte sich für den Weg von Tonys Range Rover zum Gebäude keinen Mantel angezogen. Sie nahm eine Schürze vom Haken und zog sie an, dann setzte sie Kaffee auf.

Ein Klopfen am Vordereingang zum Black Dog ließ sie zusammenzucken. Sie knotete die Bänder der Schürze noch enger zusammen und eilte nach vorn, um zu öffnen, wobei sie einen Blick auf ihre Armbanduhr warf. Halb sechs morgens. Tony hatte sie erst vor wenigen Minuten hier abgesetzt. Scoot Gammage, der Teenager, der vor der Schule zum Helfen in den Pub kam, würde bald da sein, doch er kam immer durch die Hintertür in die Küche – so wie sie auch.

Alex schloss auf und öffnete die Tür. Vielleicht wollte jemand für die kommende Nacht ein Zimmer im Gasthaus buchen.

Draußen stand eine große Frau in einem langen, schwarzen Regenmantel, dessen Kapuze sie sich über den Kopf gezogen hatte. Sie hatte Alex den Rücken zugedreht, daher räusperte sie sich. Nach einigen Sekunden fragte sie: „Kann ich Ihnen helfen?“ Der Regenmantel war bei diesem Wetter definitiv übertrieben.

Die Frau drehte sich gerade weit genug, dass sie über die Schulter blicken konnte, und ließ sich reichlich Zeit, um Alex zu mustern. Der Blick aus ihren zusammengekniffenen, dunklen Augen wanderte vom Kopf bis zu den Füßen und zurück.

„Das bezweifle ich. Ich bin Neve Rhys.“

Eine Schottin, aber der Akzent ist weniger stark als bei Hugh. Ihre Haut ist milchig weiß. Sie hat Falten in den Augenwinkeln und zwischen den Augenbrauen, ist aber vermutlich noch in ihren Dreißigern. Das höhnische Kräuseln ihrer Lippen war nicht zu übersehen, auch wenn nur wenig Licht durch die grauen Wolken drang, die wie ein viktorianisches Trauerbanner über den Bäumen und Hügeln hingen.

Sie sprach wieder mit ihrer leisen, klaren Stimme: „Der Cousin meines Ehemannes, Hugh Rhys, leitet diesen Pub. Wenn Sie ihm bitte sagen würden, dass ich da bin; ich werde hier warten.“

Die Frau wandte den Blick ab und Alex sah sich erneut dem in schmuckloses Schwarz gehüllten Rücken der großen Frau gegenüber.

Sie schaltete weitere Lichter an.

„Hugh ist noch nicht auf den Beinen. Aber kommen Sie doch bitte herein, ich werde ihm Ihre Nachricht weiterleiten.“ Selbst die nebelverhangene Dorfwiese jenseits der High Street war noch menschenleer. Kein einziger Hund mit Herrchen oder Frauchen in Sicht. Doch die ersten Rauchfahnen, die aus den Schornsteinen der Cottages aufstiegen, zeigten an, dass das Dorf langsam erwachte.

„Woher wissen Sie, dass er noch nicht wach ist?“, fragte die Frau. „Wer sind Sie?“

Wenn Hugh noch mehr solcher Verwandter hatte, war es kein Wunder, dass er nie über sie sprach. „Alex Duggins. Mir gehört der Black Dog. Hugh leitet den Pub für mich. Er sollte bald herunterkommen.“

Sie trat einen Schritt zurück, während Neve Rhys herumwirbelte und das Restaurant betrat. Die sieben Zimmer des Gasthauses erreichte man über eine Treppe links hinter dem Empfangstresen, während der Pub und die Küche den Rest des weitläufigen Erdgeschosses einnahmen.

„In der Küche gibt es Kaffee“, sagte Alex und deutete in die Richtung. „Müsste gleich fertig sein. Der Zugang zur Küche ist hinter dem Tresen. Bedienen Sie sich. Sie wirken ein wenig verkühlt und da drinnen ist es wärmer.“

Der starre Blick, den Alex erntete, deutete an, dass die Frau sie entweder nicht verstanden hatte, oder … schwer zu sagen. In ihrem eleganten, spitzknochigen Gesicht zeigte sich keine Regung und der Blick ihrer unglaublich dunklen Augen wanderte in die Ferne. Neve Rhys zog einen Stuhl von einem der Tische im Restaurant heran und setzte sich. Sie schob die Kapuze von einer glatten, schwarzen Kurzhaarfrisur und hob abrupt den Blick.

„Ich bin erschöpft“, verkündete sie. „Ich bin in den vergangenen Tagen viel gefahren. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich einen doppelten Whisky und eine Karaffe mit Wasser nehmen. Da ich mit Hugh verwandt bin, wird sich das sicher einrichten lassen, selbst zu dieser Uhrzeit.“

Sie überschlug die Beine an den Knöcheln, verschränkte die Arme und schloss die Augen. Die funkelnden Goldringe an ihren Ohren schwangen sanft hin und her. Am Ringfinger ihrer linken Hand steckte ebenfalls ein schmaler Ring. Die Schuhe, die sie über ihrer schwarzen Strumpfhose trug, waren Schnürstiefel mit hohen Absätzen. Auch die wirkten deutlich zu winterlich für die Jahreszeit, doch Alex fühlte sich schäbig neben ihr. Nicht dass sie selbst jemals bereit sein würde, sich so modisch und individuell zu kleiden wie Neve.

Irgendwo im Haus knallte eine Tür und jemand lief mit Gummisohlen zögerlich über die Holzdielen. Alex beobachtete den Durchgang vom Restaurant zum Pub und einen Augenblick später betrat Scoot Gammage langsam den Raum. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, schien er gewachsen zu sein, doch er war immer noch schmal und sein blondes Haar stand strubbelig von seinem Kopf ab wie eh und je.

„Guten Morgen, Scoot“, sagte Alex und hob bedeutungsvoll die Augenbrauen. Scoot hatte ein gutes Gespür für ungewöhnliche Stimmungen. „Würdest du bitte nach oben gehen und Hugh wissen lassen, dass die Frau seines Cousins nach ihm fragt?“

Er betrachtete Neve eine Weile und verschwand dann in Richtung der Treppe.

„Jetzt lassen Sie mich mal sehen, was ich bezüglich dieses Whiskys machen kann. Ihre Familienmarke haben wir nicht. Ist Aberlour in Ordnung? Oder Glenfiddich?“

„Egal.“

Alex wandte sich zum Gehen und hörte die quietschenden Sohlen von Scoots Turnschuhen auf der Treppe. Er kam schon wieder herunter.

„Hugh kommt“, sagte er, während er zu ihr aufholte und dann an ihr vorbeimarschierte. „Ich muss loslegen, sonst verspäte ich mich.“

Alex lachte. „So wie du Fahrrad fährst, bestimmt nicht.“

Im Pub stellte sie ein Glas Aberlour und etwas Wasser auf ein Tablett, legte ein paar der Backwaren, die früh am Morgen von George’s Bakery geliefert worden waren, in die Mikrowelle und füllte Hughs große Tasse mit Kaffee. Die stellte sie ebenfalls auf das Tablett, zusammen mit dem Gebäck, und kehrte ins Restaurant zurück.

Sie war sich sicher, dass Hugh noch nie über seine Familie gesprochen hatte. Es gab nur wenig, was sie über seine Vergangenheit wusste, und offensichtlich eine ganze Menge, was ihr noch nicht bekannt war. Er war ein stiller Mann; groß, gutaussehend und beliebt, auch wenn er eher beobachtete, als sich unter die Leute zu mischen, es sei denn, die Unterhaltung weckte sein Interesse. Hugh konnte mit kaum mehr als einem Lächeln dafür sorgen, dass Menschen sich wohlfühlten. Und viele Frauen waren sichtlich fasziniert von ihm.

Würde es das Rätsel um Hugh Rhys lüften, ihn mit einer Person zu sehen, die zwar nichts von seinem Charme teilte, ihn aber offensichtlich schon lange kannte?

„Ich fasse es nicht“, hörte sie ihn sagen, und er klang nicht glücklich. „Ich war mir sicher, Scoot müsste etwas falsch verstanden haben, aber du bist es wirklich. Was in Gottes Namen tust du hier?“

Nicht stehenzubleiben und zu lauschen, hätte Alex mehr Selbstbeherrschung abverlangt, als sie aufzubringen vermochte. Sie hatte Hugh noch nie in diesem Ton sprechen hören.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Kleiner“, sagte Neve sarkastisch. „Ich habe eine anstrengende Fahrt in dieses Kaff auf mich genommen, um dir einen Liebesdienst zu erweisen. Vergiss das nicht, dann werden wir gut miteinander auskommen. Du wirst noch froh sein, dass ich hergekommen bin.“

„Eine Mail hätte uns beiden eine Menge Ärger ersparen können. Was willst du?“

Bridge over Troubled Water war das erste Lied, das Alex dazu in den Sinn kam, und sie gab sich große Mühe, es nicht laut zu summen, als sie das Restaurant betrat.

Ihr blieben nur wenige Augenblicke, um zu beobachten, wie Neve entspannt am Tisch saß, während Hugh über ihr aufragte – beinahe bedrohlich. Die Frau wirkte arrogant, vielleicht sogar selbstgefällig. Hughs Gesichtsausdruck war starr und wirkte zornig.

Alex wünschte, ihre Mutter Lily würde diese Situation mitbekommen. Lily führte schon seit Jahren das Restaurant und das Gasthaus und hatte ein hervorragendes Gespür für menschliche Interaktionen.

„Das hier sollte Sie aufwärmen“, sagte Alex fröhlich, während sie das Tablett auf den Tisch schob. „Und die Nerven beruhigen. Was kann ich noch für Sie tun, Neve? Wenn Sie ein Zimmer brauchen, um sich auszuruhen, sagen Sie nur Bescheid.“

Neve antwortete nicht. Sie stellte das Whiskyglas vor sich, goss ein wenig Wasser hinein und trank dann mehrere Schlucke.

„Danke, Alex“, sagte Hugh mit ausdrucksloser Stimme. „Entschuldigen Sie die Umstände. Ich werde Ihnen bald helfen können. Sehr bald.“

Der Anflug eines Lächelns huschte über Neves Gesichtszüge. „Soweit wir wissen, hast du ein Haus in der Nähe, Hugh. Warum schläfst du hier?“

„Du meinst das Green Friday? Da wohne ich nicht. Ich bin lieber hier – aber das kann dir egal sein.“

Alex entfernte sich. Im Pub war Scoot dabei, den Boden zu wischen, doch er trat zu ihr, als sich die Gelegenheit bot.

„Wer ist sie? Ich meine, warum ist sie hier?“ Er wirkte besorgt.

„Das geht uns nichts an“, sagte sie. „Und ich glaube nicht, dass Hugh froh ist, sie zu sehen. Aber sie sagte, sie habe eine lange Fahrt hinter sich. Vielleicht ist sie nur erschöpft.“

„Sie ist versnobt“, antwortete er mit einem Grinsen. „Und Hugh hat nicht viel Geduld mit hochnäsigen Menschen. Sie sollte sich in Acht nehmen.“

„Scoot“, zischte Alex. „Sie gehört zu seiner Familie, deshalb müssen wir freundlich sein.“

„Wenn er nicht freundlich ist, warum sollten wir uns die Mühe machen? Ich glaube, er kann sie auf den Tod nicht ausstehen.“

„Scoot!“

„Schon gut“, sagte er mit einem schiefen Lächeln. „Ich meine ja nur.“

„Du klingst, als würdest du zu viel fernsehen. Es überrascht mich, dass Tonys Vater dir das erlaubt.“ Sie grinste ihn an und gab ihm einen Klaps auf den Arm. „Mach lieber weiter, sonst kommst du wirklich noch zu spät.“

Doc James Harrison hatte Scoot und seinen Bruder Kyle als Mündel bei sich aufgenommen, als ihr Vater ins Gefängnis gehen musste. Alex’ Mutter Lily stand James nahe und half ihm mit den Jungs.

„Wenn du nicht so ein verdammter Sturkopf wärst, Hugh Rhys, hätte ich nicht den ganzen Weg herfahren müssen, um dich zur Vernunft zu bringen.

Alex und Scoot sahen einander an. Neve Rhys’ erhobene Stimme klang immer höher und schneidender. Sie schien die Beherrschung zu verlieren.

„Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass du nicht versuchen solltest, Dinge zu ändern, die dich an mir stören. Du schlägst immer irgendetwas vor, was ich tun sollte, und aus irgendeinem Grund will ich jedes Mal entweder gar nichts oder etwas ganz anderes machen. Ich habe mich nicht geändert, Neve. Du allerdings auch nicht, und das ist wirklich schade; nicht dass es noch etwas ausmachen würde. Wir bedeuten einander nichts mehr. Wann fährst du zurück?“

„Ich fahre zurück, wenn mir danach ist, und das könnte noch eine ganze Weile dauern – hängt ganz von dir ab. Warum hörst du nicht auf, so verdammt egoistisch zu sein, und denkst ausnahmsweise einmal darüber nach, was das Beste für uns alle ist? Je früher du aufhörst, stur auf deinem Standpunkt zu verharren, um mich zu ärgern, und tust, was getan werden muss, desto schneller können sich unsere Wege wieder trennen. Es sind geschäftliche Angelegenheiten zu regeln, und da du nicht nach Schottland kommen willst, um dich deiner Verantwortung zu stellen, blieb nur noch der Ausweg, zu dir zu kommen.“

„Wie hast du mich überhaupt gefunden?“, fragte Hugh und Alex bekam das Gefühl, dass er sich nicht auf die Gründe für Neves Anwesenheit einlassen wollte.

„Du musst vergessen haben, dass wir ein paar gemeinsame Freunde haben. Du bist nicht so unauffindbar wie du glaubst. Hast dir hier eine ruhige Zeit gemacht, was? Die hübsche Sonia verzehrt sich immer noch nach dir, das sagte sie mir zumindest am Telefon.“

„Es reicht“, blaffte Hugh. „Sonia Quillam ist nur ein winziger Teil meiner Vergangenheit. Und du hast nur vorgegeben, ihre Freundin zu sein, um herauszufinden, was sie weiß … über mich. Sie weiß überhaupt nichts. Sie ist nicht mehr Teil meines Lebens. Schon seit Jahren nicht mehr.“

„Das sieht sie anders. Aber das tut nichts zur Sache. Sie war ohnehin nicht gut genug für dich und nicht mehr als eine Lückenbüßerin. Aber genug davon. Du hast mich gefragt, wie ich dich gefunden habe, und ich habe dir eine Antwort gegeben. Aber nimm dich vor dieser Frau in Acht, Hugh, sie sehnt sich immer noch nach dir, und das könnte gefährlich werden, wenn sie je beschließen sollte, dir wieder nachzustellen.“

„Ich muss arbeiten. Entschuldige mich.“

„Ach, Hugh, sei doch nicht so. Es ist viel Zeit vergangen. Lass uns das Kriegsbeil begraben und an die schönen Momente denken. Davon hatten wir viele, und selbst wenn du nicht daran zurückdenkst – ich tue es. Aber wir haben einiges zu besprechen und es wäre wohl besser, damit anzufangen, bevor Perry hier aufschlägt. Er wird noch ein oder zwei Tage brauchen.“

„Perry?“ Hugh klang entsetzt. „Er kommt her? Was zur … warum? Wer wird sich in Schottland um alles kümmern, während ihr beide hier seid, um mir die Arme auf den Rücken zu drehen? Falls du es vergessen haben solltest: Es ist nicht so einfach, mich umzustimmen.“

Neve lachte. „Ich habe deine Arme nicht vergessen, Hugh; oder irgendeinen anderen Teil von dir.“

Alex warf einen Blick zu Scoot, doch der legte gerade Holzscheite aufs Feuer. Er hörte zu, ohne die dezente Anspielung in Neves Stimme wahrzunehmen.

„Wie auch immer“, sagte Neve. „Seit wann interessierst du dich auch nur einen feuchten Dreck für die Brennerei?“

„Ich weiß, wo meine Verantwortung liegt, und nehme sie wahr. Und diese Unterhaltung ist jetzt beendet.“

In diesem Gespräch war ein anderer Hugh zu Tage getreten, als der, den Alex kannte. Es musste ihn abstoßen, von der Frau seines Cousins derart bedrängt zu werden. Alex wollte nach draußen. Sie könnte Bogie mitnehmen. Statt ihn wie sonst morgens mit Tony zu dessen kleiner Tierarztpraxis zu schicken, hatte sie darauf bestanden, ihn bei sich zu haben. Bogie und Tonys Hündin Katie hatten hinten im Range Rover geschlafen, als sie am Black Dog eingetroffen waren, und Tony hatte Alex gedrängt, ihn nicht zu wecken.

Sie stritt sich beinahe nie mit Tony. Vielleicht stritten sie sogar zu wenig. Manchmal überkam sie das Gefühl, ihn nicht richtig zu kennen, was lächerlich war, da sie seit ihrer frühen Kindheit befreundet waren – seit er auf dem Spielplatz für sie eingestanden war. Und jetzt waren sie ein Paar, was sie überaus glücklich machte.

Genug davon. Sie war sich nicht sicher, was sie jetzt tun sollte. Sie hatten mittlerweile Tageslicht, auch wenn die Wolken immer noch als trübe, graue Decke über ihnen hingen. Sie brauchten dringend Regen, einen prasselnden Schauer, der die trockene Erde tränken konnte. Der Hochsommer stand bevor.

Draußen würde es frisch sein; kühle Luft mit dem Versprechen auf spätere Wärme, erfüllt vom würzigen Duft feuchten Grases und taubedeckter Blumen. Falls es ein weiterer heißer, trockener Tag werden würde, hätten sie nicht mehr lange etwas von der angenehmen Kühle.

Alex sammelte die letzten herumliegenden Zeitungen vom Vortag ein, sah sich um und wollte in die Küche gehen.

„Ich brauche einen Platz zum Schlafen“, sagte Neve. „Das Green Friday klingt gut.“

„Nein!“

Hugh lehnte so barsch ab, dass Alex zusammenzuckte.

„Ich renoviere gerade“, sagte er, klang aber immer noch erzürnt. „Ich sehe ohnehin keinen Zweck für deine Anwesenheit hier. Das meine ich ernst. Es wird sich nichts ändern.“

„Hugh?“ Neve war kaum zu hören. „Ich bin so erschöpft. Ich muss mich ausruhen und nachdenken. Wäre es in Ordnung, wenn ich hierbleibe – bei dir?“

Alex lief mit aufgerissenen Augen und gespitzten Ohren in Richtung Küche.

„Ich werde mal so tun, als hätte ich das nicht gehört“, sagte Hugh.

„Warum?“, fragte Neve. „Es ist ja nicht so, als hätten wir noch nie zusammen in einem Bett geschlafen. Du klingst, als könntest du etwas Trost gebrauchen, und ich auch.“

„Fahr zur Hölle, Neve!“

Alex zuckte zusammen und hielt den Atem an.

„Nimm dir hier ein Zimmer“, sagte Hugh. „Das ist mir egal. Du machst ohnehin das, was du dir in den Kopf gesetzt hast. Halt dich nur von mir fern.“

2

Ein einsamer Reiter, ein schmaler, vornübergebeugter und vom Wetter gezeichneter Mann auf einem breiten, glänzenden Welsh Cob, kam den Hügel herab und wippte dabei routiniert auf seinem Sattel. Er zog seine Tweedmütze, um Alex zu grüßen, machte jedoch keine Anstalten, ihrem Range Rover auszuweichen; ebenso wenig wie sein selbstgefällig herumstolzierender Jack Russel Terrier.

„Guten Tag, Alex“, rief Chuck Short. Er lächelte und in seinem nussbraunen Gesicht bildeten sich tiefe Falten. Chuck war für die Stallungen der Derwinters zuständig. „Es geht schon auf den Abend zu. Etwas spät, um noch einen Ausflug zu machen. Sie bewegen sich heute abseits der ausgetretenen Pfade.“

Das Anwesen von Leonard und Heather Derwinter umfasste hunderte Morgen grünen Lands jenseits des Dimple – ein flaches Tal jenseits des Hügels, von dem aus man auf Folly-on-Weir hinabblickte. Tony Harrison und Alex besaßen beide ein Haus im Dimple, doch Alex wohnte jetzt bei Tony und ihr eigenes Haus würde bald zum Verkauf stehen.

Chuck musste von den Derwinters aus querfeldein geritten sein, doch Alex war dort seit Jahren nicht mehr unterwegs gewesen. Die Bewohner der Gegend hielten sich zumeist von dem großen Anwesen fern, doch Wanderer, die in die Gegend einfielen, hatten vermutlich keine solche Skrupel.

Alex war so weit wie möglich in die Hecke am Rand des steilen Weges gefahren, den sie nur selten benutzte, und lehnte sich aus dem Fenster.

„Ich bin auf dem Weg zu Radhika. Sie arbeitet für Tony Harrison in der Tierarztpraxis von Folly. Sie ist seine Assistentin. Ich hätte mir schon vor Wochen ihr neues Haus ansehen müssen, aber Sie wissen, wie das ist.“

„Aye. Und ich kenne die Frau. Manchmal sind wir zu beschäftigt für die wirklich wichtigen Dinge. Sie ist ein hübsches Ding. Und sehr freundlich. Versteht sich gut mit diesem Detective, nicht wahr?“

In ländlichen Gemeinden gab es nur wenige Geheimnisse.

„Bill Lamb? Ja, das könnte man so sagen. Wie steht es bei den Derwinters? Ich habe Heather seit Wochen nicht mehr gesehen. Recht ungewöhnlich für sie.“

Die wunderschöne Mrs. Derwinter zeigte sich gern im Ortskern von Folly-on-Weir und war beinahe eine Stammgästin im Black Dog, doch in jüngster Zeit nicht mehr.

Chuck zeigte noch einmal sein koboldhaftes Grinsen. „Ich schätze, sie war auch sehr beschäftigt“, sagte er und trieb sein Pferd weiter. „Hier oben stehen nur zwei Häuser. Ihrem Hugh Rhys gehört das Green Friday, also muss Radhika das alte Gutshaus gekauft haben. Es ist zwar klein für ein Gutshaus, aber doch etwas teuer für die Assistentin eines Tierarztes, würde ich meinen. Sie wird eine Weile brauchen, um es wiederherzurichten.“ Er winkte zum Abschied, ohne sich noch einmal auf dem Sattel umzudrehen.

Alex lächelte vor sich hin, als sie wieder auf den Weg fuhr und dabei über die Furchen holperte, die von wochenlangem Sonnenschein ausgetrocknet waren. Die untergehende Sonne tauchte den klaren, blauen Himmel in einen dunklen Malventon. Die bunten Farben der Wildblumen rechts und links des Weges leuchteten immer noch hell. Nach einem anstrengenden Tag im Black Dog war Alex froh, für eine Weile zu entkommen.

Es war viel Zeit ins Land gegangen, seit sie zuletzt diesen Weg benutzt hatte, obwohl er direkt von der Straße abging, an der sowohl Tonys als auch ihr eigenes Haus lagen.

Die Menschen im Dorf glaubten immer noch, dass Radhika von dem Lohn abhängig war, den sie von Tony erhielt. Was nicht weiter schlimm war, auch wenn es dazu führte, dass man sich fragte, wie sie sich das alte Haus hatte leisten können, das nach Alex’ Wissen zügig renoviert wurde.

Radhikas Finanzen gingen nur sie selbst etwas an – wobei zumindest Alex von dem Vermögen wusste, das ihr eine geschätzte Freundin hinterlassen hatte.

An der Einfahrt zum Green Friday wurde Alex langsamer, um die lange, von schönen Ahornbäumen gesäumte Zufahrt hinaufzublicken. Ein wirklich schönes Haus. Hugh musste es für eine gute Investition halten, doch soweit sie wusste, hatte er niemals dort gewohnt, oder auch nur eine Nacht unter diesem Dach verbracht. Er vermietete das Gebäude, wenn er von Freunden darum gebeten wurde. Sie hatte es schon eine ganze Weile nicht mehr von innen gesehen, doch es kam ihr tadellos vor. Ganz sicher bedurfte es nicht der Arbeiten, die Hugh am Morgen erwähnt hatte.

Ihren letzten Besuch beim Green Friday versuchte Alex angestrengt zu vergessen.

Der Anblick von Hughs auffälligem 1939er BMW Nash – in marineblau und weiß – am rechten Rand der Zufahrt überraschte sie. Der Wagen ragte nur ein kleines Stück hinter einer der eindrucksvollen Steinsäulen hervor, die das Tor der Einfahrt flankierten. Hugh selbst lief gerade auf das Haus zu, das sie vom Weg aus nicht einsehen konnte, und sie hätte beinahe angehalten, doch fuhr dann mit einem Stirnrunzeln weiter und fragte sich, warum er dort war. Der Pub hatte geöffnet und zu Geschäftszeiten verließ er das Gebäude sonst nie. Zumindest nicht, ohne sie zu informieren, auch wenn er dazu nicht verpflichtet war, solange er jemandem die Verantwortung übertragen hatte.

Er war den ganzen Tag auffällig still gewesen, selbst für seine Verhältnisse. Alex’ Mutter Lily hatte Neve Rhys in einem der Zimmer im Black Dog untergebracht und sie hatte sich nicht mehr blicken lassen.

Ein Stück weiter den Weg entlang erblickte Alex das Schieferdach und die grauen Schornsteine von Radhikas neuem Zuhause.

Sie brachte den Range Rover zum Stehen und schaltete in den Leerlauf. Im Rückspiegel sah sie nichts als den von Hecken gesäumten Weg und den malvenfarbenen Himmel, der zügig zu einem dunkleren Violettton wechselte.

Hugh war ein Einzelgänger. Und über das Haus wusste sie nur, dass Hugh es gekauft hatte, kurz nachdem er die Stelle im Black Dog angenommen hatte – auf einer seiner Wanderungen hatte er das Haus entdeckt und sich darin verliebt. Außerdem gehörten ihm mittlerweile einige der noch nicht erschlossenen Grundstücke rund um das Haus, auf denen er gern spazieren ging. Falls er Pläne zum Ausbau dieser Grundstücke hatte, hatte er sie Alex gegenüber noch nicht erwähnt, und sie würde gewiss nicht nach seinen persönlichen Angelegenheiten fragen.

Vielleicht sollte sie zurückfahren, um sicherzustellen, dass bei Hugh alles in Ordnung war.

Kälte kroch kribbelnd an ihrer Wirbelsäule empor und machte sich auf ihren Wangen breit. Das war schon das zweite Mal an diesem Tag und es war ihr zuwider.

Eine Bewegung lenkte ihren Blick wieder auf den Rückspiegel, doch es war nur ein Kaninchen, dass hinter ihr über den Weg hoppelte.

Hugh war ein großer Junge, und sie benahm sich wie eine emotionale Idiotin.

Doch das Gefühl von kalten Fingern, die über ihre Haut strichen, wollte nicht nachlassen.

Hugh warf nur einen kurzen Blick auf die Fassade des Green Friday aus hübschen, goldenen Cotswold-Steinen und den Feuerdorn, der mit seinen unzähligen weißen Blüten an den Mauern emporrankte. Die Tennisplätze bedurften bestimmt einiger Pflege und er hatte keine Ahnung, in welchem Zustand sich der Pool hinter dem Haus befand. Hugh hatte echte Abscheu gegen dieses Haus entwickelt. Er musste es verkaufen, zumindest kam er immer wieder zu diesem Schluss, bis ihm bewusst wurde, dass er sich dafür intensiv mit dem Gebäude beschäftigen müsste.

Die Tür war nicht abgeschlossen, so wie Sonia es angekündigt hatte. Hugh trat ein und schlug die Tür hinter sich zu, um sie wissen zu lassen, dass er da war. Sie sollte ihm niemals wieder zu nahe kommen. Er hatte sie gewarnt, dass er keine Verantwortung für seine Handlungen übernehmen könnte, wenn sie es täte. Sie hatte ihn vor einer Stunde angerufen und er hatte sofort geschlussfolgert, dass Neve die ganze Zeit gewusst haben musste, wo Sonia war. Er kam nur noch nicht dahinter, warum sie es ihm nicht erzählt hatte, als sie darum gebeten hatte, in diesem Haus schlafen zu können. Er hatte nicht versucht, sie zur Rede zu stellen und zu fragen, was sie vorhatte, doch das wollte er ändern.

Die Vorstellung von Neve im Black Dog gefiel ihm gar nicht; ebenso wenig, dass sie so nah bei seinen Zimmern schlief.

Sonia Quillam hatte sich lange ferngehalten, doch wie üblich trat wieder ihre Überzeugung an die Oberfläche, dass ihr kein Mann auf Dauer böse sein könnte. Die Unverfrorenheit, hierherzukommen und einen Schlüssel zu benutzen, den sie nicht haben sollte, machte ihn wütend. Sie musste einen Schlüssel behalten haben, als sie das Green Friday zusammen mit ihrer Familie für einen Sommer gemietet hatte. Das war damals eine Katastrophe gewesen.

Er hörte das Klackern ihrer üblichen Sandalen mit Pfennigabsätzen auf den Steinfliesen des Küchenbodens. Das Geräusch verbreitete sich durch das ganze Haus wie das Klappern einer antiken Schreibmaschine.

Es wäre eine schlechte Idee, sie zur Rede zu stellen, ohne seine Wut gezügelt zu haben. Sie war egoistisch, eitel, sexbesessen … begehrenswert und anziehend. Sonia hatte ihm das Leben schon zu oft zur Hölle gemacht, und was auch immer sie jetzt von ihm wollte, sie würde es nicht bekommen. Hugh atmete mehrmals tief durch. Die plötzliche Stille in der Küche war ihm nicht entgangen.

Sonia erwartete ihn und posierte vermutlich möglichst vorteilhaft.

Das Haus fühlte sich leer an. Er lief an der geschwungenen Treppe und unbenutzten Räumen vorbei, die er seit dem Vorfall, an den er nur noch mit Entsetzen zurückdachte, nicht mehr betreten hatte. Staub sammelte sich hinter Erkerfenstern und zugezogenen Vorhängen, und die Möbelstücke unter den Laken existierten nur noch als verblasste Erinnerungen. Hier war nichts verändert worden. Allein der Gedanke, herzukommen und alles auf Vordermann zu bringen, war abstoßend.

Er verlangsamte seine Schritte und spürte, dass sie nach seinen Bewegungen lauschte, konnte sie beinahe atmen hören – kurze Atemzüge, die stockten, während sie sich darauf vorbereitete, neue Lügen zu spinnen.

Er öffnete die Küchentür.

„Da bist du ja!“ Ihre laute Stimme stürmte auf ihn ein; überschwänglich aber gepresst und mädchenhaft, um den Eindruck zu vermitteln, den sie erreichen wollte.

„Ich dachte schon, du würdest nicht kommen. Oh, Hugh. Ich habe dich so vermisst.“

Sie breitete die Arme aus und kam auf ihn zu. Ihr Körper war so anziehend wie er ihn in Erinnerung hatte – nur zu deutlich – und unter dem fast transparenten Kaftan mit Blumenmuster gut auszumachen, dessen tiefer Ausschnitt irgendwo zwischen ihren Brüsten endete. Unter dem hauchdünnen Stoff war sie offensichtlich nackt.

Hugh wandte sich ab. „Du solltest nicht hier sein.“

„Sei doch nicht so“, sagte sie, jetzt mit rauchiger Stimme. „Ich habe schwere Zeiten hinter mir, und das weißt du. Ich wäre nicht hier, wenn ich nicht wüsste, dass du der einzige echte Freund bist, den ich jemals hatte. Du warst der Einzige, der in guten und schlechten Zeiten für mich da war; auch dann, wenn ich Fehler gemacht hatte. Und ich weiß, dass ich eine Menge Fehler gemacht habe.“

„Haben wir das nicht alle?“ Er traute sich nicht zu, sie noch einmal anzusehen. „Ich nehme an, du hast einen Schlüssel für das Green Friday behalten. Das überrascht mich zwar nicht, aber … nein, du könntest mich nicht enttäuschen. Du tust nichts, ohne dabei zu berechnen, wie es dir zugutekommen könnte. Ich möchte nichts von deinem Drama hören, Sonia. Ich will, dass du verschwindest. Bleib meinetwegen die Nacht hier, aber am Morgen gehst du wieder.“

„Es geht um Elyan, Hugh. Unser Sohn ist eingesperrt mit Irren. Ein brillanter Musiker, weggesperrt und vergessen. Ich ertrage das nicht mehr allein. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, bricht es mir aufs Neue das Herz.“

Er drehte sich langsam zu ihr um. Sie war wunderschön, mit ihrer olivfarbenen Haut, den goldenen Augen und ihrem rotblonden Haar, und hatte es eigentlich gar nicht nötig, ihre umwerfende Figur so zu präsentieren wie heute Abend. Der feuchte Glanz in ihren Augen und das Zittern ihrer vollen Lippen war ihm zuwider.

„Du lügst“, sagte er und ballte die Hände an seinen Seiten zu Fäusten. „Du hast ihn nicht besucht. Nicht ein Mal.“

Ihr Mund klappte auf, dann presste sie die Lippen aufeinander. „Woher willst du das wissen? Du erkennst ihn ja nicht einmal an.“

„Elyan ist nicht mein Sohn, aber ich bin sein Freund. Ich besuche ihn regelmäßig. Er spielt dort jeden Tag, wusstest du das? Auf einem alten Klavier. Und er gibt den anderen sogenannten Patienten Unterricht. Er findet seinen Frieden, während er sich dem stellt, was aus ihm geworden ist. Er spricht nie von der großartigen Karriere, die er verloren hat – nur von der Schwester, die für immer fort ist, und von der Frau, deren Leben ausgelöscht wurde. Und er versteckt sich nicht hinter Ausreden, obwohl wir wissen, dass er nicht bei klarem Verstand war.“

Sonia wippte in ihren schmalen Schuhen vor und zurück und schüttelte ungläubig den Kopf. „Halt mich fest, Hugh. Ich bin verzweifelt. Ich brauche dich mehr, als ich jemals irgendjemanden gebraucht habe. Bring mich ins Bett. Bitte, Liebling.“

Für einen kurzen Augenblick regte sich ein Beschützerinstinkt in ihm und er hatte Mitleid. Doch nur für einen Augenblick. „Ich weiß nicht, warum du mich hier sehen wolltest, aber das tut nichts zur Sache“, sagte er. „Du hast Neve verraten, dass ich hier in Folly lebe. Wie kam es dazu?“

„Sie war nett zu mir“, murmelte Sonia und schlang die Arme um ihren schmalen Torso. „Als sie danach fragte, habe ich es ihr gesagt. Was ist denn so schlimm daran? Wir halten Kontakt – nicht ständig, aber immer wieder. Sie hat mich in Paris angerufen – von Schottland aus – und sagte, dass sie dich kontaktieren müsste. Du machst es den Leuten nicht leicht, Hugh. Warum hasst du deine eigene Familie so sehr?“

„Und dann hast du beschlossen, dass du mich gleich auch in Folly belästigen solltest?“ Er streckte warnend eine Hand aus, um sie auf Abstand zu halten. „Vergiss die Frage. Es ist mir egal. Du wirst von hier verschwinden.“

Er hatte schon jetzt genug. Neve musste Folly verlassen. Wie üblich hatte sie aus irgendeinem hinterhältigen Grund eine Begegnung in die Wege geleitet, zum Vorteil für sich selbst und Perry. „Ich muss zu meiner Arbeit zurück.“

„Nein!“ Sie rannte zu ihm und schlang die Arme um seinen Hals. „Ich flehe dich an, mir zu helfen. Um unseres Sohnes willen. Ich bin ganz allein und weiß nicht, was ich tun soll.“

Hugh tätschelte Sonia den Rücken, als wäre sie ein kleines Kind. „Beruhige dich. Das heißt wohl, dass Percy Quillam wieder eine Affäre nach der anderen hat. Das sollte dich nicht überraschen. So bist du ja überhaupt erst ins Leben deines Ehemannes geraten; als Seitensprung eines verheirateten Mannes. Er hatte schon immer Affären und ich weiß nicht, warum du geglaubt hast, du könntest ihn monogam machen. Sonia, du bist wunderschön und talentiert. Du hast eine Stimme, nach der sich viele andere sehnen. Kehre zu deiner Karriere zurück. Singe und bau dir dein Leben wieder auf. Du kannst es schaffen. Aber so sehr du auch versuchst, mich vom Gegenteil zu überzeugen, wir wissen beide, dass Elyan nicht mein Sohn ist; auch wenn mir das nichts ausgemacht hätte. Ich weiß nicht, warum du hergekommen bist und was du hier erreichen willst, aber es wird nicht funktionieren. Ein DNS-Test hat bewiesen, dass Elyan nicht von mir ist.“

„Percy hasst mich – er ist in Paris und dirigiert – und sein geliebter Agent, Wells, ist natürlich bei ihm.“ Sie neigte sich nach hinten, Tränen glitzerten in ihren Augen. „Ich bin nur sein Aushängeschild und er mag es, wenn ich an seinem Arm hänge. Er wollte mich für meine angeblichen Sünden bestrafen, indem er versuchte, mich an ihn zu binden. Ich bin hier, weil ich dich brauche. Ist das nicht Grund genug? Früher war es das.“

„Wir sind Geschichte, Sonia.“

„Aber, Elyan …“

„Ist nicht mein Sohn und das weißt du auch. Warum beharrst du so darauf? Und du hast ihn nicht besucht, seit er eingewiesen wurde. Nicht einmal. Welche Ausrede hast du dafür?“

Sie weinte laut los und wischte sich mit beiden Händen die Tränen aus dem Gesicht. „Ich konnte es nicht ertragen, dort hinzugehen und ihn so zu sehen.“

„Dein Ehemann geht ihn besuchen“, sagte er leise. „Er ist der Vater. Aber Elyan möchte dich sehen. Sebastian Carstens, sein treuer Klavierlehrer, besucht ihn immer noch. Annie Bell auch – so oft, wie man es ihr gestattet. Sie liebt ihn und wartet auf ihn, selbst wenn es hoffnungslos erscheinen muss. Ich muss jetzt gehen.“

3

„Hugh wird zu mir zurückkommen“, sagte Sonia zu sich selbst, während sie sich durch das Schlafzimmer zum Bad tastete. Sie hatte sich eine schwarze Samthose und eine orangene Seidentunika angezogen.

„Er wollte bei mir bleiben; ich weiß es genau. Er ist so dämlich. Zu stolz, um dem nachzugeben. Aber das kommt noch.“

Sie spritze sich kaltes Wasser ins Gesicht und ließ es auf die Tunika tropfen. Licht ließ dieses Haus nur noch größer und leerer wirken. Sie stolperte barfuß durch die Dunkelheit und nach unten in die Küche.

Das gedämpfte Licht hinter den Schränken mit Glastüren tauchte den Raum in ein blasses Glühen, dass sich in den eingeätzten Motiven von windgepeitschtem Gras fing. Sonia hasste diese grünlichen Glastüren mit dem geräuschlosen Wind und der Wildheit. Selbst der Herd und die dunkelgrünen Küchengeräte bereiteten ihr Übelkeit.

Der Türklopfer wurde ein einziges Mal gegen die Haustür geschlagen und das harte, metallene Geräusch hallte durch das Haus. Sonia wagte es kaum, zu atmen, doch dann rannte sie mit pochendem Herzen zur Tür. Sie hatte gewusst, dass er es bereuen würde, sie zurückgelassen zu haben.

Unter ihrer ungeduldigen Kraft schwang die schwere Tür weit auf.

„Hallo, Sonia.“

Annie? Annie Bell – Elyans Annie?

„Ich kann dir deine Überraschung nicht vorwerfen“, sagte Annie. „Es ist lange her. Ich musste dich sehen. Ich bin vor ein paar Tagen nach Folly gekommen und habe seitdem versucht, den Mut für einen Besuch aufzubringen.“

„Komm rein.“ Sonia trat einen Schritt zurück und die junge Frau lief an ihr vorbei.

Ihr glänzendes, rotbraunes Haar war so dick und lockig wie in ihrer Erinnerung. Dunkle Augen mit suchendem Blick. Annie war wunderschön und Sonia wünschte, sie wäre gerade irgendwo ganz weit weg – und zwar sofort.

Sie hielt am anderen Ende des Wohnzimmers inne.

„Es ist alles noch abgedeckt“, sagte sie angesichts der Möbel. „Ich dachte, du wärst schon seit Tagen hier.“

„So viele Tage sind es noch nicht“, sagte Sonia. Sie hatte nie etwas gegen Annie gehabt, aber warum hätte sie sich sonderlich für sie interessieren sollen? Elyan hatte ihre Verlobung bekanntgegeben, doch Sonia war sich sicher gewesen, dass nichts daraus werden würde. Sie war geradezu lächerlich ungeeignet.

„Tut mir leid, dich so zu überfallen“, sagte Annie, „aber der Festnetzanschluss war nicht erreichbar und ich kenne deine Handynummer nicht.“ Sie lächelte, doch ihre bebende Unterlippe verriet, wie nervös sie war. Sie fuhr sich mit der linken Hand durchs Haar und der Ring, den Elyan ihr geschenkt hatte, glänzte immer noch an ihrem Finger.

„Woher wusstest du, dass ich hier bin?“, fragte Sonia.

Annie schien sich unbehaglich zu fühlen. „Das sollte ich lieber nicht sagen. Es tut ohnehin nichts zur Sache, oder?“

Sonia hätte gern alle Mitspieler in diesem Spiel gekannt, doch sie sagte: „Natürlich nicht. Wie schön, dich zu sehen. Es ist viel zu lange her.“

Bis sie wusste, was hier auf dem Spiel stand, würde sie sich nicht in die Karten blicken lassen. „Machen wir es uns doch gemütlich. Es ist wirklich an der Zeit, dass ich einige dieser Tücher abnehme.“

Sie zog die Abdeckung von zwei Sesseln und bedeutete Annie, sich zu setzen. Die junge Frau war attraktiver als in ihrer Erinnerung. Schlank aber feminin, nur ihr Gesicht war blasser als es sein sollte, ihre Sommersprossen traten deutlicher hervor als früher.

„Was kann ich dir bringen?“, fragte Sonia. Sie hatte zu viel Wein getrunken und ihre Stimme gleichmäßig zu halten, verlangte ihr einiges ab.

„Nichts, danke. Ich möchte nicht zu viel von deiner Zeit beanspruchen.“

Annie setzte sich auf einen der elfenbeinfarbenen Brokatsessel und Sonia nahm sich den anderen, den sie von seinem Laken befreit hatte.

Ein dumpfer Knall hallte durch die Stille und Annie drehte sich auf ihrem Sessel herum, um in den Flur zu blicken. „Das kam aus dem Esszimmer oder der Küche.“

Sonia stand auf und lief los.

„Hast du die Haustür zugemacht?“, fragte Annie, während sie aufstand und Sonia überholte, ehe sie weit gekommen war. „Nein, das muss es sein.“ Sie verschwand im Flur und Sonia hörte, wie sie schwungvoll die Tür schloss.

Annie kehrte mit einem leichten Lächeln zurück.

„Was ist so witzig?“, fragte Sonia, während sie sich Sorgen darum machte, ob sie wohl lallte.

„Ich habe nur darüber nachgedacht, dass dieses Haus für uns beide kein unbeschriebenes Blatt ist. Wer könnte uns vorwerfen, schreckhaft zu sein. Die Haustür war nicht ganz zu und der Durchzug muss irgendwo eine andere Tür zugeworfen haben. Ich würde mich gern mit dir unterhalten, Sonia. Es geht um etwas, das uns wohl beide betrifft.“

„Nur zu.“ Sonia wollte eigentlich lieber darüber nachdenken, was sie als Nächstes tun sollte. Hugh war ihr Hauptanliegen – und die andere Ablenkung, die sie in Betracht zog.

„Ich gehe regelmäßig Elyan besuchen“, sagte Annie. „Er ist tapfer, aber sein Leben ist hart. Er versteht, dass er sich das alles selbst eingebrockt hat, aber er hat sich wirklich verändert, seit er im Ashworth Hospital ist. Er hat es dort nicht einfach.“

Sonia stützte ihr Kinn auf eine Faust. „Das liegt nicht in meiner Hand. Ich ertrage es nicht, ihn dort zu wissen. Ich kann nicht begreifen, was angeblich passiert sein soll.“ Sie hob den Kopf. „Ich hätte nie gedacht, dass dieser begabte, sanfte Junge irgendjemandem schaden könnte.“

Das Brummen in ihrem Kopf bereitete Sonia Übelkeit. Sie legte sich eine Hand über die Augen.“

„Was auch immer passiert ist“, sagte Annie, „ich werde niemals aufhören, ihn zu lieben. Und ich weiß, dass es dir nicht anders geht. Deshalb bin ich hier. Er muss wissen, dass wir alle für ihn da sind und alles in unserer Macht Stehende tun würden, um ihm seine Situation erträglicher zu machen.“

Sonia nickte, wünschte sich aber, Annie würde auf den Punkt kommen, und nicht noch mehr von ihrem Abend verschwenden.

„Jedes Mal, wenn ich Elyan besuche, fragte er nach dir“, sagte Annie und rückte auf ihrem Sessel nach vorn. „Du bist seine Mutter, besuchst ihn aber nicht.“

Sonia drückte sich die Finger in die Augenwinkel und brachte damit problemlos die Tränen zum Kullern. „Du verstehst das nicht“, sagte sie und ihre Stimme brach. „Ich liebe ihn so sehr und ertrage es nicht, ihn dort zu sehen. Das ist zu schmerzhaft. All das verschwendete Talent.“ „Was geschehen ist, ist geschehen“, sagte Annie. „Jetzt geht es darum, ihm dabei zu helfen, diese Zeit durchzustehen. Er muss wissen, dass wir ihn lieben. Vielleicht wird er in nicht allzu ferner Zukunft entlassen … wenn es ihm besser geht. Doch um darauf hoffen zu können, müssen wir ihn unterstützen. Ich bin hier, um dich darum zu bitten, ihn zu besuchen. Fahr einfach mal hin. Es ist weder furchteinflößend noch seltsam. Ihr werdet nur zu zweit sein. Und ich weiß, wie heilsam das für ihn wäre.“

Sie liebte Elyan wirklich, dachte Sonia, sogar sehr, aber manche Situationen waren einfach zu viel für sensible Menschen wie sie. Annie fixierte sie mit ihren großen, dunklen Augen, in denen ein geradezu flehender Blick lag. Sie musste die junge Frau irgendwie zufriedenstellen, ohne Versprechen zu geben, die sie womöglich nicht halten würde.

„Ich gehe so oft zu ihm, wie man mich lässt“, sagte Annie, während ihr Tränen in die Augen stiegen. „Ich bin weder seine Ehefrau noch eine Verwandte. Percy hat mir in dieser Angelegenheit geholfen. Er besucht Elyan ebenfalls regelmäßig, obwohl ich genau weiß, wie schmerzhaft das für ihn ist. Ich habe Mr. Quillam nie besonders gemocht, aber ich habe gelernt, ihn zu respektieren, weil ich glaube, dass es ihm sehr leidtut, sich nicht aufmerksamer um Elyans Bedürfnisse gekümmert zu haben. Und Hugh Rhys besucht ihn auch. Ich begegne im manchmal dort und er spendet mir Trost. Elyan liebt ihn und es hebt seine Stimmung, ihn zu sehen.“

Sonia wurde kalt. Jeder war ein Held; jeder außer ihr. Niemand interessierte sich auch nur im Geringsten für ihre Bedürfnisse. Sie liebte auch und war eine leidenschaftliche Frau – war das eine Sünde? Sie hatte ihre eigenen Bedürfnisse und wusste, wovor sie sich schützen musste.

„Sonia?“, fragte Annie leise. „Wirst du Elyan besuchen, für unser aller Wohl?“

Verdammt, sie hatte immer für ihre Wünsche kämpfen müssen, und jetzt kämpfte sie schon wieder. „Ich denke darüber nach, Annie. Ehrlich. Ich liebe meinen Sohn sehr. Aber ich möchte, dass du die Dinge klarer siehst und einige der besorgniserregenden Gedanken verstehst, die mich belasten.“

Annie beobachtete sie nur und ihre Haut schien noch blasser zu werden.

„Percy besucht Elyan nur, weil er sich selbst in seinem Schützling sieht. Der Maestro hat einen virtuosen Pianisten hervorgebracht. Jedes Mal, wenn er Elyan ansah, glaubte er, seine eigene Kreation zu sehen. Jede Auszeichnung, die Elyan erhielt, hat Percy als seine eigene beansprucht.“

„Da kann ich dir nicht widersprechen“, sagte Annie. „Aber ich kenne die Details natürlich nicht so gut wie du. Es scheint, dass Percy Elyan zu sehr angetrieben hat. Aber ich bin mir mittlerweile sicher, dass er ihn sehr liebt.“

„Ich frage mich, ob er ihn so sehr lieben würde, wenn er die Wahrheit kennen würde“, blaffte Sonia und versuchte sich von dem abzuhalten, was sie tun musste – um ihretwillen. Sie hatte wirklich genug gelitten.

Sie spürte, dass Annie sie beobachtete, und schenkte ihr ein schwaches Lächeln.

„Welche Wahrheit?“, fragte Annie leise.

Wenn sie die anderen alle ausstechen wollte – und das würde auf jeden Fall riskant werden – musste sie ihre Trumpfkarte ausspielen. Sonia stand auf und erhob die Stimme.

„Hör mir einfach nur zu.“ Ihre Stimme war ein mächtiges Werkzeug, egal ob sie sang oder sprach. „Was denkst du, warum Hugh Rhys Elyan so häufig besucht?“

Annie sagte immer noch nichts, sondern beobachtete sie nur erwartungsvoll.

„Sie wollen alle so tun, als wäre es nicht so, aber Hugh ist Elyans Vater. Natürlich geht er ihn da besuchen. Und er hasst Percy. Er erträgt die Vorstellung nicht, dass Percy mehr Zeit mit Elyan verbringen könnte als er selbst. Hugh ist ein eifersüchtiger Mann, und ich sollte das wohl wissen.“

Sonia lehnte sich an eine Arbeitsfläche und tippte eine Nummer in ihr Handy. Es klingelte nur einmal, bevor sie eine leise Stimme hörte: „Was willst du?“

„Ich hatte gerade unerwarteten Besuch. Ich denke, du weißt, wen ich meine. Wir waren uns einig, dass du niemandem sagen würdest, dass ich herkomme, aber du hast dich nicht daran gehalten, oder?“

Einige Sekunden lang erhielt sie keine Antwort. Als die Stimme endlich wieder zu hören war, klang sie überaus gelangweilt: „Rufst du nur deshalb an? Ob ich getan habe, was du behauptest, oder nicht, es geht dich nichts an.“

„Ich fühle mich in diesem Haus gefangen.“ Sie konnte jetzt Musik im Hintergrund hören. „Ich komme nicht gut damit zurecht, allein zu sein. Dann habe ich zu viel Zeit, um darüber nachzudenken, wie ich die Menschen bestrafen kann, die mich ignorieren.“

„Es war deine Entscheidung, dort hinzufahren.“ Die Stimme klang plötzlich gedämpft, als hätte man den Hörer abgedeckt. Wer war noch dort?

„Ich muss jetzt mit dir sprechen“, sagte Sonia schniefend. „Es ist etwas passiert. Wenn du möchtest, kann ich zu dir kommen. Nenn mir nur den Ort.“

„Du lernst es einfach nicht, oder? Setz mich nicht unter Druck. Verstanden? Das wird dich nicht weiterbringen. Und ich will, dass du bleibst, wo du bist.“ Wie immer lang eine unterschwellige Drohung in der Anweisung.

Das Gespräch wurde beendet. Sonias Finger verharrten über dem Handy, bis sie sich dagegen entschied, noch einmal anzurufen, und das Handy in die Tasche steckte.

„Ich hasse dich“, murmelte sie.

Mit einem großen Schluck leerte sie ihr Glas Sauvignon Blanc, das sie sich eingeschenkt hatte, nachdem Annie gegangen war, und erhob sich, um die Flasche aus dem Kühlschrank zu holen. Sie spürte den kalten Boden unter ihren Zehen und schwankte, als sie die Flasche in die Höhe hob, um zu sehen, wie viel noch übrig war. Nur noch zwei Fingerbreit am Boden der Flasche, und sie war sich bewusst, dass sie den Rest ganz allein getrunken hatte. Na und? Sie würde die Flasche leertrinken und eine neue aufmachen. Sich mit Annie herumzuschlagen, mit ihren Fragen und Tränen, hatte sie ausgelaugt.

Ehe sich die Kühlschranktür schließen konnte, schob sich eine Hand vor ihren Augen vorbei und presste sich ihr auf Nase und Mund. Sie wurde vom Druck eines Körpers in ihrem Rücken nach vorn gestoßen und gegen ein hartes Regal geworfen, sodass der Inhalt klapperte. Ihr Schrei wurde abgeschnitten, im Gegensatz zu ihrer zittrigen Atmung und dem brennenden Erbrochenen, das in ihrem Hals emporstieg. Die Flasche glitt ihr aus der Hand und zerbrach auf den Fliesen. Schachteln und Gläser fielen zu Boden. Kalte Flüssigkeiten schwappten über ihre Füße.

Er hatte auf sie gewartet.

Wollte er sie umbringen?

Alles wurde schwarz.

Der Griff ihres Angreifers lockerte sich kurz. Er veränderte die Position seiner Arme und versuchte gleichzeitig, die Kühlschranktür zu schließen. Sie schlug um sich, wand sich und versuchte, sein Gesicht zu packen zu bekommen, seinen Kopf oder sonst irgendetwas. Die Muskeln in seiner Schulter spannten sich an, als er sie von sich stieß und dann fester an sich drückte. Er war groß. Das war alles, was sie über ihn sagen konnte.

Mach dich schlaff. Lass dich fallen.

Brennender Schmerz fuhr ihr in die Füße. Sie fühlten sich schleimig und feucht an. Sie blutete. Glas und Blut.

Sonia riss die Hände nach oben und schlug mit beiden Fäusten gegen die Arme, die sie festhielten. Sie rutschte auf dem Boden aus, strauchelte und rechnete damit, dass er auf sie fallen oder schreien würde, doch er gab keinen Ton von sich – bis auf ein schlurfendes Geräusch wie von Schneeschuhen auf Eis.

Es blieb still.

Wer war er?

Luft strömte ihr brennend in die Lunge.

Sie stand wieder auf, doch ihre nackten Füße glitten über die Fliesen.

Sie stürzte nicht.

Sie hastete durch die Tür und den langen Flur entlang, vorbei an den Zimmern des Erdgeschosses. Er würde sie einholen, sie zu Boden werfen, schlagen und sie würgen, bis die Lebensgeister sie verließen. Mit jedem Atemzug entkam ihrer Kehle ein Schluchzen und die Luft erreichte ihre Lunge nicht mehr. Er Herz hämmerte.

Jetzt würde er sie jeden Augenblick erwischen. Jetzt! Jetzt! Donnern in ihrer Brust. Lass mich gehen. Hilfe! So komm doch jemand. Haltet ihn auf.

Die Haustür stand wieder offen. Hatte sie die nicht geschlossen, als Annie gegangen war? Sie geriet ins Schlittern, rannte aber weiter, während sie mit eingerollten Zehen versuchte, Halt zu finden … nichts hielt sie auf … sie war draußen.

Es war nicht nur warm, sondern stickig. Sie rannte die Treppe hinunter und ihre Fersen schrammten über Stein. Wo bist du? Du kannst mich jederzeit schnappen, wenn du es willst. Du beobachtest mich, verspottest mich. Warum? Was habe ich dir angetan?

Sie erreichte die Zufahrt und ihre Zehen gruben sich in den Kies. Das fühlte sich gut an. Jede scharfe Kante bereitete ihr Schmerzen, die sie keuchen ließen. Doch der Schmerz bedeutete, dass sie noch lebte.

Sonia wollte schreien. Ihr Hals und Mund bebten unter der Anstrengung, den Schrei zu unterdrücken. Jedes laute Geräusch würde ihm nur ihre genaue Position verraten.

Sie rannte weiter und ließ das Haus hinter sich. Als sie die Bäume auf der anderen Seite der Zufahrt erreichte, eine gerade Reihe von Ahornbäumen, die den Rand eines kleinen aber dichten Waldstückes markierten, wusste sie, wohin sie wollte. Hatte sie ihn fallen gehört? War er bewusstlos? Ja, so musste es sein, sonst hätte er sie längst eingeholt. Er war bewusstlos und sie war frei – bis er wieder zu sich käme und ihr folgte. Er würde noch wilder und wütender sein als zuvor.

Sie tastete keuchend nach ihrem Handy. Die Polizei würde herkommen. Sie hatte keinen Notruf absetzen können, als sie ihrem Angreifer noch so nah gewesen war, doch jetzt sah das anders aus.

Sie hatte das Handy in die rechte Hosentasche gesteckt. Sie suchte auch in der linken. Immer wieder grub sie ihre Hände tief in die Taschen. Nichts. Es musste herausgefallen sein. Jetzt war es das Wichtigste, in Bewegung zu bleiben, und so lief sie weiter, doch die Tränen konnte sie nicht aufhalten.

Im Wald würde sie sich verstecken können. Doch das Unterholz würde ihr auch die Füße noch weiter aufreißen. Farnkraut, dorniges Gebüsch und Ranken wurden mit jedem Schritt dichter und verschlungener.

Machte sie sich falsche Hoffnungen, weil er andere Pläne für sie hatte? Hatte er sie entkommen lassen?

Wohin sollte sie laufen? Wenn sie das Grundstück verlassen und den Weg erreicht hätte, wäre es eine lange Strecke den Berg hinab, bis sie irgendetwas erreichen konnte. Am Ende des Weges stieß man auf eine Straße, die sich um den Hügel oberhalb des elenden Örtchens Folly-on-Weir wand. In der einen Richtung führte die Straße nach Folly, in der anderen schlängelte sie sich bis zu einem flacheren Stück Land, dessen Namen sie vergessen hatte. Von hier aus bergauf gab es nur noch ein weiteres Haus, das gerade renoviert wurde, und dann führte der Weg zu einigen Feldern, über die sie ein- oder zweimal spaziert war. Von dort aus führte ein langer Trampelpfad zu den Derwinters, und beinahe in entgegengesetzter Richtung ein kaum genutzter, überwucherter Weg, der zu einem Wanderpfad führte. Da oben war zu dieser Tageszeit keine Hilfe zu finden.

Und auch kein Telefon …

Nach unten zur Straße war der einzig sinnvolle Weg. Und dort würde sie sich in den Büschen verstecken, bis sie ein Auto kommen sähe. Also musste sie sich jetzt durch die Bäume schlagen und die Hecke erreichen, die das Grundstück umgab. Sie erinnerte sich daran, dass zwischen der Hecke und dem Weg eine steile, grasbewachsene Böschung lag.

Sonia hielt inne, wippte von einem Fuß auf den anderen und sog Luft ein, als sie glaubte, etwas gehört zu haben. Zerbrechende Zweige? Sie hielt den Atem an und lauschte. Es war nichts mehr zu hören. War er hinter ihr her?

Sie strauchelte weiter voran. Zuerst litt sie noch unter ihren schmerzenden Füßen, doch irgendwann wurden sie taub. Einige Wurzeln brachten sie zu Fall. Sie raffte sich wieder auf und konzentrierte sich darauf, ihre Richtung beizubehalten, während sie sich weiter bergab auf die Straße zu kämpfte. Ihre Kleidung verfing sich in Dornengestrüpp und ihre Hände bluteten, bis sie sich wieder befreit hatte.

Wenigstens konnte sie ausmachen, dass sich das Unterholz vor ihr lichtete. Sonia teilte vorsichtig die Hecke und trat hindurch. Sie klammerte sich an einige Äste, während sie am oberen Ende der Böschung hing und sich kaum dazu bewegen konnte, loszulassen und hinunterzurutschen. Sie war so weit gekommen. Jetzt würde sie auch den Weg erreichen und darüber die Straße zwischen Underhill und Folly-on-Weir. Da, jetzt war ihr der Name des anderen Ortes wieder eingefallen. Wenn ein Fahrzeug vorbeikäme, egal in welcher Richtung, könnte sie es zumindest heranwinken und die Insassen darum bitten, die Polizei zu informieren. Falls überhaupt noch ein Fahrzeug unterwegs war – hier war fast nie Verkehr. Auf dem Weg vor dem Haus war kein einziges Auto vorbeigekommen, sonst hätte sie die Motorengeräusche gehört.

Doch dieser Mann war irgendwie zum Haus gelangt. Vielleicht war er in einem Auto mitgefahren, aber möglicherweise war er auch zu Fuß über den Hügel gekommen. Sie betete, dass er mittlerweile auf diesem Weg wieder verschwunden war.

Einige Meter entfernt stand ein Fahrzeug am überwucherten Wegesrand. Sie konnte die Bauart nicht ausmachen, nur eine dunkle Silhouette. Sonia schluckte schwer, hielt inne und starrte das Fahrzeug an. Sie glaubte, es mochte ein BMW sein, doch die schmale Mondsichel spendete nur wenig Licht. Im Inneren des Wagens schien sich nichts zu bewegen, doch das musste nicht bedeuten, dass niemand darinsaß.

Hände legten sich um ihre Taille, Fingerspitzen gruben sich schmerzhaft unterhalb ihrer Rippen in die Haut. Sie wurde in die Luft gerissen und mit dem Gesicht voran in Zweige und Dornen geworfen.

Eine Hand packte ihr Haar, riss ihren Kopf in die Höhe und rammte sie mit der Stirn wieder ins Gestrüpp. Sonia verschluckte sich an dem Blut, das ihr aus der Nase in den Rachen lief.

Sie hustete und würgte, während er sich auf sie fallen ließ, wie ein schwerer, praller Sack, und ihr damit die Luft aus der Lunge presste.

Sie vernahm ein stetiges Heulen – es war tief und wurde lauter. Ein Motor. Sonia kämpfte sich mit dem Oberkörper in die Höhe, um etwas sehen zu kommen. Scheinwerferlicht strich über sie hinweg.

Das Gewicht auf ihr sorgte dafür, dass sie sich nicht bemerkbar machen konnte. Sie konnte keinen Muskel regen. Sie wurde fest gegen den Boden gepresst, sodass sie aus einem vorbeifahrenden Fahrzeug nicht zu sehen war.

Sie hörte eine leise Stimme. Versuchte, sich noch einmal zu regen. Zwecklos. Ihr Schrei wurde von Erde erstickt.

Sie war so müde; so voller Schmerzen.

Sonias Augen schlossen sich.

4

Ein Blick auf Hugh verriet Alex, dass Smalltalk eine schlechte Idee wäre. Er riss die Stühle von den Tischen im Schankraum und ließ sie auf den Holzboden knallen. So zog er unter Gemurmel von Tisch zu Tisch.

Schließlich fragte sie: „Was ist los, Hugh?“