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Potsdam war in der SED-Diktatur Sitz von Verwaltungs- und Bildungseinrichtungen, Standort von Militär und Staatssicherheit, aber auch von Einrichtungen der Evangelischen Kirche. Kenntnisreich und ausführlich wird die oppositionelle Bürgerbewegung in der Stadt geschildert, deren Gruppen maßgeblich die Friedliche Revolution trugen – zusammen mit einigen Kirchgemeinden, die den Basisgruppen Schutzräume boten, in denen Christen, Wissenschaftler, Umweltaktivisten und kritische Jugendliche zusammentrafen. Die Fälschung der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 war Auslöser für die Legitimationskrise der Diktatur. Die Massenproteste erreichten mit den Demonstrationen am 7. Oktober und am 4. November Höhepunkte. Das Schicksal der Herrschenden besiegelten die Maueröffnung, hier am 10. November, und die Besetzung der Einrichtungen der Staatssicherheit am 5. Dezember. Die "Dialogpolitik" der SED scheiterte und die Initiative ging immer mehr auf die Bürgerbewegungen und ihre neuen Institutionen über. Schließlich dominierte die SPD in den Wahlen des Jahres 1990 und der Weg zur Wiedervereinigung war auch in Potsdam frei.
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Rainer Eckert
REVOLUTION IN POTSDAM
Eine Stadt zwischen Lethargie, Revolte und Freiheit (1989/1990)
Rainer Eckert, Dr. phil., Jahrgang 1950, studierte Geschichte und Archivwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1972 wurde er aus politischen Gründen relegiert und von der Staatssicherheit verfolgt, erhielt dann jedoch eine Stelle für bibliographische Arbeiten am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, wo er auch promovieren konnte. Im Zuge der Friedlichen Revolution wurde er stellvertretender Direktor des Institutes für deutsche Geschichte und 1997 Leiter und dann Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig. 2001 habilitierte er sich und wurde 2006 außerplanmäßiger Professor für politische Wissenschaften an der Universität Leipzig. Eckert forscht zur Zeitgeschichte und Geschichtspolitik und ist Mitglied zahlreicher geschichtspolitischer Gremien.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© 2017 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
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Gesamtgestaltung: makena plangrafik, Leipzig
Coverbild: Demonstration Wilhelm-Külz-Straße Potsdam, 4. November 1989,
Foto: Bernd Blumrich
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
ISBN 978-3-374-05024-6
www.eva-leipzig.de
Meinen Freunden in Potsdam.
Nach jeder abgeschlossenen Arbeit gilt es Dank zu sagen. Der gilt zuerst meinen Potsdamer Freunden aus Opposition und Subkultur der „wilden“ 1960er und 1970er Jahre. Diese Zeit mit dem Potsdamer Höhepunkt der allabendlichen Treffen im „Café Heider“ und den daran anschließenden „Feten“ ist heute weitgehend aus dem Gedächtnis verschwunden. Auch die Revolutionäre von 1989/90 wussten nicht, in welcher Tradition sie standen.
Die Friedliche Revolution selbst habe ich nicht in Potsdam erlebt oder mitgestaltet. Vielleicht gab mir das die innere Distanz, die Vorgänge zu beschreiben. Ich wäre glücklich, wenn sich die hier Handelnden in meinem Buch wiederfinden könnten und sich ihrerseits auf ihre Vorgänger im Kampf gegen die stalinistische Diktatur besinnen würden.
Den Druck meines Buches ermöglichte die Unterstützung der Bundesstiftung für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Hier sei besonders Dr.Robert Grünbaum gedankt. Hilfe erhielt ich auch von der Brandenburger Beauftragten für die Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur, Ulrike Poppe, und ihrem Mitarbeiter Rainer Potratz sowie durch die Bereitstellung der zahlreichen Akten der SED-Geheimpolizei in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR durch Carsten Repke. Das gilt genauso für die Mitarbeiter des Berliner „Robert-Havemann-Archivs“ und die des Brandenburgischen Landeshauptarchivs. Aber auch ohne die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern der Leipziger Evangelischen Verlagsanstalt mit ihrer Leiterin Dr.Annette Weidhas wäre das Buch nicht erschienen. Und nicht zuletzt wurde das Buch fertig, weil meine Frau Petra Korrektur las. Hierfür allen meinen herzlichen Dank.
Rainer Eckert
2. Februar 2017
Cover
Titel
Der Autor
Impressum
Meinen Freunden in Potsdam.
I. Potsdam unter der SED-Diktatur
II. Forschungslage und Archivsituation
III. SED und Staatssicherheit sowie die Bevölkerungsstimmung in Potsdam
IV. Opposition in Potsdam
1. Antifa/Anti-Skinheads/Anti-Skinhead-Liga
2. Arbeitsgemeinschaft Umweltschutz und Stadtgestaltung „ARGUS“
3. „Arbeitsgemeinschaft Pfingstberg“
4. Die Babelsberger „Schmiede“
5. Friedrichsgemeinde Potsdam-Babelsberg/Gruppe „Kontakte“
6. „Hauskreis Hugler“
7. „Arche“
8. „Friedenskreis des Kirchenkreises Potsdam“
9. Dritte-Welt-Gruppen/Lateinamerika-Arbeitskreis „Tierra Unida“ bzw. „tierra unida“
10. „Freundeskreis der Wehrdiensttotalverweigerer“
11. „Evangelische Ausbildungsstätte für Gemeindepädagogik“ [GPA]
12. „Ausbildungsstätte für evangelische Gemeindediakonie und Sozialarbeit“ [„Civil-Waisenhaus“]
13. Gegenkulturelle Oppositionstreffs in Cáfes und Kneipen: Das „Cáfe Heider“
14. Skinheads, Punks, „Gruftis“ und Heavy-Metal-Fans
V. Auf dem Weg zur Revolution 1989/1990
VI. Friedliche Revolution
1. „Neues Forum“ [NF]
2. Demonstrationen
3. Sozialdemokratische Partei in der DDR [SDP]
4. Andere oppositionelle Parteien und Gruppen
VII. Entwicklung der Revolution
1. Weitere Demonstrationen, Veranstaltungen und Diskussionen
2. Auflösung der Staatssicherheit
3. „Rat der Volkskontrolle“ [Rd VK]
4. „Runder Tisch des Bezirkes Potsdam“/ „Regionalausschuss für die Region Berlin (Hauptstadt der DDR), Berlin (West), Bezirk Potsdam, Bezirk Frankfurt (Oder)“
5. Gründung des Landes Brandenburg und freie Wahlen
VIII. Zusammenfassung
IX. Archivalien
1. Brandenburgisches Landeshauptarchiv
2. Bundesarchiv Berlin
3. Archiv des Bundesbeauftragen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR
4. Robert-Havemann Gesellschaft: Archiv der DDR-Opposition
5. ARGUS Potsdam e. V.
6. Privatarchiv Manfred Kruczek
X. Literatur
1. Literatur mit direktem Potsdam-Bezug
2. Allgemeine Literatur
3. Internet-Quellen
XI. Personenregister
XII. „Tarnbezeichnungen“ des Ministeriums für Staatssicherheit
1. „Operative Vorgänge“, „Operative Personenkontrollen“ und Decknamen für Oppositionelle sowie andere Persönlichkeiten
2. „Gesellschafliche Mitarbeiter Sicherheit“, „Inoffizielle Mitarbeiter“ und „Kontaktpersonen“
XIII. Abbildungsnachweis
Anmerkungen
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung vom Nationalsozialismus war Potsdams Innenstadt durch den alliierten Bombenangriff am 14. April 1945 schwer zerstört und den Alltag der Potsdamer bestimmten die Suche nach Nahrung und die Angst vor brutalen Übergriffen der sowjetischen Besatzungsmacht.1 Diese Angst war durch willkürliche Verhaftungen und zahllose Vergewaltigungen durch Angehörige der Besatzungstruppen durchaus begründet.2 Die neuen kommunistischen Machthaber hatten ein gespaltenes Verhältnis zu Potsdam, das für sie zuerst durch den Geist des Militarismus und Bürokratismus in Preußen geformt war. Diese Einstellung war nicht unbegründet, war doch das traditionsreiche Potsdam, ab 1952 Bezirksstadt, als Residenzstadt des Landes Brandenburg durch sein preußisches Erbe als Verwaltungs-, Garnisons- und Beamtenstadt nicht unwesentlich geprägt. Durch die Ergebnisse der Potsdamer Konferenz der Siegermächte vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 über das weitere Vorgehen nach dem Kriegsende wurde die Stadt aber auch zum Symbol des durch den Eisernen Vorhang geteilten Europas. In Potsdam folgten nach der Errichtung der sowjetischen Besatzungsmacht die Entnazifizierung, die Umwälzung der Eigentumsverhältnisse und die Stadt hatte das Problem der Unterbringung bzw. Versorgung der Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten zu bewältigen. Schon früh litten die Potsdamer unter Repressionen der sowjetischen Besatzungsmacht und der deutschen Kommunisten. Zuerst traf es bürgerliche Politiker, wie Bürgermeister und Mitglied der Christlich Demokratischen Union [CDU] Dr.Erwin Köhler3, der sein politisches Engagement mit dem Leben bezahlen musste, junge Christen und ab 1946 Sozialdemokraten, die sich der Zwangsvereinigung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands [SPD] mit der Kommunistischen Partei Deutschlands [KPD] zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands [SED] widersetzten. Dieser Terror führte dazu, dass Potsdam bis zum Bau der Berliner Mauer 1961, der die Stadt mit einer 13,1km langen Grenze von West-Berlin abschottete, sowie durch Flucht und Vertreibung sein eingesessenes Bürgertum fast vollständig verlor.4 Mit dem Mauerbau zerstörte die SED das enge Miteinander in der Region, die Menschen gewöhnten sich in ihrer Mehrheit schleichend an diesen Zustand. Schließlich war ein Höhepunkt der Repression die Sprengung der Potsdamer Garnisonkirche 1968, gegen die eine evangelische Junge Gemeinde schweigend protestierte.5
Aber wie auch in anderen ostdeutschen Städten – so in Leipzig6 – hatte es in Potsdam früh Widerstand gegen die kommunistische Diktatur gegeben, der auch im gesamten Land Brandenburg einen Höhepunkt mit dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 hatte, 1961 gab es auch Protest gegen den Mauerbau und immer wieder versuchten Menschen, die Grenzsperren zu überwinden. Dazu kamen die „Ausreiser“ – allein bis etwa Mitte Oktober 1989 verließen 2.790 Potsdamer die DDR, davon 2.587 in die Bundesrepublik oder nach West-Berlin.7 Und in den 1980er Jahren entwickelte sich auch hier eine oppositionelle Bürgerbewegung, die zwar zuerst auf die Reform der DDR und ihres „Realsozialismus“ zielte, dann aber zu ihrem Ende maßgeblich beitrug.
Potsdam prägten aber auch seine Schlösser und Gärten, der Tourismus und der Leistungssport. Wichtig und für die spätere Entstehung einer Umwelt-, Stadtgestaltungs- und Stadtökologiebewegung ausschlaggebend, waren die Anstrengungen, der Stadt ein „sozialistisches Gesicht“ zu geben. Dem fielen die noch aufbaufähige Ruine des Stadtschlosses, die Garnisonkirche, der Turm der Heiliggeist-Kirche, die Ruine des Schauspielhauses und der Stadtkanal zum Opfer. Auch die Wohnhäuser des barocken Stadtkerns sollten durch seelenlose Hochhäuser und Plattenbauten verdrängt werden. Für die Oberbürgermeisterin Brunhilde Hanke8 waren dies Schritte, damit „unsere Stadt […] aus einer Hochburg des preußischen Militarismus zu einer Stadt des Friedens und der Menschlichkeit“9 werden konnte. Die Vernichtung des historischen Stadtkerns traf in Potsdam auf erheblichen Widerstand und konnte bis zur Friedlichen Revolution nur teilweise realisiert werden. Die letzten Flächenabrisse erfolgten 1988/89 in der Jäger-, Gutenberg- und Dortustraße. Aus Sicht der SED war Potsdam in den 1980er Jahren schließlich zu einer „Stadt der Industrie, der Wissenschaft, der Bildung und Kultur sowie des Tourismus in der Phase der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft“ geworden.10 Die Mehrzahl der Potsdamer sah das anders und symbolisch fand die unheilvolle Politik der Staatspartei am 10. November 1989 mit einem Fest der Wiedervereinigung auf der Glienicker Brücke [damals noch Brücke der Einheit] ihr Ende.
In den Jahrzehnten davor hatte die SED Potsdam unter ihren ideologischen Vorgaben als Verwaltungs- und Garnisonsstadt ausgebaut. Wie in der ganzen DDR monopolisierte auch in Potsdam die Sozialistische Einheitspartei mit ihren Bezirks- und Kreisleitungen die Macht. Erster Sekretär der Bezirksleitung der SED von 1976 bis 1989 war, als Nachfolger von Werner Wittig, der ehemalige Führer der Jugendorganisation der Partei, Freie Deutsche Jugend [FDJ]11, Günther Jahn12. An der Spitze der Verwaltung stand von Juni 1977 bis Mai 1990 als Vorsitzender des Rates des Bezirkes der „Genosse“ der Staatspartei Dr.Herbert Tzschoppe13 und Erste Sekretär der SED-Kreisleitung Potsdam war im Revolutionsjahr 1989 Heinz Vietze, der als Folge der Friedlichen Revolution am 15. November dieses Jahres zum Ersten Sekretär der Bezirksleitung, dann ab 12. Dezember des Bezirksausschusses der SED bzw. des Landesverbandes Brandenburg der Partei des Demokratischen Sozialismus [PDS] aufstieg.14 Zu den Einrichtungen der SED zählten auch die Parteischulen in Potsdam-Waldstadt und die in unmittelbarer Nähe in Kleinmachnow. Als Nachfolger von Vietze wurde Rolf Kutzmutz15 im November 1989 zum Ersten Sekretär der SED-Kreisleitung gewählt. Auf Oberbürgermeisterin Hanke folgte 1984 Wilfried Seidel, dem vom 22. Mai 1989 bis zum Mai 1990 Manfred Bille nachfolgte. Seidel war danach Vorsitzender des Komitees der Arbeiter- und Bauerninspektion [ABI] in Potsdam.16
In seiner Funktion als Leiter der SED-Kreisleitung war Vietze auch Leiter der Kreiseinsatzleitung, die sich in einem Kasernenkomplex in Potsdam befand. Sie war auf der Kreisebene als Pendant zur Bezirkseinsatzleitung das Gremium zur Koordinierung des Sicherheitskomplexes – der SED, der Staatssicherheit [Ministerium für Staatssicherheit, MfS, Geheimpolizei der SED], der Volkspolizei, der Kampfgruppen der Arbeiterklasse, der Zivilverteidigung und der staatlichen Leitung des Kreises Potsdam. Diese Struktur war nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 aufgebaut worden und an ihrer Spitze stand der Nationale Verteidigungsrat unter der Leitung des Generalsekretärs der SED, Erich Honecker. Die Einsatzleitungen waren im Krisenfall für „Planung und Koordinierung“ der „Gefechts- und Einsatzbereitschaft“ in ihrem Territorium zuständig. Sie waren also bereits in Friedenszeiten ein Notstandsinstrumentarium, das auch gegen die innere Opposition eingesetzt werden konnte. Zu diesem Zweck wurden sowohl der Bürgerkrieg als auch das Vorgehen gegen „Sabotageaktionen“ und Demonstrationen geübt. Christian Boß hat Recht mit der Ansicht, dass dies umso konkreter und realistischer wurde, je mehr es auf das Jahr 1989 zuging.17
Bereits 1988 hatte die Potsdamer Volkspolizei unter dem Codewort „Störfeuer“ in einer Übung folgende Lage zu bewältigen: Es wurde angenommen, dass sich nach einer kirchlichen Veranstaltung auf dem Platz der Nationen [heute wieder Luisenplatz] ca. 400 Menschen mit „pazifistischen Forderungen“ und „antisozialistischen Parolen“ versammelt hätten und die Versammlung nicht auflösen würden. Darauf sollte die Volkspolizei mit 120 „Zuführungen“ und 15 Haftbefehlen, darunter gegen zwei West-Berliner, reagieren. Eine ähnliche Übung fand im Sommer 1989 auf dem Truppenübungsplatz I des Innenministeriums bei Belzig im Bezirk Potsdam statt. Dabei waren die Leiter der Kreiseinsatzleitungen, die Polizeiführer des Bezirks Potsdam und die Bezirkseinsatzleitung unter Günther Jahn anwesend. Am 20. Juli 1989 probte man schließlich eine
„Demonstration der Handlungen von Teilkräften der Volkspolizei Berlin im Zusammenwirken mit anderen Dienstzweigen der Deutschen Volkspolizei bei der Herauslösung von Störern aus einem Marschblock sowie aus einer Menschenansammlung (erlaubnispflichtige Veranstaltung)“.18
Das angenommene Objekt des Häuserkampfes war der Potsdamer Platz der Einheit und Polizisten mussten mit Transparenten die Demonstranten spielen, gegen die ihre Kameraden vorgingen. Ausgegangen wurde wiederum von etwa 400 Demonstranten und ca. 120 „Störern“. Entsprechend diesem Konzept handelte die Polizei schon einige Wochen später am 7. Oktober in Potsdam.
Zu den Strukturen der Volkspolizei im engeren Sinn kamen in Potsdam zu den „bewaffneten Kräften“ noch die Nationale Volksarmee [NVA] mit dem Kommando der Landstreitkräfte in Potsdam-Wildpark/West, die Bereitschaftspolizei, die Transportpolizei, der Zoll [stark mit Mitarbeitern der Staatssicherheit durchsetzt] und das Grenztruppenkommando 44. Grundsätzlich arbeiteten alle Strukturen der Deutschen Volkspolizei eng mit denen des Ministeriums für Staatssicherheit zusammen. Das galt sowohl für die Bekämpfung der Opposition, im Sprachgebrauch der Diktatur der vom „Westen“ gesteuerten „feindlichnegativen Kräften“, für die Überwachung subkultureller Jugendmilieus als auch für die Kontrolle von Schusswaffen, Giften und Sprengstoffen.19
Die Staatssicherheit unterhielt in Potsdam ihre Bezirksverwaltung, 1989 unter Generalmajor Helmut Schickart, in der Hegelallee, ein Untersuchungsgefängnis in der Otto-Nuschke-Straße [heute wieder Lindenstraße], einen „Ausweich-Führungspunkt“ in Potsdam Bornim, ein „Objekt“ in der Geschwister-Scholl-Straße 44 und eine Kreisdienststelle in der Puschkinallee, im gleichen Jahr unter Oberst Peter Puchert. Dazu kamen weitere 14 Kreisdienststellen in anderen Städten des Bezirkes Potsdam mit Mitarbeitern, die zum erheblichen Teil in „konzentrierten Wohngebieten“ wohnten.20 Die Zahl der Angehörigen des MfS im Bezirk Potsdam war die wohl größte in allen DDR-Bezirken außerhalb Ost-Berlins.21 Die hohe Mitarbeiterzahl hatte auch damit zu tun, dass in der Bezirksverwaltung der Geheimpolizei eine mitarbeiterstarke Abteilung für Passkontrolle arbeitete, die 13 Grenzübergangsstellen zu West-Berlin „führte“. Dazu kam, dass fünf Kreisdienststellen mit der „Grenzsicherung“ beauftragt waren. Von besonderer Bedeutung für das MfS waren neben der Untersuchungshaftanstalt in Potsdam seine ab 1951 bestehende „Juristische Hochschule“ in Potsdam-Golm, die seit 1981 direkt dem Staatssicherheitsministerium in Ost-Berlin unterstellt war.22 Aus dieser Ausbildungsstätte der Geheimpolizei wurde mit einem Beschluss der Regierung Hans Modrow vom 1. Februar 1990 mit Wirkung zum 1. März ein Teil der Pädagogischen Hochschule „Karl Liebknecht“ in Potsdam, die 1991 in Universität Potsdam umbenannt wurde.23 Gleichzeitig sollten die dort befindlichen medizinischen Einrichtungen und Kindergärten erhalten bleiben, es war ein Altersheim einzurichten. Die Wäscherei, die Druckerei und eine Autowaschanlage der Geheimpolizei standen jetzt der Bevölkerung offen – auch sollten einige ihrer Gebäude als Wohnungen genutzt werden. Heute befinden sich auf dem Gelände der ehemaligen Juristischen Hochschule die beiden Philosophischen Fakultäten der Universität.
Die Potsdamer Bezirksverwaltung des MfS mit ihren Kreisdienststellen, mit 32 Abteilungen, Referaten und Arbeitsgruppen beschäftigte 1989, 3.868 Personen.24 Darunter waren 689 Offiziere, die „Inoffizielle Mitarbeiter“ [IM] führten, das heißt diese anleiteten, überwachten und ihre Spitzelberichte auswerteten. Das waren bei einzelnen dieser Offiziere bis zu 30 „Inoffizielle Mitarbeiter“, dazu kamen 68 „Hauptamtliche Inoffizielle Mitarbeiter“ [HIM] und in Schlüsselpositionen 32 „Offiziere im besonderen Einsatz“ [OibE]. Die Untersuchungsabteilung [Abteilung IX] hatte 52 Mitarbeiter, darunter ein OibE, die sich mit unterschiedlichen Arbeitsgebieten beschäftigten, die Schwerpunkte waren dabei Ermittlungsverfahren und Fahndungen.25 Von Januar bis Oktober 1989 hatte das Potsdamer MfS 770 neue Inoffizielle Mitarbeiter gewonnen, 995 Menschen hatte es als IM-Vorlauf im Visier und die Akten von 686 IM waren archiviert worden. Seine Untersuchungshaftanstalt in der Otto-Nuschke-Straße stand Tag und Nacht für Vernehmungen zur Verfügung und hier wurde auf die Inhaftierten brutaler physischer und psychischer Druck ausgeübt.26 Die Untersuchungs-Haftanstalt beschäftige 1989 49 Mitarbeiter, einer davon war Zivilangestellter. In den ersten beiden Monaten des Jahres 1989 hatte die Untersuchungsabteilung des MfS 48 Ermittlungsverfahren „abgerechnet“, darunter die Mehrzahl von 35 Verfahren wegen „ungesetzlichen Grenzübertritts“.27 Insgesamt verhaftete die Geheimpolizei im Bezirk Potsdam von Januar bis Oktober 1989384 Menschen, darunter 350 wegen „versuchter Republikflucht“. Das Ministerium für Staatssicherheit verstand sich auch in Potsdam immer als „Schwert und Schild der Partei“, also der Staatspartei SED. Den Mitarbeitern der Geheimpolizei war bis zum Herbst ein Ende des MfS unvorstellbar und sie waren wohl auch überrascht darüber, welcher Hass ihnen jetzt auch in Potsdam entgegenschlug.
Wie in der gesamten DDR arbeitete die Geheimpolizei in Bezirk und Stadt Potsdam mit zahlreichen Organisationen und Einrichtungen, die sie als „Partner [bzw. Organe] der Zusammenarbeit“ bezeichnete, Hand in Hand. Diese „Kooperation“ sollte ständig ausgebaut werden und wurde von der Staatssicherheit mit hoher Aufmerksamkeit überwacht. Eine solche Kontrolle fand auch im Bezirk Potsdam zwischen dem 10. und dem 28. August 1989 mit dem Leiter der Bezirksverwaltung, dem „Stellvertreter Operativ“, dem Leiter der „Auswertungs- und Kontroll-Gruppe“, der Abteilung X und ausgewählter Leiter von Kreisdienststellen statt.28 Zielstellung der Kontrolle war es,
„eine kontinuierliche politisch-ideologische Beeinflussung feindlicher bzw. negativer Kräfte durch die Einbeziehung staatlicher und gesellschaftlicher Kräfte der Partei [der SED] sowie die Nutzung der Potenzen des MfS zu erreichen“.29
Dafür sollte besonders der Einsatz dieser „gesellschaftlichen Kräfte“, das bezog sich letztlich jedoch nicht nur auf die SED, sondern auch auf Funktionäre und zuverlässige Mitglieder von Blockparteien und Massenorganisationen, in Zusammenarbeit der Dienststellen des MfS mit den 1. Sekretären der Kreis- bzw. der Bezirksleitung der SED aktiviert werden. Dazu waren die SED-Funktionäre mit geheimen Parteiinformationen entsprechend auszustatten und dabei die „stabilen Arbeitsbeziehungen“ zu nutzen, um so konsequent gegen die „Kräfte des politischen Untergrunds“30 vorzugehen. Diese Informationen überwachte das MfS misstrauisch, dabei ging es ihm darum, den „vorbeugenden Aspekt“ stark zu beachten, um so zur Stabilisierung der Diktaturen und besonders ihrer Volkswirtschaft beizutragen.31 Auf Mängel und Missstände sowie sich „anbahnende Tendenzen oder Schwachstellen“ war hinzuweisen und darüber waren auch die „Organe des politisch-operativen Zusammenwirkens“ besonders die Abteilungen Inneres des Rates des Bezirkes, der Räte der Kreise, die Deutsche Volkspolizei und die „Arbeiter- und Bauerninspektionen“, unter Wahrung der Konspiration und Geheimhaltung, zu informieren. Das MfS stellte sich in diesem Zusammenhang die Aufgabe, die „in Erscheinung tretenden Personengruppen verstärkt zu differenzieren“, seine „offiziellen“ und „Inoffiziellen Mitarbeiter“ konsequent zur Gewinnung von Informationen über die Bevölkerung zu nutzen und schnell und selbständig auf aktuell-politische Ereignisse und „Erscheinungen“ zu reagieren.32 Kritisch war es für die Potsdamer Bezirksverwaltung des MfS, dass ihre Kreisdienststellen und Fachabteilungen oft erst nach Aufforderung berichteten und dann die Meldungen der Polizei, die sie also erhielten, wörtlich übernahmen, ohne sie aus der Sicht der Geheimpolizei zu werten oder zu ergänzen. Außerdem gab es immer wieder erhebliche Aktualitätsverluste.
Die Staatssicherheit gewann ihre Erkenntnisse zuerst und hauptsächlich auch in Potsdam aus den Berichten ihrer unterschiedlichen Strukturen und derer Spitzel, die die „Auswertungs- und Kontrollgruppe“ zusammenfasste. Dazu gehörten auch die „Abteilung XX Staatsapparat, Kultur, Kirchen, Untergrund“ und die „Abteilung XVIII Sicherung der Volkswirtschaft“, die sich vertikal in die „Linien XX bzw. XVIII“ mit Hauptabteilungen im Ost-Berliner Ministerium für Staatssicherheit und entsprechende Struktureinheiten in den Kreisverwaltungen des MfS eingliederten. Einen guten Überblick über diese Informationsgewinnung gibt ein Bericht für den März 1989, der von der „Sicherung der Vorbereitung der Kommunalwahlen“ geprägt war.33 Hier ging es um die „Sicherheit“ in den Gebäuden mit Wahllokalen und die „sicherheitspolitische Überprüfung“ derjenigen Personen, die zur Auswertung der Wahl im Bezirksrechenbüro arbeiten sollten. Kontrolliert wurden auch die „Eingaben“ der Bevölkerung im Bezirk Potsdam, die in durchschnittlich drei von 100 Fällen eine Nichtteilnahme an den Wahlen ankündigten. Ein weiterer Beobachtungsschwerpunkt waren die „Aktivitäten feindlich-negativer Kräfte“ gegen den staatlichen Umweltschutz und die Wasserwirtschaft.
Detaillierte Informationen über die Situation enthielt dann eine Konzeption der „Abteilung XVIII“ zur „politisch-operativen Lage“ und „Tätigkeit“.34 Hier ging diese Abteilung davon aus, dass nach der Kontrolle der Kommunalwahlen die „gegnerischen Aktivitäten zur Inspirierung und Formierung der PID“ [Politisch-Ideologischen Diversion] zunehmen und zur „politischen Untergrundtätigkeit“ führen würden.35 Schwerpunkte waren dabei das „Zentralinstitut für Astrophysik“ [ZIAP], das „Zentralinstitut für Physik der Erde“ [ZIPE] und die „Forschungsstelle für Hochdruckforschung“ der Akademie der Wissenschaften der DDR.36 Hier würden seit einiger Zeit die „Bestrebungen“ „feindlich-negativer und oppositioneller Kräfte“ mit zum „Teil öffentlichkeitswirksamen Handlungen und Aktivitäten“ zunehmen. Diese „Angriffe“ richteten sich – unter dem Deckmantel der evangelischen Kirche – insbesondere gegen die „führende Rolle“ der SED, ihre Kirchenpolitik und die des Staates, die Umsetzung der Menschenrechte in der DDR und die „sozialistische Demokratie“. Dabei bezogen sich die Oppositionellen, angeblich durch den „Gegner“ im Westen instruiert und inspiriert, auf Reformen in der Sowjetunion und in anderen Ländern des „Realsozialismus“. Die Staatssicherheit bespitzelte, zersetzte und bekämpfte diese Bürgerrechtler im „Operativen Komplex Quadrat“,37 in den „Operativen Vorgängen“ [OV] „Grün“ und „Konkret“ sowie in den „Operativen Personenkontrollen“ [OPK] „Robbe“ und „Drachen“. Dazu kamen im ZIAP das „Operative Ausgangsmaterial“ [OAM] „Grenze“, die OPK „Ratte“, die „Archivierte Operative Personenkontrolle“ [AOPK] „Telefon“, im ZIPE die OPK „Initiator“ und beim Meteorologischen Dienst Potsdam die OPK „Ball“.38 Außerdem „führte“ das MfS die OPK „Horoskop“, „Sputnik“ und „Umsetzer“.39 Die betroffenen Wissenschaftler der Akademieinstitute hatten nach den Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 deren Ergebnisse kontrolliert, gezählt und ihre im Widerspruch zu den öffentlichen Angaben stehenden Zahlen veröffentlicht.40 Außerdem versuchten sie, Angaben zum Umweltschutz zu erhalten. Neben den Akademieinstituten gab es „abweichendes Verhalten“ wie das Anzweifeln der Wahlergebnisse im Datenverarbeitungszentrum Potsdam, im „VEB [Volkseigener Betrieb] Deponie Potsdam“ und „VEB Energiekombinat Potsdam“.41
In dieser für sie bedenklichen Situation plante die Potsdamer „MfS-Abteilung XVIII“, weiterhin die inoffizielle Basis mit „Inoffiziellen Mitarbeitern“ und „Geheimen Mitarbeitern Sicherheit“ [GMS] zu verstärken. Dazu gehörten die „Inoffiziellen Mitarbeiter mit Feindberührung“ [IMB] „Wolfgang Arndt“, „Ernst“ und „Michael Schwarz“, die „Inoffiziellen Mitarbeiter Sicherheit“ [IMS] „Heydrich“ [Dr.Rainer Söllner], „Lothar Gärtner“ [Dr.Albrecht Schulze], „Lutz Becker“ [Ingolf Schumann]42, „Professor“43 und „Klaus Peter“, die „Inoffiziellen Mitarbeiter für einen besonderen Einsatz“ [IME] „Waldemar Fuchs“ [Klaus-Dieter Petzsch] und „Stürzer“ [ein Mitglied des Potsdamer Parteivorstandes der Demokratischen Bauernpartei Deutschands, DBD] sowie der GMS „Jochen Gränz“.44
Einige Monate später kam die „Abteilung XVIII“ zu dem Ergebnis, dass sich der „Druck der Kräfte des politischen Untergrundes“ verstärkt habe und sich darüber hinaus die Flucht aus der DDR und das Nichtzurückkehren von Besuchsreisen in den Westen vermehrt hatten.45 Die Oppositionellen im Bezirk und besonders in der Stadt Potsdam bezogen sich weiterhin auf Reformen in den „realsozialistischen“ Staaten und griffen die „führende Rolle“ der SED an.46 Besonders besorgniserregend erschienen dem MfS weiterhin die „feindlich-negativen Kräfte im Untergrund“ im ZIAP.
Besonders wichtig war es der Staatssicherheit immer, die „gesellschaftlichen Kräfte“ aus unterschiedlichsten Bereichen, so der „Nationalen Front“, der Räte der Bezirke, der „Blockparteien“ und der an Hoch- und Fachschulen, bei Veranstaltungen und bei der Bearbeitung von „Eingaben“, im Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich einzusetzen. Dazu mussten die „Kader“ der Staatspartei aber noch stärker davon überzeugt werden, dass der Kampf gegen den „politischen Untergrund“ nicht nur Sache der Geheimpolizei sondern auch der SED-Leitungen sei. Allerdings hatte sich der Einsatz „gesellschaftlicher Kräfte“ bei „allgemein agitatorischen Einsätzen“ und bei „demonstrativen Aktivitäten personeller Handlungsräume“ nicht bewährt, da oft „konkrete Festlegungen“ fehlten. Grundsätzlich sei auch hier die „führende Rolle“ der SED zu stärken und es wären „Einfluss- und Betreuungspersonen im Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereich“47 einzusetzen, die über „fachliche Kompetenz“ verfügen würden sowie „politische Überzeugungskraft“, „Durchsetzungsvermögen“ und „rhetorische Fähigkeiten“ besäßen.
Im Bereich der Kirchen kommt beim Kampf gegen oppositionelle „personelle Zusammenschlüsse“ in den Augen des MfS den Referenten für Kirchenfragen in den staatlichen Innenverwaltungen besondere Bedeutung zu. Außerdem sollten Spitzel in den Kreis- und Gemeindekirchenräten tätig werden und „Irregeleitete und Mitläufer“ seien durch Übertragung konkreter Aufgaben, so im Umweltschutz, in die Strukturen der Diktatur einzubinden. Auch die Öffentlichkeitsarbeit wäre zu verbessern – hieß es weiter – und unter Führung der SED gehe es um die Erarbeitung „konkreter, lagebezogener Vorschläge“ zur „vorbeugenden Bekämpfung feindlicher, oppositioneller Kräfte und deren Aktivitäten“.48
Nach dem Mauerbau 1961 hatte sich auch die Bevölkerungsstruktur Potsdams verändert: Der Anteil der Berufstätigen im produzierenden Handwerk bzw. in kleineren Betrieben ging zurück und der Anteil nichtproduzierender Bereiche erhöhte sich. Zu dem ständig steigenden prozentualen Anteil von SED-Mitgliedern und von Menschen, die keine lebensgeschichtliche oder familiäre Beziehung zu Potsdam hatten, führten allein schon die Einrichtungen der SED, der Staatssicherheit, der Volkspolizei, der Volksarmee, der Grenztruppen/des Zolls, der Hochschulen und des Leistungssports. Zu den wichtigen Hochschulen gehörten die Pädagogische Hochschule mit 1989 3.200 Direktstudenten, 800 weiteren Studenten und 1.400 Mitarbeitern,49 die „Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf“ und die „Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften“ [bzw. für „Staat und Recht“]. Dazu kamen die bereits erwähnten naturwissenschaftlichen Institute der Akademie der Wissenschaften und der Meteorologische Dienst. Aber auch die evangelischen Kirchen unterhielten in Potsdam mit der „Evangelischen Ausbildungsstätte für Gemeindepädagogik“ in der Johannes-Dieckmann-Allee 5/6 [heute wieder Alleestraße] bzw. mit der „Ausbildungsstätte für evangelische Gemeindediakonie und Sozialarbeit“ in der Berliner Straße im „Civil-Waisenhaus“ sowie der Ausbildung künftiger Theologen im „Kirchlichen [evangelischen] Oberseminar [Potsdam-]Hermannswerder“ [KOS]50 Bildungseinrichtungen. Auch gehörten die Potsdamer Kirchen mit 30 Institutionen bzw. Einrichtungen und über 1.000 Beschäftigten zu den größten Arbeitgebern der Stadt.51 Potsdam war aber nicht nur Garnisonsstadt der Nationalen Volksarmee sondern auch der sowjetischen Truppen, die ganze Stadtviertel besetzt hielten. So waren in einem hermetisch abgeriegelten „Militärstädtchen“ nördlich des „Neuen Gartens“ die sowjetischen Geheimdienste untergebracht und die Spionageabwehr betrieb hier in der Leistikowstraße ihr Untersuchungsgefängnis.52
Bezogen auf widerständiges Verhalten geht Peter Ulrich Weiß als hervorragender Sachkenner zu Recht davon aus, dass urbane Ballungsräume in der Regel die soziokulturelle Voraussetzung für die Herausbildung einer politischen Oppositionsszene sind.53 Da in Brandenburg dörfliche und Kleinstadtatmosphäre herrschten, waren die Zentren der Opposition die Bezirksstädte, wobei Potsdam eine herausragende Rolle zukam. Gleichzeitig war in der Region Ost-Berlin für oppositionelles Handeln ausschlaggebend. Wie auch in anderen Teilen der DDR war der Schutz besonders einiger evangelischer Kirchen oder Gemeinden für widerständiges Verhalten wichtig und dabei spielten die evangelischen Ausbildungseinrichtungen in Potsdam eine herausgehobene Rolle.
In der Bezirksstadt Potsdam arbeiteten wichtige oppositionelle Zusammenschlüsse wie die Arbeitsgemeinschaft Umweltschutz und Stadtgestaltung „ARGUS“ und die „Arbeitsgemeinschaft Pfingstberg“ unter dem Dach des Kulturbundes sowie die Gesprächskreise „Schmiede“ und „Kontakte“ in der Friedrichskirchgemeinde in Potsdam-Babelsberg. Andere Gruppen ebenfalls unter dem Dach einzelner evangelischer Gemeinden waren die Dritte-Welt-Gruppe „Tierra Unida“, der „Frauenkreis der Friedrichskirchgemeinde“, der „Friedenskreis des Kirchenkreises Potsdam“, der „Arbeitskreis Solidarische Kirche“ und der „Hauskreis Hugler“.54 Dazu kamen der „Freundeskreis der Wehrdiensttotalverweigerer“, „Punks“ und eine „Antifa-Szene“ mit der „Anti-Skinhead-Liga“, die im Juli und September 1989 mit Aktionen gegen den Rechtsradikalismus auf sich aufmerksam machten, sowie eine subkulturelle Szene.55 Eine besondere Rolle spielte der ökumenische [bzw. katholische] Kreis „Arche“ unter dem Dach der katholischen „Peter und Paul-Gemeinde“, der regelmäßig systemkritischen Referenten ein Podium bot.56
Auch in Potsdam kam es nach der Aufdeckung des Betruges der Fälschungen bei den Kommunalwahlen am 7. Mai zu einer Legitimationskrise der Diktatur. Nach späteren Untersuchungen der Kriminalpolizei gab es in Potsdam-Stadt 5.112 gültige Gegenstimmen, die auf 1.599 Nein-Stimmen reduziert worden waren.57 Das führte später zu mehreren Verurteilungen, unter anderen die des Potsdamer Oberbürgermeisters Wilfried Seidel. Eine weitere Verschärfung der Situation war auch in Potsdam mit der Flucht- und Ausreisewelle im Sommer und Früherbst 1989 sowie mit dem Jubel der SED-Führung über das Massaker auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking58 verbunden.
Die zur Friedlichen Revolution führenden Massenproteste setzten in Potsdam, auch unter dem Einfluss einzelner Bürgerrechtler und aufbegehrender Persönlichkeiten – darunter vieler evangelischer Pfarrer und von Gemeindemitgliedern – später als etwa in Leipzig ein, erreichte aber mit dem 7. Oktober 1989 einen ersten Höhepunkt.59 Auch Brandenburg war jetzt für die kommunistische Diktatur endgültig keine „Überlebens-Insel“ mehr. Das zeigt auch die grundlegende Arbeit zum Ende der SED-Diktatur in der Region Brandenburg und besonders in Potsdam von Jutta Braun und Peter Ulrich Weiß.60 Für diese Autoren liegen die Gründe für das Ende der kommunistischen Diktatur – wie in der gesamten DDR und genauso in den anderen mittelosteuropäischen Staaten – auch in Potsdam allgemein in der sowjetischen Reformpolitik, im Glaubwürdigkeitsverlust der kommunistischen Ideologie und Herrschaft, in der Modernisierungsunfähigkeit der Planwirtschaft und im Aufkommen von Gegenöffentlichkeiten, oppositionellen Bewegungen sowie subkulturellen Strömungen. Gleichzeitig gehen sie davon aus, dass die Rolle der Regionen und ihrer revolutionären Modernisierungskraft in diesem Prozess noch nicht ergründet seien. Für die drei brandenburgischen Bezirke Cottbus, Frankfurt/Oder und Potsdam stellen Braun und Weiß fest, dass Widerspruchsgeist und „ideologische Entkräftung“ hier stärker waren als bisher angenommen. Zwar hätten die revolutionären Schwerpunkte 1989 in Ost-Berlin, Sachsen und Thüringen gelegen, doch blieb auch in Brandenburg die Unterstützung für das zusammenbrechende System aus. Die regionalen Leitungen der Staatspartei zeigten sich auch hier unfähig, die Diktatur eigenverantwortlich zu verteidigen. Das destabilisierte die kommunistische Herrschaft und führte mit den lokalen Oppositions- und Protestbewegungen zu ihrem Ende.
Besonders wichtig für die revolutionäre Entwicklung war in Potsdam das „Neue Forum“ und nach ihrer Gründung gewann die Sozialdemokratische Partei in der DDR61, auch durch ihre Unterstützung besonders durch Sozialdemokraten aus der Potsdamer Partnerstadt Bonn, aus West-Berlin und Nordrhein-Westfalen, schnell an Gewicht. Auf Seiten der Macht wurde dies spätestens am 15. November deutlich, als der Erste Sekretär der SED-Bezirksleitung Potsdam, Günther Jahn, – wie bereits erwähnt – von seinem Amt zurücktrat. Die Ämter des Ersten Bezirkssekretärs und das des Ersten Kreissekretärs übernahmen jetzt Heinz Vietze und Rolf Kutzmutz.62 Jetzt ergriff, wie Weiß ausführt, Panik, Unsicherheit und Existenzangst den regionalen SED- und Staatsapparat. Allerdings gelang es Vietze und Kutzmutz gemeinsam mit den SED-„Reformern“, den Potsdamern Professor Lothar Bisky und Professor Michael Schumann, die Mitgliederzahl der SED bzw. der „Partei des demokratischen Sozialismus“ im Bezirk Potsdam auf dem Niveau von rund einem Fünftel der Mitglieder, das waren 46.000 Menschen, zu stabilisieren.
Nach dem Fall der Berliner Mauer unter dem Druck der Demonstranten auf den Straßen Ost-Berlins am 9. November und der Öffnung der Grenze zwischen Potsdam und West-Berlin am folgenden Tag wandten sich immer mehr Protestierende vom Ziel einer erneuerten DDR ab. Der Protest auf den Straßen verlagerte sich verstärkt in Gremien wie die Bürgerkomitees zur Auflösung der Staatssicherheit63, in Potsdam den „Rat der Volkskontrolle“64, die „Runden Tische“ und in andere Arbeitsgruppen der Bürgerbewegung, die ihrerseits auf die Arbeit des Rates des Bezirkes, des Rates des Kreises und der Stadtverordnetenversammlung in Potsdam Einfluss nahmen. Jetzt vollzog sich ein radikaler Themenwechsel hin zur Zukunft Brandenburgs in einem vereinten Deutschland. Mit der Volkskammerwahl am 18. März 1990 begann schließlich eine weitere Revolutionsphase, die sich bis zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 erstreckte, die hier aber nicht mehr beschrieben wird.
In den Jahren 2009 und 2010 erinnerten sich die Deutschen an die Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 als ein Ereignis, mit dem im westlichen Teil Deutschlands die Lehren aus der Vergangenheit gezogen wurden und eine bis heute grundsätzlich stabile deutsche Demokratie entstand. Dies war – wie im Ruf aus Leipzig und in den Leipziger Thesen der Initiative „Tag der Friedlichen Revolution – Leipzig 9. Oktober 1989“ formuliert65 – die Voraussetzung für die Rückkehr Westdeutschlands als gleichberechtigter Partner in die westliche Völker- und Wertegemeinschaft. Den Menschen in der kommunistischen deutschen Diktatur blieb dieser Weg für vier Jahrzehnte versperrt. Die Ostdeutschen lebten in einer totalitären Diktatur unter dem Diktat der sowjetischen Hegemonialmacht. Erst durch die Friedliche Revolution in der DDR und den durch sie bedingten Fall der Berliner Mauer beendeten sie 1989 diesen erzwungenen und unfreien Zustand. Die ostdeutschen Revolutionäre errangen die Freiheit und schufen gleichzeitig die Voraussetzung für die deutsche Wiedervereinigung sowie den weiter voranschreitenden europäischen Einigungsprozess. Die Erinnerung an diese Revolution stand auch 2014/2015 im Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit und jetzt ist es an der Zeit, die noch vorhandenen Forschungslücken – so auch in Potsdam – zur Geschichte widerständigen Verhaltens und politischer Repression in der kommunistischen deutschen Diktatur zu schließen. Die Lösung dieser Aufgabe wird noch viele Jahre dauern und erheblicher Anstrengungen bedürfen.
Entsprechend der Oppositionsgeschichte der DDR liegen die territorialen Schwerpunkte der Veröffentlichungen zu diesem Thema in Berlin, Sachsen und Thüringen sowie in verschiedenen Städten im Süden der DDR. Dabei ist grundsätzlich in den letzten Jahren die Zahl der Publikationen zu einzelnen Regionen und Städten gewachsen, wobei Brandenburg seinen bisherigen Rückstand partiell ausgleichen konnte. Eine gute Literaturübersicht dazu gibt die Bibliographie von Rainer Eckert,66 die seit dem Herbst 2016 vom Archiv Bürgerbewegung Leipzig als Online-Edition herausgegeben und ständig aktualisiert wird.
Mit diesem Thema beschäftigte sich auch der Brandenburger Landtag von 2010 bis 2014, also sehr spät, mit der Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und Bewältigung von Folgen der SED-Diktatur und des Übergangs in einen demokratischen Rechtsstaat im Land Brandenburg“ – allerdings nur am Rande.67 Die Forschungssituation wurde nach einem mündlichen Vortrag von Rainer Eckert trotz aller Erfolge als durch erkennbare Probleme und Mängel gekennzeichnet eingeschätzt.68 In den Empfehlungen für die künftige Arbeit hieß es dann, dass die Kommission empfehlen würde, „Widerstand und Opposition gegen die kommunistische Diktatur zukünftig besser zu erforschen, angemessen zu dokumentieren und öffentlich darzustellen“.69 Dafür wurden die Vergabe von Forschungsstipendien und eine Forschungsanschubfinanzierung ins Auge gefasst. Ein für vorliegende Arbeit gestellter Antrag auf Förderung blieb jedoch unberücksichtigt.
Bei der weiteren Erforschung der regionalen Geschichte von Opposition und Widerstand sowie der politischen Repression – teilweise einbegriffen auch Bezirk und Stadt Potsdam – kann auf eine vielfältige allgemeine Literaturbasis zurückgegriffen werden. Dies gilt für die verschiedenen Formen widerständigen Verhaltens in der DDR70, für die Friedliche Revolution71 und für die Staatssicherheit.72 Eine umfassende monographische Darstellung von widerständigem Verhalten und Friedlicher Revolution in der Bezirksstadt Potsdam ist allerdings noch nicht vorgelegt worden.
Die Potsdamer Lücken in der Erforschung der Geschichte von Opposition, Widerstand und Friedlicher Revolution machen auch Jutta Braun und Peter Ulrich Weiß in ihrem wichtigen Sammelband zur Revolution von 1989/90 im Land Brandenburg aus.73 Gleichzeitig erkennen sie in den letzten Jahren hier eine Kehrtwende und meinen zu Recht, dass im Land Brandenburg die Stadt Potsdam am besten erforscht ist. Ihr Sammelband enthält dann neben Ausführungen zum Niedergang der SED-Diktatur in der Region, über Widerstand und Revolution im Land Brandenburg Beiträge zur Auflösung der Staatssicherheit im Bezirk Potsdam74, zur Umweltgruppe „ARGUS“75, zur „Arbeitsgemeinschaft Pfingstberg“76, zur katholischen bzw. ökumenischen Basisgruppe „Arche“77, zur „Hochschule für Film und Fernsehen der DDR Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg78 sowie zum Brandenburger Spitzensport.79 Neben Schilderungen der Situation Potsdams80 wandten sich weitere Forschungen vor allem den Haftanstalten des MfS und der sowjetischen Besatzungsmacht bzw. der Westgruppe der sowjetischen Truppen in Deutschland zu.81
Die allgemeine politische und gesellschaftliche Situation in Potsdam beschrieben Peter-Ulrich Weiß und Jutta Braun in einer die Zeit zwischen den 1980er und dem Anfang der 1990er Jahre umspannenden Monographie.82 Wichtig für die Bearbeitung meines Themas waren auch die bereits erwähnten Arbeiten von Braun und Weiß zur Friedlichen Revolution in Potsdam83 sowie die Veröffentlichung von Sigrid Grabner, Henrik Röder und Thomas Wernicke zum Widerstand in Potsdam.84 Mit den Schwerpunkten oppositionelle Treffen im Herbst 1989, Demonstrationen auf den Straßen Potsdams und Fall der Mauer zu West-Berlin gibt es eine beeindruckende Fotodokumentation von Bernd Blumrich mit kommentierenden Texten.85 Für die Zeit von Ende 1989 bis zur ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 sind schließlich zuerst die Monographien von Gerlinde Grahn über den „Runden Tisch des Bezirkes Potsdam“86 und von Gisela Rüdiger und Gudrun Rogall über den „Rat der Volkskontrolle“ zu nennen.87 Über die Geschichte der Sozialdemokratischen Partei in der DDR im Land Brandenburg legten Alexander Sewohl, Nikolas Dörr und Fabio Cecere einen schmalen Band vor88 und für das Verstehen der Potsdamer Subkultur ist immer wieder die Sicht auf das „Café Heider“ unverzichtbar.89
Die Situation im Potsdam des Jahres 1989 spiegelt sich vorzüglich in zahlreichen Archivalien der Geheimpolizei im Archiv des „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“ [BStU] wider. Am wichtigsten sind hier die Berichte und Lageeinschätzungen sowie die Übersichten zur Opposition der Berliner Hauptabteilung XX/AKG90 des MfS und der Abteilung XX/AKG der Bezirksverwaltung Potsdam der Geheimpolizei. Hervorzuheben sind ebenfalls die Potsdamer Berichte an den Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung, Günther Jahn, die in Ost-Berlin zusammengestellten fast täglichen Berichte über oppositionelle Aktivitäten im Umfeld der „Aktion Störenfried“ ab Anfang 1988 bis zum Ende der DDR.91 Dazu kommen Berichte zum „Operativen Vorgang Quadrat“ und Archivalien der Kreisdienststelle Potsdam des MfS. Schwerpunkte sind dabei im Herbst 1989 die Unterlagen zum „Neuen Forum“, zu den Demonstrationen und Veranstaltungen der Opposition sowie zur Friedlichen Revolution in Potsdam. Andere Struktureinheiten der Potsdamer Bezirks- und Kreisverwaltung des MfS wandten sich mit ihrer „Aufklärungsarbeit“ den Themen Jugend, Gegenkulturen und antikommunistische Opposition zu.
Erstmals unternahm ich den Versuch, alle Akten von „Operativen Vorgängen“ bzw. „Operativen Personenkontrollen“ und die von „Inoffiziellen Mitarbeitern“ über ihre Tarnnamen zu ermitteln und auszuwerten. Das Ergebnis blieb unbefriedigend, da viele Zuträger der Geheimpolizei über andere Sachverhalte als die mich interessierenden berichteten, ihre Aussagen sich als unerheblich herausstellten oder, da die Spitzel noch aktiv „arbeiteten“, von ihren „Führungsoffizieren“ 1989 kassiert worden waren. So gab es nur Angaben zu einzelnen Sachverhalten und wenigen Personen. Leider sind die Verfolgungsakten der in Potsdam wichtigen Oppositionellen und Bürgerrechtler offensichtlich zu einem erheblichen Teil vernichtet worden. Wichtig waren die erhaltenen Aussagen des katholischen Geistlichen Gert [Leo Paul] Adler92 und besonders des Mitarbeiters für Kirchenfragen beim Rat der Stadt Potsdam, Abteilung Inneres, Harry Meischel, der als „Inoffizieller Mitarbeiter Sicherheit“ [IMS] „Fritz Meinhard“, dann als IME „Gerhard Winzer“93 ständig über die evangelische Kirche, über Basisgruppen und Oppositionelle berichtete. Am Fall des Theologen wird deutlich, dass er vom MfS zwar als „Inoffizieller Mitarbeiter“ mit einem Tarnnamen geführt wurde, dass er jedoch keine Verpflichtungserklärung unterschreiben musste und es letztlich auch nicht zu klären ist, ob er wusste, in welchem Verhältnis er zur Staatssicherheit aus deren Sicht stand. Klar ist nur, dass er mit der Geheimpolizei in Gesprächskontakt war und auch gegenüber einer oppositionellen Basisgruppe in deren Sinn wirkte. Bei Meischel wird dagegen deutlich, dass er seine beruflichen Kontakte skrupellos für die Berichterstattung an die Staatssicherheit nutzte und in einem sehr engen zeitlichen Rhythmus bei Treffen in seinem Arbeitszimmer Auskunft gab.
Die Aktenüberlieferung der Geheimpolizei endet mit der Auflösung der Potsdamer Einrichtungen der Staatssicherheit bzw. der Nachfolgeorganisation „Amt für Nationale Sicherheit“ [AfNS, ab 17./18. November 1989 im Zusammenhang mit der Bildung der Regierung Hans Modrow] im Dezember 1989 bzw. im Januar 1990. Insgesamt verdeutlichen die Archivalien, wie eng das MfS an seinen Auftraggeber SED gebunden war. Es war im wirklichen Sinn „Schwert und Schild der Partei“ und ging gemeinsam mit ihr unter. Da die Wut der Potsdamer sich zuerst auf die Geheimpolizei richtete, leistete sie als „Sündenbock“ der kommunistischen Staatspartei auch in dieser Situation einen letzten Dienst.
Die von Reinhard Meinel und Thomas Wernicke vorgelegte, grundlegende Edition von Berichten der Potsdamer Staatssicherheit endet im November 1989.94 Weiteres Material zur Geschichte der politischen Opposition in Potsdam – und hier besonders des „Neuen Forums“ – sind im Archiv der „Robert-Havemann-Gesellschaft“ in Berlin zu finden. Für die Geschichte der unabhängigen Umweltbewegung in Potsdam ist das Archiv der Basisgruppe „ARGUS“ heranzuziehen.95 Für mein Thema waren im Brandenburgischen Landeshauptarchiv besonders die Lageberichte der „Deutschen Volkspolizei“, die Monatsinformationen der SED-Bezirksleitung für Generalsekretär Erich Honecker, und die Einschätzungen der politisch-ideologischen Situation der Abteilung Agitation und Propaganda dieser Bezirksleitung wichtige Quellen. Insgesamt sind sowohl die Literaturbasis als auch die archivalische Quellenlage ausreichend, um die Geschichte von Opposition, politischer Repression und Friedlicher Revolution in Potsdam vom Anfang des Jahres 1989 bis zur ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 umfassend darzustellen. Für die darauf folgenden Wochen und Monate beschränke ich mich auf einige knappe Anmerkungen.
Für die Schilderung der Situation in der Bezirksstadt Potsdam 1989 sind zwei Aktenbestände ausschlaggebend. Die erste Gruppe von Archivalien ist dadurch veröffentlicht, dass am 27. März 1990 Reinhard Meinel96 und Thomas Wernicke97 für das „Neue Forum“ beim „Runden Tisch des Bezirkes Potsdam“ zusammen mit den zwei Mitgliedern der „Arbeitsgruppe Sicherheit des Runden Tisches des Bezirkes Potsdam“, Christian Grauer und Peter Scherzer, und der Mitarbeiterin des „Bürgerkomitees zur Auflösung des MfS“, Uta Leichsenring98, die Möglichkeit beantragten, unter Aufsicht von Mitarbeitern des Staatsarchivs Potsdam Einsicht in die Akten der Bezirksverwaltung Potsdam [BVfS] des Ministeriums für Staatssicherheit nehmen zu können.99 Daraus entstand, trotz Widerstandes in den eigenen Reihe, mit einer erteilten Sondergenehmigung vom April 1990 nach dem Vorbild der Aktenpublikation „Ich liebe euch doch alle“ von Armin Mitter und Stefan Wolle100 eine Edition von Archivalien mit ausgewählten Berichten aus dem Bestand der „Auswertungs- und Kontrollgruppe“ der BVfS Potsdam. Die Berichte dieser MfS-Struktur gingen direkt an den Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung Potsdam, Günther Jahn. Dazu kamen Berichte der Kreisdienststelle Potsdam des MfS, der Potsdamer Abteilung XX der Geheimpolizei sowie anderer Abteilungen ihrer Bezirksverwaltung. Die veröffentlichten Archivalien wurden durch weitere Veröffentlichungen zur Staatssicherheit und zur Opposition in Potsdam ergänzt.101
Zu diesen Archivalien kommt der unveröffentlichte Bestand der Berichte der Bezirksleitung Potsdam der SED, unter Jahn, an den Generalsekretär Honecker, die im Brandenburgischen Landeshauptarchiv von Januar bis September erhalten sind und die ihrer Abteilung Agitation und Propaganda vom 10. Juli bis zum 7. November 1989. Die Berichte Jahns – der sich auf ein differenziertes Berichtssystem der eigenen Partei aber auch der Staatssicherheit stützen konnte – waren charakterisiert durch eine kriecherische Unterwerfung unter Honecker, durch Blindheit gegenüber der wirklichen Situation im Bezirk Potsdam und durch eine pathetische Selbststilisierung als kämpferischer Revolutionär. Dazu kommen letztlich komische Wortschöpfungen wie „geschärfter Führungsblick“, „Akzente der Offensivkraft“, „leistungsbereiter Beifall“, „Anleitung für stärkeren Offensivgeist“, „Kampfberatung für die sieghafte Führung der Kommunalwahlen“, „etappendifferenzierte Umbewertung“ und „mündliches Ideologiefeuer aus unserer Kampfpositionshöhe“.
Zu den Ereignissen, die auch in Potsdam den Weg zur Friedlichen Revolution ebneten, gehörten das Verbot der sowjetischen Zeitschrift „Sputnik“ am 18. November 1988 und die Absetzung von fünf Filmen aus der Sowjetunion.102 Darüber hinaus berichtete der Kulturbund des Bezirkes Potsdam und es war seinen Funktionären aufgefallen, dass die Ausführungen des Generalsekretärs der SED, Erich Honecker, auf dem siebten Plenum des Zentralkomitees [ZK] seiner Partei vom 1. bis zum 2. Dezember 1988,103 dass der Lebensstandard in der DDR höher als der in der Bundesrepublik sei, von den Menschen nicht akzeptiert werden würde.104 Und so meinte der Kulturbund überaus berechtigt, dass offensichtlich materielle Werte im Leben der Menschen eine größere Rolle spielen würden als die „geistig-kulturellen Werte des Sozialismus“. Dies sollten schon kurze Zeit später besonders die Flüchtlinge des Jahres 1989 bestätigen.
Im Bericht vom 27. Januar 1989 der Bezirksleitung Potsdam der SED kam diese allerdings zu ganz anderen Einschätzungen. So hieß es hier, dass Honecker-Reden wie die auf der Festveranstaltung zum 70. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands vom „schöpferischen Offensivgeist geprägt“ gewesen waren und dass sich die große Mehrheit der SED- und Arbeitskollektive im Bezirk Potsdam „kampfbetont“ daran gemacht hätten, die Beschlüsse der siebten Tagung des ZK der SED zu verwirklichen.105 Auf diesem Plenum hatte Generalsekretär Honecker die bisherige Linie als Erfolg bewertet und sich mit einer angekündigten Politik der „Kontinuität und Erneuerung“ von der sowjetischen Reformpolitik distanziert. In den Augen der Potsdamer SED-Führung hätte auch ein Politbürobeschluss „zur weiteren Erhöhung des Niveaus der politisch-ideologischen Arbeit“ mobilisierend gewirkt. Angesichts widersprüchlicher Prozesse in den sozialistischen Staaten würde die Bevölkerung mit Unverständnis auf die Herangehensweise der jugoslawischen, polnischen und ungarischen Kommunisten an die Lösung ihrer Probleme reagieren.106 Die meisten „Diskussionspartner“ der SED würden in „machtpluralistischen und marktwirtschaftlichen Konzeptionen“ keine „marxistische Alternative“ zur „Problemlösung“ sehen. Stattdessen gäbe es die Sorge, dass in Ungarn der Kapitalismus teilweise wieder eingeführt werden würde und in Polen „konterrevolutionäre Organisationen“ legalisiert werden könnten. Presseveröffentlichungen aus der Sowjetunion verfolgte die Bevölkerung aufmerksam und auf das Auftreten sowjetische Politiker im Ausland würde mit „allgemeinem Befremden, teilweise sogar mit Bitternis“ reagiert werden.107 Dagegen hätte es im Januar im Bezirk Potsdam „wichtige Beratungen zur Entfaltung der Volksdiskussion und Masseninitiativen in Vorbereitung desXII. Parteitages“ der SED gegeben. Am 20. Januar 1989 hatten die Leitungen der „befreundeten Parteien und der Massenorganisationen“ der SED versichert, dass sie sich in einem „unerschütterlichen Bündnis“ für einen „beeindruckenden Erfolg der Kommunalwahlen am 7. Mai“ einsetzen würden. Die Situation erschien also im Sinne der Diktatur stabil und für Sorgen der Herrschenden schien es keinen Anlass zu geben.
Auch der Kulturbund hatte im Januar weiterhin die siebte Sitzung des ZK der SED im Blick, bezog aber auch Honeckers Neujahrsansprache und die Rede des Generalsekretärs der KPdSU, Michail Gorbatschow, vor der UNO in New York mit ein und meinte, dass die Bevölkerung die sowjetische Friedenspolitik unterstützen würde.108 Ähnlich wie die SED verwiesen auch die Kulturfunktionäre auf Sorgen der Systemanhänger über Entwicklungen in der Sowjetunion, in Polen und in Ungarn, aber auch in Rumänien. In die Zukunft wies erneut die Einschätzung, dass im Potsdamer „Humboldt-Klub“ geäußert worden war, dass „eine offene, sachliche und ehrlich geführte Diskussion in den Medien mit konkretem Aufzeigen von Mängeln“ nötig wäre. An Heftigkeit würden die „allergischen Reaktionen auf schönfärberische Berichte“, die Probleme „verniedlichen“ oder gar „verschweigen“, zunehmen.109 Auch dies verwies bereit auf eine Stimmung, in diesem Fall unter Potsdamer Intellektuellen, die im Herbst 1989 die Menschen auf die Straße trieb.
Für den Monat Februar 1989 berichtete der Erste Sekretär der Bezirksleitung Potsdam der SED über die Bemühungen zur „weiteren Erhöhung des Niveaus unserer politisch-ideologischen Arbeit“ und über eine „bezirkskonkrete Anleitung für stärkeren Offensivgeist in einer volksumfassenden Volksaussprache“.110 Dabei ging es um die Vorbereitung des 40. Jahrestages der Gründung der DDR, die „sieghafte Führung der Kommunalwahlen“ und die zusätzliche Produktion von Konsumgütern. Besorgt wies Jahn darauf hin, dass SED-Mitglieder aber auch Parteilose Sorgen über die „hofierenden Gespräche polnischer Regierungsvertreter mit Führern der Gewerkschaft „Solidarität“ am „Runden Tisch“ in Warschau und die „etappendifferenzierte ‚Umbewertung‘ der Konterrevolution von 1956 in Ungarn zum ‚Volksaufstand‘“ plagten.111 Positiv würde dagegen das Vorgehen der „Organe“ der Tschechoslowakei gegen die „Ausschreitungen oppositioneller Elemente“ bewertet werden. Die zunehmenden Informationen „über komplizierte Vorgänge in einzelnen Bruderländern“ würden einerseits helfen, den Kurs der SED besser zu verstehen, andererseits besonders bei jungen Menschen „manche Zweifel über die Perspektiven des sozialistischen Weltsystems nähren.“ Deshalb sollte die SED „im befreiten Heimatland von Marx und Engels“ in der mündlichen Agitation mehr Wert auf die Klärung von Zusammenhängen legen und das Gewicht der eigenen Verantwortung hervorheben.
Im Zuge der Vorbereitung der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 meinte der SED-Funktionär, dass eine „vertrauensmehrende Volksdiskussionen“ und eine „tatbezogene Volksbewegung zur weiteren Stärkung unserer Arbeiter- und Bauern-Republik“ eine Einheit bilden. Die „Volksvertretungen“ im Bezirk Potsdam hätten überzeugende Ergebnisse bei der Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem und bei der Verbesserung der Kinderbetreuung aufzuweisen.112 Als Ausdruck der „tiefen Verwurzelung unserer sozialistischen Demokratie“ würden die Wahlkandidaten offen geprüft werden und dies fände große Zustimmung. Insgesamt seien von 10.673 Kandidaten 27 abgelehnt worden. Das zeige, „daß unsere bewährte Form der Kandidatenaufstellung eine gute Sache sei.“113 Beim „Führer“ der Staatspartei im Bezirk Potsdam war von den wirklichen Verhältnissen und den sich häufenden Problemen keine Rede, wenn vom Blick auf einige „sozialistische Bruderländer“ abgesehen wird. Dies sollte sich bis in den Herbst 1989 hinein fortsetzen.
Für den Rat der Stadt Potsdam war jetzt bezogen auf die evangelische Kirche wichtig, dass Geistliche die Abrüstungspolitik der Sowjetunion und der DDR unterstützten.114 Bei einer solchen Einschätzung spielte auch die Hoffnung eine Rolle, dass durch den Abzug sowjetischer Truppen Wohnungen für Potsdamer frei werden würden. Kritik gab es dagegen daran, dass es in Ost-Berlin wohl Geschäfte geben würde, in denen Mitglieder der SED und der Staatssicherheit einkaufen könnten. Dies stimmte zwar nur für die höheren „Nomenklaturkader“, verwies aber auf einen der Gründe, die im Herbst 1989 auch die Potsdamer in die Revolution trieben. Kritik gab es – und auch das spielte weiterhin eine Rolle – daran, dass die Jugendlichen nicht zu selbstbewussten Menschen erzogen wurden. Trotz solcher Meinungen der Theologen kamen die Vertreter der Stadt Potsdam jedoch zu dem Schluss, dass es in der evangelischen Kirche „ansonsten durchaus positive Aussagen“ geben würde.115
Am Anfang des Monats Februar 1989 machte die Potsdamer Geheimpolizei ein synchrones Vorgehen von Medien, Institutionen und Einrichtungen der Bundesrepublik mit „feindlichnegativen Kräften“ in der DDR bei der Organisation der „politisch-ideologischen Diversion gegen die DDR“ aus.116 Dabei gäbe es eine „permanente Bezugnahme innerer oppositioneller Kräfte“ auf die sowjetische Reformpolitik von „Glasnost“ und „Perestroika“ und die Übernahme dieser Positionen durch die „Offene Arbeit“ der evangelischen Kirchen. Zu einer weiteren Politisierung der Kirchen hatten die „Ökumenischen Versammlungen“ 1988 in Dresden und Magdeburg, die im Potsdamer Kirchenkreis auf zwei ökumenischen Foren diskutiert wurden, beigetragen und jetzt gab es „Angriffe“ gegen die bevorstehende Kommunalwahl vom 7. Mai 1989. Diese gingen vom „Brief an Christen in der DDR und ihre Gemeindevertreter zu den Kommunalwahlen 1989“ vom 8. Januar 1989 der am 25. Mai 1987 gegründeten „Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“117 sowie von weiteren kirchlichen Basisgruppen in Ost-Berlin aus. Diese forderten andere kritische Gruppen zur Aufstellung von eigenen Wahlkandidaten auf. Zu diesem Zeitpunkt orientierte sich die Bevölkerung auch auf die Moskauer Reformpolitik und lehnte die Gründung eines „Freidenkerverbandes“, einen der letzten Versuche von SED und wohl auch der Geheimpolizei, wieder die Initiative zu ergreifen, in der DDR ab.118 Eine weitere Veranstaltung zu „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ fand in Potsdam am 6. Juni 1989 statt.119 Hier hieß es, dem Staat sei nicht nach dem Munde zu reden und man dürfe keine Angst vor ihm haben.
Angesichts der für die Staatssicherheit kritischen Lage in der DDR forderte die Potsdamer Bezirksverwaltung des MfS, keinen „Qualitätsverlust“ in ihrer „Arbeit“ zuzulassen, und nicht zu erlauben, dass sich einzelne Mitarbeiter der „Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit“ entziehen würden.120 Der Einsatz der „Inoffiziellen Mitarbeiter“ sei „komplex und zielgerichtet“ zu organisieren und deren Aufgaben aufeinander abzustimmen. Das sei notwendig, weil Umfang und Intensität der „feindlich-negativen Aktivitäten“ größer als vermutet seien. Dem wollte die Geheimpolizei mit neuen Spitzeln entgegenwirken und dabei besondere Aufmerksamkeit auf die Bundesrepublik und sich in der DDR aufhaltende Bundesbürger lenken. Bezogen auf die DDR seien umfassende Einschätzungen der Bevölkerungsstimmung nötig und oppositionelle Aktivitäten rechtzeitig zu erkennen. Dabei müssten die IM in die oppositionellen Gruppen fest integriert sein, da diese durch hohen Idealismus geprägt seien und so ein entsprechendes Engagement erwarteten.
Unbeeindruckt von solchen Berichten der Staatssicherheit berichte Jahn für März 1989, dass durch den Beschluss des Politbüros der SED vom 28. Februar 1989: „Bericht der Arbeitsgruppe des Zentralkomitees der SED zur Unterstützung der Arbeit der Bezirksparteiorganisation Dresden zur Verwirklichung der Beschlüsse der 7. Tagung des ZK der SED“, der sich gegen die zaghaften Reformbestrebungen in der Elbestadt richtete, eine „neue Kampfphase“ eingeleitet worden sei.121 Der Beschluss zur Situation Dresdens war im Bezirk Potsdam „mit selbstkritischer Bereitschaft und konstruktivem Wollen“ aufgenommen worden122 und die Beschlüsse des Zentralkomitees seien dabei „ohne jegliches Wenn und Aber“ umzusetzen um mit „Potsdamer Augen zu sehen und mit Potsdamer Köpfen zu durchdenken“. Weiter meinte Jahn, dass es nur eine Linie „der Partei“ gäbe und diese „kampfbetont“, „einheitlich, unverfälscht und diszipliniert“ durchzusetzen sei.
Weiter führte Jahn für die SED-Bezirksleitung aus, dass die Prüfung der inzwischen 23.938 Kandidaten123 für die bevorstehende Kommunalwahl zur Ablehnung von 111 Kandidaten in ihren „Arbeitskollektiven“ geführt habe und zu 77 Kandidaten hätten die Ausschüsse der „Nationalen Front“ begründete Einwände erhoben. Insgesamt habe die neue Form der öffentlichen Kandidatenvorstellung jedoch Zustimmung gefunden und Ausländer begrüßten, dass sie das aktive und passive Wahlrecht erhalten hatten – Schwierigkeiten gab es jedoch weiterhin in der „Wohnungsfrage“, bei Dienstleistungen und bei Reparaturen. Insgesamt versprach der SED-Funktionär jedoch, dass „besonders das mündliche Ideologiefeuer aus unserer Kampfpositionshöhe noch massiver“ werden würde.
Ebenfalls im März 1989 versuchte ein Potsdamer Maler zum ersten Mal eine Ausstellung von Malerei und Graphik zu „Perestroika“ und „Glasnost“ in der Kaserne der Panzertruppen der Westgruppe der sowjetischen Truppen mit 3.000 Soldaten und Offizieren in Krampnitz bei Potsdam zu zeigen.124 Dabei nutzte er seine freundschaftlichen Beziehungen zu Offizieren, die den Kultursaal in ihrer Kaserne frisch weißen und Stellwände aufstellen ließen sowie ein Bankett vorbereiteten. Am 10. März mussten dann zwei sowjetische Offiziere dem Künstler mitteilen, dass die Ausstellung aus „technischen Gründen“ nicht stattfinden könne. Auf Nachfrage gaben sie indirekt zu, dass der Einspruch gegen die Präsentation von der Potsdamer Bezirksleitung der SED kam, die auch zur Ausstellungseröffnung eingeladen war. Obwohl die Ausstellung nicht stattfand, kamen bis zu einhundert Menschen nach Krampnitz und 60 von ihnen fuhren dann in die Potsdamer Wohnung des Künstlers. Dieser schilderte mit „großer Traurigkeit“ die Abläufe und die Anwesenden reagierten empört. So meinte einer von ihnen, dass er seit 40 Jahren Mitglied der SED wäre und nicht diese Partei sondern nur einige ihrer „Genossen“ gegen diese Ausstellung wären. Andere meinten, sie wären vor den Kopf gestoßen worden und würden künftig überall darüber berichten.125 Der inoffizielle Beobachter selbst meinte – durchaus reformorientiert –, dass das Verhalten der SED die Freundschaft zur Sowjetunion „kaputt“ machen würde, und dies wäre „ein Schlag ins Genick“ aller derjenigen, die sich für „einen besseren, für einen menschlicheren Sozialismus“ engagieren würden.126 Trotzdem notierte er die polizeilichen Kennzeichen der Kraftfahrzeuge der in der Wohnung anwesenden Gäste und gab diese an die Geheimpolizei weiter. Insgesamt wird hier deutlich, wie die Staatspartei in Potsdam versuchte, jeden Einfluss der sowjetischen Reformpolitik zu verhindern und sich dabei auch direkt gegen den „Großen Bruder“ wandte. Auch diese Politik trug zum Niedergang der ostdeutschen Diktatur bei, weil so der Rückhalt in Moskau verloren ging.
Im April 1989 ging es der Bezirksleitung der SED vorrangig um die Vorbereitung der Kommunalwahlen, die zu einem „bedeutenden Aufschwung der Volksaussprache“ zur Innen- und zur Außenpolitik sowie zu kommunalen und Alltagsproblemen geführt hätte.127 Es habe „die vertrauensvolle Verbundenheit zwischen Partei und Volk zur weiteren Verwirklichung unseres bewährten Gesellschaftskonzepts“ dominiert. Aber – und das waren erste kritische Töne – es hätten „auch skeptische, irritierte oder sogar feindliche Stimmen zurückgewiesen werden“ müssen, die sich für eine Änderung „unseres bewährten Kurses“ aussprachen. Deshalb würde die SED gemeinsam mit den „befreundeten Parteien und allen Mitstreitern der Nationalen Front“ zur „weiteren Vertiefung und unablässigen Festigung des Vertrauensverhältnisses der Bürger aller Klassen und Schichten zur Partei und ihrem Gesellschaftskonzept“ auf eine „differenzierte massenpolitische Kleinarbeit“ setzen.128 Dazu gehörten „Wahlgespräche“, die sich mit „dringlichen“ und „streitbaren“ Problemen der Arbeits-, Wohn- und Lebensbedingungen beschäftigten. „Örtliche Reserven“ sollten erschlossen und die Bevölkerung in Entscheidungen und neue Vorhaben, so durch öffentliche Wahlkreisberatungen, einbezogen werden. Insgesamt stellte die SED-Bezirksleitung in Potsdam unter Jahn fest, dass dies zu einem „besseren Verständnis des klassenmäßigen Inhalts und des demokratischen Wahlverfahrens bei der weiteren Entfaltung unserer unverzichtbaren sozialistischen Demokratie“ beitragen werde. In allen Gemeinden, Kreisen und Städten des Bezirkes Potsdam waren die Wahlvorschläge der „Nationalen Front“129 veröffentlicht und das Aufstellen der Wählerlisten abgeschlossen worden. 80.330 Wahlhelfer hätten die Wahlberechtigungskarten verteilt, deren Annahme 5.865 Bürger verweigerten.130
Jahn appellierte an einen „ideologischen Offensivgeist“ und an „revolutionäre Wachsamkeit“ und berichtete, dass die Außenpolitik des Warschauer Paktes von der Bevölkerung unterstützt werde, während die Legalisierung der Gewerschaft „Solidarität“ in Polen „sorgenvolle Fragestellungen“ nach sich ziehe, da die Menschen in den Augen der SED meinten, dass „diese Anerkennung offizieller Organisationsstrukturen gegnerischer Kräfte große Gefahren für den Sozialismus im Nachbarland“ heraufbeschwören würde. Unter den Mitgliedern der SED, aber auch bei anderen Bürgern gäbe es nach dem „Ausschreitungen“ in Georgien131 Befürchtungen über die politische Stabilität der Sowjetunion, aber auch Ungarns. In diesem Zusammenhang tauchten besonders in wissenschaftlichen Einrichtungen Fragen nach der „deutsch-sowjetischen Kampfgemeinschaft“ auf. In der DDR selbst schien es Jahn um die Herrschaft der SED wesentlich besser bestellt zu sein, was sich im Bündnis von SED und Kulturschaffenden ausdrücken würde, da der „Genosse Schriftsteller als unser Kampfbundsoldat dem Programm, dem Statut und den Beschlüssen der Partei verpflichtet ist“.132 Und weiter meinte er bezogen auf die Schriftsteller, diese seien „unsere Weggefährten und Mitstreiter für das gemeinsame edle Ziel“. Dagegen müsse „personenkonkret“ auf die 4.232 Menschen im Bezirk Potsdam eingewirkt werden, die bis zum 20. April 1989 einen Ausreiseantrag gestellt hatten und die Umsetzung ihres Ausreisewunsches verstärkt einforderten.
Bei der Zurückdrängung solcher Anträge auf Ausreise setzte das MfS auf die „Bereiche Genehmigungsangelegenheiten [bzw. -wesen]“ bei den staatlichen Verwaltungen und baute in den Rat des Bezirkes Potsdam einen „Offizier im besonderen Einsatz“ ein.133 Dieser sollte den „Bereich Genehmigungswesen“ „zu einem Führungsorgan bei der Unterbindung und Zurückdrängung von Versuchen zur Erreichung der Übersiedlung von DDR-Bürgern „qualifizieren“.134 Auch war Ende November 1988 beabsichtigt, den „Bereich“ zu einer erweiterten „Abteilung Genehmigungswesen“ mit einem Leiter, sieben politischen und zwei technischen Mitarbeitern auszubauen. Weiterhin wurde kritisiert, dass die Gespräche mit den Ausreisewilligen bisher in den Büros der Mitarbeiter stattfanden, und so „Sicherheit“ nicht garantiert werden konnte. Außerdem waren diese Räume auf dem gleichen Flur wie die des Amtes für Arbeit. Trotzdem konnte aus Personalmangel die Schaffung einer solchen „Abteilung Genehmigungswesen“ letztlich nicht realisiert werden.135 Diese Initiative blieb also ergebnislos.
Bereits ab dem 1. Januar 1987 war der ursprüngliche „Bereich Genehmigungswesen“ beim Rat des Bezirkes dem „Stellvertreter Inneres“ direkt unterstellt – damit waren verschiedene Berichtsformen und Arbeitsberatungen verbunden, die die Staatssicherheit interessierten. Das war eine Grundlage dafür, gegen „hartnäckige Übersiedlungsersuchende“ juristisch vorzugehen, die Rücknahme von „Übersiedlungsersuchen“ zu erreichen und „Rückverbindungen“ der Ausgereisten zu verhindern. Der OibE war mit „technischen Hilfsmitteln“ ausgestattet worden, um Gespräche aufzunehmen und so dem MfS die Bekämpfung der Ausreise zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Darauf folgend informierte der „Offizier im besonderen Einsatz“ die Geheimpolizei unter anderem über die Ausreisewilligen.136 Deren Zahl ließ sich trotzdem nicht reduzieren und die Anzahl derjenigen, die ihren Ausreiseantrag zurücknahmen, sank nicht.137 Im September 1988 gab es im Bezirk Potsdam inzwischen 5.072 Ausreiseantragsteller, davon in der Stadt Potsdam 1.089.138 17 Menschen waren im September ausgereist, im Oktober waren es dann 32 Personen.
Anfang 1989 setzte die Bezirksverwaltung Potsdam des MfS weiterhin gegen Ausreisewillige „operative Maßnahmen“ wie „Operative Vorgänge“ und „Operative Personenkontrolle“ ein.139 In solche Maßnahmen waren im März elf der 53 „aktuellen Antragstellungen“ einbezogen. Schwerpunkte der Bespitzelung waren die „Verbindungsaufnahme zu gegnerischen Stellen“ und Gruppenbildungen, Konzentrationen bzw. Zusammenkünfte besonders mit Bezug zu Kirchen und zur „politischen Untergrundtätigkeit“ [PUT].140
Das „ungesetzliche Verlassen der DDR“ war für die Diktatur besonders 1989 ein schwerwiegendes Problem und eine „vollendete Straftat“, wobei sich die Zahl der „Täter“ im ersten Halbjahr weiter erhöht hatte.141 Der Anstieg im Vergleich zum ersten Halbjahr 1988 betrug 160 Prozent von 255 auf 410 Menschen. 83,3 Prozent waren Bewohner des Bezirkes Potsdam, die von Privatreisen nicht zurückgekehrt waren, es stieg aber auch die Zahl derjenigen, die bei Touristen- oder Dienstreisen im „Westen“ blieben. Insgesamt betrugen sie jedoch nur 4,4 Prozent derer, die der DDR den Rücken gekehrt hatten. Die Staatssicherheit wies auf die hohe Zahl von 26 Prozent Hoch- und Fachschulabsolventen, besonders aus dem medizinischen Bereich, auf Handwerker und Beschäftigte aus der Gastronomie, aus den Bereichen Handel sowie Dienstleitungen unter den nicht zurückkehrenden Menschen hin und darauf, dass 27 von ihnen Mitglieder der SED waren. Auch leitende „Kader“ etwa der „Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften“ oder des „Zentralinstitutes für Physik der Erde“ der Akademie der Wissenschaften waren darunter.
Der prozentuale Anteil von flüchtenden Potsdamern war im Vergleich zu anderen Kreisen im Bezirk Potsdam überdurchschnittlich hoch.142 Das galt auch, besonders bei Frauen, für den Anteil von alleinstehenden Menschen und solche in einem Alter von über 40 Jahren.143 Mit einer gewissen Verwunderung registrierte die Geheimpolizei, dass die „Täter“ „überwiegend in geordneten bzw. nach außen hin geordnet erscheinenden Familienverhältnissen lebten“, überwiegend „fest im Berufsleben integriert“ waren, „über ein gutes und teilweise hohes Bildungsniveau“ verfügten und „in materiell und finanziell gesicherten Verhältnissen lebten“.144 Die Motive bestanden im Wunsch nach einem höheren Lebensniveau, in der Notwendigkeit, Verwandte zu pflegen, in Erbschaften, Eheproblemen und Problemen auf der Arbeit. Dazu kam der Wunsch zu reisen und bei bestimmten Erkrankungen nach besseren Behandlungsmöglichkeiten in der Bundesrepublik. Viele Frauen hatten neue westdeutsche Partner kennengelernt, die Vorstellungen über ein im „Westen“ „erreichbares besseres Lebensniveau“ oder die Hoffnungen auf einen Neubeginn waren teilweise „übersteigert“ und die soziale Sicherheit in der DDR wurde als selbstverständlich angesehen oder „bewusst negiert“. Neben der Nichtrückkehr von Reisen nahm auch die Überwindung der „Staatsgrenze“ der DDR und die Flucht über das „sozialistische Ausland“ [hier besonders über die „Volksrepublik Ungarn“] auf 153 Prozent zu. Unter ihnen waren auch Antragsteller auf ständige Ausreise, die nicht länger auf die Genehmigung dieser Anträge warten wollten. Für die „Grenzstraftaten“ waren Motive wie die „Nichtbewältigung von Folgen aus zurückliegenden Straftaten“ [wie Schulden], „fehlende soziale Integration“, „Abenteurertum“ und die „ideologische Diversion“ aus dem Westen in den Augen des MfS ausschlaggebend.145 Viele dieser „ungesetzlichen Grenzübertritte“ konnten verhindert werden und 77 Prozent der „Täter“ kamen in Haft.
Bis Ende August 1989 hatten dann 2.986 Menschen aus dem Bezirk Potsdam die DDR verlassen.146 Das waren im Jahresschnitt 2,7 Menschen pro 1.000 Einwohner und an der Spitze lag jetzt die Stadt Potsdam mit 3,7 Personen. In ihrer Verzweiflung über diese Entwicklung begannen die Diktatoren, die „Schleusen zu öffnen“, und verdreifachten die Zahl der genehmigten Ausreisen, 16 Prozent der Ausgereisten waren dabei Absolventen von Hoch- und Fachschulen. Da jedoch gleichzeitig wöchentlich mehr als hundert Menschen neue Ausreiseanträge stellten, im Bezirk Potsdam waren es schnell auf 1.000 Einwohner 6,1 Antragstellungen, und da kaum ein Ausgereister in die DDR zurückkehrte, verringerte sich die Zahl der Ausreiseanträge trotzdem nicht. Die Ablehnungen von Ausreiseanträgen wurden nicht mehr akzeptiert und führten bei über 90 Prozent zu Beschwerden bei staatlichen Einrichtungen. Auch auf diesem Gebiet entglitt den Herrschenden die Macht. Daran änderte auch nichts, dass der „Druck auf die Staatsgrenze im Bezirk“ im August abgenommen hatte, da die Fluchtwilligen den Weg über Ungarn wählten.147 Auch unter den „Grenzstraftätern“ waren besonders viele Absolventen von Hoch- und Fachschulen, aber auch Mitglieder der Staats- und der Blockpartei sowie „Inoffizielle Mitarbeiter“ der Geheimpolizei.
Die Staatssicherheit verwies Anfang April 1989 auf ein weiteres Problem, die bevorstehenden Kommunalwahlen, auf Entwicklungen in anderen „sozialistischen“ Staaten, die zunehmend sorgenvoll betrachtet wurden, und rechtsradikale Entwicklungen in der Bundesrepublik.148 Dabei meinte sie, dass die Menschen es positiv aufnähmen, wenn die Kandidaten zur Wahl jetzt im unmittelbaren Wohnbereich aufgestellt und vorgestellt wurden. Ankündigungen von Wahlboykott gab es nur vereinzelt, die Bevölkerung meinte aber zunehmend, dass ein wiederum fast 100-prozentiges Ergebnis von Ja-Stimmen, die DDR „zunehmend unglaubwürdiger“149 machen würde.
Auch für den Mai 1989 meinte die Spitze der SED im Bezirk Potsdam unverändert, dass die „politisch-ideologische Gesamtsituation“ weiterhin stabil und durch den „politischen Offensivgeist“ sowie die „zielklare Führung“ der Staatspartei bedingt sei.150