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Die Tschechin Alena, eine auffallend hübsche Medizinstudentin, hat sich infolge eines traumatischen Ereignisses ihrer Kindheit vor der Liebe und dem Leben verschlossen. Sie flüchtet sich deshalb oft in phantastische Welten. Doch als sie den charismatischen Künstler Ondrej kennenlernt, erwacht in ihr der unbändige Wunsch nach mehr. Allerdings steht dem eine aus einer Lüge entstandene Beziehung zu Vlado im Weg, das toxische Verhältnis zu ihrer Mutter und das bisher ungelöste Mondgeheimnis. Sollte sie dennoch den Mut aufbringen, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, könnte sie daran zerbrechen.
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Titel
Widmung
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
Über den Autor
Impressum
Das Mondgeheimnis
(Liebesdrama/Roman)
Stefan Fischer
Ich widme den Roman meiner verstorbenen Mutter.
Mama, danke für alles!
Prolog
Über ihrem Bett hing ein Kruzifix. Die Farbe unter Jesus’ Knien war abgeblättert, so oft hatte Alena es in den Händen gehalten und ihre Stirn im Gebet an diesen Beinen wund gerieben.
Sie zog die Decke bis zum Kinn und starrte in das Mondlichtdunkel. Ihre Hände zitterten, noch immer wirkte der Albtraum nach. Papa saß auf der Bettkante, der Tür zugewandt. Hoffentlich noch die ganze Nacht, dachte sie. Den Kopf hatte er auf die Hände gestützt. War er eingeschlafen?
Sie sah zu dem eingerahmten Foto auf dem Nachttisch. Er war darauf zu sehen, auf einer Wiese, vor zwölf Jahren, mit ihr als Baby auf dem Arm.
Vergeblich tastete sie nach dem Stoffmond, ihrem Tröster, und erspähte seine Umrisse unendlich weit entfernt auf dem Stuhl neben der Kommode.
Sie befühlte mit der Zunge die Kruste an der Unterlippe und widerstand dem Drang, sie aufzubeißen. Mit dem Deckenzipfel wischte sich Alena den Schweiß von der Stirn, dann stieg sie auf der anderen Seite aus dem Bett, so geräuschlos wie möglich und schlich am Fenster vorbei. Sie warf einen Blick auf die Tanne im Garten. Der Schnee glitzerte auf dem Wipfel.
Drei Schritte später klemmte sich Alena den Stoffmond unter den Arm. Sie schlich zurück, auf dem Dielenboden fiel ihr ein dunkler Fleck auf. Alena beugte sich vor und erkannte einen eingetrockneten Blutstropfen. Das musste vor wenigen Tagen passiert sein. Sie hatte unter dem Fenstersims gekauert, die Rippen des Heizkörpers im Rücken, den Tröster im Schoß, und sich die Lippe blutig gebissen.
Alena legte den Stoffmond neben das Kopfkissen. Noch einmal schlich sie durch das Zimmer zur Kommode und durchsuchte die Schubladen. Sie fand eine offene Packung Tempos neben einem gläsernen Reh und dem Foto vom Strandurlaub. Ihr älterer Bruder Milan war darauf zu sehen, und ihre Mutter. Er hatte seine Beine eingegraben, seine grüne Badehose lugte unter dem Sand hervor. Ihre Mutter saß im Bikini auf einem Badetuch, die Haut noch ohne Brandnarben.
Alena wollte das Foto zerknüllen, es in kleine Stücke reißen, zog die Hand aber wieder zurück. Sie sah über die Schulter zu Papa, drehte das Bild um und stellte das gläserne Reh darauf.
Dann rubbelte sie mit dem Taschentuch und ein bisschen Spucke die Stelle vor dem Fenster sauber und warf das schmutzige Tempo in den Papierkorb.
Vor dem Bett blieb sie stehen und griff sich den Stoffmond. Sie streichelte über den gelben Plüsch und ertastete die ausgefranste Stelle am Rand. Flaum schimmerte hindurch. Alena hatte Angst, dass ihn die nächste Wäsche zerfleddern könnte. Ihre Mutter zu bitten, die Wunde des Trösters zu nähen – das wagte sie nicht.
Sie schlüpfte unter die Decke, leise, nicht, dass Papa wach wurde, und hielt den Stoffmond gegen den Bauch gedrückt.
»Mama!« Die Stimme kam aus dem Flur, Milans Stimme. Er klang erschrocken.
Alena krallte die Finger in den Tröster. Bestimmt hatte ihr Bruder wieder einmal an der Tür gelauscht und war von der Mutter ertappt worden.
»Milan!«, hörte sie Mutter in der Schärfe sagen, die Alena so fürchtete. »Was machst du da?«
»Ich … ich wollte nur ins Bad und … und da hab ich sie gehört! Papa und …«
Alena kauerte sich zusammen und presste den Stoffmond zwischen die zitternden Knie. Sie stellte sich die beiden vor: Neben der Kommode mit dem Telefon zog Milan den Kopf ein, den Blick auf den eisernen Zeitungsständer am Boden fixiert, während Mutter die welligen Narben am Hals rieb und auf Antwort wartete.
Papa stand auf, die Matratze gab nach. Er streckte sich und gähnte. Bleib da, wollte Alena rufen. Bleib da!
Die Tür ging auf und eine Gestalt erschien im Türrahmen, ihre Mutter. Alena zerbiss die Kruste an der Unterlippe. Papa blieb neben dem Bett stehen, vom Flurlicht eingefangen und nestelte an seinem Hosenbund. Sein Hemd war zerknittert. Alena schlüpfte aus dem Bett und versteckte sich darunter.
»Was machst du hier?«, hörte sie die Mutter.
»Hedvika, ich …«
»Dieses Schwein!«, schnaufte Milan mit erstickter Stimme.
Auf Papas Pantolette schimmerte ein Fettfleck. Alena rutschte weiter nach vorn und hielt sich am Bettpfosten fest, während sie dem Geschehen zusah.
»Wie konntest du nur?«, wisperte Mutter. Ihre zitternde Hand hielt den Türgriff umkrallt. Sie hatte sich den blauen Morgenmantel nur umgelegt. Die Ärmel wippten. Vornübergebeugt stand sie da und blickte auf den Läufer vor Alenas Bett, mit der anderen Hand fingerte sie an ihrem Nachthemd. Papa ging auf sie zu und nahm ihre Hand von der Klinke. »Aber Hedvika, was hab ich …?«
»Geh weg von mir!« Sie riss sich los, wich zurück und sah ihn an wie einen Fremden. »Bleib mir bloß vom Leib!« Sie rieb ihren Hals und kratzte mit den Fingernägeln weiße Striemen auf das Narbengewebe.
»Hör auf damit! Du kratzt dich noch blutig.«
»Alles deine Schuld!« Sie drehte sich um und stürzte aus dem Zimmer. Der Morgenmantel rutschte ihr von den Schultern und blieb auf dem Gang liegen, während sie um die Ecke verschwand. Eine Tür knallte ins Schloss, ein Schlüssel wurde umgedreht, Alena hörte Mutter schluchzen. Papa ging ihr nach, und als er aus Alenas Blickfeld verschwunden war, sah sie Milan mit zornesrotem Gesicht vor der Kommode stehen. Sein Lieblings-T-Shirt, das schwarz-gelbe, hatte er verkehrt herum angezo-gen.
»Hedvika, mach auf. Bitte!« Papas Stimme. Ein Türklopfen.
»Hau ab! Ich will dich nicht mehr sehen«, schrie Mutter mit tränen-erstickter Stimme.
»Hedvika …«
»Arschloch«, zischte Milan.
»Jetzt reicht’s aber!«
Alena sah ihren Papa auf Milan zustampfen, sah, wie er ihn an den Oberarmen packte. Sie rutschte unter dem Bett hervor zur Wand und blinzelte hinter dem Türrahmen in den Flur. Wie könnte sie die beiden trennen?
»Bürschchen …«
»Lass mich los!« Milan wand sich.
Papa rüttelte ihn. »Was fällt dir ein? Bist du verrückt geworden?«
»Lass Milan in Frieden!« Eine Tür wurde zugestoßen.
Alena duckte sich, als sie Mutter mit den verheulten Augen sah. Die Kratzspuren an ihrem Hals waren gerötet. Drei Schritte, dann verfing sich ihr Fuß im Morgenmantel und sie fiel auf die Knie.
Papa stieß einen spitzen Schrei aus. Milan hatte gegen sein Schienbein getreten und sich losgerissen. Papa boxte ihn gegen die Brust. Milan kippte hintenüber und ruderte mit den Armen. Er fasste nach der Kommodenkante und zog eine Zeitschrift mit hinunter, während sich der braune Läufer vor seinen Füßen wellte. Ein lautes Knacken brach durch das Geräusch der zu Boden flatternden Zeitschrift.
Alena sah den eisernen Zeitungsständer neben Milans Kopf. Der Bruder röchelte. Zwei Atemzüge, drei, dann erschlaffte Milan. Die Augen hatte er weit aufgerissenen, der Blick war leer.
»Um Gottes willen!«, rief ihre Mutter, mühte sich auf die Beine und kniete vor Milan nieder. »Karel! Was hast du getan?« Sie bettete Milans Kopf in ihren Schoß und strich ihm die Haare aus der Stirn. Die Röte wich mehr und mehr aus seinen Wangen.
Papa trat einen Schritt zurück, stieß gegen die Kommode und seine Finger tasteten fahrig umher.
»Wach auf«, flüsterte Mutter. »Wach auf«, flehte sie. Ihre Finger krampften sich in Milans Arme. »Wach auf, wach auf, wach auf!« Sie schaute auf. »Ruf einen Krankenwagen! Schnell!«
Papa fasste nach dem Hörer. Der rutschte von der Gabel und knallte auf den Boden.
Mutters Nachthemd färbte sich rot. Langsam hob sie die Hand und schrie, während Blut von ihren zitternden Fingern tropfte. Alena klammerte sich am Türrahmen fest, als Papa die Eingangstür aufriss. Er warf sie hinter sich ins Schloss. Alena wollte ihm nach, wollte nicht allein gelassen werden, mit ihrer Mutter und Milan. Sie hörte Papas Schritte im Treppenhaus, und eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel.
»Karel! Komm zurück!«, rief Mutter hinterher.
Alena raffte sich auf, lief zum Fenster und spähte nach ihm.
Laternen beleuchteten die schneebedeckte Straße, über die sich eine Traktorspur zog. Das Mondlicht umriss die Häuser.
Der Schneemann im Garten hatte die Karottennase verloren. Davor lagen verschneit der Schlitten von Milan und ein roter Handschuh.
»Du sollst zurückkommen«, wimmerte Mutter, »zurückkommen … bitte …«
Alena sah ihren Papa und legte eine Hand auf die Scheibe. Sie fühlte die eisige Kälte, die ihm zu schaffen machen musste. »Komm zurück«, murmelte sie, und ihre Worte beschlugen das Glas. Er stolperte durch das Weiß, fiel auf die Knie, stemmte sich wieder hoch. Er schüttelte Schnee von den Händen, dann lief er in der Traktorspur, vorbei an den Nachbarhäusern. Er verließ die Straße und hastete einen Hügel hinauf, Alena konnte ihn bald nicht mehr sehen.
»Hallo? Pejsarova hier. Bitte! Kommen Sie schnell. Mein Sohn! Er blutet stark. Und verständigen Sie die Polizei.«
Als Alena hörte, wie der Hörer aufgelegt wurde, schlüpfte sie schnell unter das Bett. Die Mutter betrat das Zimmer und knipste das Licht an.
»Wo bist du?«, schrie sie. »Du Hure! Ich bring dich um!«
Alena kniff die Augen zusammen und versuchte fieberhaft, an das Märchen von der Sonnenprinzessin zu denken. Das tat sie immer, wenn die Angst unerträglich wurde. Sie presste die Hände auf die Ohren, während sie lautlose Worte murmelte.
1. Kapitel
Zehn Jahre später …
Alena saß vor einer leeren Teetasse am Küchentisch und blät-terte in einer Zeitschrift. Sie sah zur Wanduhr mit dem Kartoffelgesicht auf. Es war später Nachmittag, und ihre Mitbewohnerin Magdalena war noch immer nicht da.
Hoffentlich war ihr nichts zugestoßen.
Alena überflog einige Buchrezensionen, horchte dann auf die obere Wohnung. Würde doch nur der Musikstudent mit dem Spiel beginnen, sein Instrument für sie zum Singen bringen. Irgendetwas Melancholi-sches. Sie stellte sich vor, er säße auf einem schlichten Stuhl, sein Cello zwischen den Knien, den Blick zum Fenster gewandt. Und wie er den Bogen nahm, über die vier Saiten strich, und mit der Musik von einem ängstlichen Mädchen erzählte, das sich aus dem eigenen Leben ausge-schlossen hatte.
Stille. Und Alenas Gedanken schweiften.
Magdalena kam mit dem Fahrrad ins Schlenkern, stürzte von der Bordsteinkante und einem Lastwagen vor die Motorhaube. Bremsen kreischten. Blut floss über den Asphalt.
Alena schüttelte sich das Bild aus den Gedanken.
Mach dich nicht verrückt! Ihr – ist – nichts – passiert!
Sie blätterte weiter in der Zeitschrift und blieb bei einem Bericht hängen. Es ging um einen Vater, dessen Kinder entführt worden waren. Monatelang keine Spur.
»… er stellte das eingerahmte Bild der Kinder zurück auf die Kommode, kramte eine Pistole aus der Schublade und steckte sich den Lauf in den Mund … Tage nach der Beerdigung fand man die Kinder … lebend!«, las Alena, und die Seite, die sie zum Umschlagen bereithielt, zitterte. Sie schob die Zeitschrift von sich.
Familientragödie! Nach dem tödlichen Sturz seines Sohnes flüchtete Karel P. aus dem Haus. Eine Fahndung wurde eingeleitet. Die Spur führte zum Fluss. Alles deutet darauf hin, dass Karel P. in die Apolena eingebrochen und ertrunken ist.
Papa ist nicht tot, nicht in meinem Herzen. Alena stand auf und fächerte sich Luft zu, bis die Erinnerungen an die Schlagzeilen verblassten. Ihre Großmutter und Magdalena waren die einzigen Menschen, denen Alena vertraute.
Sie nahm den Strauß Rosen vom Sims, öffnete das Fenster und hielt Ausschau nach der Freundin. In den gekippten Fenstern der umliegenden Häuser spiegelte sich die Aprilsonne, vom nahen Spielplatz war Kindergeschrei zu hören. Der Hausmeister kniete vor dem Treppenaufgang zum Studentenwohnheim und kehrte mit einem Handbesen ein Häufchen Splitt auf die Kehrschaufel.
Da endlich bog Magdalena mit dem Fahrrad um die Ecke. Alena schloss für einen Moment die Augen und atmete auf. Magdalena sah aus, als würde sie den ersten regenfreien Tag seit einer Woche genießen. Die blonden Haare reichten bis zum Gepäckträger, auf den eine Tasche geklemmt war. Sie stellte das Fahrrad ab, begrüßte den Hausmeister und hob einen imaginären Hut.
Alena schloss das Fenster und stellte die Vase mit den Rosen zurück auf das Sims. Sie nahm die Zeitschrift vom Küchentisch und setzte sich.
Das Wohnungsschloss klackerte, dann raschelte im Flur eine Plastiktüte und ein Schlüsselbund klimperte.
»Wollten wir nicht in die Stadt?«, rief Alena ein wenig gereizt. »Oder hast du dir allein Schuhe gekauft?«
Einige Momente war nichts zu hören, und sie wusste, dass Magdalena den Mund zu einer Schnute zog. Das tat sie gern, wenn ihr etwas peinlich war oder Alena mit ihr schimpfen wollte, weil sie das Geschirr nicht gespült hatte oder im Flur ihre Sachen herumlagen.
Die Tür ging auf, und Magdalena stand im Rahmen, in der Hand eine Plastiktüte. Die Ecke eines Hardcoverbuches lugte durch eine aufgerissene Stelle. Magdalena zog die an der Stirn liegende Locke bis zur Nase. »Ähm, bin ich zu spät?«
»Ach, woher! Wenn wir uns beeilen, haben wir ganze drei Minuten, bevor sie zumachen.«
Magdalena sah zu der Wanduhr. »Kartoffelcharlie geht falsch.«
»Komm schon, ich hab mir Sorgen gemacht.«
»Tut mir leid, ich bin irgendwie in der Buchhandlung hängen geblieben.«
Sie blickte gespielt betreten zu Boden, und als Alena sah, wie Magdalena mit der Schuhspitze scharrte, waren Ärger und Sorge verflogen und sie musste lächeln.
»Was hast du dir Schönes gekauft?«
»Jakob Arjouni. ›Kismet‹.«
»Warte mal, hier steht was darüber.« Alena blätterte in der Zeitschrift, auf der Suche nach der Rezension.
»Ich mach uns derweil einen Tee.« Während Magdalena die Tüte ablegte und Wasser aufsetzte, wollte sie wissen, wo Alena die Nacht verbracht hatte. »Oder darf ich mir keine Sorgen machen?«
»Ich war bei Vlado.«
»Vlado?«
»Dem Kickboxer.«
»Ach, Mister Ich-finde-mich-Unwiderstehlich. Du hast aber nicht mit ihm rumgemacht?«
Alena sah über den Rand der Zeitschrift zu der Freundin. »Natürlich nicht. Ich hab ihn aufs Sofa verbannt.«
Magdalena nickte zu dem Strauß Rosen auf dem Fenstersims. »Und die sind auch von ihm?«
»Du kannst sie haben.« Alena strich die Seite mit dem Literaturteil glatt.
»Hey, steht da nicht zufällig drin, dass ein Märchenprinz unbedingt eine Magdalena kennenlernen möchte, die zweiundzwanzig ist, Lehramt studiert und einen vier Zentimeter breiten Mund hat?«
»Dein Mund ist vier Zentimeter breit?«
»Hab ich heute gemessen.«
»Warum gibst du nicht mal eine Anzeige auf? Wäre das keine Idee?« Lächelnd fügte Alena an: »Überschrift: Wer will junge Frau vorm Hungertod bewahren?«
»Was soll ich machen?«, murrte Magdalena und rieb sich über den flachen Bauch. »Ich esse und esse und werde nicht dicker.«
Sie bereitete Tee zu, stellte eine Keks-Waffel-Mischung auf den Tisch und setzte sich. »Bahnt sich zwischen dir und diesem Vlado etwas an?«
»Hier steht’s: Arjouni ist eine spannende Detektivgeschichte gelungen. Sein Stil ist packend, ›Kismet‹ hat das Zeug zum Bestseller.«
»Und Vlado?«, hakte Magdalena nach. »Hat er das Zeug, dein Herz zu erobern?«
Alena knusperte an einem Schokoröllchen. »Ich denke nicht.«
»Dich lässt er also kalt.«
»Vielleicht, weil er nur so ein Püppchen in mir sieht.«
»Deine Sorgen hätte ich gern«, murmelte Magdalena und wackelte mit der Tasse. »Sogar in dem Hagebuttentee ist mehr Bewegung als in meinem Leben.«
Sie verloren sich eine Weile in Gedanken, dann trank Alena den Tee aus und stand auf. »Komm! Gehen wir ein bisschen im Park spazieren.«
»Alena, ich bin gerade ziemlich lange geradelt. Mindestens acht Minuten. Strapaziöse, marathonmäßige acht Minuten. Ein Spaziergang würde mich jetzt definitiv überfordern.«
»Du faules Ding! Und dann beschwerst du dich, dass es deinem Leben an Bewegung fehlt.« Alena musste lachen, als Magdalena ihre Schnute zog.
***
Alena spazierte an dem See entlang, der in Smutkov neu angelegt worden war. Das wertete den Park auf. Einige Enten durchpflügten die Wellen, die der Frühlingswind in das Wasser kämmte. Sie kramte in der Hosentasche nach dem Brot, das in Alufolie gewickelt war, und bemerkte auf der gegenüberliegenden Uferseite jemanden mit einer Kapuze. Er ließ einen Stein übers Wasser springen, wobei die Enten quakend auseinanderstoben. Alena sah sich um. Jungs jagten Tauben hinterher, dahinter jäteten Männer in grüner Arbeitskleidung das Unkraut in den Blumenbeeten. Wie gern hätte sie dieses Stück Natur für sich allein. In wenigen Metern Entfernung warf eine Erle ihren Schatten auf eine Bank. Der ideale Platz zum Tagtraum-versinken.
Sie wickelte das Brot aus der Alufolie und setzte sich. Bald gurrten Tauben vor ihren Füßen und pickten Brotstückchen aus dem Gras. Sie sah nicht auf, als sich jemand neben sie setzte.
»Ich hoffe, ich störe nicht«, murmelte er, doch Alena reagierte nicht. Sie zupfte weiter Brotstücke und hoffte, dass er sie in Ruhe lassen würde.
»Iva?«, fragte er. »Iva Kubelková? Sind Sie das?«
Sie musste lächeln. Dass sie diesem schwarzhaarigen Model ähnlich sah, hatte man ihr schon mehrmals gesagt. »Nein, tut mir leid. Ich bin nur Alena.«
»Oh.«
Sie sah aus den Augenwinkeln, dass er etwas mit den Händen um-klammert hielt. An seiner Hose klebten Harzflecken, an dem ausgeleierten Hemd fehlte ein Knopf. Er roch nach Tannennadeln, und Alena fühlte sich an den Waldspaziergang mit Vlado erinnert.
»Ich bin Martin«, flüsterte er, als wäre es ihm peinlich. Er warf den Tauben Haselnüsse vor die Schnäbel und rieb die Finger aneinander. An der Haut hatten die Haselnüsse einen weißen Abdruck hinterlassen. Der ist ja nervös, dachte sie und sah zu ihm auf. Ein Mann, stämmig wie ein knorriger Baum. Ungefähr ihr Alter. Dunkelblonde Locken. Gesunde Gesichtsfarbe. Nur kurz hatten sie Blickkontakt, er wich ihr aus.
»Von dieser Iva habe ich sämtliche Zeitungsartikel und Berichte. Bin ein richtiger Fan.«
»Ah ja?«
Von dem Brot war nur mehr ein winziges Stück übrig. Sie überlegte, ob sie aufstehen und ihn sitzen lassen sollte.
»Du bist Studentin, stimmt’s?«
Sie nickte.
»Ich arbeite als Förstergehilfe.« Er kratzte an einem Harzfleck.
»Das … habe ich mir fast gedacht.«
Sie zerrieb das letzte Stück Krume zwischen den Fingern und warf es in den Taubenpulk. Die Alufolie drückte sie zu einer Kugel zusammen, dann schaute sie auf. Die Sonne versteckte sich hinter Wolkenfetzen, die von gleißendem, orangefarbenem Licht umrandet waren.
»Du redest nicht sehr viel«, stellte Martin fest. Sie musste lächeln, weil er ganz anders war, nicht so forsch, offensiv. Das gefiel ihr. Er erzählte von der Arbeit im Wald, von Falken und von Kranichen. Sie hakte nach, interessierte sich für seine Welt und erfuhr, dass er nach einem Streit mit den Eltern bei seiner Tante eingezogen war und dass er an den Wochenenden bei einem Winzer arbeitete, der ihn das Keltern lehrte.
»Später reift der Traubensaft in Kwewri aus. Weißt du, was Kwewri sind?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Tongefäße, die man im Boden vergräbt. Nur der Hals ragt aus der Erde. Er wird mit einem Stein versiegelt und mit Ton und Holzasche abgedichtet, damit kein Schimmelpilz eindringt. Viele Winzer verfolgen einen alten Brauch. Sobald ein Junge aus dem Bekanntenkreis geboren wird, füllen sie einen Kwewri mit dem gegärten Saft, und wenn der Junge später heiratet, wird der Wein kerenzt.«
»Kerenzt?«, fragte sie. »Du meinst sicher kredenzt.«
»Ja, genau.« Er ballte kurz die Hand.
Ich werde niemals heiraten.Familie ausgeschlossen.
Sie wollte die Alufolienkugel einstecken.
»Gib her. Das werfe ich für dich weg.«
»Das nächste Mal würde ich es mit altem Brot versuchen. Tauben mögen keine Haselnüsse.« Sie stand auf und wischte die Brotkrümel von der Hose.
»Gehst du schon?«
Sie lächelte. »Machs gut.«
Auf dem Weg nach Hause war sie froh, dass jemand sie abgelenkt hatte. Wahrscheinlich hätten ihr ohnehin nur wieder die Geister der Vergangenheit zu schaffen gemacht. Was hatte sie in diesem Leben überhaupt zu suchen? Sie nahm sich vor, den restlichen Abend für die Uni zu büffeln. Das Leben sah mit einem erfolgreichen Abschluss anders aus, perspektivenreicher.
***
Manchmal konnte Alena hören, wie im Dom die Glocken zu Mitternacht schlugen. Sie horchte einige Momente. Nichts. Der Tischlampenschein wärmte ihre Hände, zwischen denen sie ein Fachbuch liegen hatte. Alena klappte es zu, knipste das Licht aus und tastete sich im Dunkeln zum Bett. Sie war so müde, dass ihr die Augen schmerzten. Trotzdem starrte sie eine Weile ins Schwarz.
Familientragödie! Nach dem tödlichen Sturz seines Sohnes flüchtete …
Ach verdammt! Alena gab sich eine Ohrfeige und versuchte, an etwas anderes zu denken. In Gedanken ging sie zurück zum See, zu diesem Förstergehilfen, lauschte noch einmal in seine Geschichte und schlief ein.
Sie sah Papa auf dem verschneiten Hügel. Er stand mit dem Rücken zu ihr, hatte die Arme um den Kopf geschlungen, und das Mondlicht war wie ein Suchscheinwerfer auf ihn gerichtet.
»Papa«, rief sie und mühte sich den Hang hinauf. »Bleib stehen!«
Bevor sie ihn erreicht hatte, lief er los, ohne sich nach ihr umzudrehen. Schneeflockengestöber nahm ihr die Sicht. Sie folgte ihm, Eiskristalle glitzerten an den Wangen, dann sah sie ihn am Ende des Feldes. An dem Rest eines Drahtzauns riss sein Hemdärmel. Er stolperte über einen Felsenbuckel und hastete in einen Wald.
Alena erreichte ihn. Er betrachtete seine Hände, dann die nachtgeschwärzten Bäume mit den blattlosen Kronen.
In der Ferne prangte der Mond.
»Bitte! Hör mich an«, flehte sie und wollte ihn rütteln, auf sich aufmerksam machen, aber ihre Hände gehorchten nicht. Er nahm sie nicht wahr, sah sich um, hektisch, als fühlte er sich verfolgt. Oben, unten, zur Seite, hinter sich, überall blickte er hin – und erstarrte. Die Augen hatte er weit aufgerissen. Eine Träne gefror auf seiner Wange, während er fiebrig das Vaterunser betete.
Alena blickte sich um. Die Bäume mit den blattlosen Kronen hatten sich in rußgeschwärzte Pfähle verwandelt. An deren Spitzen knarrten die Skelette aufgespießter Sünder.
Sie sah Papa hinterher. Er rannte dem Mond entgegen, einem scheinbaren Ausweg aus dieser vereisten Hölle. Sie folgte ihm, rief seinen Namen. Äste peitschten auf ihn ein. Er sah sich um, sah sie nicht, auch nicht die Wurzel, die aus dem Weiß ragte und in der sich sein Fuß verhakte.
Er fiel aus Alenas Blickfeld.
Sie erreichte die Stelle, an der sie ihn aus den Augen verloren hatte. Eine Böschung, darunter ein zugefrorener Fluss. Papa war meterweit vom Ufer entfernt mit dem Rücken auf der knarrenden Eisdecke zum Liegen gekommen. Er wälzte sich auf den Bauch und legte mit keuchendem Atem eine kleine Stelle der feinen Schneeschicht frei.
Alena wollte ihm helfen, doch sie fühlte sich wie angewurzelt. Sie versuchte, ihm zuzurufen, brachte aber kein Wort über die Lippen, als wäre ihr Mund versiegelt.
Er kämpfte sich auf die Knie, dem Vollmond streckte er eine Hand entgegen.
Plötzlich – ein Knacken! Feine Risse schlängelten unter ihm durch das ächzende Eis davon. Er sah auf, mit Panik in den Augen, und setzte zum Sprung an. Eisschollen stießen wie Zähne empor, das Flusswasser schluckte ihn. Noch einmal kämpfte er sich aus dem nassen Maul und schnappte nach Luft.
»Hilfe«, gurgelte er und ruderte mit den Armen. »Hilfe!«
Immer langsamer wurden seine Bewegungen, immer heiserer seine Rufe, bis er schließlich unterging. Alena sah durch die Eisdecke seine Umrisse. Der Fluss schleifte ihn fort. Jetzt erst konnte sie den Mund bewegen, konnte sich rühren. Sie schrie nach ihm, immer wieder, und stürzte die Böschung hinunter.
Jemand rüttelte sie. »Wach auf!«
Alena nahm verzerrt Magdalena wahr. Sie trug ein Nachthemd mit Tweety-Aufdruck und beugte sich über sie.
»Du hast schlecht geträumt … hast im Schlaf nach deinem Papa gerufen.«
Alena presste die Augen zusammen, konnte aber nicht verhindern, dass Tränen unter den Lidern hervorschlüpften. »Er fehlt mir so.«
Magdalena wischte ihr über die Wangen. »Rutsch mal ein Stück.«
Sie legten sich in dem schmalen Bett so gut es ging bequem hin, und bald schlief Magdalena tief und fest. Alena blieb noch lange wach. Sie wollte schlafen, sich zum Schlafen zwingen, schließlich musste sie für die Vorlesung ausgeruht sein. Doch die Angst hielt sie wach, die Angst vor einem neuen Traum.
***
Der Hörsaal war gut gefüllt. Alena saß in einer der hinteren Reihen und kämpfte mit der schwindenden Konzentration. Die Tafel war mit einer Vielzahl an Formeln beschrieben. Der Professor legte die Kreide beiseite und setzte sich auf das Pult. Er ließ seine Beine schwingen, knapp über dem Holzboden, und betrachtete die Menge. Es war angenehm still, und Alena fragte sich, ob es an seiner Aura lag. Sie beobachtete ihre Sitznachbarn. Allesamt waren sie entschlossen, ihr Medizinstudium erfolgreich abzuschließen, das war den Gesichtern abzulesen. Sie würden nach Prag gehen, Ostrau, vielleicht ins Ausland. Alena fragte sich, wohin ihr Weg führte. War Ärztin das, was sie wirklich werden wollte? Warum gerade jetzt diese Zweifel? Es gab doch sonst keinen Ausweg aus diesem Leben.
Du wirst einmal eine großartige Ärztin sein und den Menschen helfen, stärkte sie sich mit innerer Stimme.
»Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!« Die Stimme des Professors war ohne Gefühl. Sicher hatte er kein Verständnis für Schwäche. Alena wusste nicht, ob sie seine Disziplin bewundern oder fürchten sollte.
Der Geräuschpegel stieg rasch. Die Studenten packten ihre Sachen zusammen. Schuhe quietschten auf dem Linoleum, während die Leute dem Ausgang zuströmten. Die Zwischenrufe und Gesprächsfetzen ver-mischten sich zu einem unverständlichen Stimmengewirr.
Alena blieb sitzen, öffnete die Knöpfe ihrer Strickjacke und tippte mit dem Fuß gegen das Stuhlbein, während sie das Blatt Papier vor sich betrachtete, das nur mit wenigen chemischen Formeln beschrieben war. Die Wörter und Symbole verschwammen vor ihren Augen.
Konzentrier dich! Sie versuchte, sich an die unterschiedlichen Krank-heitsbilder und deren biochemische Erkennung zu erinnern. Sie rieb sich die Augen und ließ den Blick durch den Saal schweifen. Die Ränge hatten sich geleert und die letzten Studenten verschwanden durch den Ausgang, während der Professor die Folie vom Projektor nahm.
Als Alena sich noch einmal den Formeln zuwandte, war die Schrift wieder deutlich zu entziffern. Einzig die Logik der Notizen erschloss sich ihr nicht, egal wie angestrengt Alena sie betrachtete. Es schien, als fehlte es den Zahlen und Buchstaben an Bedeutung.
Wie meinem Leben, dachte sie und schweifte wieder ab. Symbol für Symbol reihte sich anscheinend sinnlos aneinander wie die Tage in ihrem Dasein. Sie fühlte sich wie eine schön geschriebene Worthülse in einer belanglosen Geschichte. Mit dem Kugelschreiber tippte sie auf den leeren Teil des Blattes, als sendete sie um Hilfe bittende Morsezeichen.
Jetzt reiß dich endlich zusammen.Das hier ist wichtig.
Dennoch schienen die Buchstaben immer wieder ihre Konturen zu verlieren und ineinanderzufließen. Sie legte den Kugelschreiber ab und stützte die Ellenbogen auf.
Am liebsten würde ich mir die Gedanken aus dem Schädel quetschen, dachte sie, während ihre Handballen die Schläfen massierten.
»Kann ich Ihnen helfen?« Der Professor stand vor dem Pult, auf dem seine Unterlagen wild verstreut lagen. Mit der Folie in der Hand und fragendem Blick sah er zu ihr hinauf. Sollte sie ihn um Hilfe bitten?
»Ja, das wäre sehr nett von Ihnen.«
Als sie neben dem Prof stehen blieb, griff er seitlich an ihr vorbei, um einen Stapel Bücher gerade zu rücken. Dabei streifte er ihre Schulter. Sie wich unangenehm berührt einen Schritt zur Seite.
»Nun, erzählen Sie.« Sein Atem stank, als hätte er eine tote Maus verschluckt. »Was kann ich für Sie tun?«
Sie legte das Blatt auf das Pult und tippte auf eine Formel. »Warum reagiert Wasser in diesem Fall bei der Oxidation auf eine solche Weise? Und warum verläuft die Reduktion anders als sonst?«
Obwohl er wortreich antwortete, nahm sie keine Notiz davon. Sie schaute auf das Papier und glaubte, seinen Blick auf der Brust zu spüren. Sie zog die Strickjacke fester um ihren Körper und wandte sich ihm mit verschränkten Armen zu. »Ich begreife es einfach nicht.«
»Hören Sie«, sagte er schließlich und sah ihr in die Augen, mit einem Blick, der ihr nicht geheuer war. »Ich habe noch zu tun. Sie können mich gern zu Hause besuchen. Meine Frau kocht fabelhaften Tee. Und dann erkläre ich Ihnen ausführlich den Stoff.«
Sie erinnerte sich an ein Gerücht, das vor einiger Zeit durch die Uni gegeistert war: Ein Professor lädt Studentinnen zu sich in die Wohnung ein und geht ihnen bei passender Gelegenheit an die Wäsche. Bei so mancher Verzweifelten hatte er angeblich Erfolg gehabt.
Du elendes, altes Schwein! Sie ahnte, welch widerliche Gedanken sich hin-ter seinen harmlos klingenden Worten verbargen. Ihre Miene, die sich angewidert verziehen wollte, kaschierte sie mit einem gezwungenen Lächeln.
»Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich will Ihnen und Ihrer Frau keine Umstände bereiten.« Sie unterdrückte das Verlangen, ihm ins Gesicht zu spucken und verließ den Vorlesungssaal.
2. Kapitel
Das ist nicht mein Tag, dachte Magdalena und bückte sich nach dem Schlüsselbund, der ihr von der Kommode gefallen war.
Von der unbeschwerten Laune frühmorgens war nichts übrig geblieben. In der Mensa war sie mit einem Professor zusammengestoßen, als er sich am Kaffeeautomaten eine Tasse Tee geholt hatte. Zu dem heißen Inhalt, der sich über ihre Hose verteilte, handelte sie sich ein paar böse Blicke ein.
»Pass doch auf«, herrschte er sie an. Später bedrängte sie ein Student, der unbedingt Alenas Nummer herausbekommen wollte, aber zu feige war, sie persönlich zu fragen. Er war aber nicht zu feige, Magdalena blöd anzuschnauzen, weil sie die Nummer nicht verriet. Und vorhin musste sie sich von Lausbuben beleidigen lassen. Nachdem sie die Jungs darum gebeten hatte, mit ihren Fahrrädern nicht den Treppenaufgang zu verstellen, steckten sie ihre Köpfe zusammen und brachen in lautes Gelächter aus. Die Bemerkung »Hässliche Bohnenstange!« hatte sie deutlich gehört.
Der Wandspiegel widersprach dem nicht. Ein lebendiger Knochen-haufen, mit bieder zusammengebundenen, blonden Haaren und aschfahlem Gesicht. »… der durchs Leben stolpert«, fügte sie resigniert an.
Sie angelte eine Telefonnummer aus der Hosentasche und nahm den Hörer von der Gabel. Sollte sie es riskieren? Am Marktplatz war eine Litfaßsäule aufgestellt, die rege genutzt wurde, Kontakte zu knüpfen. Die Nummer hier hatte unter einem berührenden Gedicht gestanden. Otokar hieß der Verfasser der Zeilen, sofern sich keiner einen blöden Scherz erlaubt hatte. Sie hörte sekundenlang dem Wählton zu, ohne zu tippen, dann legte sie auf und warf die Nummer zu den Küchenabfällen.
Das Telefon läutete, Vlado war am anderen Ende, er wollte Alena sprechen.
»Sie ist noch nicht da.« Warum ruft für mich nie jemand an, dachte Magdalena.
»Kannst du ihr etwas ausrichten?«
»Ich bin aber gleich weg.«
»Du kannst ihr ja einen Zettel hinterlassen«, sagte dieser Vlado etwas spitz.
»Meinetwegen.«
»Sie soll mich zurückrufen.«
Magdalena legte auf und war genervt, dass sie auch noch den Boten spielen durfte. Sie brauchte unbedingt ein Erfolgserlebnis. Also ging sie in die Küche, holte die Nummer aus dem Abfall und wählte. Der Tag konnte nur besser werden. Sie hoffte auf ein Freizeichen.
»Kein Anschluss unter dieser Nummer«, sagte eine automatische Stimme.
***
Nach der Sache mit dem Professor wollte Alena für heute nichts mehr von der Uni wissen. Es war angenehm warm und so entschloss sie sich, mit Magdalena im Park zu relaxen und ein paar Steine in den See zu werfen. Alena trat in die Wohnung.
»Magda?« Keine Reaktion. Sie nahm die Tasche von der Schulter und lehnte sie gegen die Kommode. Neben dem Telefon lag ein Zettel mit einer Nachricht.
Ich geh in die Stadt, kleiner Einkaufsbummel. Nachher gönne ich mir Kino. Ich hoffe, dass es dir wieder besser geht. Mein Tag war miserabel, daher muss ich hier raus. Übrigens hat dieser Vlado angerufen. Du sollst dich melden, sobald du zu Hause bist. Hab dich lieb, du Tomate!
Magda
»Ich hab den Zettel nicht gesehen, also konnte ich nicht zurückrufen«, schrieb Alena darunter und malte ein lachendes Gesicht dazu.
Dann muss ich mich eben allein vergnügen, dachte sie und machte sich mit einer Wolldecke auf zum Park.
Sie breitete die Decke auf dem Rasen aus, unweit der Bank, auf der sie tags zuvor verweilt hatte, und setzte sich. Sie befühlte den Stoff der Decke, als plötzlich die Sonne verschwand und ein Schatten auf sie fiel. Martin stand vor ihr, mit neuer Hose und gebügeltem Hemd.
»Hallo«, murmelte er.
»Wie geht’s dir?«, fragte sie und schaute zu einem Mädchen, das einen blauen Plastikball immer wieder in die Luft warf.
Er stand wie angewurzelt vor ihr und starrte auf den Deckenrand.
»So wortkarg hab ich dich aber nicht in Erinnerung.«
»Ähm … Darf ich mich dazusetzen?«
»Meinetwegen.« Sie rückte ein Stück und betrachtete den See, die Arme um die angewinkelten Beine geschlungen. Er setzte sich.
Plötzlich fühlte sie seine Hand in ihren Haaren. »Hey! Was soll das?«
»Du hast da was«, flüsterte er und sie ließ ihn gewähren.
Sie betrachteten das Kleeblatt, das sich in ihren Haaren verfangen hatte.
»Schade, dass es kein Vierblättriges ist«, sagte sie. »Von dem Glück könnte ich jede Menge gebrauchen.«
Jemand weinte und sie sahen sich um. Das Mädchen stand heulend vor einer Esche, in deren Geäst sich der Plastikball verfangen hatte.
»Hallo du«, rief Martin. »Ich hole ihn dir herunter.«
Alena sah, wie er lockerleicht den Baum bestieg. Sicher wollte er sie beeindrucken. Er stieß den Ball aus den Ästen, und das Mädchen fing ihn freudig auf. Da rutschte er mit dem Schuh ab, versuchte vergeblich, einen Ast zu greifen und stürzte von der Esche.
Alena eilte hinzu und half ihm auf die Beine. »Lass mal sehen.«
Er hatte sich am Unterarm eine hässliche Wunde gerissen. Mit grim-miger Miene sah er dem Mädchen hinterher.
»Hm«, meinte Alena. »Das müsste genäht werden.«
Er zog seinen Arm zurück. »Das kann ich mir nicht leisten.«
Sie überlegte eine Weile. »Dann komm mit. Ich verbinde es dir.«
Alena kramte den Erste-Hilfe-Kasten unter ihrem Bett hervor.
Martin stand vor dem Wandregal. »Du ordnest deine Bücher nach Verlag und nach dem Alphabet?«
»Ja.« Sie platzierte das Verbandszeug auf dem Schreibtisch, er setzte sich auf den Stuhl und blickte sich interessiert um. Alena ignorierte seine Neugierde und konzentrierte sich auf das Verarzten der Wunde.
Es dämmerte bereits, als sie mit einem Pflaster den Verband fixierte.
»Fertig.« Sie gab ihm einen Klaps auf den Oberschenkel. »So ein Medizinstudium hat schon was für sich.« Sie packte die Schere zurück.
»Danke. Wie ich sehe, bist du gut im Flicken.« Er lachte und nickte zum Stoffmond.
Sie hielt in der Bewegung inne. So eine blöde Bemerkung! Ihren Tröster durfte niemand beleidigen. Langsam ordnete sie das übrige Verbandstuch in den Erste-Hilfe-Kasten und sagte mit entschlossener Stimme: »Es ist besser, wenn du jetzt gehst.«
»Ich … ähm … hab ›Flicken‹ gesagt.«
»Geh jetzt. Ich muss noch was für die Uni tun.«
»Ähm … ja. Dann hoffe ich … also vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.«
Sie hörte, wie die Wohnungstür ins Schloss klackte, dann ging sie zum Fenster. Vielleicht hatte sie ein bisschen überreagiert.
Als er am Treppenaufgang zu sehen war, flatterte eine Amsel vom Geländer. Er rieb über den Verband und sah zu ihr hoch. Sie wich einen Schritt zurück. Das Telefon läutete.
»Endlich erreiche ich dich.«
»Vlado? Was gibt’s?«
»Ich wollte dich ins Kino einladen oder hast du Lust auf ein Essen, vielleicht gemütlich bei Kerzenschein?«
»Heute nicht mehr.«
»Nein?«
»Mir ist nicht gut.«
»Hm. Und wie sieht es mit morgen aus?«
»Ich melde mich, wenn ich Zeit hab, ja?« Alena hatte den Zettel von Magdalena vor sich liegen. Als sie Vlado seufzen hörte, strich sie das lachende Gesicht durch und malte ein schielendes darunter.
Sie räumte das Verbandszeug zurück, borgte sich »Kismet« aus, den Roman von Jakob Arjouni, und machte es sich auf ihrem Bett gemüt-lich. Alena las, bis sie die Wohnungstür hörte.
»Magda?« Es blieb still. Für einen Moment dachte sie, es wäre Martin.
Schritte waren zu hören, jemand näherte sich ihrem Zimmer. Alena klappte das Buch zu und hielt den Atem an. Die Tür ging auf, und Magdalena stand im Rahmen, lächelnd. »Ich hab’s getan«, sagte sie nur.
»Ja, mich erschreckt. Blöde Kuh«, murrte Alena und atmete einmal kräftig durch. Magdalena stellte sich in den Raum und imitierte eine Bauchtänzerin.
»Ich hab es getan, Baby, jaha«, sang sie.
»Was? Was hast du getan?«
»Ich hab es getan, Baby, jaha!«
»Was?«
»Morgen zeig ich es dir.«
Alena schleuderte ein Kissen nach ihr. »Du bist ekelhaft, wenn du gute Laune hast.«
Magdalena nickte zu »Kismet«. »Und du bist ein Dieb. Hast mir wieder einen Roman geklaut.«
»Naja«, warf Alena ein. »Bis du damit anfängst, zählt er als Klassiker.«
»Hey!« Magdalena schnappte sich das Kissen, das unter dem Schreibtisch gelandet war, und stürzte sich auf Alena.
***
Wie immer um acht Uhr bimmelte der Milchmann am Studentenheim vorbei. Magdalena kippte das Fenster, woraufhin frische Morgenluft in die Küche flutete. Der Kaffeeautomat schnaufte den letzten Rest Wasser in die Kanne. Es ist angerichtet, dachte sie und betrachtete den Küchentisch. Zwei Gedecke, Erdbeermarmelade, ein Korb mit frischen Brötchen, und auf dem Stuhl lag der Stadtanzeiger.
»Alena! Schlafmütze! Aufstehen!«
Magdalena horchte. Kaum dass sie es erwarten konnte, Alena von ihrer Aktion zu erzählen. Das war vielleicht ein verschlafenes Ding.
Sie drückte sich vom Fenstersims ab, hüpfte in den Gang und klopfte gegen Alenas Zimmertür.
»Hallo! Aufstehen!« Sie drückte das Ohr gegen die Tür. Ein Grummeln war zu hören und Bettdeckenrascheln.
»Aufstehen!« Wieder klopfte sie an.
»Lass mich in Ruhe.« Alena klang, als wäre sie erst vor einer Stunde eingeschlafen.
»Aufstehen!«
»Es ist noch spät in der Nacht!«
»Aufstehen!«
»Ja doch. Ich komm ja schon, du Nervensäge.«
Magdalena goss Tee ein, da schlurfte Alena in die Küche, mit einer Faust das rechte Auge reibend.
»Da bin ich ja mal gespannt, was du Supertolles getan hast.« Sie setzte sich und nippte an dem Tee. Magdalena zog den Stuhl hervor, auf dem der Stadtanzeiger lag. »Voilà!«
»Du hast eine Anzeige geschaltet?«
Magdalena grinste mit ihrem vier Zentimeter breiten Mund.
»Lass mal sehen.« Alena schnappte sich die Zeitung, wurde schnell fündig und las vor: »Ich bin so dünn, dass ich mich hinter dem Zaunpfahl verstecken könnte, mit dem ich nach dir winke. Momentan bin ich Studentin und Single. Hoffentlich ändert sich beides in Bälde. Chiffre: 745923«
Alena faltete das Heft zusammen und rieb sich über die gerunzelte Stirn. »… in Bälde«, wiederholte sie. »Ja … doch … das hat was … ziemlich … knackig das Ganze …« Sie räusperte sich.
Magdalena sah sie an und zog ihr Lächeln zu einer Schnute. »Hm. Hab verstanden«, grummelte sie und warf den Stadtanzeiger zum Altpapier unter der Spüle. »Hm.«
Sie frühstückten eine Weile, ohne etwas zu sagen. Sie tranken den Tee aus, sahen sich an, dann brach Magdalena das Schweigen: »War das wirklich so blöd?«
»Naja«, erwiderte Alena und drehte den Verschluss auf die Marme-lade. »Nach dem ersten Satz könnte man denken, es handelt sich um die Anzeige einer Slipeinlage.«
»Ha, ha!«
»Tut mir leid, das war gemein. Ich würde es dir so sehr gönnen, dass sich der Richtige meldet.«
Sie packten die Taschen und gingen zur Uni.
Viel bekam Magdalena von den Vorlesungen nicht mit. Zu sehr war sie in Gedanken versunken und hoffte, dass sich vielleicht jener Mann melden würde, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte.
***
Alena schwänzte die letzte Vorlesung, um dem Professor aus dem Weg zu gehen, der sie zu sich nach Hause eingeladen hatte. Sie schlenderte am Gehweg entlang und zählte vier parkende Autos bis zum Wohnheim. Eine Siamkatze spielte mit einer leeren Zigarettenpackung. »Mieze!«, rief Alena und ging in die Hocke.
Die Katze sah auf, während sie mit der Pfote weiter die Zigarettenpackung rückte.
»Komm doch her, ich tu dir nichts.«
Ein Gebimmel. »Achtung!«
Alena sprang auf und musste einem Mountainbikefahrer ausweichen. Die Tasche rutschte ihr von der Schulter. »Pass doch auf!«, rief sie dem Blondschopf nach, doch der winkte ab und jagte weiter auf dem Gehweg dahin. Die Katze flüchtete vor dem Radfahrer hinter die parkenden Autos. Alena sah einen Mazda aus der Gegenrichtung kom-men. Sie hörte ein Hupen, blockierende Reifen, dann einen dumpfen Schlag.
Der Mazda hielt nicht an. Alena ahnte, dass es die Katze erwischt hatte und eilte zu der Stelle, an der die Zigarettenpackung lag. Da lag sie auf der Straße, die Katze, halb tot. Die Gedärme quollen aus dem Bauch, die Pfoten zuckten. Glasige Augen.
Dem Leiden des Tieres musste ein Ende gesetzt werden! Alena presste die Tasche gegen ihre Seite und ging zögerlichen Schrittes bis zur Bordsteinkante, wandte sich dann aber ab. Dazu war sie nicht in der Lage. Sie rannte die Treppe hinauf und hätte am liebsten losgeheult. Weil sie zu schwach war, hatte die Katze daran zu leiden. Ein schlaksiger Student kam ihr entgegen. Er schob seine Brille die Nase hoch und warf Alena durch die dicken Gläser bewundernde Blicke zu. »Hallo, schöne Frau!«
»Kannst du mir helfen? Bitte!«
»Aber gern doch, schöne Frau.«
Alena deutete auf die Straße.
»Die Katze dort?«, fragte er.
»Du musst sie töten. Bitte!«
»Da hole ich mir nur eine Krankheit.«
»Bitte, mach schnell!«
»Hm, aber nur, wenn du mit mir ausgehst, so als kleines Dankeschön.«
Ja, und dann die Beine breitmachen, dachte Alena und drehte ihm den Rücken zu. Ihr Scheißkerle widert mich so dermaßen an!
Sie warf die Haustür hinter sich ins Schloss.
In ihrem Postfach steckte zwischen zwei Werbeprospekten ein leicht zerknitterter Brief. Er war nicht frankiert, also persönlich abgeliefert. Sie bekam häufig Liebesbriefe, die sie nur überflog und dann in den Papierkorb warf. Die Typen wollten sie fürs Bett, meistens noch mehr: eine Beziehung. Dafür fehlte ihr jegliches Interesse.
Der Brief stammte von Martin. Vielleicht bedankte er sich für das Verarzten. Oder er entschuldigte sich. Aber wofür eigentlich? Er konnte nichts dafür, dass sie so empfindlich war, wenn es um ihren Stoffmond ging. Sie vermutete keinen Liebesbrief, dafür war Martin zu schüchtern. Oder vielleicht doch? Er hatte etwas an sich, das Alena nachdenklich stimmte, und das sie nicht greifen konnte. Sie gab dem Brief eine Chance und steckte ihn in die Tasche. Die Werbeprospekte warf sie in ein fremdes Postfach.
***
Alena sah zum Fenster hinaus in die Nacht. Laternen leuchte-ten die Straße aus und sie konnte einen dunklen Fleck ausmachen, dort, wo nachmittags die sterbende Katze gelegen hatte. Sie kurbelte den Rollladen herunter. Der Brief lag neben dem Stoffmond auf dem Bett. Noch hatte sie ihn nicht geöffnet, weil sie erst von den Gefühlen Abstand gewinnen wollte, die durch die überfahrene Katze ausgelöst worden waren. Sie setzte sich aufs Bett und drehte den Brief im Licht der Nachttischlampe hin und her. Auf der Rückseite war ein Kleeblatt befestigt. Sie kratzte es an, während sie Martin vor sich sah, wie er vom Keltern erzählte, den Blickkontakt scheute und den Tauben Haselnüsse vor die Schnäbel warf.
Langsam bekam sie eine Ahnung, was ihn von anderen Männern unterschied: Bei ihm fühlte sie sich nicht wie ein Püppchen oder ein Stück Fleisch. Vielleicht würde er den Menschen in ihr erkennen, der sie war.
Alena angelte eine Schere aus der Schublade und öffnete den Brief.
»… ich habe mir viele Gedanken gemacht, über dich und so …«, las sie und stockte, weil sie die fahrige Schrift kaum entziffern konnte. »… und du hast bestimmt bemerkt, dass ich schüchtern bin. Und an dem Abend, wo du mich verbunden hast, da habe ich Flicken gesagt, nicht dass du da was falsch verstanden hast. Wäre schade, weil ich dich …« Sie kniff die Augen zusammen und hielt den Brief näher, er roch eigenartig süßlich. »… unbedingt kennenlernen möchte und du für mich das schönste Wesen bist, das ich je gesehen habe und ich immerzu an dich denken muss …«, fuhr sie fort und überflog den nahezu unle-serlichen Rest. Sie ließ die Hände sinken, der Brief glitt ihr aus den Fingern. Irgendetwas stimmte nicht. Das Papier war mit einem Parfüm eingestäubt, dem Parfüm, das ihre Mutter immer benutzt hatte.
Magensäfte stießen Alena sauer auf, als Gedankenfetzen sie an jene schreckliche Nacht erinnerten: Mutter hatte sich hingekniet, die Hände waren blutverschmiert gewesen. Sie zerrte Alena unter dem Bett hervor.
»Hure!«, schrie sie und trat ihr in den Bauch und auf den Kopf. Polizisten zogen Mutter weg, die wild um sich schlagend immer wieder »Hure« geschrien hatte.
Alena rieb sich vergeblich mit dem Unterarm den Geruch von der Nase. Sie sprang auf, lief ins Bad und erbrach sich über der Kloschüssel. Als sie zurückkehrte, zerknüllte sie das Schreiben und warf es weit von sich, dieses vergiftete Stück Papier. Sie löschte das Licht, rollte sich unter der Decke zusammen und versuchte, sich von einer Seite auf die andere in den Schlaf zu wälzen.
Sie fühlte sich leicht wie auf einer Wolke und stand auf einer Wiese. Die Sonne war über ihr, die Luft flirrte.
»Alena!«
»Papa?« Sie suchte mit den Augen den Wald ab, der sich in der Ferne erhob. Sonnenstrahlen brachen durch die Kronen und überfluteten den Waldboden, der üppig mit Moos bewachsen war. Schmetterlinge flatterten um die Baumstämme. Papa kam hinter einem Busch hervorgeschli-chen. Er hatte ihren Stoffmond unter den Arm geklemmt und strich sich Tannennadeln aus den Haaren.
»Alena!«, rief er, winkte und lachte ihr zu.
»Papa!«, juchzte sie. »Papa!« Sie lief los, kam aber nicht voran.
»Papa!«, ächzte sie und fühlte tiefe Beklommenheit.
Er winkte fortwährend. »Alena!«, rief er mit gleichbleibender Heiter-keit.
Eine Wolke verdunkelte das Firmament. Düstere Schatten fielen auf den Wald. Die Bäume ließen Blätter und Nadeln fallen und die Äste hängen. Schimmel befiel die Baumrinden, das Moos wurde glitschig, braun.
Alena sammelte alle Kraft, wollte zu ihm in seine Arme und stürzte über einen Maulwurfshügel. Als sie aufsah, war er fort.
»Papa?« Mit ungeheuerer Anstrengung mühte sie sich auf die Beine und sah sich um. »Papa?«
Die Mutter erschien aus dem faulenden Wald, ein in Leinen gewickeltes Bündel hinter sich herziehend. Sie schlug den Stoff beiseite und legte Milans weißen Körper frei. Mit der Faust drohte sie, die hasserfüllten Augen fest auf Alena gerichtet.
Die Wolke schwärzte den Himmel. Der Schatten griff auf die Wiese über und fraß das Gras bis hin zur Mutter.
»Pass auf!« Alena ruderte mit den Armen, die Mutter schimpfte weiter. Das Narbengewebe am Hals wucherte über ihr Gesicht.
Plötzlich war es stockduster und Alena stand knöcheltief im Schlamm.
»Papa? – Mama?« Sie flüsterte in das Schwarz hinein. »Ist hier jemand?«
Die Wolkendecke riss auf, und der Mond erschien als schmale Sichel. Er leuchtete auf einen kahlen Busch. Dahinter kauerte ein nackter Mann. Bleich war er. Plötzlich bekam sein Gesicht Risse und eine haa-rige Schnauze trat hervor, die Haut platzte und ein Werwolf schälte sich aus dem Körper, schüttelte Hautfetzen von sich. Die Bestie kam geduckt aus dem Versteck geschlichen. Alena wollte fliehen, doch Schling-pflanzen verwurzelten sie in der Erde. Die Augen des Werwolfs suchten umher und leuchteten auf, als sie Alena erspähten. Ein dumpfes Grollen drang aus seiner Kehle, während er sich heranpirschte und eine damp-fende Spur nach sich zog. Alena versuchte zu schreien, als eine raue Zunge ihre Beine aufwärts leckte. Doch sie brachte keinen Laut hervor.
Wild um sich schlagend wachte Alena auf.
»Geh weg von mir! Verschwinde!« Sie knipste die Nachttischlampe an, fasste nach der Schere und sah sich um. Sie war bereit, auf alles einzustechen, was sich ihr näherte.
Es war nur ein Traum, nur ein Traum … Langsam legte sie die Schere zurück und lehnte sich mit dem Stoffmond im Schoß gegen die Wand.
Schweiß rann von ihrer Stirn und salzte die Augen. Alena drückte den Stoffmond gegen das Gesicht, der Tröster linderte den brennenden Schmerz. Sie wiegte sich vor und zurück.
»Ich will doch nur Ruhe! Ruhe und Frieden, mehr will ich nicht«, murmelte sie, während sie den Stoffmond wieder in den Schoß legte.
Alena befühlte die Narbe über der Augenbraue und entdeckte im Lichtkegel der Nachttischlampe Martins Briefknäuel am Fuße des Bücherregals. Sie holte sich das Schreiben und fetzte es in Stücke.
3. Kapitel
Martin schreckte hoch und wäre fast vom Sofa gefallen, seiner Schlafstätte. Er brauchte einige Momente, um sich zu sammeln, sich von dem schlechten Traum zu lösen. Dann blies er die Backen auf und schnaufte sich die Anspannung aus dem Körper.
»Der Brief wird ihr gefallen«, murmelte er, während er nach seiner Armbanduhr tastete, die neben dem Sofa auf dem Teppichboden lag. Es war fast Mittag.
»So spät?« Mit einem Ruck setzte er sich auf und sah zu seiner Tante, deren Silhouette sich hinter dem vergilbten Vorhang abzeichnete.