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Der vorliegende Essay setzt sich mit zentralen Themen in Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" auseinander; reflektiert über verpasste Möglichkeiten und das gelungene Leben, Zufall und Sinn, Kreativität und Improvisation, über das Aufschieben und das Anfangen sowie den Trost der Kunst. Somit ist dieses Werk nicht nur eine informative und unterhaltsame Einführung in eines der wichtigsten Werke der Weltliteratur, das auch zahlreiche kulturgeschichtliche Bezüge (von christlicher Mystik über japanische Dicht- und Bildkunst bis zum Marathonlaufen; von Platon bis zu Niklas Luhmann) herstellt, es ist vor allem auch eine Annäherung an Prousts Philosophie der menschlichen Existenz, die dem Dasein trotz aller Schwere eine gewisse Leichtigkeit abgewinnt und dazu ermutigt, die eigenen Vorhaben zu realisieren.
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Seitenzahl: 100
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J.S. Tomas
Mit Proust auf der Suchenach dem verlorenen Sinn
Betrachtungen zu einer Existenzphilosophieim Werk von Marcel Proust
© 2018 J.S. Tomas
Umschlagabbildung: © J.S. Tomas
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie, 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7469-3953-7
Hardcover:
978-3-7469-3954-4
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Die Textauszüge aus Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit folgen der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens, 1. Auflage der Ausgabe in zehn Bänden, Suhrkamp Verlag, 1979. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1953. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.
Inhalt
Vorwort
Auf der Suche
Im Fluss bleiben
Lob der Wiederholung
Die Kunst der Wahrnehmung
Sinn, Kreativität und Imagination –über das Schaffen von Zusammenhängen
Besser scheitern
Die Kunst anzufangen
Weitersuchen
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Vorwort
Als ich eines Tages im Frühjahr 1997 wie gewohnt das Radio einschaltete, da ließen mich die gesprochenen Sätze, die da in ihrer einmaligen Rhythmik aus dem Gerät zu mir schwebten, für einen Moment innehalten. Was da im Radio gesendet wurde, war ein Ausschnitt einer Gesamtlesung Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, vorgetragen von Bert Hahn und Peter Liek.
Ich begab mich schon bald auf die Suche nach der Suche (oder der Recherche, wie ich Prousts Werk im Folgenden nennen möchte), wurde in der Bibliothek fündig und fing an, den ersten der insgesamt zehn Bände1 zu lesen. Ich muss gestehen: Ich kam nicht weit. Ich legte das Buch schon bald wieder zur Seite (und fügte mich damit wahrscheinlich in eine Reihe ungezählter Leser oder vielmehr Möchtegern-Leser ein, denen es ähnlich ergangen war). Dennoch, die Recherche ließ mich nicht mehr los, und ich nahm später weitere Anläufe, wobei ich auch gelegentlich den Versuch startete, mit einem der weiteren Bände anzufangen. Früher oder später griff ich dann doch wieder zu anderer Lektüre (nur so zwischendurch, wie ich mir versicherte) und die Recherche blieb erneut liegen.
Im Sommer 2008 fasste ich letztendlich den Entschluss, jeden Morgen zum Frühstück einige Seiten Proust zu lesen. Diesmal blieb ich dabei. Und als ich alle Bände gelesen hatte, fing ich wieder von vorne an (und auch dies ist wohl etwas, was unter Lesern, die einmal auf den Geschmack der Recherche gekommen sind, weit verbreitet ist).
Ich hatte dann die Idee, die Textstellen, die mich am meisten begeisterten, im Sinne eines Best of Proust zusammenzustellen und merkte schon bald, dass all das, was mich besonders zu interessieren schien, auf die eine oder andere Weise immer wieder um dieselben Fragen kreiste: Was macht eigentlich das gute Leben aus? Wie findet man Erfüllung? Denn neben dem mageren Plot (heranreifender Mann durchschreitet die Phasen seines Lebens, macht allerlei zumeist desillusionierende Erfahrungen, findet jedoch letztlich seine Erfüllung im künstlerischen Schaffensprozess), neben den zahlreichen kunst- und literaturtheoretischen Exkursen und den Reflexionen über die Entstehungsbedingungen des gerade im Entstehen begriffenen Werkes, also dem Prozess des Schreibens selbst, umfasst die Recherche eine ganze Philosophie der menschlichen Existenz.
Der vorliegende Text bietet deshalb nicht nur eine Einführung in zentrale Themen, Charaktere und Zusammenhänge des Werkes und gibt einen Einblick in einige seiner schönsten und mitunter auch weniger bekannten Passagen; in besonderem Maße ist er auch eine Reflexion über die Möglichkeit eines erfüllten Daseins in einer modernen Welt; einer Welt, in der die voranschreitende Technisierung und ein verstärkt zweckrationales Denken zu einem zunehmenden Gefühl der Entfremdung geführt haben. „[…] ich befinde mich in einer Lage, in der man fürchten muss, dass man die Dinge, die zu sagen man am meisten wünschte, […] plötzlich nicht mehr sagen kann“2, sagte Proust zu seiner Haushälterin und engen Vertrauten Céleste Albaret, die von 1913 bis zu seinem Tod 1922 in seinem Hause tätig war. Am Ende seines Lebens wurde das Schreiben für den seit seiner Kindheit unter Asthma leidenden Schriftsteller immer mehr zu einem Wettlauf mit dem Tod. Es war Proust ein Bedürfnis, die Recherche noch vor seinem Tod fertigzustellen, denn er wusste, dass er den Menschen mit seinem Werk einiges mitzuteilen hatte. Es ist deshalb keinesfalls so, dass „das Leben zu kurz und Proust zu lang“ ist, wie Anatole France 1913 angesichts der Veröffentlichung des ersten Bandes der Recherche behauptete (und da waren die folgenden Bände noch gar nicht erschienen!).
Sollten einige dennoch so denken wie Anatole France, dann, so hoffe ich, kann der vorliegende Text wenigstens einen kleinen Eindruck von der Schönheit, der Melancholie, dem Witz und der Weisheit geben, die in diesem Roman stecken. Und vielleicht wird der eine oder die andere am Ende doch noch dazu angeregt, das Werk als Ganzes zu lesen.
Auf der Suche
Am Ende der Recherche, der Erzähler (der übrigens denselben Vornamen trägt wie der Autor)3 befindet sich gerade auf dem Weg zu einer Matineeveranstaltung im Stadtpalais der Familie Guermantes, wird ihm, der sein Leben lang schriftstellerisch tätig sein wollte und der dieses Vorhaben jedoch mangels Ideen immer wieder vor sich hergeschoben hat, mit einem Male klar, dass der Stoff seines künftigen Werkes nichts anderes sein kann als das Leben selbst. Und so fasst er am Ende der Recherche den Entschluss, den Roman zu schreiben, den der Leser gerade beendet hat zu lesen.
Indem der Erzähler schreibend auf sein Leben zurückblickt, durchläuft er nun also zum wiederholten Mal die Phasen seines Lebens. Angefangen bei der glücklichen Kindheit im ländlichen Combray, wo er zusammen mit seinen Eltern im Hause seiner Großtante Léonie (einer kauzigen älteren Dame, die seit dem Tod ihres Mannes das Bett nicht mehr verlässt) die Oster- und Sommerferien verbringt, verlaufen seine Erinnerungen über die Phasen der Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters, in denen er seiner ersten (Gilberte) und zweiten (Albertine) großen Liebe begegnet sowie entscheidende Impulse für seine Kunst (durch seine Bekanntschaft mit dem Maler Elstir) und Zutritt zu den höchsten gesellschaftlichen Kreisen (durch seine Freundschaft mit dem Adligen Robert de Saint-Loup) erhält. Schauplatz ist hier nicht mehr Combray, sondern Balbec, das mondäne Seebad an der Atlantikküste, in dem die gut Betuchten der Jahrhundertwende ihre Sommerfrische verbringen.4 Es folgen die Erinnerungen des erwachsenen Erzählers an die Pariser Zeit; Jahre, die er mit Eifersüchteleien, gesellschaftlichem Geplänkel und dem immerwährenden Aufschieben seiner Arbeit zu verschwenden scheint. Nach Jahren der Abwesenheit von Paris (eine Zeit, die er aufgrund seines Asthmaleidens in einem Sanatorium verbringt und die in der Erzählung ausgespart wird) kehrt der gealterte und von seiner Krankheit sichtlich gezeichnete Marcel zum Ausgangspunkt seiner Betrachtungen zurück: zu eben jener Matineeveranstaltung bzw. dem „Maskenball“, wie er das Spektakel bezeichnet, denn die hier wiedergetroffenen Bekannten von ehedem, nunmehr alte Tapergreise mit schlaffen Gesichtszügen, sind gerade so wie er selbst sichtlich gealtert und teilweise bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Was rückwärts betrachtet die Suche nach der vergangenen Zeit ist, ist nach vorne gesehen nicht nur die Suche nach dem Stoff und der Form eines literarischen Werkes, sondern vor allem die Suche nach dem Glück, nach Erfüllung und nach Sinn in einer Welt, in der man sich beständig mit den Plagen der Eifersucht, dem Frust der Enttäuschung, dem Schmerz des Verlusts und dem Gefühl der Leere und der Langeweile herumschlägt, um am Ende eben doch nur geradewegs auf diesen „Maskenball“, dieses possenhafte große Finale vor dem letzten Fall, zuzusteuern.
Man könnte die Recherche als Roman der Desillusion bezeichnen: Im Laufe seines Heranwachsens merkt der Erzähler, dass das Leben gar nicht so toll ist, wie anfangs gedacht. Und in der Desillusion des einzelnen spiegelt sich die Desillusion einer ganzen Generation, die nach dem Tod Gottes nach neuer Orientierung sucht. Die verlorene Zeit weist deshalb sowohl auf die verlorene Zeit der Kindheit als auch auf das verlorengegangene goldene Zeitalter einer ehemals ganzheitlichen Welt. Der Erste Weltkrieg, der die Gegend um Combray in Schlachtfelder verwandelt, setzt nicht nur unter das Paradies der Kindheit, sondern auch unter eine ganze Ära einen endgültigen Schlussstrich.
Doch bekanntermaßen muss man manchmal etwas verlieren, um etwas Neues zu gewinnen. Und so ist es nur teilweise zutreffend, die Recherche als einen Roman der Desillusion zu bezeichnen. Denn am Ende hat der Erzähler nicht nur den Stoff für seinen Roman gefunden, sondern auch erkannt, dass man die Leere, die der Tod Gottes hinterlassen hat, nur selbst füllen kann und dass das Glück nicht etwas ist, das man hat (oder auch nicht), sondern auf einer Haltung beruht, die man immer wieder neu suchen muss.
Im Fluss bleiben
Mit dem Erscheinen seines Werkes L’Évolution créatrice zu Beginn des 20. Jahrhunderts avancierte der französische Philosoph Henri Bergson zum Shootingstar der Philosophie. Seine Vorträge waren so beliebt, dass die Menschen Schlange standen, um Einlass zu erhalten, und im Jahre 1913 führte Bergsons Erscheinen anlässlich einer Vorlesung an der New Yorker Columbia Universität sogar zum ersten großen Verkehrschaos der Stadt.5 In einer Zeit des gesellschaftlichen Wandels traf der Philosoph der Zeit eben deren Nerv und beeinflusste eine ganze Generation von Schriftstellern, darunter nicht zuletzt Marcel Proust.
Die Wirklichkeit, so Bergson, sei nichts als Bewegung. Die Menschen jedoch könnten die vorbeiziehende Realität nur in vereinzelten Momentaufnahmen aufnehmen, denen sie dann erst im Nachhinein mithilfe eines „inneren Kinematographen“6 wieder Bewegung verliehen.
Aufgrund dieses Zustandsdenkens meint der Mensch beständig, dass es im Leben gewisse Endzustände zu erreichen gilt, die allgemein auch als „das Glück“ bezeichnet werden. Deshalb ist er immer auf der Suche nach der perfekten Liebe, der perfekten Wohnung, dem perfekten Job. Kurz, er ist auf der Suche nach dem Happy End, das es jedoch nicht gibt, denn in einer imperfekten (da nicht nicht-vollzogenen) Welt gibt es keine Perfektion. Wir sind zugange, solange das Leben im Gange ist. Mit anderen Worten: Das Leben ist ein work in progress und wir kommen niemals an. Perfekt ist nur der Tod.
Wenn der asthmakranke und sensible Erzähler Marcel einer Schar sportlicher junger Mädchen hinterherläuft, der bürgerliche Swann (eine Art Alter Ego des Erzählers) der Kurtisane Odette nachstellt oder der adlige Robert de Saint-Loup die Schauspielerin Rahel begehrt, dann zeigt sich, dass die Charaktere der Recherche allesamt Mängelwesen sind, die - ganz so wie Platons Kugelmenschen - nach dem zu ihnen passenden Gegenstück suchen, von dem sie sich erhoffen, dass es ihnen wieder zu jener Ganzheit verhilft, die sie einst verloren haben. Und je unerreichbarer ihnen das Objekt ihres Begehrens erscheint, umso größer wird ihr Verlangen danach, denn umso größer ist das Gefühl ihres eigenen Mangels. Deshalb verleihen eine als Demütigung verstandene Geste oder ein verpasstes Date dem begehrten Gegenüber einen so großen Zauber, dass ihm die Begehrenden blindlings unterliegen: Für den verliebten Erzähler Marcel macht Gilbertes magische Aura weder vor dem Regenmantel ihres Vaters noch vor dem billigen Schick ihrer Mutter halt; Swann wiederum liebt alles, was von Odette kommt, inklusive ihres falschen Klavierspiels und ihres schlechten Geschmacks. Droht ihnen, das einmal erlangte passende Gegenstück wieder abhandenzukommen, versuchen sie alles, es an sich zu binden, sei es mithilfe von Geld, materiellen Geschenken oder in Form der Protektion. Daher rühren auch die vielen Szenen der Eifersucht und die endlosen Verhöre, mit denen der Erzähler hartnäckig versucht, Albertine ein Geständnis ihrer vermeintlich lesbischen Liebesbeziehungen zu entlocken. Doch vergeblich, ein Geständnis zieht unweigerlich neue Zweifel nach sich. Wir können den anderen niemals wirklich kennen und schon gar nicht besitzen. Und so bleibt am Ende nur die Erkenntnis, dass man immer „ein Einsamer“7 ist. Dass es im Leben der anderen stets uns unbekannte Winkel gibt, wird dem jungen Marcel das erste Mal bewusst, als sich seine Mutter unter dem Vorwand, sie habe viel zu erledigen, von ihrem Sohn noch vor der Abfahrt seines Zuges nach Balbec verabschiedet. Da dämmert es ihm, dass sie auch noch ein Leben führt, das außerhalb von seinem eigenen liegt. Und seine Großmutter, die er dabei erwischt, wie sie sich in kindischer Jungmädchenart für ein Foto zurechtmacht, scheint zu besitzen, was er ihr niemals zugetraut hätte, nämlich „Koketterie“8.
Haben sich die Figuren der Recherche