Das exegetische Proseminar - Stefan Fischer - E-Book

Das exegetische Proseminar E-Book

Stefan Fischer

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Beschreibung

INHALT Editorial Stefan Fischer / Thomas Wagner Hauptbeiträge Thomas Wagner, Das Proseminar als Chance zur Entdeckung biblischer Textwelten - Aufgaben und Chancen Christina Hoegen-Rohls, Schritt für Schritt. Auf dem Weg in den Text, auf dem Weg zum Heil am Beispiel von Joh 4,1-42 Matthias Hopf, Exegese als Literaturwissenschaft. Der exegetische und didaktische Mehrwert literaturwissenschaftlichen Arbeitens Stefan Fischer, Hermeneutische Reflexion als notwendiger Bestandteil des Proseminars Lehr-/Lernbeispiele Jan Heilmann, Kurzrezensionen im exegetischen Proseminar Christian Stein, Die Chance des Anderen: Lektüre von Bibeltexten mit fachfremden Studierenden Rezensionen Erich Zenger u.a.: Einleitung in das Alte Testament, 9. aktualisierte Auflage hg. v. Christian Frevel (KStTh 1,1), Stuttgart 2016, rezensiert von Melanie Köhlmoos Sönke Finnern / Jan Rüggemeier: Methoden der neutestamentlichen Exegese. Eine Einführung für Studium und Lehre, Tübingen 2016, rezensiert von Jan Heilmann Interview … mit Peter Wick

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Forum Exegese und Hochschuldidaktik – Verstehen von Anfang

Jg.1 – 2016 | Heft 2

Herausgegeben von Stefan Fischer und Thomas Wagnerin Zusammenarbeit mit Melanie Köhlmoos

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-7720-0056-0

Inhalt

EditorialDer exegetische und didaktische Mehrwert literaturwissenschaftlichen ArbeitensDer methodische AusgangspunktDie methodischen Stärken einer literaturwissenschaftlichen ExegeseDer didaktische MehrwertLiteraturverzeichnisSchritt für Schritt auf dem Weg in den Text –Erster Schritt: Visuelle TextwahrnehmungZweiter Schritt: Einblick gewinnen in die drucksemantische Qualität eines TextesDritter Schritt: Die Verssegmentierung des TextesErtrag: Die Methode der Verssegmentierung als Methode der Verlangsamung und als Methode der Text- und SprachsensibilisierungLiteraturDas Proseminar als Chance zur Entdeckung biblischer TextweltenPrologDer historisch-kritische Zugang zu biblischen TextenEpilogLiteraturverzeichnisProseminar und HermeneutikBestandsaufnahme ProseminarErweiterung des MethodenkanonsNotwendigkeit der Hermeneutik im ProseminarPraxisüberlegungLiteraturverzeichnisKurzrezensionen im exegetischen ProseminarHochschuldidaktische Herausforderung, die mit der Lehr-/Lernmethode adressiert werden sollDidaktische und organisatorische Einbettung der Lehr-/Lernmethode in das ProseminarFür das AT-Proseminar:Für das NT-Proseminar:LiteraturDie Chance des Anderen:Die Idee einer besonderen LehrveranstaltungDie ZielgruppePraxis des Lesens (Probleme und Herausforderungen)Das scheinbar BekannteÜberlegungen zur Textauswahl: »Pars pro toto – aber welches?«Was bleibt?LiteraturverzeichnisRezensionenZum BuchZur DidaktikZur MethodikDas Buch als Lehr- und LernbuchSönke Finnern/Jan Rüggemeier, Methoden der neutestamentlichen Exegese. Ein Lehr- und Arbeitsbuch.Zum BuchZur DidaktikZur MethodikDas Buch als Lehr- und LernbuchInterview mit … Peter Wick

Forum Exegese und Hochschuldidaktik Verstehen von Anfang an (VvAa)

Jahrgang 1 – 2016, Heft 2

Editorial

Stefan Fischer und Thomas Wagner

Die zweite Ausgabe dieser Zeitschrift ist dem Thema Proseminar gewidmet. Studierenden von Lehramt und Fachtheologie begegnet das Proseminar recht früh im Studienverlauf. Vom 28. September bis 1. Oktober 2015 befasste sich die erste Netzwerktagung »Verstehen von Anfang an« in Wuppertal mit dieser Veranstaltungsform. Während der Tagung führten uns Referentinnen und Referenten in ihre Methodik der Vermittlung exegetischer Methoden ein. Die Workshops und Vorträge dieser Tagung gaben einen Anstoß zu intensiven Diskussionen und methodischen Reflexionen, die in die hier abgedruckten Beiträge einflossen. Zugleich entstammen die vier Hauptbeiträge nicht nur der theoretischen Reflexion über das Proseminar, sondern sind alle praxiserprobt.

Matthias Hopf lehrt seit vielen Jahren das Proseminar an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau und wurde bereits als Student in literaturwissenschaftliche Methoden der Exegese eingeführt. In seinem Beitrag plädiert er für den exegetischen und didaktischen Mehrwert eines literaturwissenschaftlichen Ansatzes. Er hebt die methodischen Stärken einer literaturwissenschaftlichen gegenüber einer konventionellen Exegese hervor und stellt dazu vor allem die Werke von Uwe Becker »Exegese des Alten Testaments« und Helmut Utzschneider/Stefan Ark Nitsche »Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung« gegenüber.

Die Neutestamentlerin Christina Hoegen-Rohls stellt ihre in Münster erprobte Methode der Verssegmentierung vor, die auch für Studierende ohne hebräische oder griechische Sprachkenntnisse geeignet ist. Am Beispiel von Johannes 4,1–15 zeigt sie, wie die Gliederung eines Textes auf das Leseverständnis wirkt. Sie regt an, von der visuellen Wahrnehmung her über Form und Inhalt zu reflektieren und so das Lesen des Textes zu entschleunigen. Ihr Lehrformat bietet sich sowohl für wöchentliche Veranstaltungen als auch für Blocktage an.

Wir als Herausgeber erlauben uns, in diesem Band jeweils einen eigenen Text vorzulegen. Uns beiden ist es wichtig, den hermeneutischen Voraussetzungen der Studierenden Gewicht zu verleihen. Thomas Wagner sieht das Proseminar als Chance zur Entdeckung biblischer Textwelten. Er führt die Unterscheidung von Methoden und Perspektiven ein und legt Wert auf die Vermittlung ihrer unterschiedlichen Funktionen, so dass Studierende zielorientiert mit dem passenden Werkzeug an Texte herangehen. Stefan Fischer nimmt in Wien die literaturwissenschaftlichen Methoden der Exegese als Erweiterung des Methodenkanons auf. Er stellt sie in einen grösseren hermeneutischen Zusammenhang und hebt die Notwendigkeit der Hermeneutik im Proseminar hervor. Persönliche Voraussetzungen und Zugänge der Studierenden sowie die Spannung zwischen kirchlichem Anspruch und universitärer Theologie legt er dar und zeigt, was in einem modifizierten Proseminar berücksichtigt werden sollte und wie eine schriftliche Arbeit aufgebaut sein kann.

Zwei kurze Berichte aus der Praxis bieten Jan Heilmann und Christian Stein. Jan Heilmann stellt die Methode der von Studierenden erstellten Kurzrezensionen vor. Diesen widmet er sieben Minuten pro Lehreinheit. Sie vermittelt nicht nur die Kenntnis relevanter Literatur, sondern ist eine vorgegliederte Schreibaufgabe, welche Studierende niedrigschwellig im wissenschaftlichen Schreiben fördert. Christian Stein berichtet von seinen Erfahrungen der Bibellektüre mit fachfremden Studierenden. Der Vorgabe vieler Bachelor-Curricula, Wahlfächer aus anderen Fachbereichen belegen zu müssen, wurde mit einem eigens entwickelten Modul begegnet, in dem hohes Gewicht auf die Lektüre biblischer Texte gelegt wird. Mit dieser Form der Veranstaltung wird eine niedrigschwellige interdisziplinäre Methodenreflexion von Studierenden geleistet, durch die sowohl die Ausprägung exegetischer Methoden als auch die Methodenkompetenz der Studierenden gefördert wird.

In zwei Rezensionen werden relevante Fachbücher vorgestellt und besonders auf ihren didaktischen Gehalt als Lehr- und Lernbuch hin angeschaut. Das Standardwerk »Einleitung in das Alte Testament« von Erich Zenger liegt nun in der neunten aktualisierten Auflage vor, für die erneut Christian Frevel die Herausgeberschaft übernahm. Einen Neuentwurf praktischer Methodenvermittlung bietet das von Sönke Finnern und Jan Rüggemeier vorgelegte Werk »Methoden der neutestamentlichen Exegese«, das sich im besonderen Maße der Frage der Integration von diachronen und synchronen Perspektiven in der exegetischen Analyse biblischer Texte widmet.

Schließlich stellt sich Peter Wick, Neutestamentler in Bochum, den Fragen eines Interviews und gibt so Einblick in seine Sicht von Forschung und Lehre im universitären Alltag.

Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen dieses Heftes, das mit seinen unterschiedlichen Perspektiven Ihren Blick auf die eigene Unterrichtspraxis fördern möchte. Für Anregungen und konstruktive Kritik sind wir dankbar. Diese senden Sie bitte an: [email protected]

Wien/Wuppertal Stefan Fischer und Thomas Wagner

Forum Exegese und Hochschuldidaktik Verstehen von Anfang an (VvAa)

Jahrgang 1 – 2016, Heft 2

Der exegetische und didaktische Mehrwert literaturwissenschaftlichen Arbeitens

Dargestellt anhand eines Vergleichs alttestamentlicher Methodenwerke

Matthias Hopf

Abstract | Biblical texts are literary entities but Hebrew Bible exegesis has not paid enough heed to this fact. Although the struggle between diachronic and synchronic approaches has subsided somewhat, exegetical methodology still clings to traditional features in several ways. In contrast, the textbook by Utzschneider/Nitsche employs insights of literary studies to a high degree. After an introduction into the basis of this approach, the present paper compares it to »classical« methodology with respect to the arrangement of methods in general, as well as the application of literary criticism and form criticism in detail (exemplified by the textbook of U. Becker). Strengths and weaknesses of both textbooks are portrayed. In sum, this paper argues in favour of cultivating insights of literary studies, not at least because academic teaching will benefit in several ways: Firstly, paying respect to the canonical text form counters a growing scepticism among students towards diachronic perspectives. Secondly, as many students combine theology with literary studies, there is a high interdisciplinary potential in applying a literary exegetical approach. And finally, future pastors and teachers will receive analytical tools, which can be applied easily and very fruitful in diverse practical contexts.

Die alttestamentliche Bibelwissenschaft ist in ihrem Kern eine Textwissenschaft, die sich mit hochliterarischen und hochästhetischen Texten auseinandersetzt.1Nimmt man dies ernst, kann die daraus folgende ästhetisch-literarische Betrachtungsweise biblischer Texte Herausforderung und Ansporn sein, den überkommenen Methodenkanon der atl. Exegese konstruktiv fortzuschreiben bzw. zu modifizieren. Dies aufgreifend versteht sich der vorliegende Beitrag als ein Plädoyer für ein Um- bzw. Weiterdenken in der Bibelauslegung – hin zu einer stärkeren Wahrnehmung des Endtextes und seiner historisch-literarischen Würdigung. Trotz dieser Betonung der synchronen Textbeobachtung soll der bleibende Wert der diachronen Betrachtungsweise nicht in Frage gestellt werden. Im Gegenteil: Auch in einem zunächst synchron arbeitenden Exegesemodell mündet die Auslegung in die Analyse historischer Textentwicklungen. Eine entsprechende bewusst veränderte Anordnung der Arbeitsschritte führt die synchronen und diachronen Elemente zu einer Synthese zusammen und stellt deren jeweiligen Eigenwert heraus.

Dies möchte ich in der Form demonstrieren, dass ich zunächst (1) den methodischen Ausgangspunkt einer literaturwissenschaftlich orientierten Exegese des Alten Testaments darlege, sodann (2) diesen Ansatz mit einem eher herkömmlichen Exegesesystem vergleiche, um schließlich (3) zu zeigen, welch erhebliche Vorteile die beschriebene Umorientierung für eine biblische Hochschuldidaktik mit sich bringt.

Matthias Hopf, *1976, Dr. theol., ist Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Altes Testament an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Studium der Ev. Theologie und Judaistik in Neuendettelsau, Leipzig, Jerusalem und Heidelberg. Seine literaturwissenschaftliche Kompetenz wies er in seiner Dissertation zum Buch Hoheslied nach. Als Pfarrer der Evang.-Luth. Kirche in Bayern verfügt er über mehrjährige Erfahrung aus verschiedenen Praxiskontexten (Religionsunterricht an verschiedenen Schultypen, Gemeinde- und Erwachsenenpädagogik, Gottesdienste u.v.m.).

Der methodische Ausgangspunkt

Zunächst ist festzuhalten: Es gibt keine einheitliche Literaturwissenschaft. Entsprechend gibt es auch nicht nur die eine literaturwissenschaftliche Exegese. In der Tat haben sich in dieser »Stilrichtung« mittlerweile viele verschiedene Spielarten entwickelt.1

Forschungsgeschichtlich höchst wirksam war die sog. »Richter-Schule«, die stark auf strukturalistischen Thesen basiert und sich v.a. mit der formalen Gestaltgebung biblischer Texte auseinandersetzt.2 Ein zweiter Ansatz wird von Christof Hardmeier verfolgt, der sich von der Handlungsspiel-Theorie herkommend mit der Wirkung der Texte beschäftigt.3 Daneben gibt es – besonders im angelsächsischen Bereich – viele weitere Herangehensweisen, die spezifische Methoden auf biblische Texte anwenden, wie z.B. narratologische Ansätze,4aber auch dramentheoretische,5 dann der sog. canonical approach,6 oder neuerdings Versuche, das Konzept der Intertextualität fruchtbar zu machen.7 Die Vielfalt dieser Ansätze kann hier allerdings nicht hinreichend dargestellt werden. Stattdessen soll in diesem an der Hochschuldidaktik interessierten Forum der Vorteil literaturwissenschaftlichen Arbeitens anhand einschlägiger deutschsprachiger Lehrwerke zur alttestamentlichen Exegese vorgestellt werden. Der Ausgangspunkt liegt dabei bei dem »Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung« von Helmut Utzschneider und Stefan Ark Nitsche, dem Lehrwerk, das unter jenen mit einer literaturwissenschaftlichen Orientierung die wohl größte Verbreitung aufweist.

 

Die theoretischen Grundlagen: Zum besseren Verständnis wird im Folgenden die grundlegende Hermeneutik des Lehrwerks anhand einiger wichtiger Wendungen verdeutlicht:

 

(a) Rezeptionsästhetik:8 Ein Grundsatz des »Arbeitsbuchs« ist, dass Texte nicht losgelöst von ihren Kontexten zu lesen sind. Dies gilt in doppelter Hinsicht: Einerseits ist der Kontext ihrer historischen Entstehung zu beachten, was sicherlich ein Allgemeinplatz der Exegese ist. Daneben tritt aber ein entscheidendes Alleinstellungsmerkmal: Das Verständnis eines Textes ist immer auch abhängig von den Rezipierenden.9 Das individuelle Vorwissen, die persönliche Situation, dazu der zeitgenössische Kontext und zeitgeschichtliche Strömungen – all diese Faktoren wirken darauf ein, wie ein Text wahrgenommen wird.10 Da keine Lesesituation wie die andere ist, ist auch kein Leseverständnis einem anderen völlig gleich.11 Texte sind insofern als »situationsoffen« zu bezeichnen.12 Über diese Vielfalt in der Rezeption hinaus liegt die Uneindeutigkeit eines Textes aber bereits in seiner Grundstruktur selbst begründet. Kein Text ist in sich völlig abgeschlossen und eindeutig, sondern besitzt immer Vieldeutigkeiten, die unterschiedliche Verständnisse ermöglichen. Erst im Leseprozess werden diese »Leerstellen« je unterschiedlich durch die Rezipierenden gefüllt und vereindeutigt.13 Leserinnen und Leser wirken also dabei mit, welche Bedeutungen einem Text zugeschrieben werden. Die Sinnbildung geschieht gleichermaßen durch einen sinnoffenen Text wie durch sinngebende Leserinnen und Leser.

 

(b) Die drei Text-Intentionen: Angesichts dieser Prämisse der Rezeptionsästhetik bringt jeder Leseakt vielleicht keinen neuen Text, aber doch ein je neues Textverständnis hervor. Das führt zu einer wichtigen Unterscheidung im Anschluss an Umberto Eco, nämlich zu den sog. drei intentiones:14 die intentio auctoris, die intentio operis und die intentio lectoris.

Die intentio auctoris ist wohl diejenige Intention, an der Leserinnen und Leser vermutlich zunächst interessiert sind: Man will wissen, was die Autorin/der Autor »eigentlich gemeint hat«. Auch Eco geht davon aus, dass sie der hauptsächliche Fluchtpunkt des Leseverstehens ist. Allerdings ist er gleichzeitig überzeugt, dass sie immer nur ein virtueller Punkt bleibt,15 der nie erreicht wird, da kein Versuch des Verstehens genau exakt das reproduzieren wird, was die Autorin/der Autor tatsächlich intendierte. An dieser Stelle setzt die intentio operis ein. Man könnte sie als eine Art weites Feld von Textaussagen beschreiben, welches ein Text uns bietet – viele verschiedene Verständnisse sind möglich.16 Eine Intention innerhalb dieses Feldes ist die intentio auctoris, aber hinzu treten weitere, nämlich jene der Leserinnen/Leser: die intentiones lectoris. Nach Eco wird jede intentio lectoris dem Text regelrecht »aufgezwungen«.17 Ein wissenschaftlich lauterer Leseakt wird sich also immer darum bemühen, die intentio operis gegenüber einer »übergriffigen« intentio lectoris zu verteidigen.18

Hervorzuheben ist, dass die eine Intention des historischen Autors – wenn überhaupt – bestenfalls tentativ und fragmentarisch zu eruieren sein wird. Primärer Gegenstand der Untersuchung ist darum zunächst und v.a. die intentio operis.19

 

(c) Der Text als ästhetisches Subjekt: Für einen biblischen Text folgt daraus, dass die intentio auctoris auf der Ebene des Endtextes in der intentio operis aufgeht; oder mit den Worten Utzschneiders: »Der Endtext hat keinen Autor, der ihn oder für ihn spricht, er spricht für sich selbst.« Aus diesem Grund bezeichnet Utzschneider einen Text als »ästhetisches Subjekt«, weil er »ein selbständiges Gegenüber ist, das die Hörenden oder Lesenden in deren Wahrnehmung unmittelbar […] betrifft und anspricht«20.

Ein Text bietet in diesem Sinne immer Potentiale des Verstehens an, er ist eine Art »Anleitung für Leser, sinnvolle Gehalte hervorzubringen«.21 Eine solche Texthermeneutik steht natürlich in einem gewissen Widerspruch zur Fokussierung der »klassischen« Methoden auf die intentio auctoris.22 Genau genommen wird dort ein Text primär als Mittel zum Zweck gebraucht, um die historischen Aussageabsichten zu ermitteln.23 Natürlich legt ein Text niemals seine historische Prägung durch Autoren, Fortschreiber oder Redaktoren ab. Diese ist allerdings auf der Ebene des Endtextes zunächst nicht zugänglich und kann m.E. erst jenseits einer grundlegenden Textwahrnehmung erhoben werden.

 

(d) Die Lese-Hermeneutik der Behutsamkeit: Die Wahrnehmung eines Textes steht immer in der Gefahr, Sachfremdes in diesen hineinzulesen – also »Eisegese« zu betreiben.24 Darum ist für den Umgang mit Texten ein erhöhtes Verantwortungsbewusstsein nötig – eine »Lese-Hermeneutik der Behutsamkeit«25. Letztlich geht es dabei um nichts anderes als um ein methodisch abgesichertes mehrfaches Lesen des Textes,26 das diesen in einer »theoretisch-wissenschaftlich begründeten, nachvollziehbaren Weise«27 beschreibt. Durch eine solche Systematisierung der Textwahrnehmung wird intersubjektive Nachvollziehbarkeit gewährleistet und der Text als textum (»Gewebe«) erschlossen.28 Zudem will gerade diese literaturwissenschaftliche Textanalyse der intentio operis ihr Recht gegenüber einer Vereinnahmung durch die intentio lectoris verschaffen.29 Die Grundfrage in diesen mehrfachen Lesedurchgängen kann dabei – ein wenig salopp – etwa so gefasst werden: »Wie und warum funktioniert ein Text gerade so, wie er es tut?«

 

Methodische Beispiele: Wie sich diese Texthermeneutik auswirkt, wird nun anhand zweier Beispiele demonstriert, an denen der literaturwissenschaftliche Impetus des Ansatzes besonders deutlich wird.

 

(a) Beispiel 1: Die Textanalyse: Die methodische Textanalyse nach Utzschneider/Nitsche ist an jedem atl. Text durchführbar – wenngleich sicherlich mit unterschiedlichen Fokussierungen je nach Text. Die Analyse fungiert als »Universalschlüssel«, um den Text zu erschließen, während die späteren Arbeitsschritte als »Spezialschlüssel« auf spezielle Themen und Fragestellungen passen.30

Für die Textanalyse hat sich die wichtige Unterscheidung der Untersuchungsebenen in Textoberflächenstruktur, Texttiefenstruktur und Textpragmatik bewährt. Die ersten beiden Begriffe stammen aus der strukturalistischen Literaturwissenschaft, in der die Oberflächenstruktur für die formale, »oberflächenhafte« Textur eines Textes unter Absehung von seinem Inhalt steht. Dieser Inhalt wird dann in einem zweiten Analyseschritt als Tiefenstruktur zu erfassen versucht.31 Die Textpragmatik versteht den Text demgegenüber als einen Kommunikationsakt, der bei den Rezipierenden etwas bewirken will.32 Diese Wirkung ist der Gegenstand der Untersuchung.

Für die Oberflächen- und Tiefenstruktur ist weiterhin die Unterscheidung in Lautebene, Wortebene, Satzebene und Textebene sinnvoll. Dabei wird die Fokussierung von einer größtmöglichen Detailwahrnehmung zu Beginn immer stärker geweitet, bis schließlich der gesamte Text in den Blick kommt.33

Im Einzelnen beschäftigt sich die Untersuchung der Textoberflächenstruktur u.a. mit folgenden Textphänomenen: Alliterationen, lautliche Anspielungen, Reime sind Gegenstand der Lautebene; auf der Wortebene interessieren v.a. die Wortarten und die Wurzelstatistik;34 die Satzebene betrachtet Syntax und Satzformationen; die Textebene umfasst Textstrukturierung, Personage und Verweisstruktur (Phorik). Bei der Untersuchung der Texttiefenstruktur wird das Augenmerk bei der Laut-/Wortebene dann auf die Aspekte der Wortfelder und Leitworte gelegt; für die Satzebene sind die Parallelismen von Belang; in der Textebene geht es v.a. um die inhaltliche Gliederung. Außerdem müssen auch die Textgrenzen eingehend untersucht werden.35

Die Textpragmatik wird anders unterteilt. Im Anschluss an Andreas Wagner wird versucht, die Wirkung auf die Rezipierenden durch unterschiedliche Sprechaktklassen zu beschreiben. Dabei wird differenziert in expressive Sprechakte (Darstellung von Haltungen, Werturteilen etc.), direktive Sprechakte (Aufforderung zu Handlungen; v.a. in Rechtstexten), kommissive Sprechakte (Selbstverpflichtung des Sprechers), deklarative Sprechakte (performative Rede im eigentlichen Sinn, in der durch Sprache Wirklichkeit geschaffen wird) sowie repräsentative Sprechakte (behauptende Darstellung von Sachverhalten als wahr bzw. falsch).36

Diese Unterteilungen mögen zunächst etwas künstlich wirken – so z.B. die prinzipielle Unterscheidung von Form und Inhalt, da diese in vielerlei Hinsicht interdependent sind.37 Man darf die Einteilungen jedoch gerade nicht als absolute Abgrenzungen missverstehen, sondern als eine pragmatische Schematisierung zugunsten der Handhabbarkeit, gewissermaßen als kontrollierte Lesehilfe. So verstanden ist die daraus resultierende systematisierte Wahrnehmung des Textes hilfreich, auch wenn in der Praxis die Methoden bisweilen durchaus überlappend oder mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen angewendet werden.38 Insgesamt aber ist die grundsätzliche Unterteilung für eine präzise und reflektierte Wahrnehmung textlicher Phänomene sinnvoll und dienlich.39

 

(b) Beispiel 2: Die Gattungskritik: Das zweite Beispiel ist die Gattungskritik, die sich bei Utzschneider/Nitsche, deutlich von der älteren Exegese absetzt. Lange Zeit diente die Formgeschichte, wie sie meist heißt, v.a. dazu, hinter die älteste schriftliche Fassung eines Textes zu fragen. In Fortführung der Studien von Hermann Gunkel wurde versucht, noch jenseits der redaktionsgeschichtlichen Schichtungen verlässliche Aussagen über das mündliche Textwachstum zu treffen.40 Die Forschung war dabei von einer sehr optimistischen Grundhaltung geprägt: Bereits die älteste schriftliche Fassung sei im Wortlaut zu rekonstruieren und im Anschluss daran seien im Rückgriff auf die mündlichen Gattungen sogar recht klare Aussagen über ältere Entwicklungsstufen möglich.

Utzschneider/Nitsche verfolgen hingegen ein anderes Ziel: Gattungen werden zwar nach wie vor als wiederkehrende Textbildungsmuster aufgefasst, welche sich anhand formaler wie inhaltlicher Gesichtspunkte bestimmen lassen. Gleichzeitig verändert sich die Stoßrichtung aber erheblich, da stärker mit literarischen Entwicklungen solcher Textbildungsmuster gerechnet wird. Gattungen gelten damit nicht alleine als Indizien für ursprünglich mündliche Kurztexte, die in der Textgeschichte als Vorstufen späterer schriftlicher Fassungen dienen.41 Vielmehr werden Gattungen sozusagen als Stilmittel verstanden, die ggf. literarisch eingesetzt werden, um bestimmte Effekte zu erzielen.42

Folgerichtig rechnen Utzschneider/Nitsche darum mit einem »Sitz im Leben ›Literatur‹«,43 der für viele atl. Texte anzunehmen sein dürfte: Der Sitz im Leben einer Gattung ist dann nicht notwendigerweise irgendein mündliches Setting aus der Frühzeit. Viel wahrscheinlicher ist die bewusste literarische Gestaltung von Texten anhand bekannter Muster innerhalb des »biblischen Literaturbetriebs«44.

Aufgrund dieses Verständnisses ist die Gattungskritik mit der Traditionskritik unter dem Titel »Welt des Textes« zusammengefasst und direkt nach der Textanalyse positioniert: Die Gattungskritik will den literarischen Verstehenskontext des Textes erhellen, indem sie die hermeneutischen Muster der Textbildung offenlegt. Insofern ist auch bei Utzschneider/Nitsche die Gattungskritik historisch ausgerichtet, aber es soll nicht mehr primär die mündliche Entstehungsgeschichte im Fokus stehen.45 Dies schlägt sich auch in der veränderten Nomenklatur nieder, wenn von analytischer Gattungskritik die Rede ist statt von primär diachroner Formgeschichte.46

Infolge dieser veränderten Hermeneutik wird im Arbeitsbuch versucht, solche Textbildungsmuster vor allem unter literarischen Gesichtspunkten zu beleuchten. Ein Proprium bei Utzschneider/Nitsche liegt daher in den drei anschließenden Kapiteln, in denen sich ein umfassendes Instrumentarium zur literaturwissenschaftlichen Erschließung von Gattungen für narrative und poetische Texte sowie für Texte aus dem corpus propheticum findet.47

Die methodischen Stärken einer literaturwissenschaftlichen Exegese

Im Folgenden möchte ich zeigen, welchen methodischen Mehrwert ein literaturwissenschaftlicher Zugang zu biblischen Texten bietet. Außerdem wird sich zeigen, wie sehr die »klassische« Exegese bereits durch literaturwissenschaftliche Zugänge geprägt ist.

 

Einwände gegen eine literaturwissenschaftlich orientierte Exegese: Literaturwissenschaftliche Hermeneutiken sind nicht unumstritten. Diachrone und synchrone Exegeseansätze werden oft als konkurrierend betrachtet, was aber nicht zutreffen muss.1 Dass beide Auslegungsweisen sich durchaus ergänzen können, zeigt bspw. die neue Kommentarreihe IEKAT.2

Dennoch liest man immer wieder von Vorbehalten gegenüber literaturwissenschaftlich bzw. synchron ausgerichteten Interpretationen. So wird moniert, dass die Untersuchung der historischen Tiefendimension auf der Strecke bleibe.3 Dass eine solche zumindest bei Utzschneider/Nitsche jedoch erfolgt, wird gerne übersehen. Ein anderer Einwand behauptet, diachrone Interpretationen seien per se objektiver als synchrone,4 weil deren Ergebnisse in größerem Maße intersubjektiv überprüfbar seien. Die Einsichten einer synchronen Exegese seien demgegenüber viel stärker dem subjektiven Eindruck unterworfen. Dagegen ist einzuwenden, dass eine literaturwissenschaftliche Exegese einerseits ja gerade durch ihre methodische Strukturiertheit ganz besonders auf Intersubjektivität hin ausgelegt ist.5 Andererseits zeigt v.a. die Vielfalt der Ergebnisse im Rahmen diachroner Deutungsansätze, wie stark jene von subjektiven Einschätzungen abhängig sind.

Insgesamt erscheint ein Verharren im (vermeintlichen) Antagonismus zwischen Synchronie und Diachronie wenig hilfreich. Besser wäre es, die jeweiligen Stärken in ihren jeweiligen Domänen fruchtbringend einzusetzen.6

 

Ein Vergleich von »klassischer« und literaturwissenschaftlicher Exegese: Um die Stärken des literaturwissenschaftlichen Ansatzes herauszuarbeiten, möchte ich einen Vergleich mit der »klassischen« Herangehensweise unternehmen. Dafür greife ich auf Uwe Beckers Buch »Exegese des Alten Testaments« zurück,7 das vermutlich zu den Werken mit der derzeit größten Verbreitung gehört.8

 

(a) Die Abfolge der Arbeitsschritte: Sehr aufschlussreich ist eine Betrachtung der Abfolge der Methoden, da sich schon hier die unterschiedlichen Hermeneutiken zeigen.9 Im Bereich der ersten Arbeitsschritte stimmen die beiden Werke natürlich überein: Nach einer Arbeitsübersetzung folgt die Textkritik. Danach gehen die Autoren jedoch unterschiedliche Wege. Bei Utzschneider/Nitsche ist hier die ausführliche Textanalyse angesiedelt, während sich bei Becker direkt die Literarkritik, die Überlieferungsgeschichte und die Redaktionsgeschichte anschließen. Dieser Dreierblock wird bei Utzschneider/Nitsche als »Geschichte des Textes« nach Gattungs- und Traditionskritik, der »Welt des Textes«, behandelt. Bei Becker hingegen folgen diese beiden als Form- und Traditionsgeschichte auf Literarkritik, Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte. Den Abschluss bildet bei Utzschneider/Nitsche die resümierende Interpretation, bei Becker das Kapitel »Historische Aussageabsicht und Interpretation«.

Ganz offensichtlich ist damit Beckers Ansatz v.a. an der diachronen Dimension der Texte interessiert. Die Abfolge der Arbeitsschritte suggeriert ein Zurückschreiten von den jüngsten und damit am leichtesten zugänglichen Daten immer weiter hin zu den ältesten noch greifbaren Vorformen des Textes. Ganz folgerichtig wird darum auch die abschließende Gesamtexegese diachron tituliert: »Historische Aussageabsicht«.

Utzschneider/Nitsche verstehen dagegen Texte stärker als literarische Entitäten. Entsprechend soll in der Textanalyse der Text zunächst so erschlossen werden, wie er uns vorliegt. Gattungs- und Traditionskritik beleuchten im Anschluss daran die literarischen Deutungshorizonte der Texte (»die Welt des Textes«). Erst dann folgt die Untersuchung der Literargeschichte, die an dieser Position allerdings auf die Ergebnisse der vorherigen Arbeitsschritte zurückgreifen kann. Bereits hier zeigen sich die grundlegenden Unterschiede, die im Vergleich einzelner Arbeitsschritte noch plastischer werden.

 

(b) Textanalyse vs. Literarkritik: Halten wir im ersten konkreten Beispiel Beckers Literarkritik neben die Textanalyse bei Utzschneider/Nitsche, wird sehr schnell deutlich, wie stark auch Beckers Methodik von literaturwissenschaftlichen Grundsätzen durchdrungen ist.10 Bis ins Detail ähneln die Analysemethoden stark jenen des »Arbeitsbuches«.11 So werden u.a. folgende Untersuchungen vorgeschlagen: die sprachlich-syntaktische Analyse (vgl. Satzebene der Textoberflächenstruktur); die semantische Analyse (vgl. Wortebene der Texttiefenstruktur); die narrative Analyse (vgl. Textebene der Texttiefenstruktur); sowie die pragmatische Analyse (identisch mit der Textpragmatik bei Utzschneider/ Nitsche).12 Gleichzeitig fällt auf, dass einige Analyseschritte des Arbeitsbuches bei Becker zunächst offensichtlich fehlen. Diese werden z.T. im Rahmen der Formgeschichte als »sprachliche, stilistische und rhetorische Analyse« nachgeholt.13

Die Grundhermeneutik präsentiert sich bei Becker als eine dezidiert diachrone, die der synchronen Betrachtung eines Textes kaum Eigenwert zugesteht, wie Becker herausstellt: »So führt die synchrone Lektüre beinahe von selbst zu einer Lektüre unter diachroner Perspektive.«14 Außerdem tritt bei Becker ein Phänomen auf, das öfters bei literarkritischen Operationen zu beobachten ist: Insgesamt wird bei der Ausgrenzung von Wachstumsschichten stärker auf inhaltliche Argumente als auf formale zurückgegriffen.15 Methodisch betont Becker zwar, dass beide Aspekte ineinander greifen müssen,16 räumt aber inhaltlichen Fragestellungen deutlich breiteren Raum als formalen Indizien ein.17

Der Vergleich zwischen Becker und Utzschneider/Nitsche zeigt eine Reihe von Parallelen, insgesamt erweisen sich jedoch wesentliche Unterschiede in der Herangehensweise. Dabei ist nicht jede methodische Entscheidung Beckers nachvollziehbar. Es wirkt bisweilen so, als rührten die Differenzen von einem grundlegendem Unbehagen Beckers gegenüber der literaturwissenschaftlichen Fragestellung her. Dies ist insofern bedauerlich, als die Methodik Beckers durch die starke Fokussierung auf die Diachronie von Beginn an Gefahr läuft, sich für wichtige Texterkenntnisse zu verschließen. Mit der »literarkritischen Schere« im Kopf verbaut man sich möglicherweise die Möglichkeit von Beobachtungen am Text, die bspw. für die Kohärenz einer Passage sprechen können.18 Eine synchron orientierte Herangehensweise in Form einer Textanalyse dürfte eine größere Offenheit für Textphänomene mit sich bringen, als dies bei einer anfänglichen Literarkritik der Fall sein dürfte.

 

(c) Gattungskritik vs. Formgeschichte: