Mogelpackung Work-Life-Blending - Christian Scholz - E-Book

Mogelpackung Work-Life-Blending E-Book

Christian Scholz

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Beschreibung

Hochflexibel, agil, frei und mobil - für viele Unternehmen und Experten sieht so das Arbeitsmodell der Zukunft aus. Nach Work-Life-Balance, bei dem die beiden Pole Arbeit und Freizeit möglichst ausgeglichen werden sollen, sollen die Übergänge zwischen beiden nun fließend sein, wenn nicht gar verschmelzen - Work-Life-Blending heißt die neue Zauberformel. Doch dieses vermeintliche Ideal kann sich schnell zum Alptraum entwickeln. Gerade wenn man sich die aktuellen Entwicklungen in Richtung auf Arbeitswelt 4.0 beziehungsweise Industrie 4.0 anschaut, wird sehr schnell klar: Die Megatrends Digitalisierung, Flexibilisierung und Virtualisierung werden einseitig zulasten der Menschen umgesetzt. "Work-Life-Blending ist eine Mogelpackung", sagt Christian Scholz, "weil der Job metastasenartig das ganze Leben vereinnahmt". Die angebliche Freiheit führt zur Selbstausbeutung. Work-Life-Blending ist nicht mehr als permanenter Bereitschaftsdienst. Und das kann kein Arbeitnehmer wollen. Aus diesem Grund verfolgt Scholz in seinem neuen Buch zwei Ziele: Zum einen wird das Schlüsselkonzept "Work-Life-Blending" hinterfragt, zum anderen gezeigt, dass es mit der Arbeitswelt 4.Z tatsächlich einen zeitgemäßen guten Gegenentwurf gibt.

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1. Auflage 2018

Alle Bücher von Wiley‐VCH werden sorgfältig erarbeitet. Dennoch übernehmen Autoren, Herausgeber und Verlag in keinem Fall, einschließlich des vorliegenden Werkes, für die Richtigkeit von Angaben, Hinweisen und Ratschlägen sowie für eventuelle Druckfehler irgendeine Haftung.

© 2018 Wiley‐VCH Verlag & Co. KGaA,

Boschstr. 12, 69469 Weinheim, Germany

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen oder sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige gesetzlich geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche markiert sind.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d‐nb.de> abrufbar.

Cover: bauer‐design, Mannheim

Coverfoto: Westend61 – fotolia; guukaa – fotolia.com

Print ISBN: 978‐3‐527‐50928‐7

ePub ISBN: 978‐3‐527‐81503‐6

mobi ISBN: 978‐3‐527‐81504‐3

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelseite

Impressum

A. Schöner Traum: Privatleben, Beruf und Kaktus lebenswert verbinden

B. Bittere Realität: Woraus Work‐Life‐Blending wirklich besteht

1. Die zentralen Aktivitäten: Eine Wundertüte mit letztlich ungenießbaren Inhalten

2. Das fast geheime Positionspapier: Was uns Personalvorstände (nicht) offenlegen

3. Die schöne Technologie: Was alles erstaunlich viel mit Work‐Life‐Blending zu tun hat

C. Aufschlussreiche Beispiele: Wo Work‐Life‐Blending schon bedrohlich wuchert

1. Deutsche Telekom: Wie ein Unternehmen die Arbeitswelt formen will

2. Daimler: Wie ein Unternehmen seine Mitarbeiter instrumentalisiert

3. Microsoft: Wie ein Unternehmen in neue Welten aufbricht

D. Handlungsleitende Akteure: Wer die Deutungshoheit für Work‐Life‐Blending hat

1. Ministerien: Geld und Gesetze für einen vermeintlichen Wachstumsmotor

2. Propheten: Wo uns »Experten« alles hinführen

3. Medien und andere Multiplikatoren: Konstruierte Alternativlosigkeit

E. Die Alternativen: Wo uns genaues Hinschauen schlau macht

1. Suchen mit System: Einige grundlegende Überlegungen

2. Suchen im Silicon Valley: Erstens ist es anders und zweitens als man denkt

3. Suchen bei der Generation Z: Pippi Langstrumpf mit Smartphone

F. Die Zukunft: Arbeitswelt 4.Z als lebenswerter Gestaltungsentwurf

1. Bitte Umdenken: Räume und Träume

2. Bitte Neudenken: Zeit und Zukunft

3. Bitte Vorwärtsdenken: Mehr ist besser

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Guide

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A.Schöner Traum: Privatleben, Beruf und Kaktus lebenswert verbinden

»Die Kombination aus mobiler Informationstechnologie und Wissensarbeit führt zu dem, was wir ›Work‐Life‐Blending‹ (Illingworth, 2004) nennen, wo Mitarbeiter permanent zwischen beruflichen und privaten Aktivitäten wechseln, und zwar tagsüber, in der Nacht sowie am Wochenende.«

Charles Thompson und Jane Gregory, Psychologen1

Wir fühlen uns gut: Arbeitnehmer sind zufrieden. Der Geschäftsklima‐Index strahlt. Kaufkraft ist vorhanden, wird ausgeübt und führt zu weiterem Wachstum. Wir sind Weltmeister und Europameister. Und irgendwie bekommen wir auch die Arbeitswelt in den Griff – mit allen ihren großen und kleinen Innovationen. Es geht uns gut.

Wir leben in einer faszinierenden Welt: Geht man durch die Internationale Funkausstellung in Berlin oder schaut sich im Internet die Consumer Electronics in Las Vegas an, so sieht man überall Technik, die das Leben erleichtert, aufregend und lebenswert macht und vor allem alles grundlegend verändern wird. Man sieht Roboter, die Kaffee servieren, die älteren Menschen die Tageszeitung umblättern und sogar noch beibringen, Tageszeitung plus Roboter durch einen Tablet‐PC zu ersetzen.

Smarte Produkte verbinden sich in smarten Fabriken zu smarten Geschäftsmodellen2. Dass wir dann auch noch Smart Cities mit völlig vernetzten Menschen bekommen, ist genauso folgerichtig wie die smarte Personalarbeit, die uns optimal in der Arbeitswelt platziert. Und am Ende jubeln die Medien und erklären uns, »wie die Roboter unsere Rente sichern«3.

Das Zauberwort lautet Digitalisierung.4 Dahinter steht die informationstechnische Vernetzung der gesamten Lebenswelt, also der beruflichen Sphäre ebenso wie der privaten, einschließlich der Verknüpfung zwischen beliebigen Objekten. Alles wird digital und wir bekommen das »Internet of Things«.

Die Kaffeemaschine, die sich jeden Morgen zeitgleich mit dem Wecker einschaltet und mich mit angenehmem Kaffeegeruch weckt, weiß, wann nicht mehr genug Kaffee vorhanden ist, und bestellt ihn automatisch bei der gerade angesagtesten Rösterei nach, von wo aus er sofort mit der Paketservice‐Drohne zu mir geschickt wird. Die Kaffeemaschine weiß aber auch, dass ich heute eine wichtige Besprechung habe, zu der ich voll wach sein muss. Also bekomme ich einen stärkeren Kaffee als sonst. Gleichzeitig meldet die Kaffeemaschine brav an die Kaffeemaschine in meinem Büro, dass ich offenbar die ganze Nacht durchgearbeitet habe, weil ich mir pro Stunde einen Kaffee produzieren ließ. Mit etwas Glück bekomme ich jetzt auch gleich ein Lob von meinem Chef, da auch er weiß, wie fleißig ich gewesen bin – denn natürlich haben sowohl meine Kaffeemaschine als auch mein MacBook meinen Chef informiert, dass ich noch immer an der zeitkritischen Vergleichsstudie sitze. Mit etwas Pech bin ich aber irgendwann einmal im Betrieb wegen meiner Gesundheit ein Risikofaktor, wobei in mehrfacher Hinsicht auch hier die Kaffeemaschine eine wichtige Rolle spielen wird, wenn sie detaillierte Daten zu meinem viel zu hohen Kaffeekonsum sammelt und weiterleitet. Zudem liefert die zeitliche Positionierung meiner Kaffeeanforderung Informationen zu meinem Verhalten über den Tag. Wie geht die Geschichte weiter? Vielleicht werde ich beim nächsten Projekt nicht mehr eingesetzt oder sogar gleich sozialverträglich freigesetzt? Und was passiert mit meiner Kranken‐ und Lebensversicherung?

Jetzt kann man natürlich sagen, dies sei weit hergeholt. Was wir nicht vergessen dürfen: Schon vor Jahren sollen HP‐Drucker die gedruckten Bilder an HP weitergeleitet haben, um Druckfunktionen zu optimieren. Und auch heute spricht die Datenschutzerklärung von HP Klartext: »Die von diesen öffentlichen oder kommerziellen Quellen erhaltenen Informationen werden möglicherweise zusammen mit den von HP bei Ihren Besuchen von HP‐Websites erfassten Informationen verwendet.«5

Durch Digitalisierung wird alles leichter, durch Digitalisierung wird alles vernetzter, durch Digitalisierung kann jeder mit jedem kommunizieren und durch Digitalisierung kann sich jedes Gerät mit jedem anderen Gerät verständigen. Autos fahren autonom und suchen sich selbstständig Parkplätze, Gesichtserkennungen ermöglichen Zugangskontrollen und Bewegungsprofile, Küchen kochen fast automatisch.

Durch Digitalisierung entsteht eine vernetzte Intelligenz, die uns das Gefühl vermittelt, wir wären die kleine Alice im großen Wunderland.

Digitalisierung hat nicht nur etwas mit Technik zu tun. Sie ergreift die gesamte Arbeitswelt und bringt sie auf ein anderes Niveau. Das führt uns zu einem anderen Zauberwort, nämlich New Work: Ursprünglich auf Fritjof Bergmann6 und sein Buch zur »Neuen Arbeit« zurückgehend, wird es aktuell vor allem von Unternehmensberatern neu entdeckt7.

New Work, das sind hochdynamische, moderne, angenehme und produktive Organisationsformen, die alles, was auch nur irgendwie als »alt« gilt, hinter sich lassen.

Im New Work wird Arbeiten so angenehm wie Frühstück am Sonntag und besticht durch lauter positive Visionen: schöne Umgebung, attraktive Jobs, gute Bezahlung und natürlich – das überrascht jetzt niemanden mehr – alles vernetzt und alles digital.

Wir ahnen es: Hier kommt der Brückenschlag zum Work‐Life‐Blending. Wir arbeiten im Kaffeehaus in Wien oder im Berliner Coffee‐Shop und trinken einen Latte Macchiato, der aus irgendwelchen Gründen in vielen Geschichten aus dieser Traumwelt immer wieder auftaucht. Nur: In der digitalen »Welt« der Informatiker ist der schwarze Kaffee am beliebtesten. Wir haben auch keinen Wecker mehr neben dem Bett: Wir stehen auf, wenn wir Lust dazu haben, und arbeiten dann auch, wann und wo und wie wir wollen. Die klare Botschaft: Noch nie haben wir uns so wohl gefühlt wie heute. Noch nie waren wir so gut informiert wie heute. Noch nie konnten wir unsere Entscheidungen basierend auf gut abgewogenen Alternativen treffen, und auch noch nie waren wir so irrelevant im Treffen dieser Entscheidungen.

Mein Smartphone informiert mich brav über die App der Deutschen Bahn wenige Minuten, bevor ich in Mannheim am Hauptbahnhof ankomme: Ich bekomme eine garantierte Fahrzeitverlängerung von mindestens 14 Minuten. Ich werde also gerade noch – auch hierzu liefert mir die Digitalisierung entsprechende Daten – meinen Zug nach Saarbrücken auf Gleis 2 wegfahren sehen. Sicher, in der alten Zeit hätte der Zugführer des einen Zuges mit dem anderen telefoniert und mir den Anschluss gesichert – ebenso wie den geschätzten 50 anderen Fahrgästen, die wie ich noch die letzte vernünftige Verbindung nach Saarbücken bekommen wollen. Dafür sehe ich aber jetzt, dank der Digitalisierung, dass der Zug von Stuttgart in Richtung Saarbrücken auch 35 Minuten Verspätung haben wird. Ich fühle mich gut informiert.

Faszination, Einfachheit, Wirtschaftlichkeit und Produktivität.

Das Recherchieren für das Buch, in dem Sie jetzt gerade lesen, besteht weiterhin aus vielen Reisen zu interessanten Menschen – wenngleich immer weniger Menschen für derartige Treffen Zeit haben und diese Treffen auch immer kürzer werden. Aber: Über virtuelle Universitätsbibliotheken habe ich Zugriff auf nahezu alle Fachartikel, die je zu meinem Thema geschrieben wurden, kann in Tageszeitungen blättern und finde wissenschaftliche Aufsätze, die vorab online zugänglich gemacht werden.

Mit dem Internet sind Analysen einfacher geworden, da Google auf fast jede Frage mit hunderttausend Einträgen antwortet. Doch in diesem Datenmüll auf verlässliche Information zu stoßen, grenzt an Unmöglichkeit und setzt analytische Fähigkeit voraus. Wenn man bedenkt, dass soziale Medien mich mit dieser Informationsflut manipulieren wollen, bin ich mir nicht so sicher, wie gut mir dieser Traum gefällt, den ich jetzt gerade träume. Selbst in der Wissenschaft gibt es inzwischen mehr Müll als intelligent Lesbares. Vor allem der wissenschaftliche Nachwuchs muss am laufenden Band Papiere wie im Film Moderne Zeiten von Charlie Chaplin produzieren, die keiner mehr liest, die aber ihre Existenzberechtigung durch Vorhandensein bekommen.

Irgendwie passt das Wort »traumhaft« nicht mehr und man erkennt das Muster: Die gleichen Technologien und Innovationen, die mir das Leben lebenswerter machen, produzieren gegenteilige Effekte in noch größerem Ausmaß. Alles nur ein Märchen? Eine »Mär von der Freiheit«8? Ein Betrug? Eine vorsätzliche Täuschung?

Berufsleben und Privatleben verschmelzen.

Ich sitze bei einer perfekten Pizza Prosciutto in einem romantischen Lokal und trinke mein Weißbier, da vibriert das Handy: Die quengelige Anfrage eines quengeligen Kunden kommt automatisch bei mir an und führt im Extremfall zu einer quengeligen Antwort. Oder aber mein Chef – der vielleicht zu Hause in seinem Garten unter seinem Kirschbaum sitzt – hat wieder eine seiner unzähligen genialen Ideen, für die er sofort meinen Input braucht.

Ist das schon die viel zitierte Disruption, die Störung, die Zerstörung, wo eine Idee die vorherige ablöst, wo Andersartigkeit die Andersartigkeit auslöscht und wo Unternehmen wie Google sich selbst permanent neu erfinden? Und wo das Wort Disruption auch als Ausdruck für abrupte Veränderungen der Arbeitswelt auftaucht. Das mag vielleicht für einige gut klingen. Allgemein gesprochen ist die Disruption positiv konnotiert. Es klingt aber bereits weniger gut, wenn es mich persönlich betrifft.

Was geht in mir vor? Irgendwie kommt bei dieser verordnet unausweichlichen Zwangsbeglückung nur begrenzt Freude auf. Auch wenn ich persönlich von Technologie begeistert bin und kaum ein elektronisches Spielzeug auslasse (also selbst den BB‐8 Roboter aus dem Film Star Wars auf meinem Schreibtisch stehen habe, der auf mein iPhone reagiert), schwingt bei mir ein dumpfer Unterton mit. Das Ganze wirkt wie ein Film, in dem wir eine schöne Landschaft sehen, blauen Himmel, glückliche Menschen, einen Picknickkorb und eine Wiese, in der zwei oder drei gepunktete Marienkäfer ihr zufriedenes Dasein genießen. Aber dann – und ohne, dass man es am Anfang bemerkt – ändert sich ganz leicht die Filmmusik. Die hohen Töne werden etwas weniger, dafür kommen ganz langsam Bässe und eine Verlangsamung des Handlungsablaufes. Spätestens jetzt weiß der geübte Kinogänger, dass gleich irgendetwas passieren wird.

Es gibt einen Grundton: bedrohlich, bedrückend und beängstigend.

Es gibt Technologien, bei denen ich noch nicht mitspiele: So ist mein Kühlschrank nicht mit dem Bestellservice von Amazon gekoppelt und füllt sich nicht automatisch zum maximalen Befüllungspunkt auf. Man muss sich nur die technik‐affinen Nerds anschauen, die oft diese Technologie kategorisch ablehnen. Sie weigern sich, WhatsApp zu nutzen, und hatten immerhin die Idee, die Piratenpartei zum Thema Digitalisierung zu gründen. Warum sieht nach Elon Musk und Stephan Hawking jetzt auch Bill Gates9 in künstlicher Intelligenz eine Gefahr? Es sind die Vorahnungen, dass wir die soziotechnologische Balance verloren haben könnten.

Trotzdem, irgendwie ist unsere Welt faszinierend, aber ist sie besser geworden? Vielleicht nicht – aber sicherlich auch nicht wesentlich schlechter. Aber sie ist anders geworden, und zwar vollkommen anders. Wenn ich daran denke, wie ich vor 40 Jahren die USA umrundet habe, mit Gitarre statt iPod, Busticket und Hotels ohne Internet und analoger Landkarte statt Google Maps. Klingt nach Nostalgie und ist es auch. Die Briefe meiner Freundin kamen damals postlagernd an Orten an, wo ich möglicherweise einmal vorbeikommen könnte. Jetzt verlaufen derartige Reisen etwas anders, aber genauso schön und interessant.

Mit diesem Buch begebe ich mich auf eine ganz andere Reise und will herausfinden, was wirklich hinter diesen Disruptionen und Verschmelzungen steckt, ob mich die Digitalisierung nervös machen oder glücklich stimmen soll und überhaupt: Wie passt das Ganze zusammen?

Dabei allerdings hilft die Digitalisierung mit Fakten, Beispielen, Protagonisten und vielem anderen, was man bereits im Internet recherchieren kann. Dazu kommen alle die Menschen, mit denen man in den persönlichen Dialog treten und diskutieren kann. Natürlich muss man nicht alles glauben, was man liest und hört. »Alternative Fakten« oder »postfaktische Überlegungen« lauern nicht nur in der Politik, sondern auch im Umgang mit der Digitalisierung und der Arbeitswelt.

Dies gilt ganz besonders für eine Idee, die dem vorliegenden Buch den Namen gegeben hat, nämlich das »Work‐Life‐Blending«10. Wie wir sehen werden, ist gerade dieses Wort eine Schöpfung mit hochgradig manipulativer Wirkung, die es uns schwer macht, zum eigentlichen Kern vorzudringen.

Angeblich angesagt: Work‐Life‐Blending = fließender Übergang zwischen dem Beruf und dem Privatleben.

Um es ganz praktisch auszudrücken: »Zum Beispiel wird Berufliches auch nach Feierabend erledigt oder die Freizeit mit den Kollegen verbracht.«11

Warum soll ich überhaupt noch nach Hause gehen, wenn mein Arbeitsplatz mir alles bietet, was ich brauche? Obst, soziale Kontakte, Schlafkojen, Stehschreibtische, luftige Großraumlandschaften in anregenden Farben: bald (oder jetzt schon) alles gegeben. Work‐Life‐Blending animiert uns zu Daueraktivität – vielleicht nicht mehr nur im Büro, sondern auch im Zug, im Café und im Strandbad.

Auf Kongressen wird gejubelt: Die Macht des Kollektivs ist mit uns, Energie überall, wir brechen begeistert ins Ungewisse auf und ohne Führung sind wir rund um die Uhr im perfekten Work‐Life‐Blending glücklich. Progressive Animatoren in Turnschuhen verkünden uns von der Bühne das Evangelium der neuen Arbeit, die eigentlich keine Arbeit ist. Wir sehen in einem Vortrag die Traumwelten im Silicon Valley und begeben uns bei flotter Musik auf HR‐Safari nach Berlin.

Work‐Life‐Blending klingt vielleicht gut, ist es aber vielleicht gar nicht. Work‐Life‐Blending klingt klein und unschuldig, betrifft aber den Großteil unseres Lebens. Genauer gesagt: Bei acht Stunden Schlaf betrifft Work‐Life‐Blending zwei Drittel unseres Lebens zwischen Schule und Ruhestand, also 262 080 Stunden.

Was wir zurzeit über diese neue Arbeitswelt lesen, macht rund um die Uhr glücklich. Erfolgsrezepte gibt es genug. Besonders schön die Idee von Lee McAteer12: Wenn er nicht gerade seine Mitarbeiter nach Las Vegas einlädt, versteckt er am Abend 250 000 Plastikbälle im Büro und sich vor Arbeitsbeginn wie Sheldon Cooper in diesen Bällen. Ob er auch Bazinga gerufen hat?

Vorher gab es einen ganz anderen Hype, nämlich die Work‐Life‐Balance mit dem Ziel, zwei gleich wichtige Teile im Leben zu haben:

Angeblich veraltet: Work‐Life‐Balance = ausgeglichenes Verhältnis zwischen Beruf und Privatleben.

Auch wenn »Work‐Life‐Balance« wissenschaftlich solide erforscht13, in seinen verschiedenen Implikationen analysiert14und gerade für Europa durchaus typisch15 ist, wird es aktuell mit aufoktroyierter Unfreiheit gleichgesetzt16, also geächtet. Wer genau will das aber? Und warum? Und wie? Und bekommen wir wirklich, was uns versprochen wird? Oder ist es tatsächlich nichts anderes als eine ganz große Mogelpackung?

Machen wir es doch wie in CSI (Crime Scene Investigation), der CBS‐Fernsehserie17 aus den USA, die hochprofessionelle kriminaltechnische Untersuchungen zeigt, bei denen aus vielen kleinen Einzelsteinchen konsistente und die Realität abbildende Schlussfolgerungen entstehen.

Was ich wissen will: Werden wir am Ende belogen, betrogen, manipuliert? Der Verdacht drängt sich auf. Doch durch wen und warum? Kann und soll es uns beruhigen, wenn alle »relevanten« politischen Parteien sich bei unserer Arbeitswelt verblüffend einig sind und sich immer mehr wie durch geheime Koordination darauf verständigen, wie sie in einheitlicher Form uns Bürgern Zusammenhänge klarmachen? Oder laufen sie genauso blind hinter irgendetwas her? Aber warum? Und wie? Gibt es wirklich den Widerspruch zwischen Lebensqualität und Arbeit, der sich nur durch Work‐Life‐Blending auflösen lässt?

Jetzt bleibt nur noch ein Punkt und dann kann das Buch beginnen: Warum steht in der Überschrift das Wort Kaktus?

Der Kaktus ist ein Symbol für die Generation Z. Mit ihr habe ich mich in einem anderen Buch18 ausführlich beschäftigt und kann es deshalb hier kurz machen: Die Generation Z sind die Jugendlichen, die ab den 1990er Jahren geboren wurden und jetzt langsam auch ins Berufsleben vordringen. Sie unterscheidet sich in vielen Punkten von den vorangegangenen Generationen, vor allem in ihrem Realismus, ihrer Suche nach klaren Strukturen und auch darin, dass für sie Beruf und Privatleben gleich wichtig sind. Diese Generation Z möchte eine Arbeitswelt, in der sie sich wohlfühlt. Und ein Symbol für dieses Wohlfühlen ist der eigene Schreibtisch, auf dem das Bild von Freund oder Freundin steht, möglicherweise aber auch eine Pflanze, wobei sich hier der durchaus pflegeleichte Kaktus anbietet. Diese junge Generation gilt es in ihrer Andersartigkeit bei Diskussion und Konzeption unserer Arbeitswelt zu berücksichtigen – denn es wird primär irgendwann ihre Welt sein.

Aber unabhängig davon stellt sich eine weitere Frage: Selbst wenn – warum auch immer – Work‐Life‐Blending heute als hip gilt, kann es nicht sein, dass dieses Konzept vielleicht ähnlich schnell »veraltet« wie Work‐Life‐Balance? Brauchen wir nicht doch etwas mehr Nachhaltigkeit in der Arbeitswelt? Kombiniert mit menschenfreundlicher Innovation?

B.Bittere Realität: Woraus Work‐Life‐Blending wirklich besteht

»Ein Gespenst geht um in Europa – in der Ökonomie, der Politik, in der ganzen Welt, ganz besonders aber auf Wirtschaftskongressen. Sein Name: Disruption.«

Matthias Horx, Zukunftsforscher1

»Disruption« signalisiert Zerstörung und Ablösung von etablierten Geschäftsmodellen durch digitale Innovationen. Das Ganze klingt nach Revolution und eignet sich für effektheischende Vorträge. Dort kann man es sich einfach machen und »Disruption statt Evolution« rufen. Nur bringt dieser Spruch nicht viel mehr Inhalt mit sich als der laute Ruf in der Kneipe »Freibier für alle – und wer zahlt, wird sich noch herausstellen«. Trotzdem: Basis und Begründung für Work‐Life‐Blending ist eine Welt, die irgendwie ganz anders wird und in der wir dementsprechend ganz anders arbeiten müssen. Das Schöne bei »Disruption statt Evolution«: Wir müssen nicht über Vergangenheit und Gegenwart nachdenken. Wir können einfach loslegen, ohne zu denken. Und loslaufen, ohne zu wissen, wohin.

Hier unterscheidet sich das Zitat am Anfang des Kapitels vom ursprünglichen Zitat zum kommunistischen Gespenst von Marx und Engels: Der Kommunismus wurde gejagt, die Disruption wird bejubelt. Es scheint, als ob sich alle Mächtigen mit dem Gespenst der Disruption verbunden haben.

Damit unsere Diskussion nicht im Unverbindlichen bleibt, werde ich mich dem Thema aus drei Richtungen nähern: zunächst über permanent präsente Aktivitäten, dann über ein ganz wichtiges Positionspapier deutscher Personalvorstände und schließlich über einen Blick auf die erstaunlichen Technologien. Alles das ist gleichzeitig Disruption. Alles fängt doch ganz harmlos an. Am Ende aber fügt sich alles unweigerlich zu einer kulinarischen Komposition zusammen, die ziemlich bitter schmeckt.

1. Die zentralen Aktivitäten: Eine Wundertüte mit letztlich ungenießbaren Inhalten

»Für die anderen ist Work‐Life‐Blending nur ein anderer Ausdruck für Selbstausbeutung: Feierabend adé! Jetzt ruft der Chef auch noch im Urlaub an. Ist Entspannung ohnehin schwierig geworden, so wird sie mit einer Vermischung von Beruf und Privatem für viele völlig unmöglich gemacht.«2

Stefanie Demann, Autorin

Das erste Kapitel in diesem Teil B dreht sich um die tragenden Säulen unserer zukünftigen Arbeitswelt: Digitalisierung, Flexibilisierung und Mobilität. Sie alle münden in Work‐Life‐Blending und zwar quer durch vier scheinbar ganz verschiedene Spielfelder. Diese werden in den folgenden vier Abschnitten beschrieben, haben aber eines gemeinsam: Sie warnen uns vor dem, was unter dem schön klingenden Deckmantel »Digitalisierung, Flexibilisierung und Mobilität« auf uns zukommt. Dabei geht es ganz sicher nicht um irgendeine Digitalphobie: Alles das gibt uns vielmehr – und genau das ist wichtig – einen ersten Vorgeschmack auf die Erkenntnis, dass es sich hier um eine so richtig perfide Mogelpackung handelt.

Wir besteigen den Digitalisierungsgipfel: Wo automatischer Fortschritt zu grandiosem Work‐Life‐Blending führt

»Technologisch haben wir einiges zu bieten und entsprechend hoch ist das Schadenspotential.« Gerhard Schindler, ehemaliger BND‐Präsident3

Bereits das Wort Gipfel hat eine hochmanipulative Bedeutung: »Gipfel« kann man überhaupt nicht negativ belegen. Weltwirtschaftsgipfel, Klimagipfel, Politikergipfel, Forschungsgipfel oder Friedensgipfel signalisieren immer das Zusammentreffen von wichtigen Leuten, die über ein wichtiges Thema reden und wichtige Entscheidungen treffen. Da erklärt uns Angela Merkel »Digitalisierung schafft ziemlich gnadenlose Transparenz« und Sigmar Gabriel fügt hinzu: »Wir müssen uns endgültig verabschieden vom klassischen Begriff des Datenschutzes.«4

Noch besser als Gipfel wäre das Bild vom Eisberg: oben eine relativ kleine Spitze, darunter ganz viel Verborgenes.

Genau das Gleiche gilt für den IT‐Gipfel, der in Deutschland seit 2006 einmal pro Jahr abgehalten wird. In den von professionellen Kommunikationsagenturen optimierten Texten zeigt sich, welche schöne Metapher der Gipfel ausdrückt: Ein Gipfel signalisiert Aufstieg. Es geht immer nach oben. Ein Gipfel muss aber auch erklommen werden und erfordert eine gemeinsame Anstrengung, die es wert ist, dass man sie auf sich nimmt: Denn oben angekommen, hat man es geschafft. Man hat etwas vollbracht. Das Ziel zu erreichen, war die Anstrengung wert. Was oft unausgesprochen bleibt: das Risiko beim Aufstieg und beim Abstieg. Oben ist alles gut, oben ist alles besser. Wir sollen alle nach oben, auch wenn es vielen schwerfällt. Deshalb gibt es glücklicherweise die Elite als Bergführer: Sie geht laut singend voran und nimmt uns weniger fitte Personen mit.

Wer sind bei uns diese Gipfelstürmer? Ein Blick ins Programmheft des deutschen IT‐Gipfels macht schnell klar, woraus die Seilschaft besteht: Es sind Vertreter der Industrie (die gute Geschäfte wittern), es sind ausgewählte Politiker (die Themen für ihre Wiederwahl suchen und finden) und es sind Einzelpersonen, die als Ego‐Lobbyisten5 sich selbst in den Vordergrund spielen. Was auffällt: Alles, worüber man diskutiert, ist klar, glatt und unantastbar. Kein Hauch des Zweifels bei dem, was uns hier als unvermeidliche Zukunft angekündigt wird. Was aber auch auffällt, niemand vom Chaos Computer Club (CCC), den eigentlichen Experten in der IT, ist anwesend.

Worauf vieles hinausläuft: Flexibilisierung. Ohne Wenn und Aber?

Beim Wort Flexibilisierung sieht man bei genauerem Hinschauen überdeutlich die kommunikativ gefährliche Strategie, die uns beim Verstehen der Mogelpackung Work‐Life‐Blending immer wieder begegnet: Es geht immer wieder um das bewusste Setzen von Worten und darum, Begriffsinhalte und dann Handlungen in eine extreme Richtung zu lenken. Es wird geschickt versüßt und auch nur vom Gipfel gesprochen, der Aufstieg verschwiegen. Dabei bleibt – wie beim Eisberg – das eigentlich Relevante, um das es wirklich geht, im Untergrund. Oben strahlt nur die wunderbare Verknüpfung von Digitalisierung und Flexibilisierung als schöne neue Welt. Wer will da widersprechen?

Flexibilisierung ist doch etwas Gutes. Wie kann man sich gegen Flexibilisierung aussprechen?

Jeder, der auch nur ansatzweise das Wort »Flexibilisierung« hinterfragt, kommt ganz schnell in den Verdacht, ein ewig Gestriger zu sein, der mit modernen Technologien nicht umgehen kann und der nicht bereit ist, sich auf Neues einzulassen.

Verknüpft mit der Arbeitswelt und Industrie 4.0 bedeutet Flexibilisierung: Wir können arbeiten, wann immer wir wollen, wo immer wir wollen und wie immer wir wollen. Bei schönem Wetter sitzen wir im Garten oder im Straßencafé. Oder nach einer Superbowl‐Party, die bis um 5 Uhr am Montagmorgen dauert, schlafen wir lange aus und rufen allenfalls am Nachmittag kurz im Büro an, um mitzuteilen, dass wir auch am Dienstag ausschlafen werden. Endlich können wir alles perfekt unter einen Hut bringen: Handwerkertermine oder die berechtigten Ansprüche von Kindern, von Partnern oder von unseren Freunden.

Doch wer diese an Wünsch Dir was erinnernde Charakterisierung für bare Münze nimmt, der ist bereits in der Propaganda gefangen und auf die Mogelpackung hereingefallen. Denn es ist ein gravierender Unterschied, ob wir von einer arbeitnehmerseitigen Flexibilisierungsmöglichkeit oder von einer arbeitgeberseitigen Flexibilisierungsforderung sprechen: Im ersten Fall habe ich die Chance zur Flexibilisierung und kann mir überlegen, wann, wo und wie ich arbeite. Im zweiten Fall verlangt der Arbeitgeber, dass ich mich flexibel verhalte, also alle seine Forderungen bezüglich wann, wo und wie erfülle.

Plötzlich bekommt die »Reform von Arbeitszeitgesetzen« als politischer Dauerbrenner eine fatal‐andere Bedeutung. Denn worum geht es? Geht es darum, dass Mitarbeiter Wahlfreiheit haben? Oder dass das Unternehmen auch kurzfristige, aber trotzdem bindende Festlegungen treffen darf, denen dann schon mal der Abend oder das Wochenende zum Opfer fällt? Dies sind vollkommen unterschiedliche Formen der Flexibilisierung, wobei die eine eher in der Propaganda, die andere eher in der Realität vorkommt.

Ein kurzer theoretischer Einschub: Eines meiner absoluten Lieblingsbücher ist Politisches Framing von Elisabeth Wehling6. Sie beschreibt die hinterhältige Logik aus der Kognitionsforschung, wonach durch die Verwendung von Sprachmustern ein Deutungsrahmen entsteht. Einige Beispiele: »Steuerlast«, »Leistungsträger […] müssen entlastet werden« und »Euro‐Rettungsschirm«. Diese Wörter signalisieren automatisch, ob etwas gut oder schlecht ist. Und man erfährt auch, wohin die Bewegung gehen muss. Wie Elisabeth Wehling wunderbar zeigt, verläuft Framing auf der einen Seite beim Empfänger fatal‐unbewusst. Auf der anderen Seite stehen die Sender, die teilweise ganz bewusst und perfide alle Tricks anwenden.

Die ganze Debatte um Digitalisierung, Flexibilität und vor allem Work‐Life‐Blending ist raffiniertes Framing.

Zurück zur Arbeitszeit als Teil vom Work‐Life‐Blending. Allein schon der Ausdruck »Reform der Arbeitszeitgesetze« ist politisches »Framing«: der Einsatz von Worten, die automatisch eine gewisse Bedeutung mit sich bringen und die manipulativ in eine bestimmte Richtung deuten. Denn wer will schon gegen eine Reform sein?

Erinnern wir uns an die »Bologna‐Reform«. Trotz klarer Warnungen7 wurde sie durchgezogen – mit fatalen Konsequenzen: Rund ein Drittel der Studierenden bricht den Bachelor ab8, von der großspurig angekündigten »Bachelor Welcome«‐Initiative9 ist schon seit Langem10 nichts mehr zu sehen und diejenigen, die tatsächlich den Bachelor‐Abschluss schaffen, wollen überwiegend sofort weiter studieren – was aber nicht im Sinne der Erfinder war und deshalb reglementiert wird11. Der Präsident der Universität Hamburg, Dieter Lenzen, bringt es auf den Punkt: »Bologna ist ein Unfall mit Fahrerflucht«12 – wobei »Unfall« eigentlich das falsche Wort ist. Richtiger wäre »vorsätzliche Körperverletzung« am deutschen Bildungssystem. Und auf jeden Fall stimmt das Wort »Fahrerflucht«: Die lautstark‐populistischen Protagonisten der Bologna‐Reform haben sich klammheimlich von diesem Spielfeld verabschiedet und anderen Feldern zugewandt, wo sie uns mit ähnlich grotesken »Reformen« beglücken – und wir lassen es erneut mit uns machen.

Warnung: Hinter dem Wort »Reform« steckt oft eine Mogelpackung.

Wie wir noch sehen werden: Es geht bei der »Flexibilisierung« überhaupt nicht darum, arbeitnehmerseitige Flexibilisierungswünsche zu erfüllen. Nicht dass sie ausgeschlossen werden, aber im Zweifelsfall stehen sie nicht im Mittelpunkt.

Was die Digitalisierung fordert, müssen wir Menschen erfüllen. Bereits dieser Satz, der im Kern des IT‐Gipfels steckt, ist ein Beispiel für ein perfektes Framing: die Digitalisierung als Akteur, wir als Hinterherläufer. Immer schneller kommen immer komplexere Kundenwünsche und müssen immer schneller befriedigt werden. Die ganze Diskussion um »Flexibilisierung« dreht sich überhaupt nicht um Mitarbeiterinteressen, sondern ausschließlich um die Erfüllung von scheinbaren Unternehmensnotwendigkeiten. Und genau das signalisieren bei näherem Hinschauen die Themen des IT‐Gipfels: Die Mitarbeiter sollen – jenseits der trügerisch ansprechenden Mogelpackung – immer mehr zu tayloristischen Objekten gemacht werden, die sich der Notwendigkeit der Digitalisierung unterordnen müssen.

Wir haben den mechanischen Taylorismus abgeschafft, um ihn durch den digitalen Taylorismus zu ersetzen.

Der König ist tot, es lebe der König.

Wir entwerfen neue und billigere Büros: Open Office und Desksharing

»Die Wünsche an den Arbeitsplatz sind so unterschiedlich wie die Lebensläufe.« Margret Suckale, ehem. Personalvorstand13

Work‐Life‐Blending durchzieht die Arbeitswelt wie eine hohe und kaum hörbare Frequenz. Sie ist immer da, auch wenn wir nicht von und nicht über sie sprechen. Plötzlich schwimmt der eigene Schreibtisch weg und ich stehe Schlange vor einer der kleinen Werkbänke für Wissensarbeiter (»Benchies«).

Work‐Life‐Blending läuft als ultimative Universallogik der Digitalisierung auf völlige Abschaffung aller Grenzen hinaus.

An dieser Stelle stoßen wir bei unserer Spurensuche auf Bilder, die auf den ersten Blick wenig mit Work‐Life‐Blending zu tun haben. Eines davon ist Open Office als moderner Ausdruck für ein Großraumbüro, ein anderes Desksharing als modernem Symbol der persönlichen Eignung. Beraterfirmen und auf Effizienz getrimmte Großunternehmen überbieten sich mit Ankündigungen wie »Lufthansa‐Mitarbeiter verlieren ihre festen Schreibtische«14. Das Versprechen: Arbeiten wird mehr Spaß machen, weniger Stress produzieren, nicht mehr krank machen und insgesamt viel proaktiver, letztlich also wertschöpfender.

Zur Illustration eines der schillerndsten Beispiele für die neue Hightech‐Büroidee, nämlich »The Edge« in Amsterdam: »Schon beim Aufstehen morgens – im eigenen Heim – wird die App wach, schaut, welche Meetings und Termine am Tag anstehen, öffnet später an der Tiefgarage das Tor und findet den nächsten freien Parkplatz. Für die Suche nach einem Arbeitsplatz ist ebenfalls die App zuständig, denn fest zugeteilte Schreibtische hat im The Edge niemand mehr. […] Die App registriert jeden Toilettenbesuch und der Handtuchhalter ist mit dem Internet verbunden, so dass die Reinigungskräfte nur dort ausrücken müssen, wo sie gebraucht werden. Das gilt generell für alle Büros.«15

Fangen wir als investigative Arbeitsweltforscher zunächst mit dem an, was uns die schöne neue Arbeitswelt verspricht, also mit der schönen Hülle, bei der sich sehr bald der wahre Kern zeigen wird. Was wir zunächst sehen, ist einfach nur schön: elegante und ergonomisch optimierte Büromöbel, farblich alles aufeinander abgestimmt, kuschelige Kreativzonen, in denen man entspannen und auf disruptiv‐innovative Ideen warten kann, Kaffeemaschinen und kleine Schlafkojen, in die man sich zurückziehen und den Vorhang hinter sich zumachen kann. Nicht zu vergessen die Kickertische und Spielekonsolen. Es klingt wie der Himmel auf Erden. Wer kann hier schon dagegen sein? Wir sind produktiv in unserer ergonomisch optimierten Kreativzone, treffen uns in der Kommunikationszone, schreiben kurz einen Text im Cubicle und ziehen den Vorhang vor unserer Schlafkoje zu, wo wir unseren Powernap genießen. Oder wir sitzen entspannt auf der Fensterbank und schauen verträumt nach draußen in die Natur – immer auf der Suche nach der wirklich neuen Idee, die uns und unser Unternehmen weiterbringt. Natürlich gibt es auch eine Küche, einen Fitnessbereich und manchmal, aber ist eigentlich schon anachronistisch, sogar eine Bibliothek mit richtigen analogen Büchern, in denen man blättern könnte.

So weit, so schön. Nur jetzt kommt der verblüffende Sprung, der uns zumindest in Deutschland, Österreich und in der Schweiz als zwingend vorgegaukelt wird: Open Office wird in der aktuellen Rhetorik verbunden mit Desksharing und Clean Desk Policy. Beides befreit uns angeblich von »unnötigem Ballast«, wobei »Ballast« bereits als Wort belastend und die Befreiung zwingend entlastend ist.

Wir brauchen unsere Schreibtische nicht aufzuräumen, weil wir die Belastung des eigenen Schreibtisches los sind. Bei uns gibt es konsequentes Desksharing: Je nachdem, wo ich die nächste Stunde verbringen möchte oder verbringen soll, bekomme ich entweder einen kleinen DIN A2‐Arbeitsplatz oder eine etwas größere Arbeitszone zugewiesen. Was auch schön ist: Das Nachdenken, wie ich meine Arbeitsutensilien beim Verlassen des Schreibtisches hinterlasse, fällt weg. Wir haben die Clean‐Desk‐Policy, also der Schreibtisch muss ganz leer sein. Es lebe das Schließfach, es lebe der Rucksack.

Im Lebensmitteleinzelhandel gibt es Planungsmodelle, die darauf abzielen, über den Tag möglichst viele Kunden mit möglichst wenig Quadratmetern zu bedienen. Genau das Gleiche machen Unternehmen, die mit Desksharing und mit Clean‐Desk‐Policy arbeiten: Sie versuchen, die durchschnittliche Zahl von Quadratmetern pro Mitarbeiter permanent zu reduzieren. Noch billiger wird es für die modernen Nachfolger von Frederick Taylor, wenn die Mitarbeiter nur dort arbeiten würden, wo der Arbeitsplatz das Unternehmen nichts kostet: beispielsweise im Kaffeehaus. Oder noch besser: Man organisiert das Work‐Life‐Blending als räumliche Verlagerung von beruflichen Aktivitäten in den privaten Bereich. Das Unternehmen spart sich den Arbeitsplatz, wenn Mitarbeiter zu Hause arbeiten. Und wenn man dann noch das Ganze als arbeitnehmerfreundliches Entgegenkommen interpretieren kann, umso besser.