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Kennen Sie schon das Mölltaler Geschichten Festival? Ein internationaler Wettbewerb für zeitgenössische Kurzgeschichten aus Österreich, Deutschland, Italien, der Schweiz u. a. Lesungen im Mölltal im Herbst: Die besten Kurzgeschichten des Wettbewerbs werden von den Autor*innen präsentiert. Literaturpreis des Landes Kärnten für Kurzgeschichten: Prämierung durch Fachjury und Publikumsjury in verschiedenen Kategorien. Die Fachjury wird von bekannten Autor*innen geleitet. Eine Schreibwerkstatt für den Nachwuchs, um mit der Unterstützung renommierter Schreib-Expert*innen die literarischen Fähigkeiten zu verbessern. Und nicht zuletzt diese mittlerweile 9. Anthologie der besten Geschichten! - Anthologie zum Mölltaler GeschichtenFestival - Die 33 besten Geschichten zum Wettbewerbsthema "Jetzt" - Literaturpreis des Landes Kärnten für Kurzgeschichten
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Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2024 Verlag Anton Pustet
5020 Salzburg, Bergstraße 12
Sämtliche Rechte vorbehalten.
Herausgeber: ProMÖLLTAL
Lektorat: Martina Schneider, Anja Zachhuber
Grafik und Produktion: Nadine Kaschnig-Löbel
Coverillustration: Gabriele Pichler unter der Verwendung AdobeStock/Graphic Warrior
Auch als Hardcover erhältlich: ISBN 978-3-7025-1131-9
eISBN 978-3-7025-8116-9
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Kurzgeschichten
VORWORT
AUSTRIACA BRITTA MÜHLBAUER
DAS BÜCHLEIN SIEGLINDE SCHWEDE
LEBENDFALLE KINDHEIT G. M. SCHWARZ
DER FADEN DES KAIROS KARIN HOCHEGGER
DIE VERWANDLUNG ROLAND KÜNZEL
SÜSS UND BITTER GABRIELE PALM-FUNKE
SIEBEN LEBEN HAT DIE KATZE VALERIE ZICHY
MARIE, SOMMER 1942 DANIEL MYLOW
DER FALL MARIE-ADELINE CLARISSA GARCIA
MEISSENER PORZELLAN CHRISTIANE SCHÜNEMANN
DER BESTE ZEITPUNKT SUSANNE HORKY
BRANDSPUR NICOLE MAKAREWICZ
ZU FAHREN, ZU FAHREN KLAUS OEHLER
GRAUKAS TANJA BEETZ
BRÜGGEMANNS ERKENNTNIS MARIE ROSSANNE
ANNA CHRISTINE RECHL
GOTT ZUR EHR. DEM NÄCHSTEN ZUR WEHR. WOLFGANG WEINLECHNER
KNECHTE DER ZEIT PETRA ZEIL
MITTERNACHTSQUARTETT IN HELSINKI SILKE TEBEL-HAAS
EINE ROSE FÜR MARIJA YANNIN ESPINOZA-ZWISCHENBERGER
FIGUR OHNE ERZÄHLER ALFRED STARY
WENN SICH JETZT ALLES ÄNDERT MARIAN MOLINA
INSELLEBEN NADJA FLICKINGER
DAS VERPASSTE JETZT KATHARINA LUGGER
HÜHNER FLIEGEN NICHT GEORG AXMANN
VON JÄGERN UND RÄUBERN ELISABETH KOFLER-WEICHSELBRAUN
EIGLERS BERG PAUL LIEDVOGEL
DER ANFANG VON ETWAS SCHÖNEM TINA SCHLEGEL
ANNA SPRINGT DANIELA ROSENBERGER
GRENZÜBERSCHREITUNG STEFFI PIENING
JETZT ABER MARTIN BERTSCHINGER
SPUTNIK RENATE EGGERT-SCHWARTEN
SPÄTE ERNTE GUDRUN BREYER
NACHWORT
AUTORINNEN UND AUTOREN
FOTOGRAFINNEN UND FOTOGRAFEN
Das Mölltaler Geschichten Festival lädt Sie ein, das Jetzt der anderen zu entdecken: ein Jetzt, das tief in einer unruhigen Gegenwart verwurzelt ist. Oder ein Jetzt, das zärtlich mit einer schönen neuen Zukunft spielt. Oder ein Jetzt, das die Vergangenheit zur Basis ganz anderer Abenteuer macht. Jetzt-jetzt-jetzt aber auch als andauernder Verlauf, in dem in jedem Augenblick die Welt zu einer neuen Dimension adaptiert werden kann. Auf jeden Fall jedoch – immer und unbestritten – ist Jetzt die Quelle der Fantasie. Und diesen Beweis liefern Ihnen die Autorinnen und Autoren mit diesem Buch.
Viel Vergnügen!
Möchten Sie wissen, welcher Text gewonnen hat?
Meine Liebe zu Italien beginnt mit Eiscreme und Fritto misto. Mit leisem Schauder zermahle ich Fischchen samt Kopf und Gräten zwischen den Zähnen und beschließe, das Leben leicht zu nehmen. Ich verliebe mich in Ennio. Sein schwarzer Bart kratzt auf meiner Haut. Als unsere Affäre endet, ziehe ich in eine lombardische Kleinstadt, sechzig Kilometer südlich von Mailand.
Meine Wohnung liegt an der Piazza. Mein Zeichentisch steht direkt am Fenster. Ich bin ein Teil des Stadtbildes. Paolo, der Obsthändler, und Mitridate, der tabaccaio, nennen mich beim Vornamen. Ich esse in Giuseppes Trattoria und für die Torta di Mandorle von Filomena könnte ich töten. Und dennoch. Dennoch gehöre ich nicht dazu. Nach zwanzig Jahren bin ich immer noch l’austriaca.
Ich führe einen Laden, der über ein dunkles Treppenhaus zugänglich ist. Vormittags stellen Signoras ihre Einkaufstrolleys bei mir ab, besprechen die neuesten Skandale und probieren meine Kleider. Seit das Geld immer knapper wird, kaufen sie nichts mehr. Auch ich schränke mich ein. Nudeln schmecken jeden Tag und Tomaten und Basilikum wachsen im Garten hinter dem Haus. Doch im Winter sehne ich mich nach einer funktionierenden Heizung, ich hätte gerne ein Auto, das ich ohne Bangen starten kann, und hin und wieder möchte ich mein Paradies mit einem Hotel ganz woanders tauschen. Mitridate, der tabaccaio rät mir, Lotto zu spielen. Ich übersetze ihm den Ausdruck „Deppensteuer“ mit imposta di cretine.
Über mir wohnt Signora Bianchi. Wir grüßen uns, wenn wir uns im dunklen Treppenhaus begegnen, doch wir nennen uns nicht beim Vornamen. Sie arbeitet im Rathaus und verlängert alle fünf Jahre meine Aufenthaltserlaubnis. Hin und wieder kommt sie in meinen Laden. Sie geht die Kleiderständer entlang, richtet die Bügel gerade, doch sie kauft nichts. Es heißt, dass der Präsident der Provinz sie bei seinem Besuch im Rathaus für die portiera hielt.
Meine Signoras erzählen, ihr Bruder sitze im Rollstuhl, die Schwester wisse nicht, wie sie ihre Kinder großziehen solle, seit sie ihre Arbeit verloren hat. Signora Bianchi unterstützt die beiden. Eines Abends im Treppenhaus, als sie an mir vorbei geht, sage ich, dass der Regen mich deprimiert. Sie bleibt stehen. Wenn es ihr nicht gut gehe, sagt sie, spiele sie Lotto.
Lotto? Tatsächlich?
Sie weiß, eines Tages wird sie gewinnen.
Ihre Zuversicht steckt mich an. Nun trage auch ich zu dem Jackpot bei, der im Frühsommer auf unvorstellbare 156 Millionen Euro angewachsen ist.
Er fällt Anfang Juni. Als ich am Tag danach die Morgenzeitung hole, ist es still auf der Piazza. Die Tauben hocken mit eingezogenen Köpfen auf den Dächern. Ich lese es, als ich Zucker in meinen Espresso rühre: Der Gewinntipp wurde am Samstag um 12 Uhr 38 in Mitridates tabaccheria abgegeben! Ich halte mich an der Zeitung fest. War es halb eins, als ich meinen Lottoschein abgab? Zwei Kunden vor mir stand Signora Bianchi.
Porca miseria! Mein Schein liegt im Handschuhfach meines Wagens, der wiederum in einer Parkkralle in Mailand festsitzt. Soll ich wie ein kleines Kind auf der Stelle hinfahren? Ich spiele Alltag. Ich scanne meine Entwürfe ein, bevor ich in Filomenas Caffetteria gehe. Doch Filomena ist nicht da. Sie ist drüben bei Mitridate. Sie sind alle drüben bei Mitridate, stehen auf der Piazza, trinken und rauchen.
Filomena schwenkt ihren Lottoschein. Sie hat nicht gewonnen. Ihr Blick nötigt mich zur Rechenschaft. Ich berichte von meinem in Mailand festsitzenden Schein. Eine dumme Ausrede, meint Paolo, der Obsthändler. Auch Filomena sieht mich enttäuscht an. L’austriaca.
Nach und nach versammelt sich die halbe Stadt auf der Piazza. Nur Signora Bianchi, meine Nachbarin, fehlt. Man gratuliert mir zum Millionengewinn. Paolo macht sich über den Lottoschein in der Parkkralle lustig. Sofort bietet mir ein Autohändler an, mich nach Mailand zu bringen. Es wäre ihm eine Ehre, eine so schöne Frau zu chauffieren.
Ich sage, falls ich doch nicht Millionärin bin, will ich es heute noch nicht wissen.
Multimillionärin! Der Bürgermeister drückt mir ein Glas Champagner in die Hand. Die Stadt braucht ein Sportzentrum. Ich schenke ihm ein paar Millionen und bestelle noch eine Lokalrunde. Mitridate strahlt. Selbstverständlich kann ich anschreiben lassen. Er hofft, dass ich ihn, meinen portafortuna, an meinem Glück teilhaben lassen werde. Giuseppe möchte den Speisesaal seiner Trattoria erneuern. Filomenas Caffetteria braucht eine neue Küche. Männer – auch junge, gutaussehende – überschütten mich mit Komplimenten. Ein Bauunternehmer nimmt mich beiseite. Ich soll ihm den Auftrag für das Sportzentrum verschaffen. Meine Signoras rechnen mit Rabatten bei ihren nächsten Einkäufen. Als ich nach Hause wanke, habe ich den Überblick über meine Versprechen verloren.
Der nächste Morgen holt mich in die Realität zurück: L’austriaca soll den Jackpot bei SuperEnalotto gewonnen haben? Col cazzo! Nicht in diesem Leben.
Leise Schritte über mir. Es ist nach neun. Muss Signora Bianchi nicht arbeiten? Die Schritte bewegen sich zum Fenster, verweilen, bewegen sich zur Tür. Ich schlüpfe in Chinos und Pullover und sehe nach.
Zum ersten Mal klopfe ich an ihre Tür. Sie öffnet, packt mich am Arm und zieht mich hinein. Ich sehe eine Kochnische, ein Schlafsofa, penible Ordnung, und dass meine Nachbarin blass und übernächtigt ist.
Finalmente! Ihr Griff hinterlässt den Eindruck einer Parckralle. Sie wird mich nach Mailand bringen, Anweisung des Bürgermeisters. Aber zunächst muss ich ans Fenster treten.
Ich sehe, dass in Filomenas Caffetteria Hochbetrieb herrscht. Erst auf den zweiten Blick bemerke ich die Kameras und die Notebook-Taschen. Das Haus ist belagert. Presseleute aus dem In- und Ausland suchen nach mir.
Aber ich weiß doch gar nicht …
Sie sieht mich missbilligend an. Der Bürgermeister will Gewissheit. Wir müssen hinten raus. Ihr Wagen steht an der Gartenpforte.
Wir tuckern über Land, schleichen durch Orte. Sie schweigt. Ich frage sie, warum sie nicht auf Mitridates Fest war, und wie viel sie gewonnen hat. Sie starrt auf die Hinterfront des LKWs, dem wir bis Mailand folgen werden, wenn er nicht abbiegt.
Sie war bei ihrer Schwester, sagt sie. Suchte deren Lottoschein.
Und? Hat sie gewonnen?
Signora Bianchi sieht mich an. Wenn ja, würde sie ihrer Schwester verbieten, es auch nur einer Menschenseele zu erzählen. Der LKW vor uns blinkt. Ich klammere mich an den Haltegriff. Signora Bianchi schaltet noch einen Gang zurück.
Während ich meinen Lottoschein aus dem Handschuhfach hole, bemüht sie sich um die Entfernung der Parckralle von meinem Wagen. Ist sie gar nicht neugierig? Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Doch mein Schein ist keine 156 Millionen wert. Ich denke an die Journalisten vor dem Haus und fühle mich frei.
Signora Bianchi hat schlechte Neuigkeiten. Meine Parkvergehen sind so zahlreich, dass mir eine Anzeige droht. Der Bürgermeister wird sich darum kümmern. Ich zeige ihr den Lottoschein. Ich werde der Stadt kein Sportzentrum schenken können. Wird der Bürgermeister mir trotzdem helfen?
Sie rollt die Unterlippe ein.
Ich warte das Ergebnis ihrer stummen Strategiedebatte ab.
Ich müsse ihm den Lottoschein ja nicht zeigen, meint sie.
Will sie damit sagen …?
Ja, ich soll die Rolle der Lottomillionärin spielen, bis die Anzeige vom Tisch ist.
Ich zögere, erinnere mich an meinen Vorsatz, das Leben leicht zu nehmen, und stimme zu.
Sie lacht aus vollem Hals.
Auf dem Heimweg spielen wir: Was wäre, wenn?
Sie würde reisen. Nach Afrika und an den Polarkreis. Sie weiß, wo man am besten in den Grand Canyon einsteigt, und wo der größte Nachtmarkt Singapurs liegt. Sie weiß es aus Zeitschriften und Büchern. Einen Teil ihrer 156 Millionen würde sie der städtischen Bücherei schenken. Was ich mit so viel Geld täte?
Angesichts Signora Bianchis genauer Vorstellung – natürlich würde sie auch ihren Geschwistern das Leben erleichtern, wo Geld es kann – bin ich ratlos. Meine Reisegewohnheiten sind pauschal, bedürftige Verwandte habe ich nicht. Dass es schön wäre, im Winter nicht zu frieren, ein neues Auto, nicht jeden Euro zweimal umdrehen, fällt mir erst ein, nachdem Signora Bianchi mich an der Gartenpforte abgesetzt hat.
Ich spiele also die Lottomillionärin. Das heißt, ich streite nicht ab, die 156 Millionen gewonnen zu haben. Den Rest besorgen die anderen.
Auf der Piazza umringen mich Journalisten. Meine Mitbürger verraten ihnen meine Gewohnheiten und loben, wie gut ich mich eingelebt habe. Mitridate wird nicht müde zu schildern, wie ich meinen Tipp abgegeben habe. Jedes Mal erinnert er sich an weitere prophetische Details. Der Autohändler stellt mir ein feuerrotes Cabrio vor die Tür. Bezahlen kann ich später. Banken, die mir keinen Kredit gewährten, schicken mir ihre Anlageberater. Ich werde von Leuten, die alles Nicht-Italienische verachten, zum Essen eingeladen.
Nur Ennio und ein paar alte Freunde, die sich nach den Zeitungsberichten bei mir gemeldet haben, glauben mir, dass ich nicht gewonnen habe. Ennio meint, es hätte ihn auch gewundert, so wenig, wie ich an mein Glück glaube.
Schließlich erlahmt das Interesse der Medien an meinem Millionengewinn. Es bleiben die Bittsteller. Ich bekomme Anrufe und Briefe. Auf der Straße drängen mir Fremde ihre tragischen Schicksale auf. Die Briefträgerin stellt meine Post nicht mehr zu. Signora Bianchi holt sie körbeweise vom Postamt ab. Wir sortieren Rechnungen und Geschäftspost aus. Den Rest – die tränenreichen Ergüsse, die aggressiven Forderungen, die Drohungen – würde ich gerne ungelesen wegwerfen. Doch Signora Bianchi, die ich inzwischen Elena nennen darf, meint, dass alle, die Not leiden, Aufmerksamkeit verdienen.
Ich bekomme schließlich Nachricht aus Mailand: Meine Anzeige wurde zurückgezogen. Stattdessen soll ich ein fünfstelliges Bußgeld bezahlen. Ich bin geschockt. Hier in der Stadt wartet man darauf, dass ich endlich meine Millionen ausgebe. Mein buon giorno trifft auf gesenkte Blicke. Ich habe nirgendwo mehr Kredit. Ich muss mir von Elena Geld borgen.
Ich löse meinen Lottoschein ein. Mitridate beäugt mich feindselig, als er mir die dreißig Euro auszahlt. In dieser Nacht kann ich zum ersten Mal seit Wochen wieder ruhig schlafen.
Ein Poltern im Treppenhaus weckt mich. Es ist vier Uhr früh. Ich schleiche zur Tür und horche. Nach einer gefühlten Stunde absoluter Stille öffne ich. Elena Bianchi liegt am Treppenabsatz. Die Position ihres Kopfes lässt nur einen Schluss zu. Ich suche nach der angemessenen Empfindung – bis ich das Gepäck bemerke. Aus einer aufgeplatzten Reisetasche quellen Geldbündel. Ich steige über die Tote, hebe den Henkel an und blicke auf den Millionengewinn oder was davon übrig ist.
Ich lasse Elena draußen im Treppenhaus liegen und tippe den Notruf in mein telefonino, breche jedoch den Wählvorgang ab. 150 Millionen Euro, jetzt, gleich vor meiner Tür …
Unschlüssig stand Michael auf der anderen Straßenseite des Antiquariats, gab sich dann einen Ruck, klopfte auf seine Brusttasche, ging festen Schrittes über die Straße und trat in den Laden ein. Die Glocke bimmelte noch, als eine junge Frau ihren Laptop zuklappte und sich langsam erhob.
„Sie schauen erst einmal?“
Er zögerte nur kurz.
„Ist Herr Denner heute nicht da?“
„Heute nicht und morgen nicht und – ich weiß nicht, wann er das Krankenhaus verlassen kann“, antwortete sie leise, man konnte sie kaum verstehen.
„Ach so“, sagte er und seine Schultern sackten nach vorne.
Seit ein paar Monaten war er täglich in dem Antiquariat gewesen, hatte interessante Bücher gefunden, Erstausgaben, einige sogar signiert. Langsam kam er mit dem alten Herrn ins Gespräch, man unterhielt sich über dieses und jenes, nichts Persönliches, bis Michael irgendwann mit dem Satz „Sie sind sehr einsam, stimmt’s?“ konfrontiert wurde.
Das ging doch niemanden etwas an! Er wollte abwehren, sogar den Laden verlassen, doch er besann sich. Herr Denner war inzwischen ein Teil seines Lebens geworden. Er hatte Vertrauen zu ihm gewonnen und so erzählte er jeden Tag ein bisschen, bis alles gesagt war.
„Bestimmt kann ich Ihnen auch weiterhelfen“, hörte er und schreckte aus Gedanken hoch. „Ich bin seine Tochter und kenne mich bestes in dem Laden aus“, sagte die junge Frau.
„Hat mein Vater Ihnen vielleicht etwas zurückgelegt?“
„Tatsächlich ist es so. Ein kleines Büchlein, blau, mit einer Silberprägung vorne darauf.“
„Wenn Sie mir Ihren Namen verraten, schau ich gleich nach.“ Freundlich schaute sie ihn an.
„Ach, Entschuldigung, natürlich. Michael Sabath, mit ‚th‘.“ Die junge Frau verschwand und kam nach einer Weile ohne das Buch zurück. Etwas verwirrt sagte sie: „Ich kann es mir nicht erklären, das Buch liegt hinten, aber mein Vater hat einen Zettel hineingelegt.“
Sie zeigte ihm das Papier „Nicht verkaufen, nur für drei Tage ausleihen!“
„So ist es verabredet“, antwortete er, „ich muss eine Kaution hinterlegen, damit ich das Buch ausleihen kann.“
Er drehte den Zettel um. „Sehen Sie, hier steht es: Eine Kaution von 5000 Euro muss hinterlegt werden.“
Er gab ihr den Zettel zurück und zog einen Briefumschlag mit Banknoten aus der Brusttasche.
„Zählen Sie nach, es sind genau 5000 Euro.“
Die Tochter des Antiquars holte das Buch, er quittierte den Empfang des Büchleins und sie den Empfang des Geldes.
Michael Sabath verließ den Laden und die junge Frau schaute ihm lange hinterher, bis sie sich kopfschüttelnd wieder an ihren Laptop setzte.
Zuhause legte Michael das Büchlein zurecht, nahm seine Lesebrille und schlug die Seite auf, die Herr Denner ihm gezeigt hatte.
So, jetzt wird alles anders, alles! Wie habe ich darauf gewartet. Jetzt ist es so weit.
Er murmelte den Spruch, der ihm leicht von den Lippen kam. Er war kein bisschen aufgeregt, nur voller Erwartung. Er war jetzt 53 Jahre alt, er wusste, an welcher Stelle er anders abbiegen musste.
Laut sagte er: „Zurück zum 1. Mai 1991!“
Er befindet sich auf einer Maikundgebung, er schaut an sich herunter. Er ist schlank, salopp gekleidet, gerade zwanzig Jahre alt geworden. Neben ihm steht ein junges Mädchen, etwa in seinem Alter, lange dunkle Haare, hübsches Gesicht, seine zukünftige Ehefrau. Sie lächelt ihn an, sie weiß nicht, dass sie einmal mit ihm verheiratet sein wird. Schnell dreht er sich weg.
Er merkt den Stich in seinem Herzen und spürt eine magische Anziehungskraft zu dieser Frau.
Sie hatten viel zu früh geheiratet und verlebten gute und schlechte Jahre. Er hatte sein Studium an den Nagel gehängt, hatte sich einen Job gesucht, um Geld zu verdienen. Sie hatten sich hoch verschuldet, weil sie meinten, sich ein Häuschen kaufen zu müssen, ein Häuschen für die kleine Familie. Alle aus ihrem Bekanntenkreis taten es damals. Die Ehe blieb kinderlos, worunter seine Frau sehr litt. In den Neunzigerjahren wurde er arbeitslos, er bekam immer wieder nur Zeitverträge. Das Einkommen seiner Frau reichte nicht, die Bank nahm ihnen ihr Zuhause. Dafür gaben sie sich gegenseitig die Schuld. Michael sah keine Lösung und floh in den Alkohol.
Danach ging alles den Bach runter. Fünf Jahre blieb sie noch bei ihm, dann zog sie zu seinem Freund, die Ehe wurde geschieden. Das war der Wendepunkt, er wurde trocken, suchte sich Arbeit als Lagerist und lebte verbittert ein Leben in Einsamkeit. Ja, er tat sich leid und hatte nur den einen Wunsch, es einmal ganz anders zu machen.
Jetzt gibt es die Gelegenheit, jetzt werden die Weichen anders gestellt.
Michael schaut noch einmal zu der jungen Frau hinüber, lächelt kurz und verlässt die Kundgebung. Er setzt sich in eines der Straßencafés, die seit ein paar Tagen geöffnet haben. Heute will er sein neues Leben beginnen.
Zwei Freundinnen setzen sich an den Nebentisch. Sie haben Bücher aufgeschlagen und diskutieren angeregt über ein Problem. Sie scheinen sich nicht einigen zu können. Eine gefällt ihm besonders gut. Sie schiebt ihre roten Haare immer hinter ihre Ohren, wenn sie sich über ihr Buch beugt.
„Kann ich euch irgendwie helfen?“, fragt er und setzt sich zu ihnen auf einen freien Stuhl.
„Nee, das kann ich mir nicht vorstellen, oder hast du Ahnung von Heidegger?“, will die Rothaarige wissen. Beide Mädchen lachen.
„Ach, seid ihr in dem Seminar von Professor Scherer? Da bin ich auch“, antwortete er.
Erstaunt schauen sich die Mädchen an.
„Na dann los, warum ist das Sein des Seienden so bedeutsam für Heidegger?“
So kommen sie in ein langes Gespräch und Michael geht zufrieden nach Hause. Erschöpft legt er sich ins Bett. Gleich wird er sehen, wie seine nächsten 30 Jahre ablaufen werden.
Wie gerädert wacht er am nächsten Morgen auf und rekapituliert sein neues Leben.
Er hat zu Ende studiert, wurde Anwalt in einer Sozietät, die Rothaarige wurde nicht seine Frau, auch nicht das andere Mädchen, er blieb Junggeselle, wurde eine Art Staranwalt, „ein harter Knochen“ sagte man, war immer beschäftigt, hatte nie Zeit für sich, verlor immer mehr Freunde und war schließlich einsam und allein.
Er verdiente zwar viel Geld und hatte eine hübsche Loftwohnung, doch dieses Leben gefiel ihm auch nicht, er wollte es noch einmal versuchen.
„Zurück zum 15. Juli 1980“, sagte er, „jetzt wird wirklich alles anders“.
Er ist in seinem Kinderzimmer und holt ein paar Kleidungsstücke aus seinem Schrank. Sorgfältig legt er sie auf sein Bett. Die Vorfreude ist groß, gleich werden Papa, Mama, sein jüngerer Bruder Konrad und er in den Urlaub fahren. In Holland haben sie ein kleines Ferienhaus gemietet. Gleich werden die Brüder rausgehen und Fangen spielen, dabei läuft sein Bruder vor ihm weg und wird von einem Auto erfasst. Das muss er verhindern.
Seine Eltern waren damals so geschockt, dass sie sich nie mehr richtig davon erholten. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn für das Unglück verantwortlich machten. Wahrscheinlich war es auch so. Hätten sie draußen nicht Fangen gespielt, wäre sein Bruder heute noch am Leben.
Das Verhältnis zwischen ihm und seinen Eltern war danach nie mehr unbeschwert, die Schuld und die Anklage standen immer zwischen ihnen. Schließlich brach er den Kontakt ab, er konnte diesen Zustand nicht länger ertragen. Es schien, als würden es die Eltern nicht bedauern.
Da kommt sein Bruder ins Zimmer gestürmt.
„Ich bin fertig. Lass uns noch ein bisschen draußen spielen“, schlägt er vor.
„Wollen wir nicht lieber drinnen Versteckenspielen?“
Sein Bruder ist einverstanden und als Michael nach einer Zeit auf die Uhr sieht, ist die Stunde des Unfalls verstrichen. Beruhigt setzt er sich auf sein Bett und schläft ein.
Wie gerädert wacht er am nächsten Morgen auf und rekapituliert sein neues Leben.
Seine Kindheit und Jugendzeit verliefen unbeschwert, das Verhältnis zu seinem Bruder war fürsorglich und freundschaftlich. Seine Eltern waren liebevoll und taten alles für die Jungen. Nach seinem Abitur zog er zum Studium nach Münster in eine WG, in die auch sein Bruder im nächsten Jahr folgte. Mit der neuen Freiheit kam Konrad nicht zurecht, er schwänzte Vorlesungen und Seminare, probierte Drogen aus und starb schließlich an einer Überdosis Heroin. Seine Eltern waren verzweifelt, irgendwie gaben sie ihm die Schuld an dem Unglück, sie meinten, er hätte es verhindern müssen. Das Verhältnis war auf Dauer zerstört, er brach die Beziehung ab.
Michael atmete kräftig durch. Nein, dieses Leben wollte er auch nicht. Er hatte noch eine Chance, sein Leben zu verändern. Er nahm das Büchlein und überlegte. Welcher Termin war relevant? Wo wollte er noch einmal anders abbiegen?
Schließlich klappte er das Büchlein zu und brachte es zurück ins Antiquariat.
„Aber sie hätten es doch noch einen Tag behalten dürfen“, sagte die junge Frau, die Michael sofort wiedererkannte.
„Ich brauche es nicht mehr, vielen Dank. Wenn Sie Ihren Vater besuchen, grüßen Sie ihn herzlich von mir. Ich wünsche ihm, dass er bald wieder auf die Beine kommt. Richten Sie ihm bitte aus, dass ich jetzt verstehe, was er damit meinte, als er sagte: Das Leben liegt im Jetzt.“
Froh gelaunt verließ er den Laden und machte sich daran, sein jetziges Leben in Ordnung zu bringen: Kontakt zu seinen Eltern, zu seiner geschiedenen Frau, zu seinem Freund aufzunehmen und sich nicht länger als Opfer zu sehen.
Meine Urgroßmutter war eine dürre Frau mit dünnem Haar. Langärmlig, hochgeschlossen und faltig legte sich ihr Kleid um einen knöchernen Kern. Sie trug es täglich, dunkelblau, fast schwarz, abends in eine löchrige Stola eingewickelt. Wenn meine jüngere Schwester oder ich heimlich ihr Zimmer betraten, flatterten die Nerven vor Angstlust. Wir schlossen Wetten ab oder spielten darum, wer den kribbeligen Gang in die Kammer antreten sollte. Die Verliererin musste aus dem Halbdunkel eine Münze stibitzen. In der Kammer lauerten klobige Möbel, die übel rochen. Eine riesige Bettstatt, die ich als Kind für eine Stadt hielt, löste Ehrfurcht und Ekel aus. Am Fußende des Holzgestells hingen stinkende Steppdecken zum Trocknen. Am Kopfende, auf dem wandseitigen Nachtkästchen glitzerte der Gewinn: ein Glaskelch mit Münzgeld. Auf dem fensterseitigen stand ein Foto vom Seligen. Der Selige war ein junger Mann mit strengem Blick unter buschigen Augenbrauen. Sein schwarzer Schnurrbart war an den Enden nach oben gezwirbelt, weshalb ich ihn für einen Zirkusdirektor hielt. Dieses Bild zog mich hypnotisch an. Jedes Mal stand ich so lange davor und starrte dem Seligen in die Augen, bis ich mich abwenden musste, weil der Ausdruck lebendig geworden war. Pupillen wie Kipppunkte. Davor und danach ohne Übergang wie elektrisches Licht, das aus- und eingeschaltet wird. Aus der Strenge sprang Wut. Aus der Wut floss Trauer. Aus dem Schmerz platzte unterdrücktes Lachen. Selten schaute der Selige ausdruckslos durch mich hindurch oder knapp an mir vorbei, so wie der blinde Peppi, wenn er seine Brille abnahm. Sobald Blick und Bild zu leben begannen, bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich lief ums Bett herum, kramte im Kelch nach einem Silberling mit Pferd und Reiter, fühlte mich vom Blick des Seligen aufgespießt, huschte hinaus zu meiner Schwester und spürte mein Herz wie wild gegen das Brustbein klopfen. Ich legte ihr die Beute in die offene, kleine Hand und umschloss sie mit meiner. Hand in Hand hielten meine Schwester und ich die 5-Schilling-Münze umklammert und schlichen uns an Uri vorbei zum Tor hinaus. Hand in Hand liefen wir die Straße hinunter, hinein in Gretes Laden und legten den Fünfer gemeinsam auf die Theke. Erst der Zucker von Kokosstangen im Blut beruhigte mein Herz.
Der Selige war für uns Kinder der Mittagsdämon, von dem Uri manchmal sprach, wenn sie sich auf der Bank vor dem Haus ausstreckte. Ich konnte den Seligen nicht mit meiner Großmutter in Beziehung setzen. Der junge, wilde Mittagsdämon in Schwarz-Weiß passte nicht zur alten, faltigen Frau in Dunkelblau. Sie glich einem stinkenden Reptil, wenn sie mit offenem Mund auf der Bank lag und die knochigen Gichtfinger aus den Ärmeln wachsen ließ.
Einmal zeigte uns Uri, wie Mausefallen richtig befüllt werden. Ich und meine Schwester hockten auf dem Holzboden, Uri auf einem Schemel. Gebt Obacht, sagte sie und tippte mit einem dürren Ast auf den Speckstreifen in der ersten Falle. Ratsch. Ein Metallbügel zerbrach den Ast und die Falle hüpfte in unsere Richtung. Da war sie wieder, die Angstlust. Wir lachten übertrieben laut und befüllten mehr als zehn Fallen, die wir im Erdgeschoß verteilten. Am nächsten Tag fanden wir drei eingezwickte Mäuse. Sie waren tot, wie eingeschlafen. Schön. Ratsch!
Als Uri starb, war ich sechs oder sieben. Vater zerhackte und verbrannte die Möbel, kalkte die Wände neu und hängte die Fotografie vom Urgroßvater in den Flur zu den anderen Schwarz-Weiß-Fotos.
Meine Mutter hat ihre Großschwiegermutter gehasst. Deshalb war sie sicher erleichtert, als Uri starb. Trotzdem ist danach alles viel schlimmer geworden. Mutter war durch und durch Hausfrau, wir Kinder zweitrangig. Einmal hat sie uns erzählt, dass sie sich zuerst ins Haus und erst später in Vater verliebt habe. Es ist ein altes Haus. Es war lange vor uns da und es wird uns überleben. Wenn ich an meine Mutter denke, dann sehe ich sie nie ohne dieses Haus. Sie hielt sich am Haus fest. Sie brauchte das Haus. Das Haus musste in ihrer Nähe sein, zu sehen sein, irgendwo im Blick, gerade noch im Augenwinkel: ein Fenster, eine Außenwand, das Dach. Sobald sie das Haus aus den Augen verlor, spürte sie Heimweh.
Gefühle ändern sich. Die Gefühle meiner Mutter zum Haus änderten sich. Noch ein, zwei Monate nach der Hochzeit mochte es für sie ein Palast gewesen sein, die vielen Zimmerfluchten im zweistöckigen Gebäude, nüchtern, weitläufig, klar. Sie wollte die Sonnenseite mit Kletterrosen und Spalierbäumen beleben. Aber dann gebar sie mich und das Bild vom Palast wich einem Vierkanthof mit feuchten Wänden und speckigen Böden. Auch das hat sie erzählt. Nach der Geburt meiner Schwester wandelte sich der Hof in eine langgezogene Baracke, ein Arbeitslager. Da hat sie immer weniger gesprochen. Zwei Töchter innerhalb von einem Jahr haben sie geknickt und sie ist vom Kindbett in Nacht, Angst, Mond mit tiefen Schatten unter den Augen gekippt.
Der Anblick von schiefen weißen Häusern kann mich in die Zelle meiner Kindheit zurückkatapultieren. Die Vergangenheit schnellt hoch in den Himmel und die Gegenwart sackt auf die Erde wie bei einer Wippe. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich so tun kann, als wäre nichts. Das Haus ist in meine Körperzellen eingesperrt so wie ich ins Haus, wenn sich meine Mutter nicht mehr zu helfen wusste. Ein Schlüsselbund in ihrer Rocktasche war nach Uris Tod mein Aufseher und ich die Aufseherin meiner Schwester. Oft floh ich allein auf das Dach, auf den höchsten Punkt zu den Schloten. Dünne, lange Haare flogen im Wind. Der Himmel war Sommer. Ich kann den Geruch herbeiholen. Aus dem Küchenkamin schlängelt sich eine Rauchsäule und der Gestank von verbrannter Milch. Der Wind reißt mein Haar nach hinten. Die abnehmende Mondsichel hängt am Taghimmel. Mutter schreit durch das Haus meinen Namen. Ich höre ihre Schreie aus dem Rauchfang und schmettere eine wilde Arie gegen den Wind. Der Hals schwillt an wie bei Vögeln, die lautstark trällern. Meine Stimme übertönt die Kaminstimme. Der Wind vereint beide und trägt sie fort. Namen, Worte, Töne fliegen nach hinten Richtung Mond. Irgendwann werde ich hinuntermüssen. Gemusst haben. Gewusst haben, dass ich muss.
Meine Mutter war Hausfrau ganz und gar. Den Kopf einzementiert in Kochen, Backen, Putzen, Waschen, Füttern, Futtern, Wischen, Wichsen, Bohnern, Baden, Kehren, Flicken, Ficken, Stricken, Strecken, Wecken, Wachsen, Gebären, Saugen, Säugen, Wickeln, Wursteln, Watschen, Warten, Kochen, Backen, Putzen, Waschen, … In ihrem Kopf war kein Platz für Gedanken. Sie war Tätigkeit. Wiederholung. Ein Tag klebte am anderen. Das Leben vorhersehbar, aber Zeit ist kein lineares Band, das sich zwischen Geburt und Tod abspulen lässt. Die Gegenwart kann jederzeit den Faden zwischen Vergangenheit und Zukunft in ein Vorher und Nachher zerhacken. JETZT ist ein Schalter, der die Weichen umstellt. Jetzt: das Ja-Wort. Jetzt: Eine Samenzelle befruchtet eine Eizelle. Jetzt: Die Fruchtblase platzt. Jetzt: Ich erblicke das Licht der Welt. Jetzt: Ich beiße meiner Mutter in die Brust. Jetzt: Sie versetzt mir einen Schlag. Jetzt: Mein Vater schlägt ihr ins Gesicht, weil er mein Geschrei nicht aushält. Jetzt: ein Versöhnungsfick. Jetzt: Schon wieder durchdringt eine Samenzelle die Zellwand. Jetzt: Meine Schwester ist da.
Jetzt. Dieses Wort hat die Kraft einer deftigen Ohrfeige. Es zischt durch die Luft wie ein Schwerthieb. Jetzt verletzt. Verletzt fällt die Gegenwart und kommt zu liegen. Das Nachher stülpt sich über den Moment, der alles verändert, und baut ihn ein ins eigene Fleisch. Wie oft schrie Mutter, sie verliere den Verstand mit uns oder habe ihn schon verloren? Wie oft schlug Vater mit der Faust auf den Tisch oder mit der offenen Hand ins Leben? Als meine Schwester bemerkte, dass sie schwanger war, hat sie sich aus Angst, von ihm totgeprügelt zu werden, mit Mutters Tabletten und seinem Schnaps vollgepumpt. Meine Mutter fand sie leblos in der Badewanne.
Ich spüre noch immer Schmerz in Haus und Frau. Ich klettere aufs Dach und schreie den Namen meiner Schwester. Ich höre ihr Wimmern durch den Rauchfang und schmettere eine wilde Arie gegen den Wind. Der Hals schwillt an wie bei Vögeln, die lautstark trällern. Meine Stimme heult den Namen einer Toten. Der Wind trägt ihn fort Richtung Mond.
Mit siebzehn bin ich von zu Hause weg. Das ist lange her. Meine Eltern sind längst gestorben, aber das Haus steht noch und wenn es nicht mehr steht, dann trage ich es in mir. In den Zellen meines Körpers verstecken sich Zeitkapseln. Der Geschmack von Kokosstangen, der Geruch verbrannter Milch, ein bestimmtes Blau, Schwarz-Weiß-Fotos von Männern mit Schnurrbart, karge, windschiefe Häuser auf Gemälden … Ein jähes Jetzt zischt herab wie ein Fallbeil. Ratsch! Eine Tür geht zu und es wird eine Weile dauern, bis ich wieder so tun kann, als wäre nichts gewesen.