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Achille Perrot, der Enkel des Hercule Poirot hat am Rande einer beschaulichen Ortschaft ein kleines Anwesen erworben. Nur allzu gern haben ihn die Einheimischen als angesehenen Bewohner in den illustren Kreis um Madame Elsa aufgenommen. Gemeinsam mit seinem Freund Inspector Jeff erhält er eine Einladung zu einer Mitternachts Soirée. Perrot ist entzückt. Ist doch die Feierlichkeit bestens geeignet, einer sich abzeichnenden November-Tristesse entgegenzuwirken. Und tatsächlich zieht Madame Elsa die Gäste mit einer exotischen Darbietung in ihren Bann. Da stürzt ein älterer Herr mitten hinein in diesen atemraubenden Auftritt und bricht tot zu Füßen der Gastgeberin zusammen. Ein Mysterium. Perrot hegt einen schrecklichen Verdacht. Spielt einer der Gäste ein teuflisches Gesellschaftsspiel? Und tatsächlich kommt es noch schlimmer. Ein Krimi der feinen englischen Art.
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Seitenzahl: 332
C’rysta Winter
Der zweite dokumentierte Fall des Achille Perrot
seines Zeichens Enkel des Hercule Poirot
KrimiEditionRutenmühle
Das Buch
Perrot hat, des Vagabundierens überdrüssig, am Rande einer beschaulichen Ortschaft inmitten der Heide ein kleines Anwesen erworben. Nur allzu gern haben ihn die Bewohner als amüsanten und kurzweilig plaudernden neuen Mitbürger in den illustren Kreis um Madame Elsa aufgenommen. Gemeinsam mit seinem Freund Inspector Jeff erhält er eine Einladung zu einer Mitternachts-Soirée. Perrot ist entzückt. Ist doch die Feierlichkeit bestens geeignet, einer sich abzeichnenden November-Tristesse entgegenzuwirken. Und in der Tat zieht Madame Elsa die Gäste mit einer exotischen Darbietung in ihren Bann. Da stürzt ein älterer Herr mitten hinein in diesen atemraubenden Auftritt und bricht tot zu Füßen der Gastgeberin zusammen. Ein Mysterium.
Perrot hegt einen schrecklichen Verdacht. Spielt einer der Gäste ein teuflisches Gesellschaftsspiel? Und tatsächlich kommt es noch schlimmer.
Die Autorin
C‘rysta Winter ist freie Krimiautorin. Sie lebt in der Abgeschiedenheit eines Mühlendorfes im nordwestlichen Teil Niedersachsens. Ein Ort, wie geschaffen zum Krimischreiben. Mit dem vorliegenden Roman schickt die Autorin bereits zum zweiten Mal Achille Perrot, den von ihr ins Leben gerufenen Enkel des Hercule Poirot, auf eine spannende Mördersuche.
Erscheinungsdatum: November 2020
©2020 C’rysta Winter, Krimi Edition Rutenmühle
Herausgeberin: C’rysta Winter, Rutenmühle
ISBN: 978-3-75262-775-6
www.crysta-winter.de
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung der Herausgeberin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.
©2020 Herstellung und Verlag: BoD –Books on Demand, Norderstedt.
Lektorat: Anja Feldhorst, Prignitz
Umschlaggestaltung: C’rysta Winter unter Verwendung eines Motivs von free stockfoto 4 k wallpaper
Layout und Satz: Lektor-hoch-drei, www.lektor-hoch-drei.de
Gewidmet den e. R.
Tinken, Helga und Aischa
Die Morddomäne – lower saxony
hierzulande allerdings besser bekannt unter der Bezeichnung Niedersachsen
Der Mordschauplatz
das hell und einladend erleuchtete Anwesen der Madame Elsa
*
Die Darsteller und das, was sie unterscheidet
Achille Perrot – Enkel des Hercule Poirot, der von seinem innig geliebten Vorfahren nicht nur die Vorliebe für einen Schnurrbart, sondern auch die exzellenten grauen Zellen geerbt hat
John Harold Jeff, der Spätere – ermittelnder Nachkomme des legendären Inspector Japp von Scotland Yard, ist in einen eigenwilligen Smoking gewandet
Madame Elsa – weißtrotz ihres fortgeschrittenen Alters nicht nur durch ihr Querflötenspiel zu bezaubern
Karl – Hausdiener, der beherzt einen Deckel über etwas stülpt
Doktor Wiesenegger– primus inter pares, schätzt kubanische Zigarren und zieht einen Verdacht auf sich
Major Groot – alles nur nicht Major
Pastor Georgius Brödermann – ein Mann Gottes, der Bassgeige spielt
Bürgermeister Valerius – will auf keinen Fall ein Geständnis ablegen
Greta Valerius– seine Gattin, trägt ein cherryrotes Abendkleid mit vielen kleinen Schleifen
Apotheker Holtheyde – schiebt auch schon mal Arsen über den Tresen
Martha Holtheyde – seine Gattin, hat statt Blut Wasser in den Adern
Pouline – ist mehr verdächtig, als Perrot lieb ist
David – überrascht mit einer alttestamentarischen Interpretation des fünften Gebotes „du sollst nicht töten“
Dichter aus Leidenschaft – sagt vorher, dass es Schnee geben wird
Detective ConstableLisa Langeloh – Polizistin, hält sich nicht immer an Dienstanweisungen
Detective ConstableDirk Weidenthal – Polizist, stößt in Ausübung seines Dienstes einen gellenden Pfiff aus
ES WAR BEINAHE MITTERNACHT. Der Junge stand in dem fahlen Lichtkegel einer Straßenlampe. Nieselregen stob aus der Dunkelheit heran. Passierte in silbrigen, dichtgedrängten Fäden den Lichtschein der Laterne. Setzte über die halbhohe Steinmauer und verfing sich jenseits der Einfriedung im Astwerk eines Strauches. Der Knabe zog die Kapuze tiefer in die Stirn und griff unter seinen Umhang. Durch eine winzige Bewegung seiner Schultern gab er für einen Moment den Blick frei auf seine Hände. Kinderhände, die, einen Atemzug lang vom Licht erhellt, seltsam knochig erschienen für einen Knaben seiner Statur, und mit denen er nun eine Querflöte in die Mulde unter seinem Mund schmiegte.
Ein leichtes Drehen der Schultern hinein ins Dämmrige, ein nochmaliges Ansetzen des Instrumentes, um den über jeglichen Zweifel erhabenen Ton zu finden, und der Knabe ersann eine Melodie, die Regen und Wind hinaustrugen ins Dunkel des Dorfes. Hinein in die Kammern des Schlafes. Hin zu der im tiefen Schlummer gefangenen Frau. Dem in traumloser Ruhe liegenden Mann. Und all diesen Kehlen einen herbsüßen Ton entlockte, der tief aus jeder einzelnen Seele drang.
Am Ende der halbhohen Steinmauer, keine hundert Schritte von dem Knaben und seiner Flöte entfernt, presste Achille Perrot sein Gesicht nahezu ohne Atem gegen regenasses Fensterglas, wo ihn für einen Wimpernschlag lang der Blick des Flöte spielenden Kindes traf.
MIT EINEM LÄCHELN faltete Achille Perrot die Serviette auseinander. Seinem Renommee als Weltbürger entsprechend hatte er eine zwar einfache, aber gut komponierte Auswahl an Speisen aus jenen Ländern auf seinem Esstisch drapiert, denen er sich besonders verbunden fühlte.
Genau mittig vor ihm auf dem Eichentisch, der mit seiner grauenweißen Oberfläche und der ihm eigenen Wuchtigkeit einen eigenwilligen Kontrast zu der übrigen, in dunklem Kirschholz gehaltenen Einrichtung bot, stand ein soeben von ihm mit einem Messer geköpftes Frühstücksei. Etwas aus dieser Mittigkeit nach rechts verschoben und gerade noch mit dem ausgestreckten Arm erreichbar, harrte ein frisch gepresster Orangensaft seiner Verwendung. Die Früchte hatte Perrot zwar bei dem örtlich ansässigen Kaufmann erworben, aber gereift waren sie in Portugal.
Der Verzehr weiterer Speisen, wie ein Häufchen gehobelter Reggiano aus der Emilia Romagna und hauchzart geschnittener spanischer Serrano Schinken, war unter Zuhilfenahme des linken Armes ebenfalls gewährleistet. Ebenfalls etwas heimisches Brot, bestrichen mit Fassbutter. Perrot hatte sie vor einiger Zeit im Dorfladen entdeckt und mochte seitdem nicht mehr von ihr lassen.
Auf eben dieses Brot klekste er ein köstliches grünes Tomaten Chutney aus der Diele eines nahegelegenen Gehöftes, führte es zum Mund und warf, genussvoll kauend, einen zufriedenen Blick auf einen vor ihm liegenden Umschlag.
Er hatte ihn am Morgen im Briefkasten vorgefunden und ihm die Einladung zu einer mitternächtlichen Soirée im Hause der Madame Elsa entnommen. Diese Einladung war verbunden mit der herzlichen Bitte, doch das am kommenden Samstag stattfindende Fest mit seiner geschätzten Anwesenheit zu beehren und zwar sine tempore.
Perrot hatte den Brief entzückt an sich genommen und vorerst in der Brusttasche seines Jacketts verwahrt. Nun aber zog er ihn, mit einem nicht ganz eindeutigen Minenspiel, über den Tisch näher zu sich heran. Einer Mimik, die jener ähnelte, mit denen auch weitere zu dem Ereignis gebetene Personen das nahe Datum der Festlichkeit zur Kenntnis genommen hatten. Denn zu dem unbestreitbaren Talent von Madame Elsa, Gastlichkeiten dieser Art nahezu mühelos auf die Beine zu stellen, gesellte sich leider ein wenig förderliches Vorgehen. Madame war so intensiv mit der Realisierung des Ereignisses befasst, dass sie keinen Gedanken an eine frühzeitige Benachrichtigung der Gäste verschwendete und erst im allerletzten Moment die Einladungen versandte.
Ein Umstand, der, wie Perrot aus dem Kreise langjährig mit ihr bekannter Personen erfahren konnte, allerdings noch in keinem Fall dazu geführt hatte, dass diese Gesellschaften misslungen waren. Irgendwie waren alle, von unbedeutenden Ausnahmen abgesehen, in der Lage, auch diesen kurzfristigen Einladungen Folge zu leisten.
Auch Perrot war im aktuellen Fall abkömmlich und es war ihm mehr als recht, sich bereits in drei Tagen im Haus von Madame Elsa, unweit seines eigenen Domizils einzufinden. War diese Zusammenkunft doch bestens geeignet, einer sich drohend abzeichnenden Novembertristesse, die mit einem fast als schmerzlich empfundenen Verbrechens-Vakuum einherging, Einhalt zu gebieten.
Fraglos war Perrot in der Lage, sich seine Zeit autonom mit allerlei Dingen, auch mit einer kontinuierlichen, wenn auch mäßig ausgeübten Leibesertüchtigung, zu vertreiben. Aber alles hatte seine Grenzen. Und so war, nachdem der Fall der Lady Lucy Atterberry brillant von ihm und Jeff im Spätsommer des vorangegangen Jahres gelöst und bis in alle Einzelheiten aufgeklärt worden war, eine nicht zu übersehende Leere entstanden. Eine Leere, der er auch nicht durch den Erwerb eines kleinen Anwesens am Rande einer beschaulichen Ortschaft inmitten der Heide hatte Einhalt gebieten können.
Nein, denn irgendwann war das mit Kletterrosen umrankte Fachwerkhaus, das er im Herbst des vergangenen Jahres von einem Geschwisterpaar erworben hatte, denen dieses Erbe ihrer Vorväter kein Herzensobjekt, sondern der Mühlstein am Hals gewesen war, nach seinen Wünschen eingerichtet. Hatte er dem mit Stockrosen und Fingerhut üppig ausgestatteten Bauerngarten rote Montbretien und allerlei weitere farbenprächtige Stauden hinzufügen lassen. War der Fischbestand in dem zum Anwesen gehörenden Teich begutachtet und der Hecht, der ein räuberisches Unwesen in dem Gewässer geführt hatte, einem gezielten Fangvorgang zum Opfer gefallen.
Und so hatten zum Ende des diesjährigen Sommers seine beutegierigen Umtriebe und der Räuber selbst auf einem von Perrots ererbten belgischen Porzellantellern ein geschmacklich durchaus zufriedenstellendes Ende gefunden.
Eine Zeitlang hatte sich Perrot der Illusion hingegeben, mit Hilfe verschiedenst gearteter Rätsel eine kurzweilige Zerstreuung gefunden zu haben, und sich sogar probehalber an die Erfindung eigener Denksportaufgaben und kniffeliger Kreuzworträtsel gewagt. Es war für ihn jedoch nur allzu schnell erkennbar gewesen, dass diese in ihrer Anlage auf Allgemeinbildung abzielenden Ratespiele einen profunden Mangel aufwiesen: Ihnen fehlte die Suche nach dem alles erklärenden Zusammenhang. Die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Kurz, diesen Rätseln fehlte das Zusammenführen von Erkenntnissen unter Zuhilfenahme der kleinen, grauen Zellen.
Perrot ließ seinen Blick hinaus in den Garten schweifen. Graubraun war die vorherrschende Farbe der Natur. Dazu passend Wolken, die sich in dunklen Erdtönen vor einem schmutzigblauen Himmel in nördlicher Richtung davonbewegten.
Nur allzu gern erinnerte sich Perrot angesichts dieser Trübnis an die kurzweilige Lustbarkeit, die von Madame Elsa im Sommer dieses Jahres bei herrlichstem Wetter ausgerichtet worden war und der sie, mit ihrer übersprudelnden Kreativität und einigen kurzweiligen Darbietungen zur Unterhaltung ihrer Gäste, eine ganz außergewöhnliche Prägung verliehen hatte.
So war unter einem tiefaquamarinblauen Himmel, in dem schon vereinzelt Sterne aufblitzten, ein Schlangenmensch aufgetreten, der in unvorstellbarer Biegsamkeit Arme und Beine ineinander verflechten konnte, dass es Perrot nahezu unmöglich schien, der Künstler könnte in der Lage sein, all diese Gliedmaßen unversehrt wieder in die naturgegebene Position zu bringen.
Auch die Vorführung zweier junger Damen erntete erst ungläubiges Staunen, dann freudig erregten Beifall. Sie hatten zu Klängen einer modernen Musik, die an das Stakkato ähnliche Geräusch platzender Maiskörner erinnerte – und wenn Perrot sich recht entsann, lautete der Titel des Stückes in Anlehnung an diesen physikalischen Vorgang denn auch Popcorn – so virtuos und ohne die geringste Abweichung synchron mit kleinen Bällen jongliert, dass Perrot während der Darbietung wahrhaftig für Momente seine noble Zurückhaltung vergaß und mehrfach laute Rufe der Begeisterung von ihm zu hören waren.
Zu Perrots besonderer Freude war es gegen Mitternacht zu einem Auftritt einiger vorher im Geheimen ausgewählter Gäste gekommen, die pantomimisch ihre eigene Ermordung darstellen und den übrigen Gästen durch Ausdruck und Gestik einen Hinweis auf die Tatwaffe und den Mörder liefern sollten.
Fünf Mordfälle galt es zu lösen, und zumindest für Perrot waren vier davon ohne die geringsten Probleme zu enträtseln. Lediglich einer der dargestellten Morde warf auch bei ihm eine Zeitlang Fragen auf. Aber letzten Endes konnte er mit der Feststellung imponieren, dass es in diesem speziellen Falle keinen Täter gab. Die betreffende Dame hatte sich in einem rituellen Selbsttötungsakt das Leben genommen. Auch wenn diese äußerst gelungene Vorspiegelung der Tat im ersten Moment etwas bizarr und ungewöhnlich anmutete, hatte sie in einer heiteren Weise für einen fröhlichen Ausklang des Festes gesorgt. Immerhin hatte sich die Dame nach ihrer Darbietung in unversehrter und bester körperlicher Verfassung den applaudierenden Gästen präsentiert und war von Madame Elsa für ihre, in schönster Theatralik dargebotene und am besten gelungene Darstellung mit einer Rose, rot wie Blut, geehrt worden.
Und dieses Mal nun eine mitternächtliche Soirée. Die, wenn man es wörtlich genommen hätte, erst eine Stunde vor Mitternacht hätte beginnen dürfen. Madame Elsa hingegen hatte sich für einen früheren Zeitpunkt entschieden und um ein Erscheinen zu einundzwanzig Uhr gebeten.
Mit einer leichten Verwunderung nahm Perrot zur Kenntnis, dass weder Hinweise auf die Komponisten, die zu hören sein würden, noch Angaben zu den Interpreten auf der Einladung zu finden waren. Einen Moment war er versucht, das Fehlen dieser Erwähnung einem Versehen zuzuschreiben und sich auf ein musikalisches Repertoire bestehend aus Bach, Mozart und Beethoven einzustellen. Auf eine schwermütig klingende Viola, ein wohltemperiertes Pianino sowie eine verführerische Querflöte. Die, vielleicht sogar gespielt von der Gastgeberin höchstpersönlich, einen musikalischen Hochgenuss in Aussicht stellte. Doch diese von ihm vermutete gänzlich klassische Ausrichtung des Festes trug so gar nicht dem kapriziösen Naturell der Gastgeberin Rechnung.
Perrot beförderte daher seinen eigenen Widerspruch hervor, in dessen Gefolge sich die buntesten Ideen, wie etwa eine orientalisch ausgerichtete Soirée mit dem Flair aus tausendundeiner Nacht vor seinem geistigen Auge emporrankten.
Perrot griff nach dem Glas mit Orangensaft, in dessen Kelch sich der Widerschein des Kaminfeuers hinter ihm spiegelte, und ihn erfasste eine wohlige Vorfreude auf das bevorstehende Ereignis.
Sorgsam verriegelte Perrot die Tür seines Hauses. Den Schlüssel zu seinem Krähennest, wie er das Haus scherzhaft wegen der zahlreichen Nebelkrähen nannte, verwahrte er in seinem Paletot. In seiner linken Hand trug er einen schmalen Karton, den er der Gastgeberin überreichen wollte. Einem raschen Hinaufschauen in den mondlosen, sternenklaren Novemberhimmel folgte ein ebenso rascher Blick auf seine Taschenuhr. Zehn Minuten vor neun. Zu spät fast, um einem Fauxpas durch unpünktliches Erscheinen zu entkommen.
Perrot griff sich an seinen weißen mit einem schmalen schwarzen Streifen abschließenden bow tie. Dieses kleine Accessoire war die Ursache der zeitlichen Verzögerung. Vielmehr die ungewöhnliche Unentschiedenheit, mit der er erst nach einigem Hin und Her diesem Exemplar den etwas gewagten Vorrang zu einem ausschließlich weißen Querbinder eingeräumt hatte. Gewagt, weil Perrots mitternachtsnachtblauer Smoking und der gesellschaftliche Anlass nach eben jenem einfarbig weißen bow tie verlangt hätten, den er jedoch aus Gründen, die er selbst nicht recht benennen konnte, verworfen hatte.
Perrot eilte schnellen Schrittes die im Halbdunkel liegende Auffahrt entlang. Durchmaß den spärlichen Schein einer Laterne, verschwand für Momente im Graudunkel des unbeleuchteten Weges, bevor ihn der nächste Lichtstrahl und die nächste Dunkelheit erfassten. Nachtkühle streifte sein Gesicht. Die halbhohe Steinmauer kam in seinen Blick. Hastig folgte er dem Weg nach rechts. Ein paar Schritte weiter und an sein Ohr drang das Zuschlagen einer Tür. War das nahe Bellen eines wachsamen Hundes hinter einer Einfriedung zu hören. Konnte er vorn an der Straße, nicht mehr allzu fern, bereits das hell und einladend erstrahlende Haus der Madame Elsa erkennen.
Nach dem Überwinden der sechs Stufen hinauf zum Portal des Hauses betätigte Perrot mit dem letzten von neun Schlägen der Kirchturmuhr den Türklopfer des Hauses. Er verscheuchte jeden weiteren Gedanken an weiße, schwarz abgesetzte oder sonst wie gestaltete Querbinder, an halbhohe Steinmauern und mäßig beleuchtete Wege und fand sich fast augenblicklich von Madame Elsas Armen umfangen. Sie war in einer schwarzroten Pracht herangeweht wie ein lauer Abendwind und verströmte den Duft einer blühenden Sommerwiese. Perrot fühlte sich durch den Wohlgeruch übergangslos in seine Kindheit versetzt, dass er augenblicklich meinte, den fernen Gesang eines Kuckucks zu vernehmen, der irgendwo zwischen Wollgraswiesen und lichten Buchenwäldern seine Stimme erschallen ließ. Während der Knabe Achille in einem Meer aus Wiesenblumen kauernd, von einem grünen Augenpaar großväterlich behütet, dem Lied des außergewöhnlichen Vogels lauschte.
Madame Elsas Stimme holte ihn aus seiner Erinnerung zurück. „Monsieur Perrot, eigentlich sollte ich Sie schelten. Was ist mit Ihrer vorbildlichen Zuverlässigkeit im Hinblick auf pünktliches Erscheinen geschehen? Einundzwanzig Uhr … sine tempore.“
Perrot lächelte reumütig und überließ einstweilen seine Kindheitserinnerung der Vergangenheit und dem herangetretenen Hausdiener Karl seinen Mantel. Ein Mann um die siebzig, dessen Gesicht und Erscheinung in Perrot jedes Mal unweigerlich den geheimen Vergleich mit einer Wachsfigur heraufbeschwor. Angesichts der leicht vorgeneigten, Beschwerlichkeit assoziierenden Haltung fragte sich Perrot, warum dieser Mensch, nur eine Handvoll Jahre jünger als seine Dienstherrin, ihr noch immer beständig und hilfreich zur Seite stand.
Madame Elsas Blick war währenddessen an Perrots bow tie hängen geblieben und in ihre Augen trat ein schalkhafter Glanz. „Sollten Sie vielleicht ein wenig zu viel Zeit mit der Wahl Ihrer Garderobe vergeudet haben? Das Exemplar, welches Ihren Hemdkragen ziert, zeugt von einer kleinen inneren Revolte, die Sie mit sich und diesem Accessoire ausgefochten haben.“
Perrot nahm die längliche Schachtel, die er auf der Kommode abgelegt hatte, wieder an sich. „Ich muss sagen Madame, diese Überlegung entbehrt nicht einer gewissen, kuriosen Plausibilität.“
Madame Elsa lachte. Es klang wie das Rauschen eines mächtigen Baumes. In dieses Rauschen hinein überreichte Perrot ihr mit einem Lächeln den mit einem scharlachroten Zierband verschlossenen Karton. Er verneigte sich. „Im Inneren Madame, befindet sich meine tiefe Verehrung.“
Das Rauschen verstummte. Über den Glanz in Madame Elsas Augen schien sich Raureif zu legen. Glitzernde, kleine Kristalle, die sich frostig ineinander verhakten, hinabglitten zum Mund und ihrer Stimme den Klang des Eises verliehen. „Monsieur Perrot …“ Ihr Tonfall glitt klirrend in noch kältere Regionen und die scharlachrote Schleife schwebte zu Boden. „Eine Orchidee, in der Farbe Todes? Als Zeichen Ihrer Verehrung?“
Ein wohlüberlegtes Niederschlagen seiner Augen, im Schatten der Augenwimpern ein schneller, kaum wahrnehmbarer Blick auf Madame Elsas zusammengepresste Wangenmuskeln und Perrot hob galant das Zierband vom Boden.
„In der Tat, Madame. Eine schwarze Orchidee. Eine Prosthechea Cochleata. Für mich ist sie die Königin unter den Orchideen. Und sie ist mitnichten die Blume des Todes. Ihr wird vielmehr nachgesagt, in sich den Schlüssel des ewigen Lebens zu bergen. Und wem Madame, gebührt dieser Zauber des ewigen Lebens mehr als Ihnen?“
Es entstand eine Art von Körperlosigkeit in der geräumigen Eingangshalle. Perrot hatte für einen bangen Moment die Empfindung, die Dame werde in ihrer kristallenen Form zu Boden sinken und dort in winzige, kaum noch auffindbare Moleküle zerfallen. Madame Elsa wankte mit ihrem Oberkörper in Perrots Richtung. Ein Augenblick wie eine Ewigkeit. Dann kehrte das Rot in ihre Wangen zurück und ihre Stimme erklang hauchzart und charmant.
„Welch reizende Symbolik, mein lieber Monsieur Perrot. Sie hat mir doch tatsächlich für einen Atemzug die Fassung geraubt. Obwohl ich gestehen muss, dass ich nicht davon ausgehe, dass diese Allegorie des ewigen Lebens tatsächlich der schwarzen Orchidee zugeschrieben wird. Ich verwette Haus und Hof … sie ist Ihrem kreativen Geist entsprungen.“
Perrot hielt es für angebracht, momentan weder die außergewöhnliche Reaktion der Gastgeberin zu ergründen, noch sich auf die über jeden Zweifel erhabene Sitte in asiatischen Ländern zu beziehen, vorzugsweise jungen oder älteren Damen mit einer schwarzen Orchidee ein wortloses Kompliment zu überreichen. Schon gar nicht erlaubte sich Perrot auf die floskelhaft ausgesprochene Haus-und-Hof-Wette einzugehen. Perrot hielt es im Augenblick für mehr als geboten, sich der unübersehbaren Aufforderung seiner Gastgeberin zu beugen und ihr in den angrenzenden Salon zu folgen.
Allerdings gestattete er sich einen raschen Blick auf die Kommode und die zwei sechsarmigen Kerzenleuchter, deren Lichterschein alles mit einem lebendigen Schimmer überzog. Nur die blütenreiche Orchideen-Rispe profitierte nicht vom Glanz. Sie lag achtlos abgelegt zu Füßen der Kandelaber. Lieblos verschmäht.
DAS ERSTE, DAS PERROT WAHRNAHM, nachdem er hinter Madame Elsa die Tür zum Salon durchschritten hatte, war Rauch. Und zwar von einer so zarten, beinahe süßlich zu nennenden Frühlingsnote, wie nur Birkenscheite es hervorzubringen vermochten.
Das Zweite, das Perrot wahrnahm, nachdem die Dame mit einem graziösen Schwung ihrer Hüften zu dem neben einer Anrichte bereitstehenden Hausdiener Karl abgeschwenkt war, war das verwirrende Gefühl, sich im falschen Raum zu befinden. Er hatte erwartet, den Salon belegt bis auf die letzte Sitzgelegenheit, mit angeregt plaudernden und scherzenden Gästen jedweden Alters vorzufinden. Nun aber bot sich ihm ein völlig anderes Bild. Nicht ein einziges Lachen drang an sein Ohr und die um kleine, runde Tische gruppierten Sessel waren noch nicht einmal zur Hälfte besetzt. Perrot besaß ein hervorragendes Einschätzungsvermögen, das er jedoch angesichts dieser überschaubaren Anzahl nicht bemühen musste. Ihm genügte ein einziger Blick, die Anzahl der Gäste auf zehn Personen festzulegen, von denen sich, bis auf ein junges Paar und einen einzelnen Herrn, jede durch ein deutlich fortgeschrittenes Alter auszeichnete.
Das Dritte, das Perrot mit derselben Verstörtheit bemerkte, war, dass sich eben jener einzelne Herr, eindeutig erfreut über Perrots Erscheinen, von seinem Sessel in der Nähe des Kamins erhob und mit ausgestreckten Armen auf ihn zueilte. Diese Zielstrebigkeit ließ Perrot einen Schritt zurückweichen, steckte der Mensch doch in einer grotesken gelben Smokingjacke, die bei Perrot das Gefühl, sich im falschen Raum zu befinden, beinahe bis ins Unerträgliche steigerte, zumal sich der Mann mit ihm bereits auf gleicher Höhe befand und ein Ausweichen unmöglich machte.
„Mein lieber Perrot. Seit einer kleinen Ewigkeit warte ich ungeduldig auf Ihr Erscheinen. Mein Nacken ist bereits schief vom ständigen Blick zur Tür. Dieses junge Paar dort an meinem Tisch … seit ich so unvorsichtig war und erwähnte, dass ich Mörder und Verbrecher jage, hatte ich keine konversationsfreie Minute mehr. Und das seit nahezu einer halben Stunde. Perrot, Sie müssen mich retten.“
Perrot starrte auf die senfgelbe Smokingjacke. Übersät mit winzigen schwarzen Punkten bot sie dennoch Raum für ein grauenvolles ineinander verschlungenes Paisley-Muster. Ein Muster das angetreten war, in seiner Unstrukturiertheit dennoch ein harmonisches Ganzes zu erzeugen. Ein Versuch, der auf gesamter Linie nur zum Scheitern verurteilt sein konnte.
„Meine Güte, Jeff. Sie sind es. Wo haben Sie bloß diese Ungeheuerlichkeit aufgetan?“ Perrot war nicht in der Lage, seine Augen von der Jacke weg und hinauf ins Gesicht seines Freundes zu wenden.
„Ist doch alles vorhanden, was ein Smoking mitbringen sollte, Perrot. Was also haben Sie an diesem exquisiten Stück auszusetzen?“ Jeff machte eine andeutungsweise Bewegung mit der Hand. „Abgesetztes Revers in schwarzer Seide bis hinunter zum einzigen Verschlussknopf, der mit derselben schwarzen Seide überzogen ist. Und schwarz eingefasste Paspeltaschen.“
Perrot ließ widerstrebend seinen Blick über die Jacke streifen.
„Das Muster, mein Freund. Und dann diese grauenvolle Farbe. Sie können doch nicht etwa davon ausgegangen sein, dass im November … das irgendwie das alljährlich wiederkehrende närrische Treiben diesen Aufzug rechtfertigt.“
Jeff blickte irritiert. „Welches närrische Treiben?“
Perrot traf bereits zum zweiten Male an diesem gerade erst begonnen Abend die Entscheidung, die Sache vorerst nicht weiter zu verfolgen. Er schickte sich an, seinen Freund kurzerhand samt senfgelber Smokingjacke in Richtung des Tisches zu dirigieren, an dem das an Mord und Verbrechen interessierte Paar ihnen aus jugendlich glänzenden Augen erwartungsvoll entgegensah.
„Nur eine Frage noch … Sie sind ohne Begleitung der Dame, derentwegen Sie vor mehr als fünfzehn Jahren der britischen Krone und Ihrem Land den Rücken gekehrt haben, um mit ihr hier auf niedersächsischem Boden Heimat und Erfüllung zu finden?“
Jeff nickte verlegen. „Ja, meine Herzensdame hat es vorgezogen, auf die Kurzfristigkeit der Einladung hinzuweisen und ihr Bedauern zum Ausdruck zu bringen, wegen anderweitiger Verpflichtungen nicht erscheinen zu können. Und zwar genau mit diesen Worten.“ Jeff hob wie zufällig die Hand zum Mund und dämpfte seine Stimme. „Aber im Vertrauen, Perrot. Es gab nachweislich keinen einzigen Grund, hier nicht zu erscheinen.“
Perrot räusperte sich dezent. Mit hochgezogenen Brauen warf er einen strengen Blick auf seinen Freund. Er konnte sich sehr gut in die Gattin seines Freundes und ihren Grund hineinversetzen. Er trug die Farbe Gelb.
Bevor Perrot sich endgültig entschloss, das Unabänderliche zu akzeptieren und mit Jeff an seiner Seite zu dem Tisch in der Nähe des Kamins aufzubrechen, blickte er sich suchend nach Madame Elsa um. Sie befand sich noch immer mit ihrem Hausdiener in einem intensiven Gespräch. Perrot befremdete das. Es wäre jetzt durchaus an der Zeit, sich den Gästen zuzuwenden und einige begrüßende Worte an sie zu richten. Denn es war kaum davon auszugehen, dass noch weitere Personen erwartet wurden. Zudem schien es Perrot angebracht, etwas Kräfteerhaltendes zu reichen. Etwas, das Geist und Körper auf unbelastende Weise zusammenhielt. Vielleicht in Form eines kleinen Buffets. Hereingerollt auf einem oder auch zwei Servierwagen.
Perrot spitzte seine Lippen und setzte sich seufzend, aber unwiderruflich mit Jeff in Bewegung. Wobei er beiläufig, doch sehr genau darauf achtete, wer sich an den anderen Tischen bei einem Aperetivo bianco mit Oliven zu Plaudergrüppchen zusammengefunden hatte und welche vertrauten oder unbekannten Gesichter es mit einem herzlichen Lächeln zu begrüßen oder höflich nickend zur Kenntnis zu nehmen galt.
Das erste bekannte Gesicht war das des Apothekers Holtheyde, der, kaum, dass er Perrots Anwesenheit bemerkt hatte, nur einen reservierten Blick zustande brachte, um sich dann wieder seiner Gattin Martha zuzuwenden. Angesichts dieses Verhaltens, der Apotheker war Perrot als ein zugewandter, an der Gesundheit seiner Mitmenschen durchaus interessierter Mensch bekannt, fragte sich Perrot, ob er bei seiner letzten Konsultation, als ihn ein hartnäckiger Halsschmerz in die Apotheke getrieben hatte, vielleicht vergessen haben könnte, den Betrag für die schmerzlindernde Mixtur zu begleichen.
Jeff wandte sich diskret zu Perrot. „Ihm ist irgendetwas über die Leber gelaufen. Für mich hatte er auch kaum mehr als einen flüchtigen Blick im Angebot. Aber ich warne Sie vor Bürgermeister Valerius, Perrot. Er sitzt dort gemeinsam mit seiner in feuerrot gewandeten Gattin Greta in der Nähe der Tür, die zum Musikzimmer führt. Er ist heute von einer ganz ausgeprägten Mitteilsamkeit befallen. Sprechen Sie ihn um Himmels willen nicht auf seine Arbeit an der Newkirker Chronik an. Er wird Sie nicht mehr aus den Fängen lassen und Ihnen haarklein erläutern, wer zu welchem Zeitpunkt im Laufe der Jahrzehnte von wem Land gekauft oder gepachtet hat. Ich habe keine Ahnung, was einen alten Herrn treibt, sich mit so etwas zu beschäftigen.“
Perrot zog wissbegierig die Augenbrauen nach oben. „Er schreibt die Newkirker Chronik? Ich wusste bis jetzt nichts davon.“ Er war von der Chronik-Mitteilung derart freudig erfasst, dass er nicht einmal bemerkte, wie selbstverständlich er inzwischen von seinem Freund Jeff die englischsprachige Bezeichnung seines Wohnortes übernommen und sich zu Eigen gemacht hatte.
Perrot war eben im Begriff, von seinem eingeschlagenen Weg abzubiegen, um einige Worte mit dem Bürgermeister zu wechseln, als wie aus dem Nichts Karl vor ihm stand. Mit seinem unvermeidlich wächsernen Lächeln offerierte der Diener Perrot einen Aperetivo rosso, der, angereichert durch drei grüne Oliven, die auf einem Spießchen steckten, in der Färbung tiefroter nicht hätte ausfallen können.
Perrot starrte auf das Getränk. Hier konnte nur ein fataler Irrtum vorliegen. Es war bekannt, dass Achille Perrot die Klarheit liebte, und zwar in allen nur denkbaren Facetten. Denn Klarheit bedeutete in tieferem Sinne auch Wahrheit. Und der hatte sich Achille, der Enkel des Hercule, mit Leib und Seele verschrieben. Vor dem Hintergrund dieses Leitgedanken hätte der angebotene Aperitif klar wie artesisches Wasser sein müssen.
Jeff unternahm den Versuch, die Peinlichkeit der Situation wenigstens etwas zu entschärfen. Er wandte sich an den stoisch wartenden Diener. „Für Monsieur Perrot ausschließlich Aperetivo bianco, denn ...“ Unnötigerweise suchte Jeff für dieses Gebot nach erklärenden Worten. Perrot wedelte den Versuch mit einer entschiedenen Handbewegung beiseite. „Ja, in der Tat, Karl. Für Monsieur Perrot ausschließlich durchsichtig Klares.“
Perrots Blick traf sich mit dem des schwarzberockten Dieners. Für einen Moment schob der Mann das Tablett mit dem dargebotenen Trank näher zu Perrot heran. Doch nur für diesen einen winzigen Moment, bevor er sich mit unverändertem Gesichtsausdruck diskret unter dem Hinweis entfernte, seinen Irrtum unverzüglich zu korrigieren.
Jeff fühlte sich verpflichtet, diese Situation, die er als äußerst unangenehm empfand, dadurch zu entspannen, dass er aus dem Stand eine Fachsimpelei über die verschiedenen Möglichkeiten entfachte, Kaminholz sachgemäß unter Berücksichtigung des erforderlichen Trocknungsvorganges zu stapeln. Jeff war so bemüht, ein angeregtes Gespräch vorzutäuschen, dass Fragen und Antworten zu diesem Thema ausschließlich durch ihn allein bestritten wurden.
„Ja, ich stimme Ihnen zu Perrot, die südliche Giebelwand Ihres Hauses eignet sich hervorragend zur Stapelung. Ausreichend Sonne? Auch das ist kein Problem. Sie scheint fast den ganzen Tag dorthin. Natürlich müssen Sie darauf achten, dass zwischen den Scheiten und der Mauer ausreichend Zirkulation …“
Jeffs weiterer Monolog zog an Perrot nahezu ungehört vorbei. Einzelne Worte wie Schimmelpilzbildung und Fäulnis drangen zwar in sein Bewusstsein, waren jedoch nicht geeignet, ihn aus seinem versunkenen Zustand herauszureißen. Einer scharfsinnigen Beobachterin, wie es Martha Holtheyde war, blieb nicht verborgen, das Achille Perrot gerade versuchte, einige bizarr geformte Eindrücke sinnbringend in einen Zusammenhang zu stellen. Sie war davon derart fasziniert, dass sie mit Akribie die Ärmel ihres seegrünen Chiffonkleides zurechtzupfte, um den Anschein zu erwecken, ihre ganze Aufmerksamkeit sei auf ihr Äußeres und nicht auf den Neuankömmling gerichtet.
„Nun ja. Nun ja.“ Übergangslos war wieder Leben in Perrot. „Jeff, mein Freund. Wir können nicht weiterhin wie zwei Ölgötzen nahezu in der Mitte des Salons verharren und uns wie eine seltene Spezies betrachten lassen.“ Perrot warf einen kurzen, noch immer wenig erbauten Blick auf Jeffs Smoking. „Und da das Paar dort an Ihrem Tisch fest entschlossen scheint, in Bezug auf Ihre äußere Erscheinung keine nachteiligen Rückschlüsse auf Ihre Person vorzunehmen, sollten wir auf den freien Sitzgelegenheiten Platz nehmen, und zwar bevor der Entschluss in den jungen Leuten reift, sich stehend zu uns zu gesellen. Denn zwanglos umherstehende und plaudernde Grüppchen sind hier heute Abend deutlich erkennbar nicht vorgesehen. Ich vermute, da möchte jemand den alles umfassenden Überblick behalten.“
„Sie hätten sich zusammen mit Ihrem Mantel von dem Detektiv in Ihnen am Eingang trennen sollen.“ Jeff lächelte freundschaftlich. „Perrot, dieser Salon, mit seinen Sesseln und kleinen Tischen, dem prasselnden Feuer im Kamin ist heute Abend nun mal nicht für zwangloses Hin und Her, sondern für sitzendes Beieinander vorgesehen.“
„Es mag im Hinblick auf die immer noch nicht erkennbare Thematik des heutigen Abends so sein, wie Sie sagen. Aber … nun ja, es wird voraussichtlich nicht mehr lange dauern, bis die Türflügel zum Musikzimmer sich öffnen und wir klarer sehen. Allerdings wäre als Einstimmung eine kleine Freude für den Gaumen durchaus angenehm gewesen.“
Perrot blickte ein wirklich allerletztes Mal leise seufzend auf Jeff und seine senffarbene Smokingjacke. Auch Jeff hätte gut daran getan, sich am Eingang von etwas zu trennen. Perrot seufzte ein weiteres Mal, dann lenkte er seine Schritte ohne nochmaliges Zögern dem Tisch, den zierlichen Sesseln mit ihrem floralen Muster und dem jungen Paar entgegen.
„Monsieur Perrot, und sie ist wirklich … ich meine, die Braut ist tatsächlich … mit einem …“ der junge Mann, der den Namen David trug, schüttelte sich, um die Gänsehaut zwischen seinen Schulterblättern zu glätten.
„Ja, in der Tat, junger Freund, sie ist zu Tode gekommen.“ Perrot legte seine Handflächen gegeneinander. „Aber nun wollen wir die Toten ruhen lassen und uns den Freuden der Lebenden zuwenden. Denn wenn mich mein Gefühl und meine Nase nicht trügen, wird es tatsächlich noch einen kleinen Imbiss geben. Sie müssen nämlich wissen, Achille Perrot hat eine ausgezeichnete Nase, wenn es um den exquisiten, leichten Wohlgeruch aus einer Küche geht. Für Inspector Jeff hingegen darf das Odeur gern etwas robuster sein. Dunkler Kaffee, Bratenduft und englisches Bier zum Beispiel … Barista Stout um genau zu sein.“
Jeff blickte angesichts dieser Bemerkung ein wenig sauertöpfisch zu Perrot hinüber. Immerhin hatte er sich im Laufe der Jahre von den Essgewohnheiten seines legendären Großvaters Inspector Japp von Scotland Yard so weit entfernt, dass er durchaus fein abgestimmten Speisen jederzeit den Vorrang gegenüber schwer im Magen liegenden Gerichten einräumte. Nur die Liebe zu dunklem englischen Bier war unverrückbar in ihm verankert. Diese Liebe, sie war gleichermaßen Relikt und unveränderliches Bedürfnis, das sich ebenso wenig abschütteln ließ wie seine englische Dienstbezeichnung und seine Leidenschaft für die britische Krone.
Perrots hatte sich unterdessen an die junge Frau neben David gewandt. Sie war seit geraumer Zeit wortlos den Ausführungen Perrots über seinen ersten, schriftlich niedergelegten Fall gefolgt, und das ohne erkennbare Gefühlsregungen. Perrot drängte es zu erfahren, was sich hinter ihrer Fassade verbarg.
„Nun, Mademoiselle Pouline, wenn Sie mir diese Frage gestatten, mit welch freudigen Erwartungen sind Sie der Einladung unserer Gastgeberin gefolgt? Waren es die musischen Genüsse, die Sie lockten, das gesellschaftliche Ereignis an sich oder … die Symbolik der Präsenz?“
Die junge Frau, welche die magische zwanzig nur um wenige Jahre überschritten hatte, antwortete mit einer festen, volltönenden Stimme, die Perrot diesem zierlichen, ohne Frage zauberhaften Wesen nicht ohne Weiteres zugeschrieben hätte. „Monsieur Perrot, ich vermute, dass ich aus den gleichen Gründen der Einladung gefolgt bin wie Sie.“
Perrot betrachtete die junge Frau wohlwollend. Mit einem kunstvoll geformten Lächeln lehnte er sich in seinem Sessel zurück. „Ah … Sie möchten Verstecken mit Achille Perrot spielen. Nachdem Sie gerade über einen nicht unerheblichen Zeitrahmen hinweg der Geschichte eines Mordes und seiner Aufklärung gelauscht haben, möchten Sie jetzt selbst und hautnah in Erfahrung bringen, wie es denn tatsächlich um die kleinen, grauen Zellen des Achille Perrot bestellt ist, und mit ihm die Probe aufs Exempel machen. Perrot soll den Grund erraten, der Sie die Einladung annehmen ließ und der mit seinem Grund, so jedenfalls Ihre Vermutung, identisch ist.“
Pouline strich mit einer anmutigen Geste den Stil ihres kegelförmigen Aperitif-Glases entlang und schwenkte die darin befindlichen Oliven. „Nein, Sie irren. Ich bin an einem Ratespiel nicht interessiert, Monsieur Perrot. Ich bin der Einladung gefolgt, weil ...“ Der Rest des Satzes zog an Perrot vorbei wie der mitternächtliche Schatten an einer grauen Häuserwand. Er konnte nicht glauben, was Pouline ihm gerade gestand und hielt den Atem an.
Jeff fing unvermittelt an, in einer Lautstärke zu lachen, die in der allgemeinen Situation gerade noch als angemessen gelten konnte. David beugte sich vor und küsste seiner Freundin die Wange. Auch er lachte. Weniger laut als Jeff, aber ebenso erheitert. Nur Perrot war bis in seine Grundfeste erschüttert.
„Mademoiselle, bitte könnten Sie Ihre Erklärung wiederholen, die Sie soeben mit einer nahezu unfassbaren Gelassenheit ausgesprochen haben und die nicht nur bei ihrem Freund, sondern zu meinem Befremden ebenfalls bei Inspector Jeff zu einem Ausbruch der Heiterkeit geführt hat, in mir jedoch ein wahres Grausen entfachte.“
Die junge Frau hörte auf das Glas zu schwenken. „Ein wahres Grausen?“ Durch Poulines Augen glitt das Flirren der Verunsicherung. Sie griff betont spielerisch an ihren Ohrring.
„Verzeihen Sie, Monsieur Perrot, aber das verstehe ich nicht. Madame Elsa selbst hat mir und David gegenüber so bildhaft von ihren Canapés, den Pasteten und Spießchen, den bunten petit fours und anderen Leckerbissen geschwärmt, dass ich gar nicht anders konnte, als neugierig auf all das zu werden … ich bin also der Einladung gefolgt wegen all dieser köstlichen Dinge aus Madame Elsas Küche.“
Perrot schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, hatte das Blau seiner Iris eine Leuchtkraft angenommen, die Perrot Jeff gegenüber einmal als die Farbe der Erkenntnis bezeichnete hatte und die nun scheinbar selbst den farblosen Aperitif blau zu verfärben begann. Perrot setzte sein Glas an die Lippen. Zurück ließ er nur die drei grünen Oliven.
„Ah, je comprends. Wegen der kulinarischen Köstlichkeiten. Nun, Mademoiselle dann muss ich wohl oder übel davon ausgehen, dass mir meine Ohren einen kleinen Streich spielten. Es sei denn …“
Perrot wandte den Kopf und reckte die Nase in die Höhe. Auf einem feinen Luftzug, der durch das Öffnen einer Tür entstanden war, strömten vielverheißende Gerüche herbei. Gleich darauf wurde ein Servierwagen hereingeschoben. Karl eilte jedoch erneut so emsig hinaus, dass Perrot vermutete, dass dem ersten noch ein weiterer Wagen folgen würde, und wandte sich erneut an Pouline.
„ … es sei denn, unser kleiner Austausch ist einem gleichermaßen sonderbaren wie auch ganz natürlichen Phänomen unterlegen, denn manchmal, Mademoiselle funken Menschen in ein und demselben Moment auf unterschiedlichen Frequenzen.“
Perrot betrachtete mit Hingabe die Oliven in seinem Glas. Mit einem feinen Lächeln stellte er es auf den Tisch zurück. Es war unübersehbar, dass es keine weitere Erklärung von ihm geben würde.
Jeff beugte sich zu Pouline hinüber, die ihr flaschengrünes Schultertuch neu drapierte. „Welches Phänomen es auch immer war und auf welcher Frequenz auch immer Sie gefunkt haben, Pouline … Monsieur Perrot wird Sie auf jeden Fall jetzt zum Buffet entführen. Davon beißt die Maus keinen Faden ab.“
„In der Tat, lieber Freund.“ Perrot erhob sich. Mit einer galanten Verbeugung bot er der jungen Frau seinen Arm an. „David wird mir sicher verzeihen, dass ich Sie nun unwiderruflich und bar jeglicher Phänomene, mögen sie nun sonderbaren oder natürlichen Ursprungs sein, zum Buffet geleite, um einen sehr realen, bodenständigen Hunger zu stillen.“
Pouline lächelte. Doch ihr Arm, den sie über den von Perrot legte, zitterte. David versuchte, sein Einverständnis mit einer nonchalanten Verbeugung zum Ausdruck zu bringen. Nach einem Blick hin zu Pouline, die sich erfolglos mühte, ihre Nervosität unter Kontrolle zu bringen, wollte ihm jedoch mehr als ein förmliches Nicken nicht gelingen.
MITTELS EINER SERVIETTE und mit der gebotenen Gründlichkeit betupfte Perrot seinen Schnurrbart. Sein Gaumen träumte dem köstlichen Aroma eines Lachsröllchens nach. Garniert mit einem Myrtenzweiglein und gefüllt mit einer zartschmelzenden Avocadocreme, wie sie feuriger zubereitet nicht hätte sein können. Perrots graue Zellen spürten der Frage nach, warum Madame Elsa bis jetzt weder ihre Gäste willkommen geheißen hatte, noch sonst nennenswert in Erscheinung getreten war.
Perrot verschob seinen Standort am Buffet um wenige Zentimeter, um einen genaueren Blick auf Pastor Brödermann und Apotheker Holtheyde werfen zu können, dessen kühle Begrüßung ihn gedanklich noch immer beschäftigte. Die beiden grauhaarigen Herren hatten ihre Sessel so nah vor die Feuerstelle des Kamins gerückt, dass Perrot überzeugt war, es werde sich in Kürze ein kleines Drama ereignen. Offenes Kaminfeuer und Funkenflug waren nun einmal untrennbar mit einander verbunden. Fast meinte er, bereits den Geruch von versengtem Tuch wahrzunehmen. Und tatsächlich erhob sich Apotheker Holtheyde sprunghaft und griff mit einem erschreckten Ausruf an den Ärmel seiner Smokingjacke. Perrot mutmaßte, dass das gute Stück einen irreparablen Schaden in Form eines kleinen Brandloches erlitten hatte, und wedelte mit einer gewissen Erleichterung von dem Ärmel seiner Jacke lediglich einen winzigen Brotkrümel fort, den er dort zu erkennen glaubte.
Er wandte seinen Blick von dem tragischen Geschehen am Kamin ab und nahm auf der Suche nach Erbaulicherem in der Fensternische links von sich eine Federzeichnung ins Visier. Sie hing in Augenhöhe, nicht sehr vorteilhaft von einer antiken Wandleuchte mit Löwenantlitz beschienen, und wirkte angesichts der übrigen, teils großrahmigen Gemälde, deren Platz mit Sorgfalt und Kunstverstand ausgewählt worden war, deplatziert aufgehängt.
Es war eine kleine Zeichnung in einem schmalen, schmucklosen Rahmen. Nur unwesentlich größer als eine Ansichtskarte, und sie zeigte neben einem Gebäude im historischen Gutshausstil, umgeben von prächtigen Buchen, einen verwunschen wirkenden Weiher, auf dem ein Schwanenpaar graziös seine Hälse bog.
Perrot trat näher und zog aus der Innentasche seines Smokings eine zierliche, zusammenklappbare Brille. Beinahe andächtig entfaltete er sie. Fast zeitgleich erhielt er einen soliden Schlag auf seine Schulter. Perrot griff mit der freien Hand an die Rückenlehne eines Sessels. Auf das Höchste von dieser plumpen Vertraulichkeit betroffen, drehte er sich um.
„Mein lieber Perrot, Sie werden nicht mit vorgerecktem Hals und auch nicht mit Hilfe dieser altertümlichen Sehhilfe ein Monogramm oder eine Signatur auf dieser stockfleckigen Zeichnung erkennen, weil es keine gibt.“ Major Groot hielt Perrot seine Hand zur Begrüßung hin, die dieser ein wenig ungehalten erfasste.
„Major, diese altertümliche Sehhilfe, mit der Sie dieses Erbstück aus dem Nachlass meines Großvaters titulieren, leistet mir vorzügliche Dienste, wenn es etwas zu ergründen gilt, das sich nicht so ohne Weiteres dem forschenden Blick zu erkennen gibt.“
Perrot klappte das Lorgnon vollends auseinander und schaute aufmerksamen Auges hindurch. Selbstvergessenen, mit leicht gebeugtem Rücken erkundete er die Zeichnung in akribischer Weise. Nach einer Weile richtete er sich auf und stieß einen kleinen Laut aus, der durch nichts zu erklären war. Außer vielleicht dadurch, dass er mit der Inaugenscheinnahme zufrieden war.
Perrot klappte das Lorgnon behutsam zusammen. „Hinzu kommt, mein lieber Major, dass sich diese Sehhilfe problemlos in der Innentasche eines Smokings verstauen lässt, was bei herkömmlichen Brillen nicht der Fall ist. Und um Sie in dieser Hinsicht auch noch ins Bild zu setzen. Ich war nicht auf der Suche nach einem Monogramm. Ich wollte erkunden, ob es sich bei dieser wirklich exquisiten Zeichnung, die in ihrer Art eindeutig in der Tradition einer Exlibris-Signatur steht, vielleicht um ein Vexierbild handelt. Sie kennen doch sicher die traditionsreiche Gepflogenheit der Exlibris-Signaturen, die mittels kleiner Zeichnungen Bücher auf unverwechselbare Art als Eigentum einer bestimmten Person kennzeichnen. Aus heutiger Sicht ein wunderbar nostalgischer Brauch. Diese kleinen, kunstvollen Zeichnungen, aus denen bei näherer Betrachtung ein ums andere Mal Augen herausschauen oder Fabelwesen mit aufgerissenen Mündern den Betrachter zu verschlingen suchen. Wo doch bei oberflächlicher Erforschung nur seltene Blüten, Wolken oder ineinander verschlungene Ornamente zu erkennen sind.“