Mord am Kaiserteich - Susann Brennero - E-Book

Mord am Kaiserteich E-Book

Susann Brennero

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Beschreibung

Düsseldorf im Hochsommer. Auf dem Kaiserteich treibt die Leiche eines jungen Mannes. Kriminaloberrat Manfred Sassner und sein Team nehmen die Ermittlungen auf, doch Fortschritte wollen sich kaum einstellen. Kurz darauf wird nicht weit vom ersten Tatort die Wasserleiche eines pensionierten Studienrates gefunden. Hat es Sassner mit einem Serienmörder zu tun? Als zwei Kunstagenten seinen Weg kreuzen, kommt Bewegung in den Fall, und für Sassner wird es gefährlich.

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Susann Brennero

Mord am Kaiserteich

Kriminalroman

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Mordsakten (2017), Peter Kürten – der Vampir vom Niederrhein (2016),

Meyerling ermittelt in Düsseldorf (2015)

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © shokokoart/Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5810-1

Widmung

Für Brigitta

Dienstag

1

Ihr Geist fand keine Ruhe. Zu viel hatte sich verändert. Diese Welt war ihr fremd geworden. Lange waren die Zeiten vorbei, in denen sie für ihre makellose Schönheit und ihren feinsinnigen Kunstverstand gefeiert worden war. Aber auch Verdruss und Hader über den Verfall ihres Körpers gehörten der Vergangenheit an. Hatte sie es doch geschafft, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln den Glanz ihrer Tage in die kommenden Jahrhunderte hinüberstrahlen zu lassen. Diese Idee war keinesfalls anmaßend gewesen – immerhin hatte ihre Familie in ihrer über 350 Jahre langen Geschichte Florenz, der Stadt am Arno, eine künstlerische und machtpolitische Blütezeit beschert. Mit großzügiger Hand hatten sie als Herzöge und Fürsten in der Toskana geherrscht. Die Begabtesten und Edelsten ihres Geschlechts waren zu Großfürsten, zu Kardinälen, Päpsten und Königinnen aufgestiegen. All ihren Ahnen war das sichere Gespür für die schönen Künste, für raffinierte Machtspiele und für erfolgreiche Geldgeschäfte gemein gewesen. Ihr war nach einer glorreichen Familiengeschichte in der zwölften Generation als letzte der Großfürstenfamilie Medici die Aufgabe anheimgefallen, das Erbe – den großen Reichtum des untergehenden Bankiershauses – vor dem gierigen Zugriff der neuen Landesherren zu schützen.

Warum nur waren weder ihr noch ihren beiden Brüdern Ferdinando und Gian Gastone, dem letzten Großherzog der Toskana, Nachkommen vergönnt gewesen?

Schließlich hatte sie, Anna Maria, das Testament der Testamente des Hauses Medici alleine verfügt und zu ihren Lebzeiten viele wichtige Erbschaftsangelegenheiten mit dem Großherzog Franz III. von Lothringen, dem neuen Herrscher über Florenz und die Toskana, geregelt. Sie war als Politikerin und Finanzgenie so begnadet wie alle ihre berühmten Vorfahren. Noch viele Tausend Jahre, vielleicht bis zum Jüngsten Tag, würden die Menschen ihr diplomatisches Verhandlungsgeschick und ihre durchdachten testamentarischen Verfügungen bewundern. Denn nach ihrem letzten Willen durfte kein einziges Kunstwerk der Familie Medici Florenz je wieder verlassen. Für immer konnten sich die Menschen an dem großen Reichtum an Gemälden und Skulpturen, an Bauwerken und Pretiosen in Florenz erfreuen. Auch die Basilica di San Lorenzo sollte auf ewig vom Ruhm der Medici zeugen.

Ihr Familienname würde für immer lebendig bleiben.

Nach welcher Mode mochten wohl die Menschen in 100 oder 200 Jahren gekleidet sein, die den Reichtum der Medici bewundern würden? Trugen die Prinzessinnen und Kurfürstinnen, die Königinnen und Kaiserinnen in 300 Jahren ihre Haare so prächtig wie sie? Würde es nach dem Untergang des Hauses Medici je eine zweite Frau auf dieser Welt mit einem solch liebreizenden Antlitz und einer solchen dunklen Lockenpracht geben?

Ihr leises Seufzen verklang im Äther. Irgendetwas war anders als in den Jahren zuvor. Ihre geliebte Florentiner Welt schien sich völlig verändert zu haben.

Seit ihrer Rückkehr nach Florenz als einsame Kurfürstenwitwe im Jahr 1717 hatte ihre Liebe nur noch der Kunst und Gott gegolten. Die ersten Jahre in ihrer geliebten Heimat hatte sie als Großfürstin der Toskana an der Seite ihres Vaters Cosimos III. noch einmal den Glanz der Macht erlebt. Nach dem Tod ihres Vaters 1723 hatte sie sich aus dem öffentlichen Leben nach und nach hinter Klostermauern zurückgezogen.

Nicht einmal die neugierigen Blicke der Wissenschaftler hatten sie gestört, die nach über 269 Jahren die schwere Steinplatte ihres Sarges geöffnet hatten. Doch was sollten ihre sterblichen Überreste mit der neu gewonnenen Freiheit? Ihre Knochen waren wie bei allen Normalsterblichen zur ewigen Ruhe verdammt. Für ihre ruhelose Seele war nur ein Ausflug zu ihren geliebten Gemälden und Skulpturen eine Verlockung gewesen.

Kaum war die Grabplatte ihres Sarges gehoben worden, bangte ihr Geist um ihre kurfürstliche Herrscherkrone auf ihrem skelettierten Haupt. Nicht einmal das Hochwasser des Arno wenige Jahrzehnte zuvor hatte es gewagt an ihrer Krone zu rühren. Nur Menschen konnten zu einer solchen Freveltat, zu dieser Leichenfledderei fähig sein. Gehörten diese schamlos neugierigen Augen der neuen Herrscherdynastie der Habsburg-Lothringer? Sie hatte doch alles verfügt. Satz für Satz in wohlbedachten Worten im Testament formuliert. Niemand sollte es wagen, ihrem letzten Willen, dem Willen der Medici, zuwider zu handeln.

In diesem Moment ergriff ihre Seele wieder eine seltsame Ahnung. Nur selten hatte sie in den vergangenen Monaten die Möglichkeit genutzt, beim zwölften Glockenschlag durch das nächtliche Florenz zu geistern.

Mit der Öffnung ihres Steinsarges hatten diese Unwissenden den Bann ihrer Totenruhe gebrochen. Sie konnte sich frei bewegen im Äther. Sie war nicht mehr auf das Innere des Steinsarges begrenzt, der sie so schützend in all den Jahren umfangen hatte. Aber wen hätte sie auch besuchen sollen? Sie war die Letzte ihrer Großfürstenfamilie, die im Jahre 1743 zu Grabe getragen worden war.

Zärtlich zaghaft war sie schließlich vor ein paar Jahren zum ersten Mal nach Mitternacht über die vielen Gemälde und Skulpturen gestrichen, die sie und ihr geliebter Mann und ihre ganze Familie über die Jahrhunderte zusammengetragen hatten. Mal war sie für eine Stunde in der Nacht in die Uffizien geflogen, mal war sie in den Palazzo Pitti geeilt.

Auf dem Weg von der Krypta in San Lorenzo über den Arno bis zum Palazzo hätte ihr Geist beim Anblick der merkwürdig leicht bekleideten Menschen in den nächtlichen Straßen von Florenz laut aufschreien mögen. Doch ihr toter eisiger Hauch war machtlos im Angesicht der vielen blühenden Leben. Wo nur kamen all diese Bettler und zerlumpten Gestalten mit den zotteligen Haaren her? Wo war die feine Gesellschaft mit ihrer prunkvollen Kleidung geblieben? Allein die Bilder in den Uffizien und im Palazzo Pitti hingen mit wenigen Spuren der Zeit an ihren Plätzen. Die ungebrochene Leuchtkraft der Farben und die von begnadeten Künstlerhänden berühmter Meister fein ausgeführten Pinselstriche auf Porträts, Altären und großen Gemälden zeugten vom außergewöhnlichen Reichtum ihrer einflussreichen Bankiersfamilie.

Da! Eine leere Stelle an der Wand!

»Frevler, Vertragsbrecher, Betrüger«, entfuhr es ihrer Seele. Doch ihr lautester Schrei des blanken Entsetzens verhallte als leises, schauriges Stöhnen im Saal. Ein Porträt fehlte! Ein Porträt von ihr, von der Kurfürstenwitwe der Kurpfalz, der Großfürstin der Toskana, von Anna Maria Luisa de’ Medici, hing nicht mehr an seinem Platz.

War sie allein hier? Trieben ihre Brüder Schabernack mit ihr? Waren ihre Seelen endlich aufgewacht? Hilflos suchte sie hinter den Skulpturen, in Ecken und Winkeln. Sie eilte von Raum zu Raum. Nichts! Das Porträt war verschwunden. War sie als einzige Medici, die das Testament der Testamente verfügt hatte, als Hüterin der Kunstschätze ihrer Familie von einer ihr unbekannten Macht geweckt worden?

Die Kirchturmuhr ließ die ersten Schläge zur vollen Stunde erklingen. Sie musste zurück in ihr kühles Grab. Ihre Macht war wie die Macht der Medici für diesen Moment bis zur nächsten Mitternachtsstunde gebrochen.

2

Drückend heiß flirrte die Luft am Einsatzort. Die Temperatur war an diesem sonnigen Sommervormittag bereits auf 27 Grad Celsius geklettert.

Kriminaloberrat Manfred Sassner schaute zum Düsseldorfer Rheinturm und versuchte anhand der am Turmschaft angebrachten LEDs abzulesen, wie spät es war.

Im Sekundentakt sorgten Funksignale eines Frankfurter Langwellensenders auf einer Länge von 160 Metern für das Aufleuchten der Sekunden-, Minuten- und Stundeneinheiten der Bullaugen im grauen Betonturm. Den Takt der Signale für das deutsche Zeitnormal gab die Physikalisch-Technische Bundesanstalt in Braunschweig vor.

Kriminalkommissarin Kara Piltz folgte Sassners Blick vergebens. Sie schaute auf ihre schwarze Baby-G. »10:52 Uhr und 17 Sekunden«, las sie laut vor. »Hitzegewitter heute vorprogrammiert.«

»Hauptsache, die Spuren werden rechtzeitig vor dem großen Regen gesichert.« Ungeduldig öffnete er alle Knöpfe seines dunkelblauen Polohemds. Die erhoffte Abkühlung blieb aus. Die hohe Luftfeuchtigkeit zauberte Schweißperlen auf seine Stirn.

Die Mitarbeiter der Spurensicherung in den weißen Overalls mit den großen Kapuzen litten am meisten unter der Hitze. Während sie sich die Schuhüberzüge und die eng anliegenden Gummihandschuhe anzogen, fuhr der dunkle Wagen von Dr. Grimm, dem diensthabenden Gerichtsmediziner, vor das Portal des alten Ständehauses am Kaiserteich.

Sassners Blick glitt über das denkmalgeschützte Gebäude, das nach dem Umzug des nordrheinwestfälischen Landtags 1988 in den runden futuristisch designten Landtagsbau am Rheinufer grundlegend saniert worden war. Heute beherbergte das in den Jahren 1876 bis 1880 in weiten Teilen im Stil der italienischen Renaissance Palazzi erbaute Ständehaus als Kontrastprogramm die nordrhein-westfälische Kunstsammlung K21 für zeitgenössische Kunst.

Zwei Museumsbesucher hatten in aller Frühe noch vor der Öffnung der hohen Glaspforten des K21 auf dem Weg zum Museumscafé am Hintereingang des Ständehauses einen leblosen Körper zwischen den Stockenten, Schwänen und Teichhühnern im Wasser des Kaiserteichs treiben sehen. Ein Psychologe betreute die beiden unter Schock stehenden Senioren auf der Terrasse des Museumscafés des K21. Sie waren derzeit nicht vernehmungsfähig. Ihre wirren, widersprüchlichen Aussagen konnten die Kriminalbeamten beim derzeitigen Anfangsstand der Ermittlungen nicht gebrauchen.

Polizeitaucher legten die Wasserleiche auf dem Wiesenstück oberhalb der Böschung des Kaiserteichs zur Elisabethstraße hin ab.

Sassner fuhr sich mit einem karierten Taschentuch über die Stirn. Seine Augen suchten die Umgebung nach einem möglichen Hinweis ab. Der Kaiserteich grenzte in westlicher Richtung an die Wasserstraße, im Osten an die Elisabethstraße und im Norden an den Schwanenspiegel zur Haroldstraße hin. Nordöstlich lag in einer Entfernung von 150 Metern Luftlinie der Graf-Adolf-Platz als Knotenpunkt zwischen Elisabethstraße, Kasernenstraße, Friedrichstraße, Breitestraße, Graf-Adolf-Straße und Haroldstraße. Ideale Bedingungen, unerkannt nach einem Mord in jeder beliebigen Richtung zu fliehen. Insbesondere war eine Flucht über die Graf-Adolf-Straße ins nahe gelegene Rotlichtmilieu am Hauptbahnhof aussichtsreich. Im Süden verlief die Ständehausstraße mit dem schönen, altehrwürdigen Ständehaus. Weder Kaiserteich noch Schwanenspiegel, die als Doppelteich getrennt von einer schmalen Brücke inmitten der englisch anmutenden Parkanlage integriert waren, zeichneten sich durch eine große Strömung aus. Allein die südliche Düssel, die der Landeshauptstadt von Nordrhein-Westfalen ihren Namen gab, floss durch die romantische Teichanlage inmitten des Großstadtverkehrs.

Auf jeden Fall hatte die Wasserleiche keinen langen Weg hinter sich, dachte Sassner. Sein Blick schweifte über den gesamten Ufersaum des Kaiserteichs und blieb zwischen der üppigen Skulptur »Vater Rhein und seine Töchter« aus dem Jahr 1897 und dem hohen Eingangsportal der Kunstsammlung hängen. Riesige Werbeplakate für eine Medici-Ausstellung im K20, der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen am Grabbeplatz in der Altstadt, und im Museum Kunstpalast im Ehrenhof am Rhein klebten an den Glasflächen. Sassner war kein Freund moderner Kunst. Er hatte das Foyer des Ständehauses nur ein einziges Mal betreten, als er eine Einladungskarte zu einem der berühmten Ständehaus Treffs von seiner Ehefrau geschenkt bekommen hatte.

Zwei Möwen mit Brotstücken im Schnabel ließen sich auf dem Kopf von Vater Rhein nieder.

Sassner konnte sich nur noch dunkel an den abendlichen Polit-Talk mit einem ausländischen Staatsgast im Ständehaus erinnern. Am meisten hatte ihn die begehbare Rauminstallation von Tomás Saraceno in der Kuppel des Gebäudes beeindruckt. In 25 Metern Höhe wurden die Besucher in einem 2.500 Quadratmeter großen begehbaren Stahlnetz auf drei Ebenen selbst zum Kunstobjekt. Er sah Dr. Grimm langsam aus seinem Wagen aussteigen. Scheinbar im Zeitlupentempo nahm der Mediziner seine Arzttasche aus dem Kofferraum seines schwarzen Kombis. Jede eilige Bewegung wäre bei dieser Tropenhitze ein Fehler gewesen.

Wenigstens bot die Leiche an diesem Vormittag ein wenig Abwechslung zur Schreibtischarbeit in seinem Interims-Büro im ehemaligen Innenministerium an der Haroldstraße. Erst vor Kurzem hatte er mit seinem Team sein Büro im Polizeipräsidium am Jürgensplatz wegen der Sanierungsmaßnahmen für die kommenden Jahre verlassen. Der Abschlussbericht über den innerhalb von vier Tagen aufgeklärten Mord an einem Kioskbesitzer, der von seiner eifersüchtigen Freundin vergiftet worden war, konnte warten.

Sassner dachte mit leichter Verbitterung an die seit einer Woche defekte Klimaanlage in seinem Büro. Die Arbeitsbedingungen in der freien Wirtschaft waren mit Sicherheit wesentlich besser als diejenigen beim Staat. Über sein Gehalt machte er sich keine Gedanken mehr, um nicht völlig frustriert zu werden. Der Glaube an die Gerechtigkeit war ein hehres Ziel, dem er sich immer verbunden fühlen würde. Er war zufrieden mit seinem Lebensweg – das allein zählte.

»Vielleicht ein Vermisster?«, überlegte Kara Piltz. Der vom Judo-Unterricht durchtrainierter Körper der NRW-Landesmeisterin war unter dem eng anliegenden gelben Shirt über der lässigen braunen Sporthose mit den vielen Reißverschlüssen zu ahnen.

»Sieht noch gut erhalten aus. Lange hat der nicht im Wasser gelegen«, sagte Sassner. »Checkst du die Vermisstenmeldungen?«

»Ohne Identität?«

»Mach ein Foto. Per Mail an die Kollegen.« Erstaunt schüttelte der 50-jährige Kriminaloberrat den Kopf über seine junge Kollegin, die seines Erachtens in letzter Zeit mit ihren Gedanken nicht bei der Sache war. Sassner mochte Piltz sehr. Aber Dienst war Dienst. Er duldete keine Nachlässigkeit in seinem Team. »Je eher wir einen Unfall feststellen, desto schneller ist diese Akte dicht.«

»Betrunken nach der Altstadttour im Wasser gelandet. Nichtschwimmer, rettungslos verloren«, vermutete Kara Piltz laut. Das leise Geräusch des Auslösers der Smartphonekamera war mehrfach zu hören.

»Oder er hat eine Abkühlung gesucht und sich dabei maßlos überschätzt.« Mike Kobalt, Kriminalhauptkommissar und Cyberspezialist des Sassner-Teams, war in knielangen Safari-Shorts und schwarzem Muskelshirt am Leichenfundort angekommen. »Saumäßig diese Julihitze.«

Einer der Polizeitaucher hielt eine karierte Brieftasche aus Gore-Tex in die Höhe. Er stand bis zu den Schultern im Wasser. Sein Kollege ging wieder auf Tauchstation.

»Morgen!« Dr. Grimm blieb bei den Kriminalbeamten stehen. »Leiche Nummer 15 in diesem Jahr. Wenn das so weitergeht, brecht ihr den Rekord.«

Sassner nickte kurz zur Begrüßung. »Warten wir mal ab, ob das ein Fall für uns ist.« Die Überlegung des Kriminaloberrats klang wie eine Frage an den langen Gerichtsmediziner mit der schlaksig dünnen Figur, die Sassner seit der ersten Begegnung an einen Leichenbestatter aus einem Edgar-Wallace-Krimi erinnerte.

Dr. Grimm stellte seine Tasche ins halb verdorrte, hohe Gras, das dringend gemäht werden musste, um in der sengenden Hitze nicht zur Brandgefahr zu werden.

Ein einziger Zigarettenstummel würde ausreichen, um mitten in dieser Düsseldorfer Grünanlage einen Feueralarm auszulösen. Doch jetzt befand sich hier erst einmal der mit polizeilichen Plastikbändern in den Farben Rot, Schwarz und Weiß gesperrte Leichenfundort.

Der Mediziner berührte die Hand des Toten, hob sie sachte an. Der ganze Arm hob sich mit. »Leichenstarre beginnt sich aufzulösen. Todeszeitpunkt auf jeden Fall nach Mitternacht.« Er zog ein Digitalthermometer aus seiner taillierten weißen Arztjacke. Nach einer Minute im Ohr des Toten erklang ein leiser Signalton. »Temperatur immer noch bei 26 Grad Celsius.«

»Und das warme Wasser?«, fragte Piltz. Sie fuhr sich genervt von der knappen Aussage mit ihren langen Fingern durch das kurze dichte braune Haar.

»Nicht warm genug. Trotz der tropischen Temperaturen.« Dr. Grimm zog die Stirn kraus. »26 Grad, sagte ich doch.«

Piltz verdrehte die Augen in Richtung ihres Kollegen Kobalt, der ein Grinsen knapp unterdrückte. Vielleicht sollten sie einen Beschaffungsantrag für den Kauf eines Rechtsmedizinlexikons stellen. Dr. Grimm war erst vor wenigen Monaten aus Norddeutschland an den Rhein gewechselt. Der neue Gerichtsmediziner setzte zu viele Kenntnisse über die Leichenschau voraus. Warum konnte er nicht mit einem Satz erklären, was die 26 Grad für den Zustand der Leiche bedeuteten?

»Leon Winterblum, 22 Jahre alt, geboren in Düsseldorf, gemeldet auf der Kaiserswerther Straße«, sagte einer der Mitarbeiter der Spusi. Er hatte dem Taucher die Brieftasche abgenommen und den Personalausweis in eine Plastiktüte gelegt. »Das Bild passt perfekt.«

Piltz und Kobalt schauten auf den Ausweis.

»22 Jahre. Junges Menschenleben«, dachte Sassner laut. »Wie sieht es mit Alkohol aus?«

Dr. Grimm schüttelte den Kopf. Er hielt den Streifen des Quick-Tests in die Höhe. »Null. Aber Sicherheit bieten nur die Laborergebnisse. Außerdem …«

Doch Sassner sah auch ohne weitere Erklärung, was der Mediziner hatte sagen wollen. Leon Winterblum hatte ein zehn Zentimeter großes Hämatom am Hinterkopf, das zwischen den nassen wirren Haaren bläulich hindurchschimmerte. Ein paar offene Kratzwunden waren ebenfalls zu erkennen.

»Bewusstlos geschlagen, ins Wasser geworfen und erst unter Wasser hilflos ertrunken. Meine Vermutung. Gewissheit können uns nur die Bläschen in der Lunge geben.«

Eine Gruppe Schüler reckte neugierig die Hälse in Richtung des Ermittlungsgeschehens. Die Teenager mitsamt zwei Lehrkräften wurden von Kollegen in Uniform am Besuch des Museums gehindert. Das rot-weiße Polizeiabsperrband grenzte mittlerweile auch den gesamten Zugangsbereich zum K21 ein.

»Teambesprechung um 16 Uhr im Büro«, ordnete Sassner an. »Noch genügend Zeit für euch um in den Häuserzeilen auf der Elisabethstraße und rund um den ganzen Kaiserteich nach Zeugen zu fragen.«

Piltz hob fragend die Augenbrauen. Wie sollten sie diese Aufgabe in nur vier Stunden bewältigen? Auf der Elisabethstraße an der östlichen Seite des K21 stand eine Reihe mehrgeschossiger Bürogebäude. Noch vor wenigen Jahren waren Straßenbahnen dort rund um die Uhr entlanggefahren. Moderne U-Bahn-Linien hatten die als Verkehrshindernis im Großstadtverkehr empfundenen Straßenbahnen abgelöst. Nachts herrschte daher in diesem überwiegend gewerblich genutzten Bereich der Elisabethstraße völlige Stille. Die mehrspurige Haroldstraße im Norden des Leichenfundortes führte zum Landtag, zur Südbrücke über den Rhein nach Neuss und in Richtung des im Umbau befindlichen Polizeipräsidiums. Ideale Fluchtbedingungen über die Autobahnen nach Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich. Die gesamte Doppelteichanlage war im Sommer durch das grüne Blattwerk der Bäume und durch dichte Büsche sichtgeschützt. Für Besucher des kleinen Parks eine Oase der Ruhe inmitten der Alltagshektik. Aussichtslos hier nach Zeugen zu suchen, aber irgendjemand musste die ungeliebte Routinearbeit übernehmen. Vielleicht hatte doch ein Anwalt oder ein Wirtschaftsprüfer oder einer von diesen Werbetypen in den gegenüberliegenden Häusern in der Nacht gearbeitet und ein paar brauchbare Beobachtungen gemacht.

»Das GAP-Hochhaus?«, fragte Kobalt. Er deutete auf das schräg gegenüber der Parkanlage gelegene 24-stöckige als Oval geformte Bürohaus am Graf-Adolf-Platz mit der riesigen Glasfront.

Nur ein kleiner wegen seiner länglichen mit Licht ausgestatteten Sitzbänke als Lichtmikado bekannte grüne Stadtraum trennte den Graf-Adolf-Platz dort noch von der berühmten Einkaufsmeile Königsallee. Auf der KÖ lockte die auch nachts hell erleuchtete glitzernde Glamoureinkaufswelt entlang des alten KÖ-Grabens zwischen den hohen schattenspenden Kastanien und den Platanen mit den Schwärmen wilder Halsbandsittiche im Geäst. Auch Richtung KÖ boten sich einem Täter ideale Fluchtmöglichkeiten, dachte Sassner. »Neumond«, sagte er. »Die Wahrscheinlichkeit, dass da gestern in dunkler Nacht irgendjemand von weit oben das Tatgeschehen zwischen den Büschen und Bäumen hier beobachtet haben könnte, ist gering.«

»Erklärung an die Presse im Online-Portal oder Nachrichtensperre?«, fragte Piltz. Mit einer Grimasse äußerte sie deutlich ihren Unmut über die Zeugensuche im Häusermeer.

»Besprechen wir gleich noch im Team.«

Sassner schaute auf eine kleine Plastikplane, die die Spusi in der Nähe des Teichufers neben der Leiche ausgebreitet hatte.

Die Taucher hatten seltsame Gegenstände zutage gefördert: mehrere kleine Eisenstangen, unterschiedlich große Plastikflaschen, eine Flaschenpost in einer mit weißem Kerzenwachs überzogenen Altbierflasche, die noch einen der altmodischen Spangenverschlüsse mit Keramikkopf hatte. Sassner wusste, dass diese Sorte Flaschen nur noch von drei Düsseldorfer Privatbrauereien in der Altstadt verwendet wurden.

Vielleicht war die Botschaft in der Flasche der Schlüssel zu ihrem Fall – das Corpus Delicti, um das Opfer und Täter gestritten hatten. Vielleicht war es auch nur der Liebesbrief eines unglücklich zurückgewiesenen und verzweifelt verliebten Verehrers. Außerdem lagen auf der hellen Plane zwei leere Geldbörsen in den Farben Schwarz und Hellblau, die Überreste eines orangefarbenen Plastikstuhls sowie ein roter Damenslip, dessen Design mit Spitzeneinsätzen an Reizwäsche erinnerte. Genauso gut konnte dieser klägliche Rest auch nachgemachte Designer-Unterwäsche aus dem Discounter sein. Sassner sah ein Etikett im Slip. Vielleicht ein brauchbarer Hinweis.

»Fette Ausbeute«, sagte einer der Taucher, während er langsam seine Tauchausrüstung auszog.

»So schnell alles abgesucht?«, fragte Sassner.

»Der Teich ist nach Auskunft des städtischen Gartenbauamtes vor drei Tagen gereinigt worden. Der ist sauber.«

»Und das?« Sassner deutete auf das Sammelsurium an Dingen auf der Plane.

»Vandalen in der Nacht! Es finden sich immer irgendwelche Idioten, die hier Dinge reinwerfen.« Der Taucher zuckte mit den Schultern. »Ich bin gerade mit der Starklampe unten gewesen. Das war’s!«

Sassner dachte an die Aktenberge im Büro. Vor vier Wochen hatten sie noch einen Stoß alter ungelöster Fälle aus den 70er- und 80er-Jahren dazubekommen. DNA hieß das neue Zauberwort bei der möglichen Aufklärung der Cold Cases. Hier lag der mutmaßliche Mordfall Nummer 15 in diesem Jahr. Aufklärungsrate von 95 Prozent in der Landeshauptstadt. Die meisten Mörder wurden in den ersten Tagen überführt. Alles sah nach einem Routinefall aus, aber bis vor einer Viertelstunde hatte er auch noch auf einen Unfall gehofft. »Leon Winterblum, Kaiserswerther Straße«, wiederholte er die Worte des Kollegen von der Spurensicherung. »Was hatte der junge Mann nachts hier zu suchen? So weit weg von den Szene-Kneipen und In-Lokalen?« Sassner ließ sich von der Zentrale mit einer Streife im Bereich verbinden. »Wohnsituation bitte checken. Ich will wissen, wie das soziale Umfeld aussieht.«

Erstes Donnergrollen war in weiter Ferne zu hören.

Dr. Grimm gab dem Fahrer des Leichenwagens ein Zeichen. Der Tote konnte in die Gerichtsmedizin abtransportiert werden. Die Tatortfotos waren gemacht, bevor die Hitze in der öffentlichen Grünanlage noch mehr Spuren am Leichnam zerstören konnte. Im silberfarbenen Metallsarg fand Leon Winterblum bis zur eingehenden Untersuchung durch Dr. Grimm seine erste würdige Totenruhe.

Kobalt und Piltz überquerten die zweispurige Elisabethstraße, um sich auf die Suche nach möglichen Zeugen für das Tatgeschehen zu machen.

Sassner wendete sich dem Gerichtsmediziner zu, der gerade seine Tasche vom Boden aufhob. »Klimaanlage?«, fragte er.

»Der Tote oder ich?« Dr. Grimm grinste.

»Fahren Sie einen kleinen Umweg an unserem Provisorium vorbei?« Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er hätte heute Morgen statt die paar Schritte zu Fuß zu gehen mit dem Dienstwagen fahren sollen. Der Wetterdienst hatte für die gesamte kommende Woche diese schwüle drückende Tropenhitze mit Hitzegewittern vorhergesagt. Jahrhundertsommerfeeling am Niederrhein.

3

Melodiös erklang die leise Türglocke der Galerie Haase in der Düsseldorfer Altstadt. Claire Haase betrat mit einem strahlenden Lächeln auf den mit blauem Lipgloss geschminkten Lippen bestens gelaunt den Showroom. Ihr Blick ging über die hell getünchten Wände, an denen eine Handvoll kostbarer Bilder aus verschiedenen Epochen zwischen den vielen farbenfrohen Modern-Art-Objekten hingen, die kaum den Wert des Materials hatten. Sie drehte das rote Türschild mit der schwarzen Aufschrift »Wir sind gleich wieder für Sie da!« in Richtung Straße. Mit dem Verriegeln der Türe schaltete sie die Alarmanlage automatisch ein, die im Ernstfall eines Einbruchs einen ohrenbetäubenden Lärm machen konnte. Die Anlage hatte ihre Versicherungsgesellschaft installieren lassen, denn ohne Anlage hätte es keine ausreichend hohe Betriebssachversicherung für die Kunstgalerie gegeben.

»Hallo?«, rief Claire durch den großen Raum. Sie spiegelte sich in einem der verglasten, farbenfrohen Modern-Art-Objekte.

Ihr Lieblingsfriseur hatte ganze Arbeit geleistet. Die blonden und roten Strähnchen sahen nahezu natürlich aus. Das Coiffeur-Studio Pierre ihres guten Freundes Peter Schmitz lag nur zwei schmale Gassen von der Galerie Haase in Richtung des alten Hafens am Rhein entfernt.

In Claire Haases kleinem Düsseldorf-Universum waren alle Wege kurz. Die Landeshauptstadt Nordrhein-Westfalens bot mit ihren Altstadtgassen einen charmanten Dorfcharakter wie in alten Zeiten mit sehr viel Lebensqualität. Gleichzeitig lag die weite Welt mit Hauptbahnhof, Flughafen und Bundesautobahnnetz, mit den internationalen Boutiquen und den großen Bankhäusern auf der KÖ sowie dem Landtag am Rheinufer nur wenige Minuten entfernt.

»Hier!«, erklang die Stimme ihres Zwillingsbruders und Mitinhabers der Galerie, Lutz Haase. »Wir sind hier.«

Hinter einer der drei Stellwände, an denen noch von der letzten Vernissage Fotoarbeiten junger Künstler der Düsseldorfer Kunstakademie hingen, führte eine Türe in die beiden Hinterzimmer der Galerie.

»Hallo, Claire!«, begrüßte sie der einzige Angestellte der Galerie, Alex Weberli. Sein langer Zopf am Hinterkopf erinnerte an die Frisur der Hare-Krishna-Jünger. Seine roten Haare und sein hellroter Schnurrbart boten einen seltsamen Kontrast zur makellos glatten Rasur des restlichen Kopfes. Wie fast immer trug er auch heute eine schwarze Hose, ein schwarzes Hemd und handgenähte schwarze mit silberfarbenem Garn bestickte Cowboystiefel aus italienischem Glattleder.

»Alex! Hallo!« Claire Haase stellte den rot-weiß karierten Einkaufskorb aus derbem Tuchstoff mit Schwung auf den kleinen Tisch in der Teeküche. »Lachsbrötchen mit Eiern und echtem Kaviar aus dem fernen Russland. Das haben wir uns verdient!«

»So könnte jeder Morgen beginnen.« Lutz Haase riss die Kühlschranktüre auf und entnahm dem kleinen Eisfach, in dem exakt zwei Flaschen Platz hatten, einen Champagner. »Ich kann es kaum abwarten, dass das Geld auf unserem Konto eingeht.«

Claire legte die Stirn in Falten, zog die Nase kraus und holte tief Luft. »Hätten wir auf Nicki gehört und hätten vor acht Jahren in Bitcoins investiert, hätten wir diese Jagd nach dem schnöden Mammon jetzt nicht nötig«, hauchte sie wie in Gedanken.

»Hätte auch alles schiefgehen können. Verluste, Mafia am Hals, Ermittler im Haus – alles, was wir nie wollten«, flüsterte Lutz noch einen Ton leiser als seine Schwester. »Und außerdem ist da unter Garantie eine üppige Bonuszahlung in der dicken Einzahlung auf unserem offiziellen Geschäftskonto für dich drin, Alex«, fügte Lutz Haase lautstark hinzu, als er begann, die Champagnerflasche zu öffnen. Er zwinkerte unter seinen buschigen dunklen Brauen mit den Augen. »Ich werde ein gutes Wort bei meiner Schwester, unserer Schatzmeisterin, für dich einlegen.«

»Kolossal! Wie rasch wir den Auftrag dieses Mal in trockenen Tüchern hatten.« Claire Haase verteilte die Lachsbrötchen auf drei Porzellantellern, die mit abstrakten Designermotiven in Neongrün verziert waren, während Weberli die hohen Sektflöten auf den Tisch stellte. »Fast beängstigend erfolgreich. Wie ein echtes Bitcoin-Insidergeschäft. Fast mühelos verdientes Geld.«

»Zwei Modern-Art-Bilder habe ich vorgestern verkauft«, lachte Alex Weberli, als wenn er Claire Haases Dauerbedauern über die verpasste Investitionschance vor vielen Jahren überhört hätte.

Für Claire Haase war seit dem Aufstieg der Bitcoins die Investition kleinerer Beträge in alle möglichen Kryptowährungen zu einem individuellen Lottospiel geworden. Zu ihrem größten Bedauern hatte sie den Rat eines Ex-Lovers vor vielen Jahren in den Wind geschlagen, der ihr riet, 100 Euro in Bitcoins zu investieren. »Millionen sind uns entgangen«, seufzte sie wieder. »Aber wir sind nun einmal Kunstexperten und keine Finanzgenies.«

»Und zwei Besucher haben nach unserem neuen Angebot Art-Leasing gefragt. Zwei Hotelbesitzer aus Erkrath, die ihren Empfang und ihre Lounge neu gestalten wollen.« Weberli zupfte an seinem Schnurrbart. »Sie sind an einer wechselnden Präsentation abstrakter Skulpturen interessiert.«

»Eine bessere Tarnung als diese Galerie gibt es nicht. So mittendrin im Kunstgeschehen, so nah dran an den Künstlern, Sachverständigen und Sammlern, an den Möchtegern-Kennern und bildungsbeflissenen Kunstliebhabern, an den …«, begann Claire Haase zu schwärmen.

»Ankauf, Verkauf, Miete, Art-Leasing, alte Meister und neue Kunstwerke, Art Consulting für Sammler – die Galerie Haase, klein aber fein!«, beendete Lutz Haase die Begeisterung seiner Zwillingsschwester. »Hör auf!«, lachte er. »Du bist doch sonst so nüchtern nur am richtigen Geschäft interessiert. Tarnung ist Tarnung, egal wie sie aussieht. Hauptsache sie funktioniert.«

Claire Haase streifte ihr fliederfarbenes Samthaarband vom linken Handgelenk und band ihre dicken, schulterlangen rotblonden Locken zusammen. »Dir würde ich auch noch eine Metzgerei mit eigener Schlachterei inklusive Kühlraum zutrauen.«

»Warte, warte nur ein Weilchen, dann kommt Haarmann mit dem Beilchen«, alberte Lutz Haase. »Wie gut, dass wir hier nichts und niemanden verschwinden lassen können.«

»Zumindest keinen erwachsenen Menschen«, korrigierte Claire Haase ihren Bruder.

Alex Weberli kippte seinen Champagner nach dem Anstoßen in einem Zug hinunter. »Wenn ich euch nicht kennengelernt hätte, wäre mein Leben nur halb so schön.«

»Wenn überhaupt«, bestätigte Claire Haase, die es ihrem Angestellten gleichtat. Dann füllte sie die Gläser erneut. »Aber ein besseres, zuverlässigeres Alibi als dich hätten wir auch nicht finden können.«

»Ein Schritt näher zu meinem großen Traum, eine Galerie in Andalusien«, sinnierte Lutz Haase. »Oder doch vielleicht ein Antiquitätenladen in Rom?«

»Warum die Medici nie nach Rom gegriffen haben?«, fragte Claire Haase und hob ihr Glas. »Wir sollten über eine Themen-Vernissage während der kommenden Medici-Ausstellung im Kunstpalast nachdenken.«

»Weil Florenz im Mittelalter genauso wichtig war wie Rom. Zwei Päpste, mehrere Kardinäle …«, zählte Lutz Haase auf.

»Die Stadt des privaten Bankwesens«, ergänzte Weberli. »Ohne Bella Italia keine Girokonten, kein moderner Geldverkehr.«

»Und ein unermesslicher Reichtum an Bildern, Skulpturen, Gebäuden und Grundstücken. Und alles für Florenz.« Lutz Haase fuhr sich durch sein dichtes schwarzes Haar. Bis auf das Geburtsdatum, das Sternzeichen, den Aszendenten, die Liebe zur Kunst und den Hang zum Luxus hatte er nichts mit seiner Zwillingsschwester Claire gemeinsam. Sie waren das Ergebnis einer Karnevalsliebe. Ihre Mutter war Chemikerin gewesen, ihr Vater hatte als Anwalt für Sozialrecht in Berlin gearbeitet. Aufgewachsen waren die Zwillinge bei ihren Großeltern auf dem Land in der Nähe einer berühmten bayerischen Wallfahrtskirche, deren Kunstschätze sie Sonntag für Sonntag als Kinder und Jugendliche bewundert hatten, statt der Predigt zu lauschen. Der Grundstein ihrer Karriere als Kunstkenner.

»Florenz! Wir sollten endlich wieder einmal nach Florenz fahren und ein paar Tage in den Uffizien verbringen. Frische Pasta, roter Wein und echte Kunst, wohin das Auge reicht.«

»Florenz! Eben, für Florenz, nicht für die Reise in diese Welt. Und auch nicht für die Rückkehr nach Düsseldorf.«

»Zeitweilige Rückkehr nach Düsseldorf«, warf Weberli ein. »Eine handverlesene Auswahl an Bildern der Florentiner Medici-Sammlung für eine vorübergehende Rückkehr in die Kunstmetropole Düsseldorf. An den Ort, an dem sie eigentlich für immer hätten bleiben sollen.«

»Wenn, hätte, wäre und eigentlich«, sagte Lutz Haase verächtlich. »Menschen sollten in der Realität leben, bevor das kühle Grab ruft. Im letzten Medici-Testament ist bestimmt, dass die Kunstschätze Florenz nie wieder verlassen dürfen und …«

»Das klingt ja so, als ob du an einen Fluch der Medici glauben würdest wie an einen Fluch der alten Pharaonen in Ägypten, falls deren Gräber und Pyramiden geöffnet werden würden«, unterbrach Claire und lachte laut auf.

»Unsinn!«, reagierte Lutz Haase. »Außerdem sind die Bilder wieder da und wir kassieren das Geld. Galerie Haase beschafft jedes Kunstwerk weltweit. Wir machen möglich, was die Polizei nicht schafft.«

»Das ist die beste Publicity in der Szene, die es gibt.«, rief Weberli enthusiastisch aus.

Claire Haase fischte nach ihrem Smartphone, das mit einem Donnergrollen eine eingehende WhatsApp-Nachricht ankündigte. »Das kann nicht sein!«, hauchte sie. Sie leerte auch das zweite Glas prickelnden Champagners in einem Zug.

»Und jetzt machen wir wieder auf. Komm, Alex!« Lutz Haase zwinkerte. »Schließlich haben wie die Miete für diesen Monat in den offiziellen Büchern noch nicht drin.«

»Das allerdings, denn …« Claire Haase versagte die Stimme. Sie reichte ihrem Bruder ihr Smartphone.

»Welcher Idiot hat diese Tour vermasselt?«, schrie Lutz Haase wütend.

Die Telefonanlage im Ausstellungsraum klingelte. Alex Weberli verließ die Teeküche.

»Wir müssen hin! Jetzt sofort!« Claire Haase stand auf. »Ich will wissen, was da los ist.«

Lutz Haase zog sein Smartphone aus der Hosentasche und drückte eine Kurzwahltaste. »Haase hier!« Er hörte zwei Minuten lang zu und hielt sich den Finger an den Mund, sodass Claire Haase still blieb. »Geld auf einem Konto einer unbekannten Mafia-Organisation? Was jetzt? Malta oder Offshore?«