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Die Montagsdemonstrationen der Friedlichen Revolution 1989/90 waren ein zentraler Schritt auf dem Weg zum geeinten Deutschland. Sie gehören wie die anderen meist gewaltarm verlaufenden Revolutionen des ehemaligen Ostblocks untrennbar zur Demokratiegeschichte Europas. Die Montagsdemonstrationen wurden zum Vorbild für weitere Straßenproteste, von denen jene in Leipzig prägend waren. Ging es den Teilnehmenden zunächst um Reformen, dominierte später die Forderung nach der Deutschen Einheit. Die erste Massenbeteiligung geschah bei der Demonstration am 9. Oktober 1989, an der über 70 000 Menschen teilnahmen und die entscheidend zur Wende beitrug, weil die befürchtete gewaltsame Reaktion ausblieb.Mehr als 30 Jahre später versuchen heute unter anderem Rechtsradikale, das Erbe der Montagsdemonstrationen für sich zu vereinnahmen. Indem der Autor die historische Parole und das historische Geschehen in ein korrektes Licht rückt, bietet er als persönlich Beteiligter in einer kompakten Darstellung einen umfassenden Einblick in jene Ereignisse, die nicht nur Ostdeutschland tief verändert haben und bis heute prägen.
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Seitenzahl: 167
Demokratie-GeschichteBand 3
Wissensreihe im Auftrag der Gesellschaftzur Erforschung der Demokratie-Geschichte
Herausgegeben vonChristian Faludi
RedaktionMarc Bartuschka
Rainer Eckert
VOM PROTEST ZURFRIEDLICHEN REVOLUTION1989/90
Rainer Eckert ist Historiker und Politikwissenschaftler und war der Gründungsdirektor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig von 1999 bis 2015. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des Nationalsozialismus sowie der Repression, der Opposition und des Widerstandes in der DDR, die Geschichte der Friedlichen Revolution und Probleme der Geschichtspolitik.
DIE DDR 1989
DIE LEIPZIGER MONTAGSDEMONSTRATIONEN
DER REVOLUTIONÄRE HERBST DES JAHRES 1989
Dresden • Plauen • Potsdam
OST-BERLIN UND LEIPZIG AM 7. UND 8. OKTOBER 1989
UNRUHEN AM 8. OKTOBER 1989 IN DRESDEN
DER 9. OKTOBER 1989 IN LEIPZIG
ENTFALTUNG DER REVOLUTION NACH DEM 9. OKTOBER 1989 – DEMONSTRATIONEN ALS WICHTIGSTE AUSDRUCKSFORM DER REVOLUTION
POTSDAM UND ANDERE STÄDTE AM 4. NOVEMBER 1989
DER 4. NOVEMBER 1989 IN OSTBERLIN
DER STURZ DER BERLINER MAUER
DIE ENTWICKLUNG NACH DEM STURZ DER BERLINER MAUER UND DIE BESETZUNG DER DIENSTSTELLEN DER STAATSSICHERHEIT (MFS)
DIE DEMONSTRATIONEN NACH DEM STURZ DER BERLINER MAUER
MASSENDEMONSTRATIONEN ALS KERNELEMENT DER FRIEDLICHEN REVOLUTION
FRIEDLICHE REVOLUTION ALS DEUTSCHE »MEISTERERZÄHLUNG«
»MONTAGS-« UND ANDERE »DEMONSTRATIONEN« NACH DER FRIEDLICHEN REVOLUTION
AFD, PEGIDA, »QUERDENKER« UND CORONA-LEUGNER DIE MONTAGSDEMONSTRATIONEN HEUTE
DAS ERBE DER MONTAGSDEMONSTRATIONEN FÜR DIE DEMOKRATIE HEUTE
ANHANG
Anmerkungen
Abkürzungen
Abbildungsverzeichnis
Quellen
Literatur
Personenverzeichnis
Auf den 1939 vom nationalsozialistischen Deutschland begonnenen rassenideologischen Agressionskrieg gegen verschiedene europäische Staaten und in Nordafrika folgte am 8. Mai 1945 die totale Niederlage des »Dritten Reiches« und die Befreiung Europas und Deutschlands von der Herrschaft des Aggressors und seiner Verbündeten. Im Potsdamer Abkommen wurde am 2. August 1945 auf einer Konferenz im Schloss Cecilienhof in Potsdam von den Regierungschefs und Außenministern der Hauptsiegermächte, also der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten von Amerika und dem Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland, festgelegt, dass Deutschland besonders im Osten erhebliche Gebiete abtreten musste, dass es Reparationen zu entrichten habe und dass es entmilitarisiert werden würde. Außerdem traf man Festlegungen über die Bestrafung deutscher Kriegsverbrecher sowie über die politische und geografische Neuordnung Deutschlands. Für das besiegte Land wurden eine Gesamtverantwortung der Hauptsiegermächte, zu denen auch noch Frankreich kam, vereinbart und der Aufbau demokratischer politischer Parteien und Gewerkschaften erlaubt. Die westlichen Besatzungszonen der USA, Großbritanniens und Frankreichs schlossen sich 1949 zur Bundesrepublik Deutschland zusammen, aus der Sowjetischen Besatzungszone entstand die Deutsche Demokratische Republik, die DDR, unter der Dominanz Moskaus. Die Rechtsgeltung des Potsdamer Abkommens und aller auf »Deutschland als Ganzes« zielenden »vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken« endeten am 12. September 1990 mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland. Die Bundesrepublik entwickelte sich zu einem freiheitlich-demokratischen Staat, die DDR war eine kommunistische Diktatur.
Zwar war die DDR nach ihrer Gründung formal ein souveräner Staat, sie befand sich jedoch stets im Einfluss- und Weisungsbereich der Sowjetunion. Gleichzeitig bestand ein Spannungsverhältnis zur Bundesrepublik, und viele Ostdeutsche orientierten sich an der Westhälfte des gespaltenen Deutschlands. Die entscheidende Macht in der DDR war die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) als Staatspartei, die sich auf einen bewaffneten Machtapparat, vor allem auf die Geheimpolizei Staatssicherheit,1 auf Propaganda und auf ihre materialistische, aber auch antifaschistische Ideologie stützte. Nicht wenige Ostdeutsche unterstützten ihren diktatorischen Staat, das galt in erster Linie für die 1989 rund 2,3 Millionen SED-Mitglieder. Allerdings fanden sich in dieser Partei neben einer großen Anzahl überzeugter Kommunisten auch zahlreiche Karrieristen. Parteimitglieder, die sich in der Endphase der DDR zum Zweck des Machterhalts für »Reformen« einsetzten, waren hier deutlich in der Minderheit. Sie hielten Abstand zur ebenfalls schwachen kritischen Bürgerbewegung, die zum einen die DDR reformieren wollte, zum anderen mit ihren Forderungen nach Meinungs- und Pressefreiheit, nach weltweiten Reisemöglichkeiten, freien Wahlen, Bürgerrechten und einem pluralistischen Staat eine diktatorische Machtausübung grundsätzlich infrage stellte. Eine Zusammenarbeit mit den »SED-Reformern« kam nicht zustande, diese hofften letztlich auf das Abtreten ihrer Parteiführung aus Altersgründen. Die Spitze der SED, und hier besonders das Politbüro unter Leitung des Generalsekretärs dieser Partei und Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, verweigerte sich jeglicher Reform. So lehnte sie auch die Politik von Perestroika (Umgestaltung) und Glasnost (Offenheit, Transparenz) ab, mit der der sowjetische Parteiführer Michail Gorbatschow das kommunistische System in seinem Machtbereich – den Staaten des »Warschauer Paktes« – ab 1986 revitalisieren und damit letztlich retten wollte. Die Führung der SED konnte sich lange auf die Macht ihrer Partei, aber auch auf die vier Parteien des Demokratischen Blocks stützen. Dabei handelte es sich um Parteien, die für bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Bauern, Handwerker oder Christen attraktiv sein sollten, wenn sie nicht der Staatspartei beitreten wollten. In diesen Parteien gab es überzeugte Anhänger der Diktatur, aber auch Menschen, die zuerst an ihre Karriere dachten, und solche, die sich außerhalb der Staatspartei gesellschaftlich engagieren wollten. Nur einige Hunderttausend aller Parteimitglieder waren jedoch bereit, sich in einer Krise tatkräftig für die Diktatur einzusetzen. Aber auch sie verloren im Verlauf des Jahres 1989 zunehmend den Glauben an ihre Sache. Reformkräfte, die zu energischem Handeln bereit gewesen wären, gab es in den Blockparteien nicht. Die wenigen, die auf Reformen setzten, blieben weitgehend passiv und spielten in der Friedlichen Revolution kaum eine Rolle. Die Führungsmitglieder der Staatspartei, der Blockparteien und der DDR verschlossen vor der sich verschärfenden Krise lange die Augen und konnte sich zu Reformen nicht durchringen. So trugen sie zum Sturz ihrer Diktatur unbeabsichtigt bei.
Bereits seit Beginn der 1980er-Jahre waren auch in der DDR immer mehr kritische Menschrechts-, Friedens-, Umwelt-, Frauen- und Homosexuellengruppen entstanden, die zunehmend die diktatorisch agierende Regierung infrage stellten – wenn sie in ihrer Mehrheit auch auf die Reform, nicht auf die Abschaffung des »Realsozialismus« zielten. Diese Gruppen fanden Schutzräume unter dem Dach einzelner protestantischer, ganz selten auch katholischer Kirchengemeinden. Das galt jedoch nicht, wie oft behauptet, für die Kirchen insgesamt. Bei den Protestanten war in der Regel entscheidend, dass sich einzelne mutige Theologen und Theologinnen mit den Gemeindevertretungen einig waren, oppositionellen Gruppen Unterschlupf für ihre Arbeit zu gewähren. Selbstverständlich war das nicht. Trotzdem wurden Kirchen wie die Leipziger Nikolai- und Lukaskirche oder die Ost-Berliner Gethsemanekirche zu Zentren der Opposition.
Die Entstehung solcher Dissidentengruppen war ein Phänomen im ganzen Moskauer Imperium, besonders aber in den Staaten Mittelosteuropas. Großen Einfluss hatte hier vor allem die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarność, aber auch die sowjetische Reformpolitik ermutigte die Dissidentinnen und Dissidenten. Der Zeitpunkt des Beginns oppositioneller Aktivitäten auf dem Weg zur Friedlichen Revolution lag in vielen ostdeutschen Städten und Gemeinden im Herbst 1988. Hierzu zählten die Empörung über die Relegation von Schülern und Schülerinnen in einer Erweiterten Oberschule in Berlin-Pankow wegen einer kritischen Wandzeitung im September und das Verbot der sowjetischen Zeitschrift Sputnik sowie sowjetischer Filme. Das wichtigste Problem für das diktatorische System in Ostdeutschland war jedoch die wachsende Zahl der »Antragsteller auf ständige Ausreise« in die Bundesrepublik und die Menschen, die eine Flucht über die abgesperrten Grenzen wagten. Als destabilisierende Faktoren nicht zu unterschätzen sind auch der nicht aufzuhaltende Niedergang der ostdeutschen Industrie bei gleichzeitiger wachsender Staatsverschuldung, die weiterhin im Vergleich zu Westdeutschland schlechte Versorgungslage mit Konsumgütern jenseits der Grundversorgung und die gravierende Umweltverschmutzung.
Im Verlauf des Jahres 1988 und ab Anfang 1989 verschärfte sich die krisenhafte Situation der DDR, die letztlich einer Selbstzerstörung entsprach.2 Dies war sowohl der SED-Führung als auch der Staatssicherheit bewusst. Sie reagierten auf die unerwartet hohe Zahl von Nein-Stimmen bei den Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989, indem sie die Ergebnisse fälschten und immer wieder brutal gegen Oppositionelle vorgingen. Trotzdem konnte der Protest gegen die Wahlfälschung nicht unterdrückt werden. In der Nacht vom 3. zum 4. Juni ließ die kommunistische Pekinger Führung die Protestbewegung der chinesischen Studierenden auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig niederschlagen. Die SED-Führung, besonders Egon Krenz – als Mitglied des Politbüros zuständig für »Sicherheitsfragen« –, feierte das Blutbad als Sieg über einen »konterrevolutionären Aufruhr«. Aber auch damit konnte sie die Diktatur im eigenen Land nicht stabilisieren – und das, obwohl viele kritische Ostdeutsche ein solches Massaker bei öffentlichen Protesten auch in der DDR durchaus für möglich hielten.
Die Mehrheit der Ostdeutschen hatte sich jedoch vor der entscheidenden Krise der DDR nörgelnd ins Privatleben zurückgezogen und war weder zum Widerstand noch zur aktiven Unterstützung der Diktatur bereit. Sie hatten sich mit dem Leben in der Diktatur abgefunden, kämpften mit den Schwierigkeiten des Alltags, organisierten ein möglichst angenehmes Privatleben, warteten auf einen Telefonanschluss oder die Zuteilung eines Autos. Viele vereinte die Sehnsucht nach einem Leben wie in der Bundesrepublik und der Wunsch nach Reisefreiheit. Allabendlich traten sie via Fernsehen die mediale Flucht in den Westen an – eine Form, sich Abwechslung und eine kleine Freude zu verschaffen.
Die Zahl der Ostdeutschen, die aktiv gegen die diktatorischen Auswüchse des Regimes kämpften und dabei ein hohes persönliches Risiko auf sich nahmen, war dagegen gering. Die Mehrheit wusste von diesem Kampf nichts oder hielt sich fern. Allerdings drückten seit Gründung der DDR mehr als drei Millionen Menschen ihre Ablehnung dieses Staates und ihren Wunsch nach einem besseren Leben durch Flucht in den Westen aus. Hunderttausende stellten Anträge auf ständige Ausreise aus der SED-Diktatur.
Im Sommer 1989 begann die Massenflucht nach Westdeutschland – entweder direkt über Ungarn und Österreich oder über bundesdeutsche Botschaften in Prag und Warschau. Schnell stieg sie explosionsartig an. Anfang September nahm die schließlich letale Krise des Regimes, anfangs kaum bemerkt, Fahrt auf – nicht nur durch die Demonstrationen, sondern auch durch diese Flucht von Ostdeutschen in den Westen sowie durch die Gründung oppositioneller Bürgerbewegungen und Parteien seit August 1989.
Gleichzeitig war im Herbst 1989 der Zeitpunkt gekommen, an dem nach durchgeführten Reformen der Weiterbestand einer demokratisierten DDR möglich zu sein schien. Das war ein Irrtum, und der endgültige Niedergang dieser Diktatur, ihr »Aus« stand auf der Tagesordnung.3 Immer mehr Menschen gingen im Laufe des Septembers und Anfang Oktober mit ihren Protesten auf die Straßen und viele organisierten sich in oppositionellen Bürgerbewegungen und Parteien. Besondere Bedeutung erlangten dabei das Neue Forum, dessen Zulassung am 19. September beantragt wurde, und die am 7. Oktober gegründete Sozialdemokratische Partei in der DDR, deren Gründung den Behörden nur noch mitgeteilt wurde und die die Diktatur am konsequentesten ablehnte.
Insgesamt waren es etwa eine Million, vielleicht auch 1,5 Millionen Ostdeutsche,4 die sich aktiv in unterschiedlicher Form an der Revolution beteiligten. Die Mehrheit wartete ab, andere lehnten die Proteste auch ab. Nicht nur Bürgerrechtler fürchteten nach dem Massaker in Peking lange, dass die SED zur Machterhaltung auch gewaltsam vorgehen würde. Auf Gewalt gegen die Straßendemonstrationen verzichtete die SED-Führung endgültig erst nach der Demonstration mit weit über 70 000 Menschen am 9. Oktober 1989 in Leipzig. Nach dem Sturz der Berliner Mauer am 9. November fluteten Millionen in den Westen. Die Mehrheit der Ostdeutschen besiegelte durch ihre Stimmen für Parteien, die auf eine schnelle Wiedervereinigung setzten, zugleich das Ende der DDR in der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990.5
Die Geschichte der DDR prägten immer auch die Abhängigkeit von der sowjetischen Hegemonialmacht und die Situation in einem geteilten Land. So mussten die Herrschenden stets beachten, dass die Mehrheit der Ostdeutschen ihr Leben mit dem in der Bundesrepublik verglichen und sich – auch politisch – oft hieran orientierten. Dazu kam, dass Millionen Menschen das Land verließen oder dies planten. In den Jahren vor 1989 verstärkte sich schließlich die wirtschaftliche Abhängigkeit vom anderen deutschen Staat.
Die Westdeutschen verloren dagegen in ihrer Mehrzahl ihr Interesse an Ostdeutschland und gaben eine Wiedervereinigung zunehmend auf. Der Grundlagenvertrag vom Dezember 1972 hatte grundsätzlich die Beziehungen geregelt, bedeutete aber keine völkerrechtliche Anerkennung der DDR. Trotzdem sah sich die DDR als eigenständigen deutschen Staat, während die Bundesrepublik verbal am Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes festhielt. Daran änderte auch der Besuch Honeckers in der Bundesrepublik im Jahr 1987 nichts.
Die zunehmende Destabilisierung der DDR, die Massenflucht des Sommers 1989 und die an Kraft gewinnenden Demonstrationen überraschten die politischen Eliten in Bonn. Trotzdem stand eine Wiedervereinigung für sie nicht auf der Tagesordnung, vielmehr ging es um die Bewältigung der Flucht und um die Ausreise der Flüchtlinge in den bundesdeutschen Botschaften. Kontakte zur Bürgerbewegung suchten nur wenige bundesdeutsche Politiker. Die westlichen Massenmedien registrierten die Ereignisse jedoch aufmerksam und informierten auch die Ostdeutschen darüber.
Grundlegend änderte sich die Situation erst nach dem Sturz der Berliner Mauer und den jetzt immer lauter werdenden Forderungen nach der Wiedervereinigung. Bundeskanzler Helmut Kohl reagierte im Deutschen Bundestag am 28. November 1989 mit dem Zehn-Punkte-Plan zur Schaffung von »konföderativen Strukturen« mit der DDR. Endgültig begriff er am 19. Dezember bei seiner Rede vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche, dass die deutsche Einheit nahen könnte. Diese verwirklichten die Deutschen nach den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 in der DDR schließlich am 3. Oktober desselben Jahres.
Der Leipziger Historiker Hartmut Zwahr meint zu Recht, dass in Leipzig durch die dortigen Montagsdemonstrationen die Tür zur Freiheit in der SED-Diktatur zuerst aufgestoßen wurde, was für jeden Beteiligten ein bleibender Fixpunkt in seiner Biografie ist.6 Richtig ist auch, dass sich das politische Geschehen in der DDR im September 1989 exemplarisch in dieser Stadt verdichtete.7 Leipzig hatte eine lange Tradition widerständigen Verhaltens,8 eine wichtige Rolle spielten dabei über lange Zeiträume in der Aufklärung wurzelnde Einstellungen, musische Traditionen, ein selbstbewusstes Bürgertum und eine starke Arbeiterbewegung sowie eine sich in den Messen manifestierende Weltoffenheit. Das Protestklima in Leipzig prägte auch, dass es besonders als Messestadt ein offener und toleranter Ort war. Dazu kam, dass die Stadt spätestens seit dem 18. Jahrhundert mit Aufklärung, Sturm und Drang sowie Vormärz beziehungsweise Revolution von 1848/49 weit ausstrahlte und später hier unter anderem die sozialdemokratische Arbeiterbewegung und die bürgerliche Frauenbewegung entstanden. Bereits im 19. Jahrhundert und im frühen 20. Jahrhundert war die Stadt eine Hochburg von sozialen Bewegungen und Protesten. Die freiheitlichen und antitotalitären Traditionen setzten sich mit der Revolution 1918/19, dem Kampf gegen die Kapp-Putschisten 1920 und gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft fort.9 Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus widersetzten sich Studierende und Lehrende der Leipziger Universität im Kampf gegen die kommunistische Diktatur einer stalinistischen Gleichschaltung ihrer Hochschule. Dazu kamen der Volksaufstand am 17. Juni 1953, 1965 der »Beataufstand« zur Verteidigung jugendlicher Musikkultur und die Proteste gegen die Sprengung der Universitätskirche im Jahre 1968. Zudem wehrten sich kirchliche, subkulturelle und Künstlergruppen in den 1980er-Jahren gegen die Anmaßungen des diktatorischen Systems. Im September 1989 gab es in der Stadt rund 5000 Antragsteller auf eine Ausreise aus der DDR, die übergroße Mehrheit ihrer Bevölkerung litt unter dem Verfall der Altbausubstanz und unter der Umweltverschmutzung. Dem stand ein intakter Unterdrückungsapparat der Staats- und SED-Führung entgegen, der jedoch in der Stadt keine wirklich einflussreichen Persönlichkeiten hervorgebracht und in den letzten Jahren der DDR den Glauben an sich selbst verloren hatte. Aber auch im 21. Jahrhundert ist in Leipzig der Organisationsaufwand für Demonstrationen gering und die Schwelle zur Teilnahme an ihnen niedrig. Letztlich ging es auch darum, den Symbolgehalt von 1989/90 auch in den Jahrzehnten danach für politische und soziale Ziele zu nutzen. Dazu kam und kommt »demonstrationspraktisch« die für Proteste geeignete konzentrische Struktur dieser Stadt.
Die Montagsdemonstrationen in Leipzig und auch in anderen Städten haben ihren Ursprung in der ostdeutschen Bürgerbewegung Anfang der 1980er-Jahre. Ausgangspunkt waren die in der Leipziger Nikolaikirche seit 1981 regelmäßig organisierten Friedensgebete von Gruppen der Bürgerbewegung, die seit 1982 immer am Montag stattfanden.10 Von besonderer Bedeutung für ihre Organisation war Pfarrer Christoph Wonneberger, der 1985 aus Dresden nach Leipzig gezogen war und bereits in Dresden ab 1982 erste Friedensgebete organisiert hatte.11 In Leipzig Pfarrer der Lukaskirche und Mitbegründer der AG Menschenrechte koordinierte er auch in dieser Stadt – gegen Widerstände seitens der Organe der Staatsmacht, aber auch seitens der protestantischen Landeskirche – seit 1986 Friedensgebete in der Nikolaikirche. Hier entstand eine partielle, oft nicht unproblematische Zusammenarbeit zwischen oppositionellen Gruppen, Ausreisewilligen und Geistlichen wie Pfarrer Christian Führer und Superintendent Friedrich Magirius.12 Die Zusammenarbeit hatte nicht selten den Charakter einer reinen Notgemeinschaft. Die Gebete selbst stellten allerdings ein Bindeglied zwischen protestantischem Glauben und aktuellem politischen Handeln dar.
Im Sommer 1988 versuchte Magirius die freie Gestaltung der Friedensgebete durch die Akteure zu unterbinden, da sich die Politisierung der oppositionellen Gruppen verstärkt habe. Und auch der Zustrom von Ausreisewilligen hatte den Charakter der Friedensgebete in der Nikolaikirche verändert.13 Dies nahm auch die Öffentlichkeit verstärkt wahr. Deshalb verstärkten die Institutionen der diktatorischen Staatsmacht ihren Druck auf die Organisatoren der Gebete und auch auf die Kirchenleitung. Im September 1988 gab diese dem Druck nach und untersagte den Oppositionsgruppen die Ausgestaltung der Friedensgebete. Diese »Regelung« führte immer wieder zu Protesten in den Gottesdiensten und musste im Frühjahr 1989 wieder aufgehoben werden. Die von wichtigen evangelischen Geistlichen betriebene Entpolitisierung der Friedengebete provozierte auch einen offenen Protestbrief der Basisgruppen Initiativgruppe Leben, Arbeitskreis Gerechtigkeit, Arbeitsgruppe Umweltschutz und Arbeitskreis Solidarische Kirche an Landesbischof Johannes Hempel, in dem sie sich energisch dagegen wehrten.14 Diese Haltung unterstützten auch viele kritische Jugendliche, die an den Friedensgebeten teilnahmen. Sie waren später die ersten, die es wagten, mit Montagsdemonstrationen auf die Straßen Leipzigs zu gehen. Der Landesbischof forderte dagegen erneut eine inhaltliche Einschränkung der Friedensgebete, doch kam er gegen den Druck der (kirchlichen) Basisgruppen und einiger Theologen nicht mehr an. Der Montagstermin mit den Gebeten um 17:00 Uhr in der Nikolaikirche erwies sich als geschickt gewählt. Die Kirche lag umgeben von schmalen Straßen in der Innenstadt, und die Uhrzeit erlaubte »normalen Werktätigen« eine Teilnahme ohne der Arbeit fernbleiben zu müssen. Dagegen waren die Genossen der SED an ihre montäglichen Parteiversammlungen gebunden, während die innerstädtischen Geschäfte noch geöffnet waren.
Und im Oktober 1988 war es so weit – der Weg auf die Straße begann. Nach tumultartigen Szenen in der Nikolaikirche erklommen nämlich Gruppenmitglieder nach dem Friedensgebet einen Stapel von Betonplatten auf dem Nikolaikirchhof, zeigten Plakate und verlasen eine Erklärung, die sie in der Kirche nicht hatten vortragen dürfen. Ein weiterer Schritt auf die Straße als politischem Artikulationsraum war gegangen. Die Gruppen hatten eine neue Form der Öffentlichkeit gefunden und gleichzeitig einen Weg, die Reaktionen der Diktatur auszuloten. Dennoch kam es zu neuen Auseinandersetzungen zwischen ihnen und Teilen der Leitung der Sächsischen Landeskirche. Am 8. Mai ließ die Staatsmacht erstmals anlässlich eines Montagsgebetes einen Polizeikessel rund um die Nikolaikirche aufziehen. Das wurde für diese Gebete strukturbildend und war zwangsläufig mit Konfrontation verbunden. Auf der anderen Seite etablierten die Demonstrationen zwischen Mai und Juni 1989 eine Protestkultur, die im Kern von bürgerschaftlichem Engagement und Gewaltlosigkeit geprägt war. Hier trafen die Aktivitäten einiger evangelischer Pfarrer, die Aktionen der Ausreisewilligen und die Aktionsorientierung eines Teils der Oppositionellen mit der stadtgeografischen Lage der Nikolaikirche zusammen. Der Boden für die Friedliche Revolution war bereitet.
Diese Entwicklung hatten bereits im gesamten Jahr 1988 weitere oppositionelle Aktivitäten außerhalb der Nikolaikirche zusätzlich beschleunigt. 1989 kamen dazu die Leipziger Luxemburg-Liebknecht-Demonstrationen im Januar, die »Pleiße-Gedenkmärsche«, die Demonstration mit circa 600 Teilnehmern gegen die Fälschung der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989, das Straßenmusikfestival und der evangelische Kirchentag mit dem alternativen »Statt-Kirchentag«.15 Die Andachten in der Nikolaikirche gewannen an Popularität, und das trotz der Einkesselung durch die Polizei. So war bei den darauf folgenden Gebeten das Kirchenschiff von St. Nikolai schnell von Menschen überflutet. Hier fanden sich kritische Leipziger und Leipzigerinnen mit Ausreisewilligen und Mitgliedern der unterschiedlichen Basisgruppen zusammen. Für sie war gerade die politische Ausrichtung der Gebete attraktiv, sodass sich das Kirchenschiff jeden Montag schneller füllte. Die Angehörigen der unterschiedlichen oppositionellen oder kritischen Gruppen fanden hier einen Raum, wenngleich diese Öffentlichkeit zuerst noch gering war. Allerdings wurden die Friedensgebete im Frühjahr 1989 in »Montagsgebete« umbenannt, und so entstand für die anschließenden, stetig wachsenden Demonstrationen mit ihrer großen Wucht und ihrem langen Rhythmus die Bezeichnung Montagsdemonstrationen.16 Der Ruf der Leipziger Friedens- beziehungsweise Montagsgebete und der Demonstrationen, die diesen ab September 1989 folgten, verbreitete sich schnell in der gesamten DDR, ihre Öffentlichkeit wuchs, und sie bereiteten, wenn auch unbewusst, die Friedliche Revolution vor.
Der revolutionäre Herbst des Jahres 1989 begann am 4. September in Leipzig mit dem ersten Friedensgebet nach der Sommerpause, das staatliche Stellen, da sie einen »Generalangriff« auf ihre Herrschaftsstrukturen befürchteten, bei evangelischen Geistlichen vergeblich zu verhindern versucht hatten.17