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Es ist Herbst auf der schwedischen Insel Gotland. Die Bäume leuchten in den schönsten Farben und die goldenen Sonnenstrahlen wärmen die Bewohner des kleinen Dorfs Mullvald. Anki Karlsson, eine rüstige Dame in den besten Jahren, ist mit ihren beiden Island-Pferden gerade erst hierher gezogen. Endlich hat sie einen Ort der Ruhe und des Friedens gefunden. Doch kaum ist ihr gemütliches Häuschen eingerichtet, da häufen sich auch schon die Absonderlichkeiten. Erst randaliert jemand in der Kirche. Dann wird das Lieblingspferd der einflussreichsten Frau von Mullvald vergiftet. Und schließlich liegt auch noch eine Tote auf Ankis Gartenterrasse. Da Anki nicht nur die »Neue« im Dorf ist, sondern unglücklicherweise auch immer zur falschen Zeit am falschen Ort, fällt der Verdacht bald auf sie. Und so beschließt die resolute Dame, die Ermittlungen selbst in die Hand zu nehmen ...
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Die schwedische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Av Skuggor Märkt« bei Lind & Co, Stockholm
Übersetzung aus dem Schwedischen von Ulrike Brauns
ISBN 978-3-492-95252-1August 2016Deutschsprachige Ausgabe:© Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH München/Berlin 2016Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, BerlinCovermotiv: Borut Trdina/Getty Images und mauritius images/imageBROKER/Stephan GabrielDatenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen
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Für meine schöne und starke Enkelin Linnea
Prolog
Der Ausritt am Strand hatte ihr gutgetan. Der Ostersamstag war sonnig und ungewöhnlich warm gewesen, obwohl ein frischer Frühlingswind das Meer noch bis in den Nachmittag hinein aufwühlte.
Barbro mistete die Boxen aus und schaffte alles mit der Schubkarre fort. Dann versorgte sie Melody und Bravur mit der allabendlichen Portion Mineralfutter und je einer Gabel Heu.
Plötzlich flog die Stalltür quietschend auf. Der Wind hatte nicht nachgelassen und blies ein paar trockene Blätter herein. Erschrocken fuhr Barbro herum. Sie erwartete niemanden, schon gar nicht so spät am Ostersamstag. Sie griff nach dem Riegel außen an der Box und öffnete die Tür. In der Stallgasse stand ein unerwarteter Besucher und hielt eine Flasche in die Höhe.
»Hallo«, sagte Barbro verwundert. »Wieso bist du nicht zu Hause und isst Hering mit Ei?«
Der Besuch lachte und setzte sich auf einen Strohballen, der darauf wartete, in den Boxen verteilt zu werden. Für den Augenblick taugte er jedoch vortrefflich als Sitzgelegenheit.
»Frohe Ostern! Komm, setz dich zu mir«, sagte der Gast und klopfte neben sich auf den Ballen. »Ich wollte dir ein Gläschen spendieren. Es gibt doch nichts Besseres an so einem windigen Ostertag, meinst du nicht auch? Ein bisschen Wärme von innen kann gar nicht schaden.«
Barbro zögerte, denn es lag noch mindestens eine Stunde Stallarbeit vor ihr. Die vierbeinigen Freunde mussten gestriegelt werden. Bravur hatte sich ausgiebig auf der Koppel gewälzt, und Melody war staubig und verschwitzt vom Ausritt am Strand.
»Da hast du absolut recht, aber das muss noch warten. Mach es dir doch kurz gemütlich, dann striegle ich erst noch meine Schätzchen. Danach trinke ich gern ein Glas mit.«
Doch der unerwartete Gast blieb hartnäckig.
»Schon klar, dass du dich um deine Tiere kümmern musst, aber ein Schlückchen vorab kannst du dir sicher genehmigen.«
Barbro schaute von der Flasche zu den Pferden und zurück.
»Also gut, du hast gewonnen«, sagte sie und setzte sich auf den Strohballen. »Wieso nicht mal fünfe gerade sein lassen, es ist schließlich Wochenende.«
Der Gast lächelte zufrieden, holte zwei kleine Gläser aus der Manteltasche und füllte ein paar Fingerbreit Whisky hinein.
»Auf die alten Zeiten.«
»Die alten Zeiten?«, fragte Barbro. »Denkst du an etwas Bestimmtes?«
Ihr Besuch lachte.
»Ach was. Das war nur so dahergesagt. Auf irgendwas muss man schließlich anstoßen. Prost!«
Barbro behielt den Schluck Whisky einen Moment lang im Mund, wartete, bis sich der Geschmack am Gaumen entfaltete, und ließ ihn dann die Kehle hinuntergleiten. Eine behagliche Wärme breitete sich in ihrer Brust aus.
»Köstlich«, stellte sie fest. »Ein sehr guter Tropfen.«
Die Stalltür knarrte und öffnete sich ein Stück. Der Wind pfiff um die Ecken und durch die Ritzen.
»Was war das?« Barbro warf einen Blick zur Stalltür.
Sie kicherte nervös, also legte der Gast ihr beruhigend die Hand auf den Arm.
»Das war sicher nur der Wind. Ich glaube, ich habe die Tür nicht richtig zugemacht. Versuch du es doch noch einmal, du kannst das besser als ich.«
Aus einem Glas wurden drei, während Barbro über dieses und jenes sprach. Über Pferde natürlich, aber auch über die Mitglieder der Gemeinde. Denn zu jedem einzelnen ließ sich etwas sagen. Gutes und weniger Gutes. So ein kleiner Schwatz im Stall war doch gar keine schlechte Idee.
»So, das reicht für heute«, sagte Barbro schlussendlich und stand auf. »Jetzt ist mir nämlich schon ein bisschen schummrig, dabei muss ich noch die Pferde striegeln, bevor ich es mir in der Sauna gemütlich machen kann.«
»Selbstverständlich«, erwiderte ihr Besuch. »Danke, dass du dir trotzdem Zeit für mich genommen hast. Pass auf dich auf, und hab noch ein schönes Wochenende.«
»Danke für den Whisky«, rief Barbro dem Besuch hinterher, der durch die Stalltür verschwand und erneut den Wind hereinließ.
Es war schon spät, und sie musste sich beeilen. Erneut klang es, als käme jemand in den Stall, aber sicher war es wieder nur der Wind, der mit der Tür spielte. Barbro ging hinüber, um sie richtig zu schließen, und kam auf dem Weg ins Stolpern.
»Reiß dich zusammen, Barbro«, murmelte sie.
Sie nahm den Eimer mit dem Putzzeug und öffnete Melodys Box. Es war sicher besser, mit der nervösen Stute anzufangen. Sie hatten heute gut zusammengearbeitet und das spielerische Wettrennen am Strand gewonnen. Bald würde Barbro sie zu einem richtigen Turnier anmelden können, wenigstens zu einem der lokalen auf dem Land. Sie streichelte der Stute über den Nasenrücken und legte ihr die Wange an den Kopf.
»Na, du«, sagte sie sanft. »Jetzt machen wir dich bettfertig.«
Melody riss den Kopf herum. Viel zu schnell. Weitete die Nüstern. Schnaubte. Witterte. Schnappte völlig unerwartet zu. Die Bisswunde am Finger brannte, und sofort strömte Blut über Barbros Handfläche.
Sie schrie auf. »Verdammt! Was soll das?«
Bestürzt starrte sie auf das hervorquellende Blut. Die Wunde schien tief zu sein. Mit der anderen Hand wühlte sie in ihrer Hosentasche und zog ein nicht gerade frisches Taschentuch hervor, das musste als behelfsmäßiger Druckverband reichen. Die Stute reagierte nicht auf die Frage, sondern presste sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen ihre Besitzerin, drückte sie gegen die Stallwand. Barbro verpasste der Stute einen Klaps auf die Lende, damit sie Platz machte. Melody schien verrückt geworden zu sein.
»Beweg dich!«, stieß Barbro wütend hervor.
Auszuweichen war unmöglich, das Pferd presste sich unerbittlich gegen sie. Also änderte Barbro ihre Taktik und glitt an der Wand hinunter in die Hocke. Vielleicht konnte sie schnell unter dem Pferd hindurchkrabbeln und so unbeschadet zur Tür gelangen. Was zum Teufel war denn nur in Melody gefahren? So hatte sie sich noch nie aufgeführt.
Barbro war jetzt fast am Boden, spürte das Stroh an den Fingerspitzen. Der Druck der Stute ließ ein wenig nach, und das nutzte Barbro. So schnell wie möglich krabbelte sie zur Boxentür. Ihr Finger brannte, das Taschentuch war blutdurchtränkt. Bevor sie hier weitermachen konnte, musste sie die Wunde unbedingt reinigen und richtig verbinden. Aber erst einmal galt es, unbeschadet aus der Box und bis zum Verbandskasten zu kommen.
Als Barbro gerade nach der Kante der Boxentür griff, um sich daran hochzuziehen, traf sie ein Tritt im Rücken. Der Huf war hart. Barbro sackte zusammen, ihr ging die Luft aus, sie keuchte. Der nächste Tritt erwischte sie in der Seite, der Schmerz explodierte in ihrem Brustkorb. Sie versuchte aufzustehen. Verdammt, sie musste hier raus! Melody drehte durch. Barbro rief etwas Abwehrendes, doch das Pferd trat wieder nach ihr. Diesmal ins Gesicht. Barbro konnte die Hände nicht mehr rechtzeitig hochreißen, um sich zu schützen. Es krachte, als ihr Kiefer brach.
Zwei Jahre später
1
Freitag, 19. September
Jetzt ist sie da.« Rigmor Blomberg stand an der Arbeitsfläche vor dem Fenster und strich sich die mehligen Finger an der Schürze ab. »Ich habe sie heute schon beim Einkaufen gesehen.«
Das Gemeindehaus lag auf einer kleinen Anhöhe, und von dort aus hatte man einen vortrefflichen Ausblick. Eine Kirche aus weißem Kalkstein dominierte das Bild. Auf dem Dach thronte statt pompöser Türme ein kleiner Dachreiter. Noch stand der Bergahorn an der Friedhofsmauer in vollem Kleid, ein paar Blätter hatten sich rot verfärbt, was nicht weiter verwunderte, schließlich war schon Ende September. Der Pfarrhof mit den gelb gestrichenen Steinen war einer der größten der Insel. Das direkt gegenüberliegende ehemalige Pfarrhaus war momentan der interessanteste Ort in Mullvald, und genau diesen hatte Rigmor jetzt im Blick. Das alte Pfarrhaus war ein sehr schönes Gebäude, der Garten hingegen sah mit dem ungemähten Rasen und den überwucherten Beeten geradezu entsetzlich aus.
Catharina Svensson, Pfarrerin der Gemeinde, löste sich von ihrer Kaffeetasse und den Notizen und stellte sich zu Rigmor. Sie kam gern auf eine Tasse ins Gemeindehaus, wenn gerade nicht viel los war. Es beruhigte sie, den Geräuschen der Haushälterin in der Küche zu lauschen, denn dabei ließ sich wunderbar über die nächste Sonntagspredigt nachdenken.
»Ja«, sagte sie und lehnte sich vor, »das sieht ganz danach aus. Eigentlich unglaublich, dass das Haus …«
»… überhaupt gekauft wurde?«, beendete Rigmor den Satz.
Ihre Vorgesetzte nickte.
»Ja. Tryggve hat sich nach dem tragischen Unfall kaum noch in die Nähe vom Haus gewagt, geschweige denn vom Stall. Das war wahrlich keine leichte Beerdigung«, seufzte sie. »Und ich war damals noch ganz neu.«
»Beerdigungen sind doch selten leicht«, wandte Rigmor ein. »Jedenfalls nicht, bevor sich hier alle zum Leichenschmaus einfinden und die Anspannung nachlässt. Dann kann es ja durchaus mal ganz nett werden.«
»Manch eine Beerdigung fällt aber schwerer als die andere, ganz besonders dann, wenn jemand vorzeitig aus dem Leben gerissen wird.«
Rigmor reagierte nicht darauf, sie war voll und ganz auf die ungewöhnliche Aussicht konzentriert, die sich ihr heute vor dem Küchenfenster des Gemeindezentrums bot. Sie schob erst die Packung Mehl und dann die Gardine ein Stück beiseite, um besser sehen zu können. Die Frau öffnete gerade den Kofferraum ihres glänzenden Autos und hob einen Koffer nach dem anderen heraus. Der Wagen machte einen teuren Eindruck, eine arme Kirchenmaus war sie wohl eher nicht. Als sie schlussendlich ein paar Einkaufstaschen heraushob, hätte Rigmor schwören können, es klirren zu hören.
Die Frau hielt inne, drehte sich um und sah zu ihnen hinauf. Sofort ließ Rigmor den Gardinenzipfel los, senkte hastig den Blick und zog ein kleines Rädchen durch den ausgerollten Teig. Feine, lange, gezackte Streifen entstanden, die sie neben sich auf einen Teller legte.
»Was machen Sie da eigentlich?«, fragte Catharina interessiert. »Und was ist das für ein Ding?«
Nachdem Rigmor den nächsten Streifen abgetrennt hatte, hielt sie der Pfarrerin das Werkzeug unter die Nase.
»Ein Teigrad«, sagte sie. »Sehr nützlich, wenn man Zuckerbrezeln oder Käsestangen backen möchte.«
»Käsestangen?«
»Na, diese schmalen, spröden Stangen mit zerlaufenem Käse und Salzkörnern. Die passen sehr gut zu der Suppe, die ich nächste Woche für den Frauenkreis koche. Die Frauen haben sich selbst gemachte Tomatensuppe gewünscht. Ein Hauch Italien auf gotländischem Boden. Oder lieber doch grüne Erbsen? Wenn man die mit Eisbergsalat mischt, wird das richtig lecker.«
»Pfiffig!«, sagte Catharina. »So ein Ding hab ich noch nie gesehen.«
Rigmor schnalzte mitleidig mit der Zunge.
»Sie sind einfach zu jung, Pfarrerin«, sagte sie. »Fragen Sie mal Ihre Großmutter oder Ihre Mutter. Die haben sicher beide genau so eins in der Schublade.«
Catharina lachte.
»Käsestangen und Tomatensuppe, das klingt auf jeden Fall super. Ich hoffe, es kommen auch diesmal wieder viele Frauen. Sehen Sie mal, jetzt geht sie durch den Garten!«
Catharina hatte recht, die Zugezogene machte eine Runde durch das wild wuchernde Grün. Das Gras war über den Sommer hochgeschossen, und viele der alten Blumenbeete waren nicht mehr zu erkennen. Seit geraumer Zeit gehörte das Pfarrhaus nicht mehr zur Kirche, sonst hätte der Hausmeister den Garten gepflegt. Die Erben hatten sich überhaupt nicht um den Nachlass gekümmert, man konnte nicht einmal mehr erkennen, wo der Eingang zur schattigen Laube war. Die hübsche kleine Frau hatte ein paar Tage intensiver Gartenarbeit vor sich. Aber sie würde vermutlich jemanden anheuern, der bereit war, diese Aufgabe für einen Pfifferling zu übernehmen, so machten die Stockholmer das für gewöhnlich. Wenn Rigmor sich recht erinnerte, säumten milchweiße Pfingstrosensträucher den Gartenweg. Direkt am Wohnhaus wuchsen Rosen, und die Frau des ehemaligen Pfarrers hatte behauptet, es handele sich um eine uralte gotländische Sorte, die sogenannte Bischöfin, die es definitiv wert war, gepflegt zu werden.
Die Frau erschien wieder vor dem Haus, stieg die zwei Stufen zur Veranda hoch und schloss die Tür auf.
»Soll ich sie zum Frauenkreis kommende Woche einladen?«, fragte Catharina und deutete mit dem Daumen Richtung Fenster. »Ich werde auf jeden Fall mal zu ihr gehen und sie hier willkommen heißen.«
»Das sollten Sie auf jeden Fall«, sagte Rigmor. »Sie ist schließlich Ihre direkte Nachbarin. Und vielleicht bald sogar Hasses?«, fügte sie hinzu und knuffte ihre Chefin in die Seite.
Mullvalds junge Pfarrerin errötete, als sie den Namen des Kantors hörte.
»Hasse ist ein sehr netter Mann und ein sehr angenehmer Kollege, aber wir sind nur Freunde, das wissen Sie doch.«
»Ja, ja«, erwiderte Rigmor, »aber das Fleisch ist schwach, selbst das einer Pfarrerin.«
Catharina starrte sie an.
»Ich werde die Neue fragen, ob sie morgen zum Gottesdienst kommen möchte«, fuhr Rigmor besänftigend fort.
»Gut«, antwortete Catharina, und sofort hellte sich ihre Miene wieder auf. »Ich hoffe sehr, dass sie auch wirklich auftaucht. Dann können wir alle sie kennenlernen.«
»Genau das war auch mein Hintergedanke. Außerdem sollte sie von alldem profitieren, was Sie in unserer Gemeinde bewegt haben.«
Vor gut zwei Jahren, als Catharina sich auf die Stelle beworben hatte, war im Kirchenrat heftig diskutiert worden. Der Hausmeister Ragnar Jakobsson, damals Mitglied des Kirchenrats, hatte seine Frau Britta über den Stand der Dinge auf dem Laufenden gehalten. Seine Gattin tratschte nur zu gerne alles weiter. Die Mehrheit des Kirchenrats teilte eine konservative Einstellung, ihr Kandidat war ein Mann in den Vierzigern, der sich von der katholischen Kirchentradition inspirieren ließ, beim Gottesdienst Weihrauch einsetzte und darum bat, mit »Vater« angesprochen zu werden, neben anderem Unsinn. Rigmor hatte sich über Brittas Schilderung fast totgelacht, weil dieser Mann einen so großen Eindruck auf die eher einfach gestrickten Mitglieder des Rates gemacht hatte.
Und dann tauchte die heitere, junge und hübsche Catharina auf, die ihn mit Leichtigkeit und ihren Qualifikationen schnurstracks ausbootete. Sie war klein und ähnelte eher einer Schülerin, aber der Schein trog. Wenn nötig, hatte sie Haare auf den Zähnen. Hasse Snygg, den es ein Jahr zuvor als Kantor nach Mullvald verschlagen hatte, lebte seither richtiggehend auf.
Alle aus dem Kirchenrat, die anfangs etwas gegen Catharina hatten, konnten sich im Nachhinein was schämen. Catharina erfreute sich großer Beliebtheit und lockte weit mehr Menschen in die Kirche als je ein Pfarrer vor ihr. Außerdem stieg die Zahl der Konfirmanden ständig, was für das Überleben der Gemeinde unerlässlich war. Man konnte durchaus sagen, dass sie die Kirche zu einem wertfreien Treffpunkt für alle Einwohner der Gemeinde gemacht hatte, jung wie alt. Eine Tatsache, mit der sich nicht viele brüsten konnten. Der Frauenkreis, den sie regelmäßig freitags veranstaltete, galt – wie der Name schon verriet – nur den Frauen. Für Männer gab es einen Kochkurs, der sich großer Beliebtheit erfreute, nicht nur bei den Singles der Gegend. Jeden Tag kam jemand her, um zu nähen, weben oder schreinern, und fast beiläufig gelang es der Pfarrerin so, die Einwohner Mullvalds auch sonntags in die Kirche zu locken. Nach und nach war die Kirche wieder der Mittelpunkt der Gemeinde geworden, der sie in jeder Gemeinde sein sollte.
Rigmor schaute wieder zum Fenster hinaus. Die Frau war auf der Veranda des Pfarrhauses stehen geblieben und drehte sich um. Sie schaute direkt zum Gemeindehaus hinauf. Dann hob sie die Hand und winkte.
Catharina fuhr herum und kicherte.
»Meine Güte, wie peinlich! Da stehen wir hier und glotzen. Geben Sie mir doch mal das Teigrad. Ich möchte lernen, mit diesem Ding umzugehen.«
2
Anki Karlsson schloss die Tür zu ihrem neuen Heim auf und ließ sie offen. Frische Luft konnte sicher nicht schaden, das Haus hatte lange leer gestanden und fühlte sich ein bisschen trostlos an. Anki blieb im Türrahmen stehen, drehte sich um und ließ den Blick den kleinen Hügel hinauf zum Pfarrhof schweifen.
Es war ein schönes und auffälliges Haus, fast ein kleines Schloss. Aus Stein gebaut, gelb-beige verputzt und mit braun gestrichenen Sprossenfenstern versehen. Das Haus hatte zwei Eingänge, und über einem ragte hoch ein Fachwerkturm auf. An der Wand stand in schönster Fraktur Volksschule. Die gesamte Bauweise trug die Handschrift des vorletzten Jahrhunderts, und es war sicher lange her, seit zum letzten Mal Kinder in der Pause um das Haus geflitzt waren. Die rot-gelbe Flagge der Schwedischen Kirche flatterte munter an einer Fahnenstange, und Anki vermutete, dass es sich um Mullvalds Gemeindehaus handelte.
Die Frauen, die oben am Fenster standen, waren verständlicherweise neugierig. Das Leben hier war weit weniger anonym als in Stockholm, sicher würde die eine oder andere Gardine zittern, wenn sie vorbeiritt oder -spazierte.
Anki wandte sich um und betrat ihr eigenes Haus. Sie ging von Zimmer zu Zimmer, zog die Rollos hoch und schaute sich in den leeren Räumen um. Wenigstens war die Heizung aufgedreht, dafür hatte der Makler gesorgt. Ihre Möbel waren vor ein paar Tagen hergebracht worden und standen aufgereiht in dem, was die Möbelpacker offenbar zum Wohnzimmer erkoren hatten. Sie in die unterschiedlichen Teile des Hauses zu verfrachten würde mühsam werden. Am liebsten wäre sie vor Ort gewesen, als der Umzugswagen ankam. Dann hätte sie den Möbelpackern zeigen können, wohin die Möbel gehörten. Aber sie hatte im Haus in Stockholm bleiben müssen, bis ihre Sachen abgeholt wurden. Außerdem musste danach noch das gesamte Haus geputzt werden, was sie mit ihren Freundinnen hinter sich brachte, bevor sie zum Abschied gemeinsam essen gingen. Lena, Gunilla und Ingegerd, allesamt Freundinnen aus Kindertagen, hatten das eine oder andere zu Ankis Abenteuer zu sagen. Würde sie wirklich allein klarkommen auf dem flachen Land, wenn der Winter erst hereinbrach und Schneestürme ums Haus wirbelten? Und wie sehr würde sie erst ihre gewohnten Ausflüge vermissen, ganz egal, ob es sich nun um Theaterbesuche, Weinproben oder Kunstausstellungen handelte? Anki brachten die Bedenken nicht aus der Ruhe.
»Wenn es mir zu eintönig und langweilig wird, gebe ich die Pferde in Pflege und nehme die nächste Fähre zurück zu euch«, hatte sie verkündet, und damit begnügten sich die Freundinnen.
Der Einrichtung des Hauses würde sie sich nach und nach widmen und um Hilfe bitten, falls das nötig wurde. Zunächst einmal musste sie das Schlafzimmer und die Küche einigermaßen herrichten. Sobald das erledigt war, wollte sie die Sauna anstellen, ein willkommener Bonus zum Haus. Eine eigene Sauna versprach Stunden wunderbarer Entspannung nach langen Ausritten im Wald oder entlang der Küste.
Es war wirklich ein ausgezeichnetes Haus, das sie da erstanden hatte. Nicht sonderlich schön oder äußerlich ansprechend, dafür aber funktional und außerdem ganz aus Holz. Alt war es, wie die meisten Häuser hier auf der Insel, aber der Vorbesitzer hatte sowohl Küche als auch Badezimmer renovieren lassen. Bei ihrem ersten Besuch hatte Anki keine fünf Minuten gebraucht, bis sie sich zu dem jungen Makler umgewandt, ihm fest in die Augen geschaut und »Danke, ich nehme es« gesagt hatte.
Schon beim Betreten war ihr klar gewesen, dass sie hier richtig war. Während der warmen Monate käme sie ohne Probleme zurecht, schließlich hatte sie es nicht weit bis zum Meer, und Reitwege gab es in Hülle und Fülle. Und die Wintermonate? Andere wohnten ja auch hier, da würde sie das auch meistern.
»Wollen Sie sich nicht erst noch richtig umsehen?«, hatte der Makler gefragt. »Sind Sie sich ganz sicher? Sie haben erst einen kleinen Teil gesehen.«
Eine Falte erschien zwischen seinen Brauen, sein Blick huschte nervös umher. So schnell hatte er vermutlich noch nie ein Geschäft abgeschlossen, was den jungen Mann zu verunsichern schien.
»Natürlich möchte ich mich noch weiter umsehen«, antwortete Anki. »Trotzdem nehme ich es, so einfach ist das.«
Und so war es dann auch. Das Treffen hatte im Frühling stattgefunden, nachdem Christer endlich für immer eingeschlafen war und Anki machen konnte, was sie wollte. Den Sommer nutzte sie dann, um den Haushalt in Stockholm aufzulösen und ihr ehemaliges Heim zu verkaufen. Ein paarmal reiste sie nach Gotland, nicht nur, um den Hauskauf abzuschließen, sondern auch, um sich nach passenden Pferden umzusehen. In ein paar Tagen würde sie zwei schöne Islandpferde in Empfang nehmen, ihre neuen Familienmitglieder.
Anki ging in die Küche, um die Einkaufstaschen auszupacken. Während sie die Sachen verstaute, ließ sie noch einmal ihren ersten Besuch in Mullvalds Lebensmittelladen Revue passieren.
Kaum hatte sie ihren Wagen vor dem Laden geparkt und die Autotür geöffnet, starrte sie in die dunklen Augen eines riesigen schwarzbraunen Hundes. Die Zunge hing ihm blutdürstig aus der Schnauze, und Sabberfäden hingen von seinen Lefzen. Anki hatte nicht direkt Angst vor fremden Hunden, aber in jedem Fall Respekt, besonders wenn sie so groß waren. Bei diesem Exemplar handelte es sich um einen Rottweiler, eine Rasse, der sie nicht gerade traute. Außerdem trug sie eine weiße Jeans und einen nagelneuen Pullover. Das hätte ihr gerade noch gefehlt, dass dieses Riesenvieh sie vollsabberte.
»Hoppla«, sagte Anki. Vorsichtig schälte sie sich aus ihrem Auto und schaute, wer sich am anderen Ende der Leine befand.
Ihr Blick fiel auf einen grauhaarigen Mann, der nicht besonders groß und dazu vielleicht eine Ahnung zu rundlich um die Hüften war. Wettergegerbte Gesichtszüge, ernste stahlgraue Augen und nicht die Spur eines Lächelns. Er trug eine schicke Jeans und einen moosgrünen Pullover, unter dem ein weißer Hemdkragen hervorlugte, darüber ein Tweedjackett. Außerordentlich gepflegt, könnte man sagen, außerdem schien alles von hoher Qualität.
»Der tut nichts«, sagte der Mann tonlos.
Genau, das behaupteten sie alle, diese Hundehalter. Anki versuchte, ruhig zu bleiben.
»Schön. Dass er nichts tut, meine ich. Guten Tag, ich bin Anki Karlsson und gerade hergezogen.«
Sie streckte die Hand aus, und der Mann drückte sie fest, ließ sie aber gleich wieder los, als hätte er sich verbrannt.
»Tryggve Fridman. Sie sind nicht von Gotland, nicht wahr?«
»Nein«, lachte Anki. »Ist das ein Nachteil?«
Ihr Versuch zu scherzen ging nicht auf, der Mann reagierte nicht einmal.
»Und wie heißt der Hund?« Sie nickte in Richtung der Bestie.
Für Tryggve Fridman war die Unterhaltung jedoch offenbar beendet. Er zog den Hund heran, wandte sich von ihr ab und spazierte davon.
Einen Moment lang sah sie dem Paar noch hinterher, der eine zweibeinig, der andere vierbeinig, und wunderte sich darüber, dass manchen Menschen sozialer Kontakt so schwerfiel.
Dann schloss sie den Wagen ab und betrat den Laden. Trotz dieses Miesepeters empfand sie ein überschäumendes Gefühl der Freude, endlich hier zu sein. Nach all den Jahren, in denen sie sich um Christer kümmern und gleichzeitig ihrer Lehrtätigkeit nachgehen musste. Zehn Jahre ihres Lebens hatte es sie gekostet, bis er endlich entschlafen war und sie sich langsam wieder entspannen konnte. Wie passend, dass sein Tod mit ihrer Pensionierung zusammenfiel. Es war eine Befreiung auf allen Ebenen. Zwar wagte sie nicht, nach außen zuzugeben, wie es in ihr aussah, aber als Christer endlich seinen letzten Atemzug getan hatte, war sie von einem Gefühl der Erleichterung überwältigt worden.
Im Laden befanden sich eine ganze Menge Kunden, was an einem Freitagnachmittag nicht weiter erstaunlich war. Anki hielt einen Moment inne und überlegte, was sie eigentlich brauchte. Joghurt natürlich und Eier. Letztere konnte sie allerdings auch in einem der Hofläden in der Umgebung holen, auf dem Hinweg war ihr ein Schild aufgefallen, das frische Eier anpries. Kaffee war ein Muss, deshalb suchte sie als Erstes danach, und schon bald lag eine Packung in ihrem Korb. Was wollte sie heute zu Abend essen? Sie stöberte in der Tiefkühltruhe und stieß auf eine Reihe von Lammgerichten. Was bot sich besser an als erste Mahlzeit auf Gotland? Anki schob ein paar Beutel mit Lammblut beiseite und hob eine Packung Lammrücken heraus, begutachtete den Preis, legte sie wieder zurück und griff stattdessen zum Hackfleisch, das sowohl köstlich als auch leicht zuzubereiten war.
Dann suchte sie nach Pappbechern. Solange ihre Umzugskartons noch nicht ausgepackt waren, würde sie sich damit begnügen. In dem kleinen Regal mit Papierwaren, Messern, Käsehobeln und Mausefallen fiel ihr Blick auf ein paar hübsche blau-weiße Teetassen. Lustig, auf so etwas in einem einfachen Dorfladen zu stoßen. Wobei man in solchen Geschäften natürlich häufig auf Unerwartetes stieß, Dinge, die man einfach brauchte. Oder auch nicht. Die Teetassen waren richtig fein und aus Großbritannien, genau solche hatte Anki sich schon lange gewünscht. Und hier standen sie und warteten auf sie für nur 249 Kronen pro Stück. Ein ziemlich guter Preis, andernorts kosteten sie sicher das Doppelte, wenn nicht noch mehr. Sie nahm eine der Tassen aus dem Regal und strich nachdenklich mit dem Zeigefinger über die Glasur. Entschlossen legte sie dann beide Exemplare in den Einkaufskorb und gleich noch eine Spitztüte mit Schokolade aus der Region, die verlockenderweise direkt danebenstand.
An der Kasse wartete sie hinter einer Frau, deren Wagen übervoll war mit abgepacktem Mehl, Zucker und mehreren Päckchen Hefe und Butter.
»Oh, da will jemand backen«, sagte Anki.
Die Frau fuhr herum und musterte Anki, ehe sie das Wort ergriff.
»Ich bin die Haushälterin im Gemeindehaus«, erklärte sie, »da kommt manchmal einiges zusammen.«
»Verständlich.«
Die Frau legte ihre Waren aufs Band und wandte sich dann noch einmal an Anki.
»Ich heiße Rigmor Blomberg«, sagte sie, und der Anflug eines Lächelns umspielte ihren Mund. »Ich sollte Sie wohl willkommen heißen! Sie sind die Neue, nicht wahr?«
Ja, das stimmte, und Anki fühlte sich zum ersten Mal an diesem Tag angemessen behandelt. Rigmor bezahlte, füllte eine Tasche nach der anderen und stellte sie zurück in den Einkaufswagen.
»Kommen Sie doch am Sonntag zum Gottesdienst«, sagte sie auf dem Weg nach draußen.
»Zum Gottesdienst?«
Anki war seit einer Ewigkeit nicht mehr in der Kirche gewesen. Selbstverständlich zu Christers Beerdigung, das war aber die große Ausnahme gewesen. Ihre Sonntage widmete sie für gewöhnlich einem ausgedehnten Frühstück und dem Versuch, das Kreuzworträtsel aus der DAGENS NYHETER zu lösen, was meist eine ganze Weile dauerte, bisweilen sogar den Rest der Woche.
»Da treffen sich alle«, erklärte Rigmor. »So mögen wir das in Mullvald. Es ist gesellig und lustig, und man erfährt auf jeden Fall den neusten Klatsch und Tratsch!«
Anki löste den Blick vom Küchenfenster und kehrte zurück ins Hier und Jetzt. Dann faltete sie die Einkaufstaschen ordentlich zusammen. Der kleine Dorfladen war recht gut sortiert. Sie hatte fast alles bekommen, was sie suchte. Nur die Weinflaschen stammten noch aus Stockholm, ein Abschiedsgeschenk ihrer Freundinnen. In Zukunft würde sie ein ganzes Stück fahren müssen, um eine gute Flasche Wein zu ergattern. Der kleine Dorfladen, in dem sie gerade gewesen war, bot wenigstens auch Postdienste an und verfügte über eine Verkaufslizenz für Alkohol, das war ihr gleich aufgefallen. Auch das war eine Umstellung für sie. In Stockholm musste sie einfach schnell in die U-Bahn nach Farsta oder Globen springen, um ihre Weinvorräte aufzustocken, hier fuhr sie für einen guten Tropfen etwa dreißig Kilometer, bis nach Visby, Hemse oder Slite.
Vorsichtig nahm sie die in Papier eingeschlagenen Tassen in die Hand und wickelte sie aus. Zwei blau-weiße Kleinodien aus Porzellan mit einem entzückenden Motiv: ein englisches Schloss und davor zwei Ritter.
Anki spülte die Tassen und trocknete sie sorgfältig ab, bevor sie einen Platz in einem der Küchenschränke für sie auswählte. Draußen schien die Nachmittagssonne, und ein paar gelbe Blätter segelten langsam zu Boden. Es war eine gute Idee gewesen, aufzubrechen und ein neues Leben zu beginnen.
3
Tryggve Fridman schenkte sich einen Whisky ein und stellte das Glas zu einem Wasserkännchen auf ein altes, schwarz lackiertes Tablett. Eiswürfel brauchte er keine, ein Schuss Wasser reichte aus, damit der edle Tropfen seinen Geschmack vollständig entfaltete. Er stellte die Flasche zurück in den Schrank, überlegte es sich aber sofort wieder anders und steckte sie in die Innentasche seines Jacketts.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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