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Zwei Herzen, die nach Rache dürsten – und die Liebe finden: Der Regency-Roman »Die Geliebte des Viscounts« von Stella Cameron als eBook bei venusbooks. Das prachtvolle Tregonitha mag zu den schönsten Herrensitzen von Cornwall gehören – für die junge Lindsay Granville hat ihr Elternhaus seinen Zauber verloren: Sie trauert um ihren verschwundenen Bruder William … und verdächtig niemand anderen als ihren skrupellosen Halbbruder Roger, dafür verantwortlich zu sein. Doch dann lernt sie Edward de Worthe kennen, den ungemein attraktiven Viscount von Hawkesley. Auch er hat noch eine Rechnung mit Roger offen – kann Lindsay ihn also zum Werkzeug ihrer Rache machen? Der gewagte Plan hat einen entscheidenden Fehler: Je mehr Zeit Lindsay mit Edward verbringt, umso stärker wächst ihre Sehnsucht, in seinen starken Armen zu liegen … und ahnt nicht, auf welches gefährliche Spiel sie sich damit einlässt! »Die neue Meisterin des amüsanten, teuflisch raffinierten und sinnlichen historischen Liebesromans!« Romance-Bestsellerautorin Amanda Quick Jetzt als eBook kaufen und genießen: der historische Liebesroman »Die Geliebte des Viscounts« der New-York-Times-Bestsellerautorin Stella Cameron ist ein ebenso romantisches wie prickelndes Regency-Lesevergnügen für alle Fans der »Bridgerton«-Saga. Lesen ist sexy: venusbooks – der erotische eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 562
Über dieses Buch:
Das prachtvolle Tregonitha mag zu den schönsten Herrensitzen von Cornwall gehören – für die junge Lindsay Granville hat ihr Elternhaus seinen Zauber verloren: Sie trauert um ihren verschwundenen Bruder William … und verdächtigt niemand anderen als ihren skrupellosen Halbbruder Roger, dafür verantwortlich zu sein. Doch dann lernt sie Edward de Worthe kennen, den ungemein attraktiven Viscount von Hawkesley. Auch er hat noch eine Rechnung mit Roger offen – kann Lindsay ihn also zum Werkzeug ihrer Rache machen? Der gewagte Plan hat einen entscheidenden Fehler: Je mehr Zeit Lindsay mit Edward verbringt, umso stärker wächst ihre Sehnsucht, in seinen starken Armen zu liegen … und ahnt nicht, auf welches gefährliche Spiel sie sich damit einlässt!
»Die neue Meisterin des amüsanten, teuflisch raffinierten und sinnlichen historischen Liebesromans!« Romance-Bestsellerautorin Amanda Quick
Über die Autorin:
Die New-York-Times- und USA-Today-Bestsellerautorin Stella Cameron hat über 70 Liebes- und Spannungsromane geschrieben, die sich allein in ihrer US-amerikanischen Heimat über vierzehn Millionen Mal verkauft haben. Die mehrfach – unter anderem von den »Romance Writers of America« –preisgekrönte Autorin wurde außerdem mit dem »Pacific Northwest Achievement Award« für herausragende schriftstellerische Leistungen ausgezeichnet. Stella Cameron ist Mutter von drei Kindern und lebt heute gemeinsam mit ihrem Mann in Washington.
Mehr Informationen über die Autorin finden sich auf ihrer Website www.stellacameron.com und auf Facebook: www.facebook.com/stellacameron
Bei venusbooks veröffentlichte Stella Cameron ihre Regency-Romane »Verführt von einem Earl« und »Die Leidenschaft des Dukes« sowie die beiden Hot-Romance-Highlights »Dangerous Pleasure – Gefährliche Küsse« und »Heaven & Hell – Gefährliche Leidenschaft«.
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eBook-Neuausgabe September 2021
Ein eBook des venusbooks Verlags. venusbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, München.
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 1992 unter dem Originaltitel »Only by Your Touch« bei Avon Books, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 1999 unter dem Titel »Flammende Berührung« bei Goldmann.
Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 1992 Stella Cameron
Published by Arrangement with Stella Cameron
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1998 Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2021 venusbooks Verlag. venusbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, München.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von shutterstock/ESB Professional, Andrew E Gardner, Dmytro Balkhovitin, pingebat
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts-tw)
ISBN 978-3-96655-938-6
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Stella Cameron
Die Geliebte des Viscounts
Roman
Aus dem Amerikanischen von Dinka Mrkowatschki
venusbooks
Meiner außergewöhnlichen Freundin,
Jayne Ann Krentz,
in Zuneigung gewidmet
Das Mädchen stellte ein notwendiges Übel dar. Eine unumgängliche Gegebenheit. Häßlich oder schön, Göre oder Blaustrumpf, die Schönheit und Natur einer Miss Lindsay Granville von Tregonitha waren für die Angelegenheit rein nebensächlich.
Ihr den Hof machen … so kurz wie möglich! Vernünftigerweise einen Kompromiß eingehen, um ihre Hand anhalten, sie heiraten, die ehelichen Pflichten erfüllen und sie dann komfortabel etablieren, in angemessener Entfernung … ebenfalls so bald es irgend ging!
Auf einem windumtosten Felsvorsprung, von dem aus er das beeindruckende Anwesen der Granvilles in Cornwall gut überschauen konnte, zügelte Edward Xavier de Worthe, sechster Viscount Hawkesly, seinen Hengst und legte eine Hand an den bebenden Hals des Tieres. Der Ritt von Megavissey war hart gewesen, gepeitscht von Haß und Ungeduld.
»Still, Saber«, murmelte Hawkesly, »wir sind im Territorium des Feindes und sollten die Gegend erkunden … bis das Land unser wird.« Seine Nasenflügel blähten sich, und er kniff die Augen zusammen, die man als Fensterläden zu seiner ›dunklen Seele‹ bezeichnete, wofür er dankbar war. In den kommenden Tagen würde ihm seine beachtliche Fähigkeit, Gefühle zu verbergen, sicher gute Dienste leisten. In jedem Fall beabsichtigte er, alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel zum Gelingen seines Manövers einzusetzen.
Und der Grund für dieses Manöver? Rache!
»Es ist Zeit.« Hawkesly richtete sich im Sattel auf und lenkte Saber mit leichtem Schenkeldruck den Hang hinunter.
Hawkesly preschte von den kahlen Höhen oberhalb des aufgewühlten englischen Kanals abwärts, immer schneller, über Weiden, wo sich Schafe in die Hecken drängten zum Schutz gegen die Februarkälte – eins mit seinem Pferd, wie ein Zentaur.
Er jagte unter hängenden Ästen dahin und bog im Galopp in einen Weg ein, der ihn zur geschwungenen Hauptauffahrt von Tregonitha bringen würde. Sein Atem bildete weiße Wölkchen, und er fletschte die Zähne. Besser, jetzt seine Wut in die Lüfte hinauszulassen, als bei dem Mann, der dem Viscount Hawkesly gleich zum ersten Mal begegnen würde. Der Mann durfte nichts von der Bedrohung spüren, die sein Besucher darstellte. Roger Latchett, dem es bestimmt war, die einzig mögliche Strafe für sein Verbrechen zu empfangen, würde ahnungslos seinen Ankläger und Richter höflich empfangen, ja sogar mit gespannter Vorfreude … und schon bald den Tag ihrer Begegnung verfluchen.
Minuten später kam Hawkesly vor der gotischen Fassade des Herrenhauses der Granvilles zum Stehen. Da er hinter sich auf dem Kies Schritte knirschen hörte, ließ er die Zügel noch nicht los.
Edward de Worthe schwang sich erst vom Pferd, als sich ein Wirbel tiefblauen Samtes und eine lose blonde Mähne auf Saber stürzten. Der Ankömmling registrierte, daß es eine junge Frau war, die da so hurtig daherstürzte, und verzog sich für einen Augenblick hinter die massiven Flanken seines Pferdes. Nachdem die junge Granville angeblich sehr reserviert sein sollte und sich nur selten zeigte, mußte dies zweifellos eine Bedienstete oder eine Besucherin sein; also übte er sich in Zurückhaltung.
»Hat Calvin Euch nicht gesagt, daß Ihr durch den Wald reiten sollt?« Eine rauchige, etwas atemlose Stimme erklang, das blasse Gesicht ihrer Besitzerin spähte jetzt um den Hals des Pferdes. »Bitte, beeilt Euch. Wenn Ihr … wenn Ihr … Solltet Ihr …«
Besorgte große Augen waren auf Hawkesly gerichtet, in derselben Farbe wie der indigofarbene Mantel, der dem Viscount viel zu groß und ziemlich schäbig erschien. Das Gesicht war ein perfektes Oval unter einem herzförmigen Haaransatz, die Nase klein und leicht nach oben gebogen. Den vollen Mund hatte sie leicht geöffnet, die weißen Zähne entblößt: dichte und dunkle Wimpern umgaben bemerkenswert blaue Augen. Hawkesly richtete sich auf. Diese atemberaubende Schönheit war sicher noch ein Kind.
»Wer oder was sollte ich, junge Lady?«
»Oh!« Eine Hand in einem außerordentlich schweren, unpraktischen Lederhandschuh legte sich vor die Lippen, und sie errötete ganz entzückend. »Oh! Also … Wenn Euch etwas daran liegt, daß Sarah nicht schrecklichen Ärger kriegt, würdet Ihr dann bitte zum Stall dahinten gehen und Euer Pferd verstecken?« Zu Hawkeslys Vergnügen machte sie einen hastigen und definitiv ungeschickten Knicks. »Das heißt, wenn es Euch nicht stört.« Die dichten Wimpern senkten sich über jetzt feuerrote Wangen.
Er schlug mit der Reitpeitsche gegen einen staubigen Stiefel. »Aber keineswegs! Zeigt mir den Weg.« Das arme kleine Ding war offensichtlich völlig verschreckt, und die Gelegenheit, sich Latchett aus einer unerwarteten Richtung zu nähern, könnte sogar ein Vorteil sein.
Das Mädchen, es mußte wirklich noch sehr jung sein, war außerordentlich klein und geradezu mager unter dem schlechtsitzenden Mantel; es überraschte Hawkesly, indem es seine Hand packte und den Weg entlanghastete, den sie gekommen war. Trotz des Handschuhs lag ihre tatsächlich winzig in seiner Hand.
»Ich hätte wissen müssen, daß Sarah Euch nicht deutlich gemacht hat, wie wichtig Diskretion ist. Und vermutlich habt Ihr vergessen, unterwegs bei Calvins Hütte anzuhalten.« Ihre gestiefelten Füße bewegten sich in Windeseile, und sie zerrte an Hawkesly, als hätte er Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Sein Rappe zockelte nebenher, immer noch heftig schnaubend von dem Galopp.
»Was genau …« Er warf einen Blick auf sie. »Was, glaubt Ihr, hat Sarah vergessen, mir zu sagen?«
»Jetzt reicht es aber mal!« Sie schleppte ihn um die Ecke des Hauses in einen kopfsteingepflasterten Stallhof. »Ich hab ihr nicht geglaubt, wißt Ihr. Sarah erfindet die tollsten Geschichten. Ich hab ihrem Plan zugestimmt, weil ich dachte, es wär nur eins ihrer Spiele. Aber ich hab nicht wirklich geglaubt, daß Ihr leibhaftig existiert.«
»Oh, doch, ich existiere«, flüsterte Hawkesly beinahe.
Das Mädchen blieb stehen. »Verzeiht, bitte. Das klingt sicher sehr töricht, aber ich rege mich immer so leicht auf. Jeder sagt das. Das und … ja, also … Sarah hätte Euch ganz deutlich machen müssen, wie wichtig es ist, daß Euch keiner sieht. Nicht nur im Pfarrhaus, sondern auch hier. Bitte beeilt Euch!«
Kein Knecht erschien, und Hawkesly ließ sich von dem Mädchen in einen Stall führen, wo sie Sabers Zügel nahm. Sie ging ganz selbstverständlich mit dem Pferd um, wie ein Fachmann, führte den Rappen in eine Box, warf ihm eine Decke über und vergewisserte sich, daß er Futter und Wasser hatte.
»So!« Sie wandte sich um und strich sich ihre glänzenden Locken aus dem Gesicht. »Euch ist sicher kalt, und Hunger werdet Ihr auch haben.«
Hawkesly mußte sich ein Grinsen verkneifen. Dem seltsam anziehenden kleinen Ding war es vorläufig gelungen, seine Wut zu dämpfen. Wohl ein Glück, denn er brauchte einen kühlen Kopf für sein Vorhaben. »Bekomme ich dann eine Decke und etwas Heu, bitte schön?«
Sie runzelte die Stirn, stolperte, als sie den Riegel vor die Box legte, und errötete prompt erneut. »Ihr findet mich ungeschickt. Das tun alle. Wenn wir uns beeilen, können wir uns in die Küche schleichen, da ist es warm. Ich denke, ich kann einen Happen für Euch finden, und dann werden wir entscheiden, was zu tun ist. Ihr habt Sarah nämlich verpaßt. Sie ist mit ihrem Vater in Saint Austell. Bestimmt werden sie noch stundenlang unterwegs sein, bis sie wieder im Pfarrhaus anlangen.«
»Vielleicht solltet Ihr den Butler rufen?« Das Spiel war nun weit genug gegangen. Offenbar verwechselte das Kind ihn mit jemandem.
Die riesigen, tiefblauen Augen starrten ihn unverwandt an. »Sarah hat da wirklich ein echtes Durcheinander angestiftet. Was für ein Glück, daß ich Euch entdeckt habe. Hier wohnt sie nämlich nicht. Das ist Tregonitha. Das Pfarrhaus liegt gleich beim Dorf. Ein paar Meilen entfernt.« Langsam erschien die Spitze einer rosa Zunge zwischen diesen perfekten weißen Zähnen. »Gott sei Dank hat Sarah Euch so gut beschrieben.«
Hawkesly wurde allmählich unruhig, so unruhig wie die stampfenden Pferde in ihren Boxen. »Und wie hat diese … wie sieht Sarahs Beschreibung aus?« Er hatte Latchett keine bestimmte Zeit für seine Ankunft genannt, nicht einmal den genauen Tag; aber jetzt konnte Hawkesly es kaum erwarten, dem Mann gegenüberzutreten.
Das Mädchen runzelte die Stirn vor lauter Konzentration. »Normalerweise redet sie über ihren tapferen Offizier, der unter dem Duke of Wellington dient und furchtbar unter der Trennung von ihr leidet … ich meine, sie redet von Euch, wenn sie ihre romantischen Gedichte gelesen hat. Deshalb hab ich ihr bis heute nicht wirklich geglaubt.«
Neugier gebot Hawkesly Einhalt. »Und sie sagt was?«
»Sie sagt« – das Mädchen musterte ihn eindringlich –, »er sei groß, die dunklen Locken vom Wind zerzaust, habe Feuer in seinen schwarzen Augen und sein Mund – sein fester Mund sei schön geschnitten. Prachtvolle breite Schultern, um die sich das Jackett vollendet schmiegt. Und seine Beine …« Ihr Mund klappte einen Augenblick zu. »Oje! Bitte, verratet Sarah nicht, daß ich solche Sachen gesagt habe.«
Hawkesly strich sich zutiefst amüsiert durch die genannten windzerzausten Locken. »Sarah hört kein Sterbenswörtchen von mir. Seid Ihr immer …«, wenn er sie ›ungestüm‹ nannte, wäre ihr das vielleicht peinlich. Spontaneität war ein rarer und entzückender Charakterzug, den er an Frauen überaus schätzte. »Seid Ihr immer so offen?«
»O ja, das sagen alle.« Kein Anzeichen von Entrüstung, soweit er sehen konnte. »Wir müssen in die Küche, bevor Euch jemand bemerkt.«
Er folgte ihr quer über den Stallhof und durch einen steinernen Torbogen in einen von einer Mauer umgebenen Küchengarten. Die spindeligen Überreste wintertoter Pflanzen waren unverkennbare Hinweise auf Vernachlässigung. Hawkesly zog eine Braue hoch. Für einen Mann, der mit tödlicher Skrupellosigkeit diesen Besitz an sich gebracht hatte, zeigte Latchett erstaunlich wenig Interesse an seinem Unterhalt.
»Hier rein«, sagte seine Führerin.
Sie gelangten durch eine schwere Tür in einen Korridor im rückwärtigen Teil des Hauses. Kälte strahlte von den Steinwänden ab, als sie an der Milchkammer, den Fleisch- und Fischvorratsräumen vorbeikamen. Dann brachte ihn das Mädchen in eine überraschend große und gut ausgestattete Küche, wo noch die Reste eines Feuers vor sich hin glimmten.
»Setzt Euch.« Ein gebleichter Holzstuhl wurde zum Feuer gezogen. »Hier. Wärmt Euch auf!«
Die Einladung war nicht ohne Reiz, daher ließ sich Hawkesly gehorsam nieder und streckte seine Hände der schwachen Glut entgegen. Das könnte in der Tat eine höchst glückliche Entwicklung nehmen. Latchett, bekannt als Mitläufer im Schlepptau der Gesellschaft, geriete sicher völlig aus der Fassung, wenn er erfuhr, daß man einen Viscount durch die Küche ins Haus geführt hatte! Hawkeslys Mundwinkel verzogen sich nach oben.
»Wo sind die anderen Bediensteten?«
»Ich bin kein … Oh, ja! Die Köchin hat heute nachmittag Ausgang. Deeds – der Butler – sitzt wahrscheinlich über seinen Büchern. Und sonst –« ihr Arm fuhr durch die Luft –, »wenn keine Gäste erwartet werden, hat das Personal anderswo im Haus Aufgaben zu erledigen.«
»Und Ihr?« Er warf ihr einen Blick über die Schulter zu. »Wer seid Ihr und wo solltet Ihr gerade sein?«
Ihre Handschuhe hatte sie auf den riesigen geschrubbten Tisch in der Mitte des Raumes geworfen und war gerade dabei, die ausgefransten Bänder ihres Mantels aufzuknoten. »Ich bin, äh …« Ein Lächeln zauberte reizende Grübchen in ihre Wangen, aber die Schatten in ihren strahlenden Augen vertrieb es nicht. »Ihr müßt doch wissen, wer ich bin, Sir. Ich bin, äh, Berthe. Sarahs Zofe.«
Sie war eine schlechte Lügnerin. Hawkesly runzelte die Stirn. Er hatte keine Ahnung, warum sie log; aber es lag auf der Hand, daß die Geschichte erfunden war. »Richtig, Ihr seid Berthe. Und was habt Ihr hier im Haus zu suchen, wenn Ihr als Sarahs Zofe ins Pfarrhaus gehört?«
Wieder überzog sie flammende Röte. »Ich werde Sarah zur Rede stellen. Sie hätte Euch klar und deutlich sagen müssen, daß der Grund, warum Ihr nach Tregonitha kommen und im Stall warten solltet, der ist, daß ihr Papa …« Sie schlich verschwörerisch auf Zehenspitzen herbei. »Reverend Winslow ist ein gütiger Mensch, aber sehr altmodisch in Angelegenheiten des Herzens, müßt Ihr wissen. Auf jeden Fall fand Sarah, wenn Ihr hier eintrefft und draußen wartet, könnte sie herüberhuschen, ohne daß ihr Vater den wahren Grund Eures Besuches ahnt!«
»Ich verstehe. Und haben wir – ich meine, hat Sarah Euch angekündigt, daß heute der Tag unseres Treffens sei?«
»O nein. Nein!« Sie sah sich in jedem Winkel der Küche um, bevor sie auf die Knie fiel und die gebrochene Ecke einer Steinplatte freilegte. Diese schob sie beiseite, griff in den Hohlraum darunter und holte ein in einen alten Schal gewickeltes Bündel heraus. Das Mädchen erhob sich keuchend und ließ ihre Beute in seinen Schoß fallen. »Wir müssen uns sputen. Sarah hat mir nur mitgeteilt, daß Ihr wahrscheinlich eines Tages kommen werdet und ich die Augen nach Euch offenhalten soll. Es war Zufall – ein höchst glücklicher Zufall –, daß ich Euch heute rechtzeitig abgefangen habe. Hier. Da ist Wildpastete und Käse und Äpfel. Das sollte Euch während Eures Aufenthalts im Stall stärken. Ich werde noch etwas Bier bringen, wenn ich kann.«
»Ihr seid sehr großzügig«, sagte er mit ernster Miene. Er fragte sich, ob Latchett eine Ahnung hatte, daß die Bediensteten Vorräte aus seinen Speisekammern stahlen, um ihre eigenen damit zu füllen. Von Viscount Hawkesly würde Roger Latchett jedenfalls nichts erfahren.
Berthe streifte den schweren Mantel ab, rollte ihn achtlos zusammen und warf ihn auf einen Stuhl. Dann ging sie noch mal auf die Knie, um den lockeren Stein wieder einzusetzen.
Hawkesly stockte der Atem. Diese Zofe war nicht so angezogen wie die, die er auf seinem Landgut oder anderen Besitzungen beschäftigte. Ohne den Mantel bestätigte sich sein erster Eindruck: sie war wirklich sehr klein. Klein, ja, von kindlicher Gestalt – nein! Ein Musselinkleid von blassestem Lavendel betonte ihre weiße Haut. Die offenen blonden Locken wallten über makellose Schultern und berührten den Ansatz unübersehbarer Brüste auf eine Art, die Hawkesly auf seinem Stuhl herumrutschen ließ. Das Kleid war ziemlich abgetragen, wie ein farbloses Satinband bezeugte. Aber unter diesem Band bauschte sich der dünne Stoff vorteilhaft, der die reizenden Kurven umhüllte.
»Warum seid Ihr nicht in Uniform?« fragte sie. Sie beugte sich noch einmal über den Stein, um zu sehen, ob er fest saß, und zartes Fleisch quoll aus der Enge der zu kleinen Corsage. Sie setzte sich auf die Fersen, und der hauchdünne gerade Rock schmiegte sich über gerundete Hüften.
Hawkesly bog mit einiger Mühe den Rücken durch. Es war nicht seine Art, Zofen oder Dienstmädchen zu begehren.
»Bestimmt dachtet Ihr, das wäre weniger auffällig«, fuhr sie fort.
Er merkte, daß er ihre Frage nicht beantwortet hatte. »Ihr habt mich durchschaut.« Er erhob sich. »Und wahrscheinlich möchtet Ihr jetzt gerne in das, äh, Pfarrhaus zurückkehren.« Im Moment fragte er besser nicht, ob sie jeden Tag hierherritt auf die geringe Chance hin, daß Sarahs tapferer Offizier aufkreuzte.
Eine weitere Ungereimtheit dämmerte ihm. Wie kam eine Zofe aus einem anderen Haushalt dazu, hier in der Küche Lebensmittel zu verstecken?
Berthe richtete sich nicht sonderlich graziös auf und trat näher. »Es gibt etwas, was ich Euch sagen sollte.«
Hawkesly sah sich einer entzückenden Verkörperung taufrischer Haut, glänzender Augen und zitternder reifer junger Fraulichkeit gegenüber. Sie war so nahe, daß er ihren Puls am Hals sehen konnte und das rasche Heben und Senken ihrer zarten Brüste. Ein Hauch von Rosenduft stieg in seine Nase. Für einen Augenblick verlor er die Fähigkeit zu sprechen.
»Ich würde es Euch ja berichten«, murmelte Berthe. »Das kommt auch noch. Aber zuerst muß ich mich versichern, daß Sarah mir nicht böse sein wird.«
Er schluckte. »In der Tat. Ihr dürft nichts tun, was Eure Herrin erzürnen könnte. Und jetzt …«
Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Begnügt Euch einfach damit, daß nicht alles so ist, wie es scheint. Aber ich bin überzeugt, wenn Ihr und Sarah erst einmal wieder zusammen seid, klärt sich alles.«
»Zweifellos.« Hawkesly widerstand dem Drang zu lachen. Statt dessen erlaubte er sich die Kühnheit einer leichten Berührung ihrer perfekten Wange. Sein Blick geriet ins Flackern, aber sie bemerkte das offenbar nicht. »Geht jetzt. Ich finde schon den Weg.« Er würde ihr nicht seine weiteren Schritte erläutern, beziehungsweise die Formulierung seiner Ausflüchte, warum er aus den unteren Regionen von Tregonitha auftauchte.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf, und ihr Haar flog hin und her. »Sarah würde mir nie verzeihen, wenn ich mich nicht um Euch kümmere.«
Ein verlockender Gedanke, dachte Hawkesly. Dann nahm er ihre Hand von seinem Arm. »Ich bestehe darauf!«
Hawkesly verstummte, als mit Getöse eine Tür aufsprang. Ein dicker blonder Mann stolzierte herein.
»Wen haben wir denn da?« Schütteres Haar, sorgfältig nach vorn gekämmt, umrahmte ein rundes, rotes Gesicht. Aufgeworfene, feuchtrote Lippen waren geschürzt, und blasse Augen, begraben in fleischigen Falten, fixierten erst Hawkesly, dann Berthe. »Sprecht, Sir! Was fällt Euch ein, in meine Küche zu dringen?«
Seine Küche? Also dieser … dieser Kakerlak war Hawkeslys Gegner, sein noch ahnungsloses Opfer. »Einen schönen Nachmittag«, wünschte Hawkesly leise. Dabei erhob er sich langsam und stellte das Bündel mit Essen neben sich.
Die Schweinsaugen des Mannes wurden zu Schlitzen. Seine diversen Kinne, violett von Exzessen gefärbt, wackelten über dem steifen Kragen. »Wer ist dieser Mensch? Was treibt er hier?« Latchett wandte sich an Berthe, und Hawkesly bemerkte, wie sein Blick auf ihren Brüsten verweilte.
»Er … ich …«
»Das reicht!« Latchett hob die Hand. »Mit dir beschäftige ich mich später.«
Hawkesly schluckte seinen aufkeimenden Haß hinunter. »Ich glaube, ich bin derjenige, den Ihr rügen solltet, Sir.« Der Mann war offensichtlich ein Wüstling, und man brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie er mit dem Mädchen umspringen würde. »Sehen Sie, ich hab mich verlaufen! Diese junge Frau war so gütig, mir den rechten Weg zu weisen.« Was immer passierte, er mußte einen kühlen Kopf bewahren und durfte erst handeln, wenn sein Ziel greifbar wurde.
Latchett richtete sich auf seinen gelb bekleideten Spinnenbeinen auf. Sein beachtlicher Bauch wölbte sich gefährlich unter der rosafarbenen Brokatweste. Hawkesly wußte, daß sein Gegenüber dreiunddreißig war. Durch ausschweifenden Lebenswandel wirkte er um Jahre älter.
»Zu wem wolltet Ihr?« fistelte Latchett.
»Er ist den falschen Weg geritten!« ertönte Berthes rauhe Stimme. Sie rang die Hände. »Du weißt doch, wie leicht man von Fowey her den falschen Weg einschlägt und hierher gerät statt ins Dorf. Ich werde ihm gerne zeigen …«
»Schweig!« schnaubte Latchett.
Ein aufgeblasener Dandy vom Land, dachte Hawkesly. Schwach, selbstsüchtig, gierig … skrupellos! Wie verlockend war doch die Herausforderung, Latchett jetzt gleich das Leben herauszuquetschen. Verlockend, aber zu einfach und zu gnädig.
Hawkesly lächelte Berthe an, die zitterte wie Espenlaub. »Ich werde das regeln, meine Liebe.« Zu Latchett sagte er: »Es gab da ein kleines Mißverständnis, Sir. Ich nehme an, Ihr seid Mr. Roger Latchett?«
Latchett schniefte hochnäsig und nickte.
»Wie ich mir dachte. In dem Fall, glaube ich, haben wir etwas zu regeln.«
»Ich …«
»Still«, bedeutete Hawkesly Berthe leise. »Es ist in Ordnung, meine Liebe. Mr. Latchett, sicherlich habt Ihr meinen Brief bekommen.«
»Brief?«
»In dem ich mein Interesse zum Ausdruck bringe, Point Cottage zu pachten – das Anwesen, von dem ich durch meine Freunde, die Trevays von Megavissey, erfuhr?« Er hörte, wie Berthe erschrocken nach Luft rang, sah aber nicht zu ihr hinüber.
Die schockierte Verwandlung auf Latchetts Zügen befriedigte Hawkesly ungemein. »Point Cottage«, stotterte er und zog sich einen Schritt zurück. »Ja, ja, natürlich. Dann seid Ihr …« Er hob die Hand und unternahm den lächerlichen Versuch, sich zu verbeugen, erheblich behindert von seinem Wanst. »Ihr seid …«
»Viscount Hawkesly«, half er nach und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Die Trevays von Megavissey bestanden genau besehen lediglich aus der Person Bertram Trevay, Privatermittler. Dank ihm wußte Hawkesly genug, um diesen armseligen Pfau aufs Korn zu nehmen, sobald die Zeit reif war. »Ich hoffe, daß das fragliche Anwesen noch zur Verfügung steht.«
»Ah … nun ja, es ist in der Tat ein sehr begehrenswertes Fleckchen … Mylord. Aber kommt, wir werden ein paar Erfrischungen zu uns nehmen und die Angelegenheit besprechen.« Er tänzelte in seinen roten Samtpantoffeln auf und ab. »Bitte, Mylord, wenn Ihr mich mit Eurer Gesellschaft in der Bibliothek beehren würdet?«
Die Muskeln in Hawkeslys Kiefer spannten sich an. »Natürlich.«
Latchett zeigte auf die Tür, und Hawkesly schickte sich an, dem Mann zu folgen. Doch vorher hielt er kurz inne und lächelte Berthe noch einmal zu. Sie stand zur Salzsäule erstarrt da, mit vor Kummer düsteren Augen.
In diesem Augenblick richtete auch Latchett den Blick auf sie. »Das«, verkündete er, »ist der Viscount Hawkesly von Hawkesly Place in Devon.«
Berthe senkte den Kopf und vollbrachte einen weiteren ungelenken Knicks.
»Mylord«, ertönte Latchett nun. »Erlaubt mir, Euch meine Stiefschwester, Miss Lindsay Granville, vorzustellen.«
Die Granvilles hatten durch Zinn- und Kupferabbau ein beachtliches Vermögen angesammelt. Das Zehntel, das die Fischer, die auf ihrem Grund und Boden wohnten, abgeben mußten, sorgte obendrein für ein ordentliches jährliches Zusatzeinkommen. Die Bauern, die das Land pachteten, zahlten stetig und zuverlässig in die Familienschatztruhen; Gerüchten zufolge konnte sich Tregonitha rühmen, so viel wert zu sein, daß vornehmere Eigentümer berühmterer Besitzungen neidisch herüberschielten.
Hawkesly saß in einem burgunderfarbenen Ledersessel, mit einem Glas ausgezeichneten Brandys versorgt, und studierte den Diamanten in Latchetts Krawattennadel, von der Größe eines Zaunkönigs. Ja, die Granvilles hatten wirklich viel Geld gescheffelt, und diese fette Kröte kam nun unverdient in den Genuß der Früchte ihrer Arbeit.
Latchett stand vor dem Kamin in der elegant ausstaffierten Bibliothek, die er die seine nannte. Von Zeit zu Zeit räusperte er sich und wiegte sich hin und her, sein Blick huschte immer wieder kurz zu Hawkesly. Der Viscount dachte immer noch über die angenehme, wenn auch schockierende Enthüllung nach, daß das hinreißende angebliche Zöfchen tatsächlich die Frau war, die seine Gemahlin werden würde.
»Ich kann nicht begreifen, wieso Deeds Euch nicht gehört hat«, sagte Latchett schließlich. Seine nasale Stimme war zum Totlachen affektiert. »Wirklich peinlich. Ich hoffe, Ihr verzeiht uns die Unannehmlichkeiten. Das eigene Pferd in den Stall bringen! Durch die Küche eingelassen werden.« Deprimiert schüttelte er den Kopf und verstummte erneut.
Hawkesly merkte, daß seine freie Hand sich auf der Stuhllehne zur Faust geballt hatte. Er spreizte die Finger. Es war von größter Wichtigkeit, sich so nahe wie möglich bei seinem Ziel zu etablieren. Außerdem mußte alles sehr schnell über die Bühne gehen. Sollte er daran Zweifel gehegt haben, waren sie nun gründlich ausgeräumt. Um Miss Lindsay Granville scharten sich bestimmt viele glühende Bewerber. Zwar würde wohl keiner so leicht an dem widerlichen Stiefbruder des Mädchens vorbeikommen – aber die Komplikation, sich auch noch mit Konkurrenz auseinandersetzen zu müssen, sollte tunlichst vermieden werden. Obwohl Hawkesly nicht bezweifelte, daß er diese Hürde mühelos ausschalten könnte. Die schöne Lindsay mit den unschuldigen Augen und der entzückenden Gestalt würde er leicht erobern, was ihm alles andere als lästig erschien.
Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum, als zum zweiten Mal an diesem Nachmittag sein Verlangen entflammte. Verdammt, so wie dieses Mädchen hatte ihn noch keine Weiblichkeit in den reifen Jahren seiner Achtundzwanzig gereizt.
»Point Cottage«, erinnerte er Latchett mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ah, ja!« Latchett ging auf einen edlen Eichenschreibtisch zu, der vor ausladenden Balkontüren stand. Der Balkon selbst war schmal und gab den Blick auf große Rasenflächen frei. »In Eurem Brief schreibt Ihr, Ihr wärt daran interessiert, Point Cottage für ein Jahr zu pachten; zu welchem Zweck habt Ihr allerdings nicht erwähnt.«
Als Versteck, dachte Hawkesly, um einen Geier zu erlegen. Seufzend stand er auf und starrte nachdenklich ins Feuer. Miss Granville war nicht die einzige mit dramatischem Talent. »Das fällt mir auch schwer. Sagen wir einfach, daß ich einen ruhigen Ort brauche, an dem ich mich von einer sehr belastenden Enttäuschung erholen kann – ein Refugium, wo mich keiner vermuten wird.«
Latchett räusperte sich. »In Ordnung. Darf ich fragen, ob eine Lady bei dieser, äh, Enttäuschung eine Rolle spielte?«
»Ihr dürft fragen«, meinte Hawkesly huldvoll. »Als Gentleman werdet Ihr freilich verstehen, daß ich mich dazu nicht äußern kann.«
»Ah«, Latchett nickte weise. »Absolut einleuchtend. Ich glaube, wir haben noch keinen entsprechenden, äh, angemessenen Betrag erwähnt …« Er ließ den Satz unbeendet.
»Was würdet Ihr denn als angemessen betrachten?« Hawkesly schnürte es jedesmal, wenn er den Mann ansah, die Kehle zu, und sein ganzer Körper verkrampfte sich. Er hatte noch nie körperlich jemanden angegriffen, der kein ebenbürtiger Gegner war, und er hatte nicht vor, diesen Grundsatz jetzt zu brechen. Aber er sehnte sich danach zu sehen, wie Latchetts Augen herausquollen, zu spüren, wie er vergeblich an der Hand zerrte, die sich in das wabbelige Fleisch seines Halses grub. Hawkesly vermeinte es förmlich zu spüren.
»Es ist ein sehr malerisches Anwesen. Und in einer prachtvollen Lage.«
Und dieser Blutsauger witterte noch mehr Profit, den er seinem aufgehäuften Reichtum hinzufügen konnte. Hawkesly sagte nichts.
»Auf Tregonitha haben wir eigentlich keinen zwingenden Grund, uns nach zusätzlichen Einkommensquellen umzusehen.«
Aber es würde nicht schaden, wenn man sie umleitete zugunsten von Latchetts beachtlicher Spielleidenschaft … ein weiteres saftiges Detail, das Trevay aufgedeckt hatte.
»Jedoch«, fuhr Latchett fort, »als Miss Granvilles Vormund – und Testamentsvollstrecker – natürlich auch als ihr liebevoller Stiefbruder, darf ich unter gar keinen Umständen ihre Interessen vernachlässigen.«
Zweifellos waren auch die alten Kleider, die sie trug, nur in ihrem Interesse, genau wie die Tatsache, daß sie in ihrem eigenen Heim Essen stehlen und verstecken mußte. »Genau«, murmelte Hawkesly. Und dann entfuhr ihm impulsiv: »Wie alt ist Miss Granville?«
Latchett hob abrupt den Kopf und legte Hawkeslys Brief beiseite. »Sie ist fast zwanzig«, bellte er. »Zwar sieht sie ganz hübsch aus, aber es fehlen ihr die Manieren und Talente, die bei einer Frau unerläßlich sind. Sie hat sich zu einer großen Bürde entwickelt.« Er schob das Kinn vor. »Natürlich führt ein Mann aus, was die Pflicht gebietet. Deshalb scheue ich auch keinerlei Mühe.«
Hawkesly nahm einen Schluck Brandy, um seinen Ekel zu kaschieren. »Bewundernswert. Wie ich höre, hat sich diese Pflicht ganz unerwartet für Euch ergeben.«
»In der Tat.« Latchett ging zur Balkontür und sah hinaus. »Der Tod meines Stiefbruders William auf See vor zwei Jahren war ein großer Schock. In der Schlacht, wißt Ihr. Die Nachricht hat meinen Stiefvater umgebracht. In Ermangelung eines weiteren … Sohnes hatte ich keine Wahl, als mein Leben dem Wohlergehen meiner Stiefschwester und dem Schutz ihres Erbes zu widmen. – Ihre Mutter starb bei der Geburt, und meine eigene liebe Mutter – nach ihrer Heirat mit Broderick Granville, als Lindsay fast noch ein Säugling war – hatte erhebliche Schwierigkeiten mit der Aufzucht des Nachwuchses meines Stiefvaters … obgleich sie sich nie beklagte. Ich bin froh, daß ich ihr diese Last teilweise abnehmen konnte.«
Eine hübsch einstudierte Geschichte, dachte Hawkesly. »Und wie steht es jetzt um die Gesundheit Eurer Mutter?«
»Es ging ihr in den letzten beiden Jahren den Umständen entsprechend. Sie hat meinen Stiefvater angebetet und war für Monate untröstlich. Sie hält sich bewundernswert, dem Himmel sei Dank. Mein Stiefvater hat großzügigst für sie gesorgt, und sie lebt weiterhin hier.«
Die Muster dessen, denen er sich gegenüber sah, wurden Hawkesly immer deutlicher. Er war sich darüber im klaren, daß die Witwe Broderick Granvilles beachtlichen Einfluß auf ihren Sohn und Tregonitha besaß. »Ihr scheint ja alles ordentlich im Griff zu haben. Was würdet Ihr denn als faires Arrangement für Point Cottage betrachten?«
Latchett ging noch näher ans Fenster und gab keine Antwort.
Hawkesly nahm sein Glas und schlenderte gemächlich über den edlen Seidenteppich, vorbei an den Regalen mit den ledergebundenen Folianten, bis er kurz vor Latchett zu stehen kam.
Dann sah er, was die Aufmerksamkeit des Mannes von seinem offensichtlichen Lieblingsthema, nämlich Geld, abgelenkt hatte.
Lindsay Granville stand am Fuß der geschwungenen Treppe, die von der Terrasse nach unten führte. Trotz der Kälte hatte sie keinen Mantel an, trug nur das dünne Musselinkleid. Sie befand sich im Gespräch mit einem Mädchen, das ebenso auffällig dunkel war wie Miss Granville blond. Sicherlich Sarah, schloß Hawkesly.
Miss Granville gestikulierte wild. Das andere Mädchen, eingemummt in ein konservatives, wollenes Reitkostüm, hielt sich die Hände vor die geröteten Wangen. Hawkesly nahm an, daß sich die Unterhaltung wohl um ihn drehte.
Latchett bewegte sich näher an die Scheibe, und Hawkesly sah, wie er sich mit der Zunge über die Lippen strich.
Eine fahle Sonne schien durch niedrige, schimmernde Wolken und beleuchtete die Silhouette von Lindsays schmaler Taille, Hüften und Beinen. Ihr Haar funkelte. Hawkesly holte tief Luft und biß die Zähne zusammen. Er konnte es sich nicht leisten, seine Distanz aufzugeben, nur weil er ein unschuldiges junges Ding, das reif zum Pflücken war, in Aussicht hatte. Eilig wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Latchett zu. Sicher war nicht das Wohlergehen seiner Stiefschwester der Grund für diese gierigen Blicke.
»Nennt Euren Preis für das Cottage«, sagte Hawkesly nun abrupt. Ein neuer beunruhigender Gedanke war ihm gekommen. Zwischen den Stiefgeschwistern Lindsay Granville und Latchett bestanden keine Blutsbande. Warum hatte er daran nicht schon früher gedacht? Latchett stammte aus der ersten Ehe von Broderick Granvilles zweiter Frau, und deshalb sprach für ihn nichts gegen eine Heirat mit Lindsay Granville. Ungeachtet dieser abscheuerregenden Möglichkeit gab es noch andere weit dringendere Gründe, so eine böse Farce zu verhindern.
»Ihr Preis?« wiederholte Hawkesly.
»Das eilt nicht, Mylord.« Latchett stand da wie angewurzelt. »Macht das Haus zu Eurem Heim. Ihr könnt kommen und gehen, wie Ihr wollt.« Seine Aufmerksamkeit war offensichtlich sehr gefesselt.
»Danke«, sagte Hawkesly knapp. »Wir werden die notwendigen Papiere aufsetzen lassen.« Die Sache war jeden Preis wert.
»Ich werde mit meinem Anwalt sprechen«, meinte der Hausherr.
»Eure Stiefschwester scheint mir ein sehr temperamentvolles Mädchen«, bemerkte der Viscount. Es war notwendig, schon einmal anzudeuten, was er mit dem Mädchen vorhatte.
»Temperamentvoll?« Latchett schwang herum und sah Hawkesly eindringlich an. »Ich versichere Euch, da irrt Ihr, Mylord. Lindsay ist eine sehr zurückhaltende und fromme junge Frau. Ich erwähnte bereits, daß sie fast zwanzig ist – weit über dem Alter, in dem man sich beispielsweise mit der Gründung einer Familie befaßt.«
Hawkesly zwang sich zur Ruhe. »Aber doch gewiß nicht weit über dem Alter, Sir!«
»Sie hat eine Ballsaison verweigert«, erklärte Latchett und senkte die Lider. »Ganz selbstverständlich für eine Frau, die sich dem religiösen Leben verschrieben hat.«
Für einen Augenblick stand die Zeit still, dann fand Hawkesly seine Stimme wieder. »Irgendwie verstehe ich Euch nicht ganz.«
»Die Würfel sind gefallen. Und die Last, all das zu verwalten, was in meiner Obhut bleibt, wird sehr groß sein. Aber meine Stiefschwester ist entschlossen, den Schleier zu nehmen.«
»So, glaubst du mir jetzt?« Lindsay schubste Sarah Winslow vor sich her in den Stall. »Da! Der Rappe. Ähnelt er irgendeinem Pferd, das du hier auf Tregonitha je gesehen hast?«
Sarahs Haube verdeckte ihr gebeugtes Gesicht. Nur schwarze Locken wurden geschüttelt.
»Oh, Sarah! Es tut mir leid. Ich hätte nicht wütend auf dich werden dürfen. Bitte weine nicht.«
Ein explosives Schniefen ertönte, und Sarah hob den Kopf, ihre schrägen dunklen Augen funkelten. »Es ist furchtbar«, stammelte sie kichernd. »Absolut wundervoll grauenhaft. Ich wünschte, ich hätte gesehen, wie du mit ihm geredet hast.«
Lindsay zog die Schultern hoch und spürte, wie die Kälte durch ihr dünnes Kleid drang. Sie liebte Sarah – ihre älteste und beste Freundin; aber manchmal konnte sie sehr enervierend sein. »Du hättest wohl gerne zugeschaut, wie ich ihm einen alten Schal voller Essenssachen aushändigte, die eigentlich für Granny Whalen bestimmt waren. Das hättest du sicher sehr komisch gefunden.«
Sarahs wohlgestalteter Körper schüttelte sich vor Lachen. »Oh, ja! Ein Viscount, Linny. Ein Viscount!«
Die Tochter des Reverend Winslow hegte größte Ehrfurcht vor der Aristokratie – obwohl sie bis jetzt nur wenigen Mitgliedern dieser Schicht begegnet war.
»Ich muß eine Möglichkeit finden, Granny Whalen heute abend etwas zu essen zu bringen. Wegen Rogers Habsucht können sie und ihre Tochter seine Pachtforderungen kaum erfüllen. Sie nagen bereits am Hungertuch.«
Sarah wurde ernst. »Du bist so gut, Lindsay. Im Pfarrhaus können wir nur wenig entbehren. Und der gute alte Bostock hat ein scharfes Auge auf die Speisekammer. Aber ich werde sehr bald bringen, was ich kann.«
»Danke.« Lindsay seufzte. Wenn ihr Vater noch am Leben wäre, dann müßte sie nicht mit solchen Mitteln die Pächter unterstützen, die Roger allmählich ausblutete. Und wenn der liebe William … Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie biß die Zähne zusammen. Um Williams willen, seinem Andenken zuliebe und für das, was sie seinetwegen gelobt hatte, mußte sie durchhalten.
»Du hast deinen tapferen Offizier erfunden, nicht wahr?« sagte sie mit einem feinen, nachsichtigen Lächeln.
Sarah wirbelte herum. »In Gottes Namen! Nachdem du solche Schwierigkeiten hattest, sollte ich wohl besser gestehen. Ja, ich habe ihn erfunden. Aber er wird sowieso irgendeines Tages auftauchen. Warte nur!«
»Eines Tages«, sinnierte Lindsay. Sie streckte die Hand in den Stall und streichelte die Nase des Rappen. »Jemand Wunderbares wird dich holen kommen, aber mich nicht.«
»Sei nicht albern«, zerstreute Sarah ihre Bedenken. »Du bist hübsch und bald verheiratet, wirst schon sehen! Dieses Jahr solltest du unbedingt zur Ballsaison nach London gehen, wo dir bestimmt ein Haufen Verehrer Heiratsanträge macht.« Ein verträumter Ausdruck erschien in ihren exotischen Augen.
Lindsay sparte sich die Mühe einer Widerrede. Oft hatte sie sich gewünscht, sie könnte ihre Bürde mit Sarah teilen; denn es gab sonst niemanden, dem sie vertrauen konnte – abgesehen von Antun, und von ihm durfte man nicht erwarten, daß er die Ängste und Sehnsüchte einer Frau verstand. Er begriff jedoch, welche Risiken sie im Dunkeln manch wilder Nacht einging, Risiken, die Sarah in Angst und Schrecken versetzen würden. Lindsay hielt ihre Verabredungen mit den stillen Booten in Salters Cove gegen Antuns Wunsch ein. Der beste Freund ihres Bruders hatte es aufgegeben, sie davon abzubringen.
»Woran denkst du?« fragte Sarah.
»An Viscount Hawkesly«, improvisierte Lindsay, aber ein Körnchen Wahrheit war durchaus dabei.
Sarah legte einen Arm um die Schulter ihrer Freundin. »Vielleicht ist Point Cottage nur ein Vorwand. Am Ende hat er von dir gehört und einfach nur nach einer Möglichkeit gesucht, dich kennenzulernen.«
»Oh, Sarah!« Lindsay lachte. »Wenn er dir mal über den Weg läuft, weißt du es besser.« Fieberhaft überlegte sie, wie sie Sarah nach Hause schicken könnte. Heute nacht gab es allerhand zu bewältigen.
»Wie sieht er denn aus?«
Lindsay runzelte die Stirn und machte eine übertriebene Schnute, als müsse sie heftig überlegen, bis Sarah ihr einen Stoß in die Rippen versetzte.
»Ganz gut! Der Viscount ist groß. So groß, daß ich mir fast den Hals ausgerenkt habe, um ihm ins Gesicht zu sehen. Und seine Schultern sind breit. Ich glaube, der braucht kein Gramm Polster, damit sein Anzug so sitzt. Oder seine Hosen.«
Sarah kicherte. »Ich dachte, dir ist kaum etwas an ihm aufgefallen. Wie steht’s mit seinem Gesicht?«
»Interessant.« Lindsay überlegte. »Gebräunt, als wäre er lange der Sonne ausgesetzt gewesen. Eine starke gerade Nase und ein Mund mit einer vollen Unterlippe, sehr ausgeprägt, die Winkel nach oben geschwungen. Eine kleine Kuhle in seinem Kinn, hier« – sie berührte ihr eigenes –, »hohe Backenknochen und schwarze Augen, die noch schwärzer werden können, oder klingt das albern? Und seine Brauen sind gerade Balken, so dunkel wie seine Haare … die sich über dem Kragen locken.«
Sarah rückte ihr Mieder zurecht. »Sehr gutaussehend? Sogar mehr als das?«
»Jawohl. Und offensichtlich ein Mann von Charakter. Ich würde sagen, der Viscount Hawkesly ist der bestaussehende und aufrechteste Mann, der mir je begegnet ist. Wenn ich der Typ Frau wäre, der eine Ehe überhaupt in Betracht zieht, entspräche genau er meinen Vorstellungen.«
Lindsay hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich um, ihre Hand schnellte an ihren Hals. »Oje«, murmelte sie. »Oje!«
Viscount Hawkesly lächelte, und Lindsay vergaß völlig, einen Knicks zu machen.
Antun Pollack war ein harter Mann. Jeder sagte das. Ein rothaariger Hüne mit Augen wie Granit, neunundzwanzig und immer noch unverheiratet. Man tuschelte, Antun hätte einen Verstand scharf wie die Klinge eines Henkers und ein Loch anstelle von einem Herz. Aber auch Lindsay Granville besaß ihre Festigkeit, und sie würde sich nicht nach Hause schicken lassen wie ein kleines Mädchen, wo sie schließlich heute nacht einiges zu erledigen hatte. Außerdem wurde vieles über den Mann neben ihr erzählt, was gar nicht falscher sein konnte.
»Antun, Kapitän Claude wird dich erwarten.«
»Und ich werde nicht dasein.« Antun stand am Ufer und starrte von Salters Cove seewärts in die Dunkelheit. Nebel tanzte in Fetzen umher, getrieben von einer steifen, kalten Brise. »Wir reden jetzt nicht weiter darüber. Ich werde mit dir durch den Wald reiten. Zünde eine Kerze im Fenster an als Signal, daß du sicher in Tregonitha angelangt bist.«
Lindsay richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und wünschte, wie so oft, daß sie nicht das wäre, was William stets den ›Mickerling des Wurfs‹ genannt hatte. Der liebe William. Wie sehr sie ihren geliebten Bruder vermißte. Er war elf Jahre älter gewesen als sie und mit Antun seit frühester Jugend befreundet – eine Tatsache, die William vor Papa geheimhalten mußte. Der hatte nämlich die Pollacks gehaßt. Antuns Vater war für Broderick Granville ›dieser verdammte Wilderer‹ gewesen. Bei der Erinnerung verkniff sich Lindsay ein Lächeln. Ihr Papa hatte nicht geahnt, daß der Wilderer von Salters Cottage über den so erfreulich tiefen Wassern von Salters Cove seinen schlechten Ruf als geschickte Deckung für weit lukrativere Aktivitäten verwendete. Mr. Pollack hatte den Schmuggel unverzollter Ware zur Kunst gemacht. Auf Grund seiner Armut war Antun in die Fußstapfen seines verstorbenen Erzeugers getreten. Und in den letzten beiden Jahren hatte Lindsay ihn dazu überredet, ihr auch eine Rolle in diesem Treiben zu überlassen.
»Ich komme mit zu dem französischen Schmuggler, weil ich …«
»Nein!« Antun fuhr herum, seine Züge verhärteten sich im unheimlichen Licht des Mondes. »Zum Donnerwetter, das wirst du nicht tun, Linny. Leider hast du mir meine Zustimmung abgeschwatzt.«
»Ich hab dir kaum eine Wahl gelassen«, erinnerte sie ihn mit sittsamem Augenaufschlag und sah direkt in seine grauen Augen, die in der Nacht fast düster wirkten. »Denn wenn du mir nicht erlaubt hättest, mich den Schmugglern anzuschließen, hätte ich mich an Chief Revenue Officer Farr gewandt. Und er wäre sehr erfreut über eine Gelegenheit, mit mir zu reden, Antun. Ich weiß das von der Art, wie er mich ansieht.«
»Genug!« brüllte Antun. Er raufte sich seine roten Locken und hielt sich daran fest, um seine Beherrschung bemüht. »Du wirst dich von diesem alten Wüstling Farr fernhalten. Wenn er auch nur in deine Richtung schaut, will ich es wissen. Ich werde seinen schmutzigen Blicken ein für alle Male das Handwerk legen, diesem Schurken …«
»Antun«, Lindsay packte ihn am Arm. »Wir verschwenden Zeit. Du sagst, du kannst nicht zu dem Franzosen rausfahren, weil Ned krank ist und du noch ein paar Hände brauchst. Dieses Paar Hände werde ich bieten.«
Seine mächtigen Schultern zuckten nervös, aber er nahm ihre Hand zwischen die seinigen. »Mir machst du nichts vor, weißt du, Mädchen. Das schaffst du nicht. Zwar bist du tollkühn, aber auch zu sanft für das Los, das dir beschieden ist.«
»Bitte laß uns gehen.« Sie wollte ihm ihre Hand entziehen, aber er hielt sie fest. »Du brauchst das Geld für die Fischfangflotte, die du aufbauen willst. Und wir wissen beide, daß auch ich soviel und schnell wie möglich verdienen muß.«
»Unser Abkommen … das Abkommen, das du von mir erpreßt hast, Mädchen, lautete, daß du die Güter in den Kellern von Tregonitha lagerst im Austausch gegen die Unterstützung der Pächter, die Latchett aussaugt. Aber mehr als Bewahrerin des Schlüssels wirst du nicht sein, Kleine, mehr nicht. William würde mir die Haut abziehen, wenn er wüßte, daß ich dich nachts, wie ein Junge angezogen, durchs Land reiten und Karren mit Schmuggelware ziehen lasse.«
»William ist tot«, flüsterte Lindsay. »Aber er würde meine Handlungsweise verstehen. Allein ich kann nunmehr das harte Los unserer Pächter mildern.«
Antun wandte sich ab und bearbeitete den Kiesstrand mit seinen Stiefeln. Die Flut rauschte und klatschte ans Gestade, das Geräusch wurde vom Nebel gedämpft. Schwere Salzluft attackierte Lindsays Sinne. Ihr Herz litt unter Antuns Schmerz sowie ihrem eigenen. Sie neigte den Kopf. »Wir haben beide zuviel verloren. Was wir tun, um diese Verluste zu erleichtern, ist richtig.« Antun durfte noch nicht wissen, daß das Schicksal der Pächter nur einen kleinen Teil ihrer Bürde darstellte.
»Es untersteht meiner Verantwortung«, sagte Antun. Seine tiefe Stimme polterte. »William war mein bester Freund. Ich bin derjenige, der dafür sorgen muß, daß seine Pläne durchgeführt werden. Du bist doch praktisch noch ein Kind.«
Sie lachte. »Wie du schon sagtest, ein ziemlich tollkühnes! Und Williams Schwester. Laß uns hier nicht mehr über Verantwortung streiten. Wir brauchen beide Geld, und unser Mittel zum Zweck liegt da vor Anker.« Ihr Haar war unter einer groben Wollkappe versteckt, und sie nickte in Richtung Meer. »Komm!«
Antuns Widerstand war gebrochen. Er ging voran zu dem kleinen Holzsteg, der in die Bucht hinausragte, vorbei an dem Kutter, den er genommen hätte, wenn Ned und ihr üblicher Begleiter erschienen wären. Nun sprang er in ein kleines Boot und half Lindsay herein. Dann wartete er, bis es nicht mehr schwankte, und beugte sich vor, um Netze vom Pier zu zerren und sie unter den Sitzen zu verstauen.
»Sollte uns das Glück verlassen und uns ein Zollboot auf den Hals schicken, fang an, die Netze auszuwerfen«, wies Antun sie an, dann legte er ab. »Wir setzen erst die Segel, wenn wir aus der Bucht sind.« Er nahm die Riemen und begann durch die grauen Nebelschwaden zu rudern. Die Riemen quietschten nur gedämpft dank der mit Lumpen umwickelten Halterungen.
Lindsays Herz hämmerte. Sie richtete sich auf, versuchte etwas durch den Nebel zu erkennen. »Sie werden doch auf uns warten, nicht wahr?«
»Wir können bloß hoffen, daß lediglich das Handelsschiff auf uns wartet«, meine Antun grimmig. Dann fuhr er fort: »Ich hätte nie zulassen dürfen, daß du mitkommst. Du wirst kein Wort sagen. Hast du mich verstanden?«
»Ja, aber …«
»Es gibt kein Aber, Miss. Die Matrosen an Bord waren lange Zeit unterwegs. Es wäre fatal, wenn sie merken, daß du eine Frau bist.«
»Aber die armen Tröpfe haben wahrscheinlich Sehnsucht nach ihren Gattinnen und Töchtern. Ein paar weibliche Worte könnten ihr Heimweh lindern.«
Antun stöhnte. »Weibliche Worte? Du wirst mein Untergang sein. Wehe, du machst deinen Mund auf!«
»Schon gut«, stimmte sie unterwürfig zu. Antun konnte wirklich sehr streng sein.
Sobald sie den Schutz der Bucht verlassen hatten, wurden die Wellen stärker, und das kleine Boot schaukelte bedenklich. Wasser schwappte herein, und Lindsay wurde zum Schöpfen verdonnert. »Siehst du«, sagte sie. »Ich bin genauso nützlich wie ein Mann. Und tapfer!«
Antun schwieg. Er hörte auf zu rudern und sah sich um. Dann deutete er plötzlich: »Da! Hörst du das?«
Lindsay horchte. Es erklang das unverkennbare Geräusch von Wasser, das gegen einen Kiel klatschte. Dann erfolgte das schwache Blinken einer Laterne. Antun erwiderte hastig das Signal. Minuten später stupsten sie gegen den Bauch eines großen Schoners.
Lindsay fing, wie Antun ihr befohlen hatte, eine Leine von Bord des Partners auf und hielt sie fest. Ihr Gefährte unterhielt sich einige Minuten mit dem Kapitän des größeren Schiffes, währenddessen wurde eine Reihe von Fässern auf ihre Nußschale verladen. Lindsay straffte sich verbissen unter dem Gewicht jedes Ladestücks, das man ihr reichte. Der französische Kapitän war offensichtlich enttäuscht, daß die Transaktion soviel begrenzter als erwartet ausfiel. Antun versicherte ihm, daß sie das nächste Mal mit dem Kutter kommen würden, und die beiden Männer legten Datum und Uhrzeit fest.
Lindsay platzte fast, so anstrengend war es, den Mund zu halten. Heilfroh atmete sie auf, als sie endlich vom Schoner ablegten und Antun ihr eigenes schmales Segel setzte.
Stumm arbeitete er wie besessen, kreuzte ständig und starrte voraus, als könne er etwas sehen, das ihr verborgen war.
»Ist etwas?« Schließlich brach sie das Schweigen. »Antun?«
»Still! Wirf die Netze aus.«
Sie tat wie befohlen und sah nebenbei, daß er inzwischen die Brandyfässer an eine lange Leine gebunden hatte und sie langsam ins Wasser abrollen ließ.
»Was machst du da?«
Das letzte Faß verschwand unter der Oberfläche. »Kein Wort mehr«, zischte Antun. »Sie sind gleich da.«
Lindsay hatte nichts bemerkt. Sie drehte sich rasch um und schlug sich die Hände an die Wangen. Der Nebel hatte sich geteilt, und im Mondlicht war deutlich die Silhouette eines Zollkutters auszumachen. »Was werden sie mit uns anfangen?« flüsterte sie, ihre Stimme wurde zu einem heiseren Krächzen.
»Wenn sie uns erwischen, geben wir uns als Fischer aus. Ich werde sagen, daß wir fischen. Dann beten wir. Aber vielleicht kriegen sie uns nicht.«
Lindsays Herz pochte so laut, daß sie Antuns Worte kaum vernahm. Entschlossen beugte sie sich über die Netze und tat überaus geschäftig.
»Dreht bei!« brüllte eine Stimme durch den Wind.
»Tu’s nicht!« quiekte Lindsay. »Flieh! Flieh! Sie rechnen damit, daß wir anhalten. Wahrscheinlich werden sie schon langsamer. Beeil dich!«
Sie war zu verängstigt, um Antun wegen seines Grinsens anzufahren. Trotzdem folgte er ihrem Vorschlag, setzte jeden Zentimeter Segel und steuerte in Richtung Land.
»Bestimmt wenden sie einfach und fangen uns vor Salters Cove ab«, meinte Lindsay dann niedergeschlagen. »Sicher warten sie dort auf uns. Wir müssen die Fässer losschneiden.«
»In einer Sache hast du recht, mein Fräulein. Sie werden nach Salters Cove segeln. Aber wir nicht!« Er lachte wieder und deutete mit dem Kopf auf den Kutter.
Lindsays Blick folgte ihm überrascht. Der Nebel, mit einem Mal ihr Freund, hatte sich verdichtet und bildete einen Vorhang, der ihr kleines Boot den Blicken der Zollbeamten entzog. Sie drehte sich um und lächelte Antun zu, der kurz innehielt, sie nachdenklich anschaute und sich dann wieder an die Arbeit machte. Er nutzte seine Fähigkeiten, die er sich schon als kleiner Junge angeeignet hatte. Lindsay blieb vor Bewunderung der Mund offenstehen, als das Boot um die Landzunge neben Salters Cove herumschipperte und knirschend auf einen schmalen Streifen Strand glitt.
Antun sprang ans Ufer und machte die Leine an einem zerklüfteten Felsbrocken fest. »Jetzt wirst du genau das tun, was ich anordne«, sagte er. Dann raffte er Lindsay ohne viel Federlesens aus dem Boot, hielt sie in seinen Armen wie ein Wickelkind und marschierte auf den Abhang der Landzunge zu.
»Was ist mit dem Boot?« keuchte sie mit einiger Mühe. »Dem Brandy?«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Ich bring dich auf den Weg und geh dann allein zurück zu Salters Cove.«
»Aber die Zolleute werden dort sein.«
»Und kein Brandy! Ich versenke ihn zwischen den Felsen, marschiere zur Bucht und beklage mich bitter über den wenigen Fisch; die Ware hole ich erst dann, sobald die Luft rein ist.«
Antun schritt weiter, trug sie bergauf, bis sie die Deckung der Bäume erreicht hatten. Das gehörte alles zu Tregonitha, und beide kannten jeden Zentimeter.
»Setz mich ab«, befahl Lindsay. »Ich bin kein Säugling und kann selbst gehen.«
»Aber ich schaffe es schneller, selbst wenn ich dich trage«, entgegnete Antun. »Oft genug hab ich dich getragen, als du noch klein warst.«
Der Hüne ging weiter. Durch den Wald, das schmale Tal mit den steilen Seitenabhängen hinter Salters Cove abwärts, bis sie ein weiteres Wäldchen umfing. Er setzte Lindsay neben einem alten Pferd ab, das, vor einen Karren gespannt, gemächlich graste.
»Geh«, sagte Antun jetzt schroff.
Eigentlich benahm er sich oft so, dachte Lindsay. Zog sich von ihr zurück, wenn sie sich gerade sehr nahe gewesen waren.
»Ich spanne den Karren ab, dann bist du schneller«, fügte er hinzu.
»Das war aufregend«, plapperte sie. Gerne hätte sie über die Abenteuer dieser Nacht geredet. Es wäre zu schön gewesen, die Geschichte mit Sarah zu teilen, was keinesfalls in Frage kam.
»Nur, weil sie uns nicht erwischt haben.« Er klang barsch. »Das darf nicht wieder passieren, Linny. Du wirst nicht mehr mit mir auf See gehen, egal was wir opfern müssen. Nichts würde ein Opfer deiner Person rechtfertigen.«
Sie fand, daß seine Stimme komisch klang, aber Antun war immer ein Rätsel. »Wann soll ich wegen der Fässer kommen?«
»Ich verständige dich rechtzeitig«, sagte er. »Calvin wird eine Möglichkeit finden, dich zu benachrichtigen.«
Calvin war der Wildhüter von Tregonitha. Seit dreißig Jahren stand er in Diensten der Granvilles, und Lindsay wußte, daß er nur ihretwegen blieb.
»Es muß bald sein«, drängte sie. »Ich … ich brauche das Geld.«
Antun stemmte die Fäuste in die Hüften. »Mein Unternehmen könnte warten. Das habe ich dir gesagt. Nimm das Geld, das ich …«
»Nein! Nein, es kann nicht warten, und ich werde weiterhin meine Ziele verfolgen. Das habe ich mir vorgenommen.«
»Du bist neunzehn, Lindsay.« Er hob den Kopf und verstummte. »Und du wirst bald zwanzig.«
»Also?« forderte sie ihn heraus.
»Da ist es Zeit, daß ein Mädchen – eine junge Lady wie du – ans Heiraten denkt.«
»Nicht eine Lindsay Granville«, rief sie aus, wandte sich ab von ihm und machte sich am Karren zu schaffen. »Niemals, niemals. Ich werde nie heiraten. Es wäre zu gefährlich.«
»Warum?« Er packte ihre Schultern, aber sie weigerte sich, ihn anzusehen. »Linny, warum sagst du so etwas? Wieso sollte für dich eine Ehe gefährlich sein?«
Das war unvorsichtig gewesen. Ihr Magen verkrampfte sich. Nach zwei Jahren absoluter Diskretion hatte sie sich zu Leichtsinn hinreißen lassen. Sie rang sich ein Lächeln ab und sagte unbekümmert: »Ach, du kennst mich doch. Ich rede immer so wirres Zeug. Vielleicht gehe ich ja ins Kloster.«
Seine Miene verdüsterte sich. »Das wäre eine Verschwendung.«
Sie richtete sich auf. »Es steht dir nicht zu, so was zu sagen.«
»Nein, wohl nicht. Wie ich höre, pachtet ein hochgestellter Herr Point Cottage.«
Der rasche Themenwechsel verunsicherte sie. Seit dem gestrigen Fiasko mit Hawkesly bot sie alle Kräfte auf, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen.
»Er ist ein Viscount, behauptet Ned.«
»Ned tratscht zuviel«, sagte Lindsay, gespielt gleichmütig. »Der Viscount will sich dorthin zurückziehen, um eine katastrophale Liebesgeschichte zu überwinden, der Ärmste!« Sie seufzte, und vor ihrem inneren Auge tauchten schwarze Augen, zerzaustes Haar auf, und ein Mund mit diesem aufmerksamkeiterregenden Schwung.
Antun hatte sich nicht gerührt.
»Warum erwähnst du den Mann?« Sie wünschte, ihr Herz würde nicht so seltsam holpern, jedesmal, wenn sie an diesen großen starken Körper dachte und sich an die kurze Berührung ihrer Wange erinnerte. Jetzt hob sie ihre Hand empor.
»Ich erwähne ihn, weil …« Er verstummte abrupt, wandte sich ab und beendete rasch das Abspannen des Karrens.
»Antun?« Lindsay legte eine Hand auf seine Schulter und spürte seine harten Muskeln.
»Findest du es nicht seltsam, daß ein Viscount, eine Persönlichkeit von Rang, mit einem riesigen Vermögen und angeblich umfangreichen Besitzungen, plötzlich hier auftaucht, ausgerechnet bei uns?« fragte er.
»Ich liebe dieses Stück Land.«
»Genau wie ich. Aber es ist nicht London.«
»Was meinst du damit?« Lindsay betrachtete neugierig seinen Rücken.
Antun hob seine kräftigen Schultern. »Könnte es nicht sein, daß jemand eine schöne Lindsay Granville erwähnt hat? Könnte es nicht sein, daß Seine Lordschaft beschlossen hat, hierherzukommen und sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen?«
»Du alberner Kerl!« Lindsay lachte laut auf. »Selbst wenn dem so wäre – inzwischen hat er mich gesehen. Sollte er Ausschau nach irgendeiner dekorativen Lady halten, dann hat er jetzt sicher seine Meinung bezüglich eines Hierbleibens geändert, nicht wahr?«
Antun gab keine Antwort.
»Na ja, sei es wie es sei, er ist zurück in die Stadt gereist, um alles zu regeln – damit er die nächsten paar Monate hier verbringen kann. Schreiben wollte er, nachdenken und ein ruhiges Leben führen. Er ist wirklich sehr nett, Antun, und freundlich … außerdem sieht er gut aus!« Bei dem Gedanken lächelte sie. Tatsächlich stimmte das alles. Natürlich würde Hawkesly ihr nie mit etwas anderem als Höflichkeit begegnen – was ihm sicher seine Erziehung auch gegenüber der häßlichsten und langweiligsten Frau gebot. Lindsay raffte sich aus ihren Träumereien auf und stellte fest, daß Antun sich umgedreht hatte und sie ansah. Er musterte sie einen Moment mit ernster Miene, dann packte er sie um die Taille und setzte sie aufs Pferd. Dank ihrer Hosen konnte sie im Herrensitz reiten.
»Es ist mir gleichgültig, was du über den Viscount denkst. Ich möchte, daß du dich von ihm fernhältst. Männer wie er sind es gewohnt, mit unschuldigen jungen Mädchen zu spielen.«
Manchmal hielt Lindsay Antun wirklich für etwas naiv. »Ich versichere dir, daß ich nicht Lord Hawkeslys Typ bin.« Und wenn doch, dann wäre sie gezwungen – um seinetwillen – dafür zu sorgen, daß er seine Meinung änderte.
»Und wer, bitte schön, könnte sein Typ sein?«
Lindsay sah hinunter auf Antun und stellte fest, daß auch er ein markanter Mann war. Sie würde ihn dazu überreden, sich eine Frau zu suchen. »Zweifellos braucht er eine mit Temperament, so daß er ständig erraten muß, was sie als nächstes vorhat. Und sie müßte elegant und geistreich und klug sein.«
»Glaubst du das?« Er verschränkte die Arme.
»O ja! Ich bin eine gute Menschenkennerin. Das sagen alle.«
»Dann hast du wahrscheinlich recht. Dieser Hawkesly wäre nicht an einem langweiligen Hausmütterchen wie dir interessiert. Ein Mann wie er will sicher keine Frau, die ihn abends vor dem Kamin mit ihrer Stickerei erwartet. Oder am Klavier.«
Lindsay runzelte die Stirn. »Belle sagt, ich sticke nicht besser als eine Sechsjährige.« Ihre Stiefmutter wies sie häufig darauf hin, je eher sie ins Kloster ginge desto besser, weil man dort getrost über einer tatenlosen Nadel träumen dürfe. Natürlich nur, solange sie gleichzeitig betete! Lindsay zuckte zusammen. Ihr einziges wirkliches Talent, wenn man es so nennen wollte, bestand in der Fähigkeit, romantische Geschichten, die das Blut gefrieren ließen, niederzuschreiben. Das wußte allerdings keiner, nicht einmal Sarah; diese würde zweifellos verlangen, sie zu lesen, und dabei fiele Lindsay vor Scham tot um. Schon der Gedanke verursachte ihr Übelkeit.
»Du wirst rot, Lindsay«, bemerkte Antun.
»Ich mußte gerade an mein Pianoforte denken«, erfand sie hastig, »weil ich immer alle Stücke durcheinanderbringe.«
»Hm! Daran solltest du baldigst arbeiten, Linny«, mahnte Antun. Er gab dem alten Braunen einen Klaps auf die Flanke, und der setzte sich in Bewegung. »Aber geh dem Viscount aus dem Weg.«
»Dafür wird er schon selber sorgen«, rief sie über die Schulter zurück. Old Catkin trabte bedächtig an. »Männer wie er mögen keine langweiligen Dinger, sag ich dir.« Sie sollte sich wirklich nicht wünschen, daß es anders wäre …
»Die Gerüchte sind falsch«, verkündete die Dowager Countess Ballard, als sie in ihr Boudoir rauschte. Von der bändergeschmückten Haube bis zum zarten Pantöffelchen ganz in schwarze Seide gehüllt, blieb sie stehen und warf einen unheilschwangeren Blick auf Hawkesly. Dessen Anblick besänftigte sie offensichtlich, also raschelte sie über den taubenblauen Teppich und balancierte ihre statueske Gestalt auf die Kante eines fragilen, blaugoldenen Pfauensessels. Die Countess hielt hartnäckig an dem Brauch fest, den sie in ihrer Jugend eingeführt hatte: nämlich Freunde und Familienmitglieder beim Vormittagsbesuch in diesem intimen kleinen Juwel von Zimmer zu empfangen.
Eine Zofe eilte herbei, um ein Kissen mit Quasten hinter dem Rücken ihrer Herrin zurechtzurücken, dann verschwand sie umgehend wieder. Die Countess strich über ihre eisengrauen Locken und arrangierte ihre Röcke. Sie war mit Ende Zwanzig, vor etwa dreißig Jahren, Witwe geworden und hatte sich für Schwarz als ewiges Zeichen ihrer Trauer entschieden – die verschwenderische Anzahl kostbarer Juwelen, mit denen sie sich schmückte, waren jedoch Gegenstand neidischer Tuscheleien der Damen der Gesellschaft.
Hawkesly verschränkte seine Arme hinter dem Rücken, lächelte nachsichtig und wartete. Ein kleines Körnchen Zweifel hatte sich in seinem Gehirn festgesetzt hinsichtlich der Art und Weise, wie er seine Tante angehen sollte. Aber er war noch nie ein Mann gewesen, der Schwierigkeiten auswich, und hatte auch nicht vor, jetzt damit zu beginnen.
»Hast du mich gehört, Edward?« Die Countess klappte das Lorgnon auf, von dem beide wußten, daß sie es hauptsächlich zur Schau trug, um ihrem Ruf einer Exzentrikerin gerecht zu werden. »Ich wollte dir erklären, daß die Gerüchte falsch sind«, wiederholte sie, und ihre strahlend blauen Augen durchbohrten ihn mit Hilfe des Lorgnons.
»Welche Gerüchte meinst du, Antonia?« erkundigte sich Edward zerstreut.
Sie winkte ihn näher. »Daß ich todkrank bin, natürlich.«
Das erschreckte Hawkesly. Er holte sich rasch ein ebenso fragiles Stühlchen, setzte sich und nahm eine juwelengeschmückte Hand seiner Tante zwischen die seinen. »Erzähl!« befahl er. »Was verschweigst du mir?« Er betete seine reizbare, aber äußerst intelligente Verwandte an. Antonia hatte ihr Bestes getan, um für Edward und seinen Bruder James von Kindheit an die mütterlichen Pflichten zu erfüllen. Die Mutter der beiden Knaben, Antonias jüngere Schwester, war eine dumme Person gewesen; sie widmete sich so besessen ihren Krankheiten, daß sie keine Zeit hatte für ihre Kinder. Nach dem Jagdunfall und Tod von Edwards Vater war die Viscountess nach wenigen Monaten dahingesiecht und verstorben – wie der Arzt sagte, aus Mangel an Bereitschaft zu einer eigenen Existenz.
Antonia, ziemlich mollig, mit etwas knarzendem Korsett, lächelte süffisant. »Ich verschweige dir nichts, mein lieber Junge. Aber offensichtlich hast du es läuten hören, daß ich im Sterben liege. Warum solltest du sonst hier auftauchen, nachdem du es geschafft hast, Gott weiß wann von diesen Inseln zurückzukehren und dich schon fast eine Woche in der Stadt rumzutreiben ohne ein Lebenszeichen.«
Edward schloß die Augen, schüttelte den Kopf und seufzte. »Ich hätte wissen müssen, daß deine Spione dir meine Anwesenheit melden.« Gebe Gott, daß sie nichts von seiner Ankunft vor mehr als einem Monat erfuhr.
»Spione!« Sie gab ihm mit ihrem Ebenholzfächer einen Klaps auf den Arm. »Du nennst die junge Frau, die du heiraten wirst, einen Spion? Schäme dich, mein Junge, daß mich über deine Anwesenheit … und deine bevorstehende Verlobung … erst Lady Clarisse Simmonds ins Bild setzen mußte.«
Hawkeslys Blut geriet in Wallung. »Lady Simmonds!« Diese verfluchte Schlange! Er hatte gehofft, seine lange Abwesenheit sowie seine Art ihrer Vernachlässigung – und obendrein dieser verliebte Gockel Earl von Faddon – würden die Frau von ihrem Plan, Viscountess Hawkesly zu werden, abbringen.