Schwedische Bekenntnisse - Marianne Cedervall - E-Book

Schwedische Bekenntnisse E-Book

Marianne Cedervall

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Beschreibung

In Klockarvik ist der Herbst angebrochen. Pfarrer Samuel Williams freut sich darauf, seinen bevorstehenden Geburtstag und das Allerheiligenfest mit seiner Freundin, der Polizeikommissarin Maja-Sofia Rantatalo, und seinen Kindern zu verbringen. Doch seine Pläne geraten plötzlich ins Wanken: In der lokalen Brauerei kommt es zu einer verheerenden Explosion und für den Besitzer Daniel Eriksson jede Hilfe zu spät. Alle Indizien sprechen gegen einen Unfall und die Gemeinde ist in Aufruhr. Während Maja-Sofia und ihr Team noch im Dunkeln tappen, ermittelt der unverbesserliche Pfarrer mal wieder auf eigene Faust – und der Kreis der Verdächtigen ist groß: Interessiert sich die amerikanische Verwandtschaft des Opfers wirklich nur für die Kunst des Bierbrauens und das Backen von Zimtschnecken? Haben die gekränkte Verflossene, der konkurrierende Braumeister und der zwielichtige Wanderer etwas zu verbergen? Und welche Rolle spielt der geheimnisvolle Brief, der Samuel bald in die Hände fällt

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Seitenzahl: 422

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Es ist Herbst geworden in Klockarvik. Pfarrer Samuel Williams führt eine glückliche Beziehung mit der Kriminalkommissarin Maja-Sofia Rantatalo, freut sich über die regelmäßigen Besuche seiner Kinder und fühlt sich wohl in dem gemütlichen Dorf. Doch als er eines Tages beim Friseur sitzt, plötzlich: ein ohrenbetäubender Knall, eine verheerende Explosion in der örtlichen Brauerei. Das Gebäude steht in Flammen, und für den Besitzer Daniel Eriksson kommt jede Hilfe zu spät. Alle Indizien sprechen gegen einen Unfall.

© Eva Lindblad

Marianne Cedervall wurde 1949 als Tochter eines Pfarrers im südschwedischen Gotland geboren und arbeitete u. a. als Lehrerin. Nach ›Schwedische Familienbande‹ (2021) und ›Schwedische Schwestern‹ (2022) ist ›Schwedische Bekenntnisse‹ der dritte Fall für den neugierigen Pfarrer Samuel Williams.

Ulrike Brauns wuchs in der Nähe von Köln auf und studierte Germanistik, Skandinavistik und English Literature in Bonn, Stockholm und Melbourne. Seit 2004 ist sie freiberufliche Übersetzerin und Untertitlerin.

Marianne Cedervall

SCHWEDISCHE BEKENNTNISSE

Ein Fall für Pfarrer Samuel Williams

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Ulrike Brauns

Von Marianne Cedervall sind bei DuMont außerdem erschienen:

Schwedische FamilienbandeSchwedische Schwestern

Die schwedische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel ›Himlens och Jord må Brinna‹ bei Lind & Co, Stockholm.© Marianne Cedervall 2023 by Agreement with Grand Agency.

E-Book 2024© 2024 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, KölnAlle Rechte vorbehaltenÜbersetzung: Ulrike BraunsUmschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, KölnUmschlagabbildungen: © JuliaLototskaya / Depositphotos; © Westend61 / Folio / Lasse EklöfSatz: Angelika Kudella, KölnE-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, LeckISBN E-Book 978-3-7558-1066-7

www.dumont-buchverlag.de

Gewidmet meinen treuen Saronslilien, auch bekannt als der kirchliche Jugendkreis von West-Aros

Königinnenlilie GunBachlilie ElisabethStricklilie MarieWaldlilie UlrikaSchreiblilie Marianne

Himmel und Erde steh’n in FlammenBerge und Hügel zieh’n von dannen, doch wer glaubt, der wird erkennen, die Versprechen werden gewahrt.

DAS SCHWEDISCHE GESANGBUCH, LIED 254

DIE BETEILIGTEN

KIRCHENLEUTE

SAMUEL WILLIAMS, Pfarrer

ELLINOR JOHANNESSON, Hauptpastorin

CILLAN SVENSSON, Diakonin

SIGVARD NORDQVIST, pensionierter Pfarrer

TYRA LUNDIN, Mädchen für alles

SVEN-ERIK LUNDIN, Tyras Ehemann

GUNNAR »HALBTON« HALVARSSON, Kantor

ANNIKA OLSSON RASK, Haushälterin

TORBJÖRN RASK, Hausmeister

TINDRA KLAR, sogenannte Kirchenmaus

MATTIAS TEDVALL, Tindras Kurskamerad

POLIZEIPERSONAL

MAJA-SOFIA RANTATALO, Kriminalkommissarin

MARTINA JARNING, Kriminalinspektorin

KNIS PETTER LARSSON, Kriminalinspektor

BEATA LÖFBLAD, Polizeiintendantin

TAMARA PETTERSSON, Rechtsmedizinerin

MORGAN ERIKSSON, Staatsanwalt

DORFBEVÖLKERUNG UND WEITERE

KRÅK DANIEL ERIKSSON, Eigentümer von Brauerei und Brauereicafé

SIGNE LIND, Miteigentümerin von Brauerei und Brauereicafé

INGA-GUN HANSSON, verbitterte Ex-Freundin von Kråk Daniel Eriksson

DOROTEA SVENSSON, Frau auf der Durchreise

JOHAN TYSK UND INGEMAR TYSK (GENANNT BRYSK), aufmerksame Dorfbewohner

LEO NORZ, Bierbrauer aus Våmhus

GIDEON EMANUELSSON, Wanderer

BILL ELLIOT UND PEG NELSON, amerikanische Verwandte

MALIN, EMMA, MARIE UND EVA-LENA von der Frisörvillan in Orsa, die es auch im wahren Leben gibt

JENNIFER HULTIN, Feuerwehr-Einsatzleitung

DANNE YLITALO, Maja-Sofias Ex-Freund

EINS

Montag, 2. Oktober

»So, was schwebt Ihnen denn heute vor?«, fragte die Frisörin und fuhr Samuel Williams mit den Fingern durch den viel zu langen Pony.

Samuel betrachtete sich im Spiegel. Das straßenköterblonde Haar – aschblond hatte die Frisörin es genannt – war über den Spätsommer und Herbst unaufhaltsam gewachsen. Außerdem hatte er sich einen Bart stehen lassen wollen, und das Ergebnis war nicht gerade das, was er sich vorgestellt hatte, das musste er sich jetzt eingestehen. In seinem Gesicht herrschte reiner Wildwuchs.

»Ich weiß nicht so recht«, sagte er, »aber irgendwas muss passieren. Ich kann ja nicht wie ein ungepflegter Streuner auf der Kanzel stehen. Was würden Sie vorschlagen, Malin?«

Die Frisörin zog einen Kamm aus der Tasche ihrer Lederschürze und strich ihm damit mehrfach durch Haar und Bart. Dann kämmte sie den Pony aus der Stirn und hielt die Haare an den Seiten zurück.

»Wie wäre es mit einem Skin Fade? Dann hätten wir den modernsten Pfarrer der Gegend.«

Malin lächelte Samuel ermunternd im Spiegel zu.

»Ein Skin-was?«, fragte er. »Das klingt ziemlich furchteinflößend.«

»Ach, Quatsch«, lachte Malin. »Ich suche Ihnen ein Bild heraus.«

Sie tippte auf ihrem Handy herum und zeigte ihm das Foto eines deutlich jüngeren Mannes. Sein Pony war lang, was Samuel gefiel, aber er war hochgestylt, würde also nicht ständig in die Stirn fallen, wie er es gewohnt war. Die Seiten waren raspelkurz rasiert und der Scheitel messerscharf. Es sah wirklich modern aus und gut noch dazu, das konnte Samuel nicht leugnen. Dem Mann auf dem Foto stand die Frisur. Auch sein Bart war sehr gepflegt und hatte markante Konturen.

»Glauben Sie wirklich, dass das was für mich ist?«, fragte er und deutete auf das Display. »Dieser Mann ist doch gerade mal fünfundzwanzig, und ich werde bald fünfundvierzig.«

»Das glaube ich absolut«, sagte Malin. »Das wird Ihnen großartig stehen, und vermutlich sehen Sie damit gleich ein paar Jahre jünger aus. Wollen wir es mal ausprobieren?«

Sie hielt das Handy so, dass er sich die Frisur noch einmal ansehen konnte. Samuel schaute Malin an. Dann noch mal auf das Display. Hm, irgendwie fühlte es sich richtig an. Seine Frisörin würde schon wissen, was sie tat.

»Ja, okay«, sagte er. »Ihre Arbeit ist immer hervorragend, wieso sollte das in diesem Fall anders sein?«

»Schön«, sagte Malin, »dann mal los. Ich fange mit dem Bart an.«

Kurz darauf saß Samuel da, den Kopf in den Nacken gelegt mit einem warmen, feuchten Frotteehandtuch auf dem Gesicht, das nur seine Nase frei ließ. Er war heute der erste Kunde der Frisörvillan und noch der einzige.

Samuel entspannte sich und lauschte der beruhigenden Musik, die leise im Hintergrund dudelte, während Malin zu Werke ging.

Der Oktobermorgen hatte gut angefangen. Vor gerade mal einer Woche hatte Samuel das alte Pfarrhaus Klockarviks bezogen, wo er wesentlich mehr Platz hatte als in der Mietwohnung bei Tyra Lundin. Dort hatte er sich zwar auf allen Ebenen wohlgefühlt, und er fand es traurig, nicht länger bei ihr und ihrem Mann Sven-Erik zu wohnen, die beide so nette und großzügige Menschen waren, aber es war einfach zu eng geworden, besonders wenn Samuels drei Kinder zu Besuch kamen. Der kleine Emanuel war jede zweite Woche da, und die beiden Großen verbrachten sämtliche Ferien in Klockarvik. Als klar gewesen war, dass die Hauptpastorin nicht länger im Pfarrhaus bleiben wollte, hatte Samuel nicht lange überlegen müssen und das Haus übernommen.

Das Leben war schon sehr merkwürdig und wartete oft mit Überraschungen auf. Vor ein paar Jahren war er nur widerwillig nach Klockarvik gekommen und hatte absolut nicht länger als die ausgemachten sechs Monate bleiben wollen, am liebsten sogar kürzer. Er hatte vorgehabt, sich auf die nächstbeste offene Stelle in Västerås zu bewerben und so schnell wie möglich wieder nach Hause zu ziehen. Dort wohnte schließlich Marit, und sie hatten gemeinsame Zukunftspläne gehabt. Samuel hätte nie gedacht, dass er sich jemals in Klockarvik wohlfühlen würde. Und dann hatte das Leben eine ganz andere Wendung genommen als geplant. Nicht zuletzt, weil Maja-Sofia Rantatalo seinen Weg gekreuzt hatte. Sie war die zuständige Kriminalkommissarin der Gegend, und zum ersten Mal hatte er sie über einen Leichnam hinweg gesehen. Die Wege des Herrn – oder des »Bosses«, wie er Gott lieber nannte – waren unergründlich. Und dem Boss traute er, denn er war ein guter Gesprächspartner, der beste sogar.

Samuel musste beim Gedanken daran lächeln, dass er heute Morgen mit Maja-Sofias warmem Körper an seiner Seite aufgewacht war. So sah das nicht jeden Morgen aus, weil sie noch nicht richtig zusammengezogen waren. Aber vielleicht war es auch gut, wie es war, schließlich führten sie grundsätzlich unterschiedliche Leben. So vergoldeten ihre gelegentlichen Treffen den Alltag.

»Ich glaube, Ihnen geht es richtig gut«, sagte Malin. »Das sieht man an Ihrem Lächeln.«

Sie hatte ihm das Handtuch vom Gesicht genommen, und Samuel blinzelte in der plötzlichen Helligkeit. Die Zeit unter dem warmen, feuchten Frotteetuch war viel zu schnell verstrichen. Er hätte gern noch weiter an seine neue Liebe und das Schlafzimmer des Pfarrhauses gedacht. Als Malin sich mit Kamm, Rasierpinsel und -messer seinem Bart widmete, schloss er die Augen wieder. Aus dem Nebenraum drangen die Stimmen der anderen beiden Frisörinnen, Marie und Eva-Lena, die sich vor dem Start in den Arbeitstag unterhielten.

»So, dann ist bloß noch das Haupthaar übrig«, sagte seine großartige Frisörin nach einer Weile. »Jetzt wird es richtig kurz an den Seiten.«

Samuel öffnete die Augen und fuhr sich mit der Hand über den so wunderbar rasierten Bart. Die Konturen waren schnurgerade. Diese Malin verstand ihr Handwerk. Eine wahrlich erfahrene Frisörin, die zur großen Freude der Männer in Klockarvik eine Barbierweiterbildung gemacht hatte. Samuel war aufgefallen, dass es beim ein oder anderen Dorfbewohner dadurch zu einer merklichen und erfreulichen optischen Veränderung gekommen war.

Er saß mit dem Rücken zu dem großen Fenster, das zur Straße führte, aber durch den Spiegel konnte er beobachten, dass in Klockarvik langsam das Leben erwachte. Autos fuhren vorbei, die Nordic Walker kehrten mit ihren Stöcken von der Morgenrunde am See zurück, der Parkplatz der Apotheke füllte sich allmählich, und vor der Missionskirche wurde das Herbstlaub zusammengefegt, das sich im Eingangsbereich gesammelt hatte.

Ein leises Läuten verkündete, dass weitere Kundschaft hereingekommen war, und Malins Kollegin Emma brachte den Neuzugang zu einem freien Stuhl direkt am Fenster. Samuel beobachtete sie im Spiegel. Er kannte die Frau vom Sehen, konnte sie aber nicht zuordnen. Sie war jedenfalls keine regelmäßige Kirchgängerin.

»Einmal färben«, sagte die Frau und deutete auf ihr Haar, das ein bisschen schwunglos aussah.

»Und schneiden sicher auch?«, fragte Emma, während sie die langen, trockenen Strähnen durch ihre Finger gleiten ließ.

Die Frau nickte.

»Ja, etwas. Aber nur die Spitzen, meine langen Haare möchte ich gern behalten.«

»Dann wollen wir mal, Inga-Gun! Gleich sehen Sie wieder aus wie neu. Lassen Sie mich mit der Farbe anfangen.«

Die Oktobersonne strahlte und ließ den Frost auf den Windschutzscheiben, Ästen und Büschen schmelzen. Das würde ein schöner Tag werden. Auf der Straße herrschte beständiges Treiben, und Samuel hatte noch immer einen guten Überblick, allerdings mit einer Einschränkung. Inga-Gun, wie sie also hieß, und ihre Frisörin verdeckten die Hälfte des Fensters. Emma arbeitete sich voran, bepinselte Strähne für Strähne und schlug sie in Alufolie ein. Schon bald glich Inga-Gun einem Marsmenschen mit funkelnden Antennen auf dem Kopf, und Samuel hatte große Mühe, nicht laut loszulachen.

Sicherheitshalber richtete er den Blick nach innen und dachte an den gerade vergangenen Sonntag. Der Gottesdienst zum Michaelistag war gut besucht gewesen, von Kindern und Erwachsenen aus dem Ort, aber auch ein paar neue, unbekannte Gesichter waren aufgetaucht. Ein Mann und eine Frau, die augenscheinlich zusammengehörten, waren ihm aufgefallen und ein etwa sechzigjähriger Mann, der allein gekommen war. Letzterer hatte im Anschluss mit dem früheren Pfarrer Sigvard Nordqvist gesprochen, der würde Samuel sicher noch Bericht erstatten. Sigvard und Samuel waren mittlerweile gute Freunde. Sie gingen ab und zu zusammen spazieren, und manchmal besuchte Samuel seinen Kollegen in seiner Hütte direkt am Klockarvikfluss.

»Malin«, sagte er, während sie sich an sein Kopfhaar wagte, »da waren gestern zwei Amerikaner im Gottesdienst. Ich würde sie auf Mitte dreißig schätzen. Haben Sie eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte? Vielleicht Verwandtschaft von jemandem im Ort?«

Malin legt die Schere beiseite und griff kurz zum Fön, um bereits abgeschnittenes Haar wegzupusten.

»Amerikaner?«, fragte sie. »Das könnten die beiden sein, die bei Signe und Daniel zu Besuch sind. Eine Kundin hat erzählt, dass sie Besuch aus Amerika haben, zwei, die von ihnen gern mehr übers Bierbrauen und Backen lernen wollen, soweit ich weiß.«

Inga-Gun fuhr so schnell zu ihnen herum, dass sie Emma anstieß, der daraufhin der Pinsel mit der Farbe aus der Hand fiel.

»Oh, Inga-Gun, Sie müssen schon stillhalten!«, sagte sie und verschwand dann schnell in einem der hinteren Räume, um einen frischen Pinsel zu holen.

»Das Brauereicafé!«, schnaubte Inga-Gun. »Das wird sich doch niemals rentieren, da bin ich ziemlich sicher. Seit Daniel mit dieser Frau da zusammen ist … Nein, mehr verkneife ich mir.«

»Das ist bestimmt besser«, sagte Emma, die ihre Arbeit wieder aufnahm. »Sonst komme ich mit Ihrer Frisur nicht weiter. Und jetzt sitzen Sie bitte still, damit wir Sie hübsch machen können.«

Samuel und Malin wechselten im Spiegel einen Blick. Malin formte ein Wort mit den Lippen. Was wollte sie bloß sagen? Eifersucht? Ja, das meinte sie wohl. Inga-Gun war aus irgendeinem Grund eifersüchtig, aber das ging ihn natürlich nichts an. Signe und Daniel waren ein dynamisches Paar, das in einem alten Backsteinhaus inmitten des Dorfs ein Café und eine Mikrobrauerei etabliert hatte, ganz in der Nähe vom Fluss. In dem charmanten Gebäude war vor langer Zeit schon einmal eine Brauerei angesiedelt gewesen. Daniel hatte dort noch schöne, alte Etiketten für Bier und Limonaden gefunden, die er gerahmt und ins Café gehängt hatte. Auf einem waren Micky und Minnie Maus abgebildet, die ihren Durst mit einer Waldbeerlimonade stillten. Viele Jahre hatte sich die Brauerei in einer Art Dornröschenschlaf befunden. Daniel hatte sie aufgeweckt und wieder in Betrieb genommen. Seit Signe auf der Bildfläche erschienen war, kümmerte sie sich um das Café, und inzwischen war es ziemlich populär.

»Ich mag das Brauereicafé sehr«, sagte Samuel laut und deutlich. »Die beiden haben ganze Arbeit geleistet, finden Sie nicht auch, Malin?«

»Sehe ich ganz genauso. Ich finde es total gemütlich da und gehe gern mal auf einen Kaffee hin. Außerdem ist es doch großartig, dass jemand in unser kleines Klockarvik investiert. Manchmal finden dort sogar Bierproben statt.«

Im Frisörstuhl beim Fenster wurde geschnaubt, aber mehr nicht. Inga-Gun hatte sich beruhigt.

Malin griff zu einem Handspiegel und zeigte Samuel seinen fertigen neuen Haarschnitt.

»Skin Fade«, sagte dieser und fuhr sich mit den Händen über die kahlen Seiten seines Kopfs. »Wage ich mich so nach draußen?«

ZWEI

Sigvard Nordqvist hatte seine Hütte am Fluss verlassen und sich auf den Weg in den Ort gemacht, selbstverständlich zu Fuß. Die Apostelpferde, will sagen: seine Beine, waren zuverlässige Freunde. Gerade fanden seine Spaziergänge in Begleitung seines Hundes Klops statt, vierbeinige gute Laune ungewissen Ursprungs, deren sich niemand hatte annehmen wollen.

Die Bewegung hielt ihn in Form, er war bereits über fünfundachtzig und dankbar, noch so gut unterwegs zu sein. Ein Besuch beim Ärztezentrum zur Blutabnahme war der Höhepunkt seines heutigen Tages. Dort behielt man sein Herz im Blick, und das war gut so. Denn vor ein paar Jahren hätte er fast das Zeitliche gesegnet, wenn sein Amtsbruder Samuel Williams und die Kriminalkommissarin Rantatalo ihn nicht durch Herzdruckmassage am Leben gehalten hätten, bis der Rettungswagen eingetroffen war. Noch war es nicht seine Zeit gewesen, ein paar Jahre hatte er noch, bis der oberste Chef seinen treuen Hirten zu sich rufen würde.

Sein ganzes Leben lang hatte Sigvard als Pfarrer in Klockarviks Gemeinde gewirkt, und selbst heute sprang er noch hin und wieder ein, wenn ein Gottesdienst auszufallen drohte. Die eine oder andere Trauung oder Beerdigung übernahm er auch noch jedes Jahr. Die Taufen hingegen waren selten geworden, da wandten sich die jungen Eltern lieber an Samuel oder die Hauptpastorin Ellinor. Vermutlich hatten sie Angst, er könnte die Kinder fallen lassen oder versehentlich im Taufbecken versenken.

»Dabei wäre ein solches Bad sicher belebend«, lachte er. »Das wäre mal eine ordentliche Taufe.«

Er marschierte am Bahnhofshotel vorbei und freute sich, dass es wieder auf die Füße gekommen war, nachdem es viele Jahre leer gestanden hatte und fast verfallen war. Der Mann, der es wiederaufgebaut hatte, lag zwar auf dem Friedhof, nachdem er brutal ermordet worden war, aber das Hotel war übernommen worden und erfreute sich konstanter Buchungen. Betten waren gefragt, denn Klockarvik zog das ganze Jahr über Besucher an. Im Winter waren es die Ski- und Langlauftouristen, im Sommer lockten das Mittsommerfest, verschiedene Musikveranstaltungen, außerdem schöne Wanderrouten und einer der besten Campingplätze des Landes.

»Guten Morgen!«, grüßte ihn ein entgegenkommender Mann, als Sigvard den Supermarkt gegenüber vom Hotel erreicht hatte.

Er überlegte einen Moment. Der Mann kam ihm bekannt vor, aber zuordnen konnte Sigvard ihn nicht sofort.

»Wir haben uns gestern in der Kirche getroffen«, erklärte er und streichelte Klops, der an seiner Hose schnüffelte, »und danach noch zusammen im Kirchencafé gesessen. Gideon Emanuelsson ist mein Name.«

Sigvard hob die Ledermütze zum Gruß.

»Ja, selbstverständlich«, sagte er. »Sie wollten sich doch auf große Wanderschaft begeben. Sind Sie noch gar nicht aufgebrochen?«

»Ich brauchte noch eine Nacht zur Erholung«, sagte er, »und wenn ich ordentlich gefrühstückt habe, geht es los. Ich habe ein paar schöne Routen entdeckt, die hier in Klockarvik starten.«

Der Mann reckte seinen Wanderstab in die Luft und deutete gleichzeitig auf seinen Rucksack. Er trug praktische Kleidung und einen schwarzen Schlapphut auf dem Kopf. Ein eigenartiger Mann, den Sigvard auf gut sechzig schätzte. Vermutlich bezog er schon Rente, denn Sigvard hatte nicht das Gefühl, dass der Mann noch arbeitete, und ohne Einkommen war es schwer, ständiges Herumreisen zu finanzieren. Jetzt wollte er auf eigene Faust durch unbekanntes Territorium wandern. Er kannte sich gut mit der Bibel aus, und sie hatten sich gestern sehr angeregt unterhalten.

»Dann haben Sie noch nicht gefrühstückt?«, fragte Sigvard.

»Noch nicht«, antwortete der Mann. »Ich wollte in dieses Brauereicafé.«

»Oh, da schließe ich mich gern an«, sagte Sigvard, »sofern Sie nichts dagegen haben. Das Frühstück dort ist unvergleichlich, und ich habe noch anderthalb Stunden, bis ich zur Blutabnahme muss. Ich lade Sie gern ein.«

Seite an Seite spazierten sie über die Järnvägsgatan. Sigvard freute sich über die Gesellschaft. Gideon wirkte zwar ein bisschen zerzaust, mottenzerfressen und sonderbar mit seinem Wanderstab und Rucksack, aber was machte das schon? Auch Jesus hatte nicht immer wie geleckt ausgesehen, wenn er durch die Gegend gezogen war. Gideon Emanuelsson war belesen und ein Meister der guten Unterhaltung, etwas, das Sigvard in seinem Leben manchmal fehlte. Das war viel wert.

DREI

»Signe, ich zeige unseren Gästen mal die Brauerei, okay? Kommst du gerade allein klar im Café?«

Signe schenkte ihrem Partner ein, wie sie hoffte, ermunterndes Lächeln.

»Sicher, zeig ihnen alles, was du kannst. Sie werden beeindruckt sein.«

Daniel umarmte sie kurz und streichelte ihr über die Wange. Entfernte Verwandte von ihm waren gerade zu Besuch aus Amerika, und es wurde nicht nur über Vorfahren und alte rote Schwedenhäuser gesprochen: Peg Nelson und Bill Elliot waren vorranging hier, um die schwedische Kunst des Brauens und Backens zu erlernen. In den USA wollten sie ein ganz ähnliches Geschäftsmodell aufziehen. Ihre Pläne hatten Daniel richtig aufleben lassen, und er teilte sein Wissen gern mit ihnen. Wie genau sie verwandt waren, hatte Signe noch immer nicht verstanden, entfernt jedenfalls, so viel war ihr klar.

Signe nahm frisch gebackene Kardamomteilchen vom Backblech und stapelte sie auf eine alte Kristallplatte mit Füßen. Sie war für Torten gedacht, aber im Brauereicafé wurde sie für alles Mögliche benutzt. Darauf stellten sie sowohl Kuchen als auch Teilchen und Brote aus. Während sie fast mechanisch vor sich hinarbeitete, versuchte sie, nicht an das zu denken, was am Vorabend direkt nach Caféschluss passiert war. Daniel war mit ihrem Hund Rick zur Tierärztin gegangen, um nachsehen zu lassen, ob er eine Ohrenentzündung hatte, weil er sich so oft kratzte. Signe war allein im Brauereicafé zurückgeblieben. Plötzlich hatte jemand an die Scheibe geklopft. Als Signe sah, wer es war, hatte sie nicht geöffnet, sondern sich einfach weggedreht. Erwähnt hatte sie es Daniel gegenüber nicht, als er zurückgekommen war.

Sie hatte gerade erst für den Tag geöffnet, und bisher waren nur zwei Gäste da, um ihren Morgenkaffee zu trinken. Der eine Gast war eine Frau, vermutlich auf der Durchreise. Sie hatte eine Baumwolltasche auf dem Schoß, und der Rollkoffer neben ihr deutete darauf hin, dass es schon bald weitergehen würde. Der andere besuchte das Café oft. Es handelte sich um den Bierbrauer Leo Norz aus Våmhus, der gleichzeitig Freund und Konkurrent war.

»Na, so was«, sagte Leo zu Signe. »Dann will Daniel den Amis alles beibringen, was er übers Brauen weiß?«

»Das ist der Hintergedanke, ja«, antwortete Signe.

»Aha«, sagte Leo, »das wird dann wohl nicht lange dauern.«

Signe lachte über den Scherz und griff zur Kaffeekanne, damit sie ihm und der anderen Besucherin nachschenken konnte.

»Das sagst du«, erwiderte sie. »Wir könnten sie auch zu dir schicken, wenn das nicht überflüssig wäre.«

Darüber lachten sie beide. Wer sie nicht kannte, hätte diesen Schlagabtausch als böswillig missverstehen können, dabei respektierten sie einander sehr. Zumindest war das Signes Eindruck, obwohl ihr bewusst war, dass Daniels Bier sich wesentlich besser verkaufte als das der Våmhusbrauerei.

»Gibt es hier auch eine Toilette?«, fragte die fremde Frau.

»Selbstverständlich«, antwortete Signe. »Einfach durch die Tür dort rechts vom Tresen. Im Durchgang zur Brauerei ist die Toilette. Gehen Sie nur nicht zu weit, sonst stehen Sie zwischen großen Stahlbehältern und unzähligen Bierflaschen. Aber das sehen Sie dann schon selbst.«

Die Frau bedankte sich und machte sich auf den Weg zum WC. Die Klingel an der Tür ertönte, und zwei weitere Gäste traten ein. Der eine nahm den Schlapphut vom Kopf und stellte Wanderstab und Rucksack ab. Der andere war ein treuer Gast des Cafés.

»Guten Morgen, die Dame«, sagte Sigvard und hob seine Mütze. »Hättest du was zum Frühstücken für zwei ausgehungerte Männer?«

»Aber natürlich«, sagte Signe. »Setzt euch doch ans Fenster, dann hast du Klops im Blick, wenn er da draußen rumwuselt. Meinst du, er freut sich über ein bisschen Wasser?«

»Oh, ganz sicher, das wäre sehr nett«, sagte Sigvard. »Und mein Gast und ich würden uns über Kaffee und belegte Brote freuen.«

Signe füllte Wasser in eine alte Plastikschale und stellte sie Klops hin. Ihr eigener Hund Rick lag hoffentlich in seinem Körbchen in dem kleinen Büro hinter der Küche.

Signe stellte die belegten Brote und Kaffeetassen für Sigvard und seinen Begleiter auf ein Tablett. Als sie mit dem Tablett an ihren Tisch trat, warf sie dem Mann, der nun seine Jacke ausgezogen hatte, einen verstohlenen Blick zu. Dieser richtete gerade seine schwarzen Hosenträger, bemerkte aber, dass sie ihn ansah.

Signe wandte sich rasch ab und holte die Kaffeekanne. Mit zitternder Hand füllte sie die Tassen. Sigvard legte seine große Hand über Signes.

»Frierst du, meine Liebe?«, fragte er. »Das soll ja nicht sein. Wir kommen hier jetzt allein klar. Wieso gehst du nicht in die Backstube? Dort ist es doch sicher herrlich warm.«

Sie rang sich ein Lächeln ab und brachte dann die Kaffeekanne zurück. Im selben Moment kam Rick wie von der Tarantel gestochen angeflitzt und riss fast die Frau zu Boden, die gerade von der Toilette zurückkehrte.

»Rick, du hast hier nichts verloren!«, rief Signe mit so viel Nachdruck, wie sie konnte.

Sie folgte ihrem ungehorsamen Hund, der zum Fenster gerast war, wo er nun auf den Hinterläufen stand, um Klops auf der anderen Seite der Scheibe zu begrüßen. Er bellte lauthals, was Klops nicht unbeantwortet ließ. Er war genauso außer sich über seine hündische Gesellschaft.

»Rick! Es reicht, komm jetzt mit!«, sagte Signe und packte Ricks Halsband, doch der Hund stemmte sich mit voller Kraft dagegen, als sie versuchte, ihn wegzuziehen.

»Wir können ihn mitnehmen«, meldete sich Bill zu Wort.

Als Signe aufschaute, sah sie, dass er und Peg aus der Brauerei gekommen waren.

»Wir wollten doch sowieso eine Runde mit ihm drehen«, sagte Peg. »Komm! Wir gehen durch die Brauerei, damit es da draußen keinen Hundezoff gibt. Rick, ich hab hier was Gutes für dich!«

Peg hielt ihm ein Leckerli hin, leinte ihn schnell an und brachte den Hund tatsächlich dazu, ihr zu folgen. Die beiden Amerikaner und ein leidlich gehorsamer Hund verschwanden durch den hinteren Teil des alten Gebäudes.

Ein Stuhl schabte über den Fliesenboden, und dann streifte jemand Signes Rücken. Sie fuhr herum, sah Sigvards Begleiter mit dem weißen Hemd und den schwarzen Hosenträgern aber nur noch von hinten.

Vermutlich war nun auch er auf dem Weg zur Toilette. Signe hoffte, dass genug Toilettenpapier und Handtücher vorhanden waren, denn gerade hatte sie keine Zeit, beides nachzufüllen. Das würde sie später prüfen müssen.

»Ich warte mit Klops draußen«, sagte Sigvard laut. »Komm doch auch raus, wenn du fertig bist. Der arme Hund ist ein bisschen ungeduldig geworden.«

Der Mann wedelte mit der Hand und verschwand im Flur.

Signe sah sich im Café um. Der Bierbrauer aus Våmhus war gegangen, aber sein Auto stand noch vor dem Haus. Vermutlich war er in der Brauerei und wechselte ein paar Worte mit Daniel. Die beiden hatten sich immer einiges zu erzählen. Die Frau mit dem Rollkoffer war ebenfalls aufgebrochen, ohne dass Signe es mitbekommen hatte. Sie sah durch das Fenster gerade noch, wie sie sich entfernte, bestimmt musste sie zum Zug oder Bus. Signe wischte die Tische ab. Alles musste sauber sein, damit die nächsten Gäste sich willkommen fühlten. Sie warf einen Blick in die Auslage und stellte fest, dass sie noch ein paar Teilchen nachlegen musste. Nach dem ersten Ansturm aufs Frühstück war es meist erst einmal ruhig, aber ab halb zehn trudelten für gewöhnlich wieder deutlich mehr Gäste ein, und bis halb elf wurde es dann ziemlich eng. Das Café war schließlich nicht groß, mehr als fünfzehn Leute fanden keinen Platz.

Signe warf einen Blick zur Wanduhr, niemand würde merken, wenn sie sich jetzt kurz wegschlich. Wahrscheinlich reichte die Zeit sogar für eine Zigarette draußen beim Vorratsgebäude. Dorthin zog sie sich oft zurück, um heimlich zu rauchen. Vielleicht eine alberne Angewohnheit, aber es würde sicher einen schlechten Eindruck machen, wenn die Gäste sahen, dass die Bäckerin rauchte, und Daniel war auch nicht gerade angetan von ihrem Laster.

Sigvards Freund hatte das Gebäude durch den Hinterausgang verlassen, Signe sah, dass er hinten ums Haus bog, um sich Klops und seinem Herrchen anzuschließen. Im Schutze des Nebengebäudes atmete sie erleichtert auf, als sie sich entfernten. Der Rollkoffer der Frau war noch immer zu hören, dabei musste sie ja eigentlich schon ein gehöriges Stück weit gekommen sein.

Signe nahm sich vor, Daniel und Leo gleich zu einer Pause zu überreden, denn wenn die beiden aufeinandertrafen, vergaßen sie nur zu gern Zeit und Raum. Sobald sie fertig geraucht hatte, würde sie zumindest dafür sorgen, dass die beiden frischen Kaffee bekamen. Signe drückte den Stummel in einer mit Sand gefüllten Blechdose aus, die sie sich als Aschenbecher bereitgestellt hatte. Dann griff sie zum Handy und fing an, eine SMS an Daniel zu schreiben.

Im selben Moment gab es einen heftigen Knall. Das einzige Fenster im Giebel der Brauerei barst, und Signe stolperte ein paar Schritte zurück gegen die Wand des Vorratsgebäudes.

»Die Brauerei«, flüsterte sie. »Was ist da los?«

Rauch schlug ihr entgegen, er brannte in Hals und Augen, und sie zog sich zu ihrem Schutz weiter zurück. Auf der anderen Straßenseite bildete sich eine Menschentraube. Schnell waren die Sirenen der ausrückenden Rettungsfahrzeuge zu hören. Signe machte ein paar wacklige Schritte auf das alte Brauereigebäude zu.

»Daniel!« Ihr gellender Schrei überschlug sich. »Daniel, bist du draußen?«

VIER

Sigvard wartete auf seinen Frühstückskameraden, und zusammen machten sie sich auf den Weg zum Supermarkt. Gideon brauchte Proviant, und Sigvard konnte genauso gut den Weg nehmen, der hinter dem Geschäft und an der Bushaltestelle vorbeiführte, um zum Ärztezentrum zu kommen. Dort traf man eigentlich immer bekannte Gesichter, mit denen man das eine oder andere Wort wechseln konnte. Im Großen und Ganzen war ihm in Klockarvik und Umgebung kaum jemand nicht vertraut. Ein paar Zugezogene gab es natürlich, ein paar Niederländer und Deutsche, außerdem Flüchtlinge aus Somalia. Aber auch diejenigen, die er nicht kannte, wurden mit einem Hutlupfen gegrüßt. So wurde es ihm einst beigebracht, und damit würde er nicht aufhören, solange er auf dieser Erde wandelte.

Der Morgen war schön und frostig, und besser als mit einem leckeren Kaffee, frisch gebackenem Brot und einem guten Gespräch hätte er gar nicht beginnen können. Der Wanderer Gideon hatte zu fast allen Themen interessante Ansichten, machte aber insgesamt eher einen strengen, wenig flexiblen Eindruck, fand Sigvard. Es fiel ihm schwer, Gideons Glauben an einen stets urteilenden Gott nachzuvollziehen, der nur ermahnte und strafte. Für Sigvard war der oberste Chef ein liebevoller Freund und die Bibel eine Richtschnur. Man konnte sie als Kompass auf dem Meer des Lebens bezeichnen. Ihre unterschiedlichen Sichtweisen führten jedoch dazu, dass das Gespräch nicht langweilig wurde, im Gegenteil.

»Sigvard! Guten Morgen!«, rief eine junge Frauenstimme von der Bushaltestelle herüber.

Suchend schaute er sich um. Woher war das gekommen? Und wer hatte ihn gegrüßt?

»Hier, Sigvard! Neben dem Bus!«

Da entdeckte er sie. Natürlich war es Tindra, dieses entzückende Mädchen, das sich, seit sie von Sigvard höchstselbst getauft worden war, in der Kirche nützlich machte. Eine Zeit lang war die Schule ein Problem für sie gewesen, das war ihm nicht entgangen, doch jetzt hatte sie die Kurve bekommen. In Rättvik beim Stiftsgården belegte sie einen Kurs in einer Einrichtung, die mit der Kirche zusammenarbeitete. Sigvard hoffte, dass sie trotzdem eifrig weitertrainierte, Tindra war schließlich eine talentierte Langläuferin und hatte sogar Samuel fit genug bekommen, um eine Etappe bei der alljährlichen Wasastaffel zu übernehmen. Sigvard hob die Hand zum Gruß und ging auf sie zu.

»Du bist auf dem Weg zur Schule, nehme ich an?«, fragte er und konnte nicht umhin, einen Blick auf ihre Hose zu werfen, die Löcher an den Knien hatte. Wie die Jugendlichen heute aussahen! Was für eine sonderbare Mode. Zu seiner Zeit hätte man sich für löchrige Kleidung in Grund und Boden geschämt.

»Ja, genau«, Tindra strahlte ihn an. »Ich fahre zur Schule, und es macht richtig Spaß dort! Es ist der Kurs, den die Kirche am Stiftsgården anbietet. Supergut! Ich wusste gar nicht, was man alles lernen kann!«

Sigvard schaute in die funkelnden Augen, sah die roten Wangen und nickte anerkennend. Das Mädchen war die Freude selbst. Niemand hätte ihr angesehen, dass sie es über Monate nicht zur Schule geschafft hatte. In der Zeit hatte sie glücklicherweise den Sport gehabt, der ihr Trost gespendet und viel Bewegung an der frischen Luft verschafft hatte. Außerdem war sie weiter in der Kirche aktiv gewesen und hatte dort ihre Aufgaben ausgezeichnet erledigt. Das Mädchen hatte die Schule verweigert, aber nicht aus Faulheit.

»Und wohin bist du unterwegs, Sigvard?«, fragte Tindra. »Normalerweise bleibst du doch in deiner Hütte am Fluss.«

»Folgeuntersuchung fürs Herz«, gab er etwas widerwillig zu.

Es kam ihm wie ein Eingeständnis von Schwäche vor. Mental fühlte er sich kaum älter als fünfundzwanzig, maximal dreißig. Nur sein Körper sendete ganz andere Signale.

»Aber wir haben uns vorher ein schönes Frühstück im Brauereicafé gegönnt, mein neuer Freund und ich«, fuhr er fort.

Sigvard nickte zu Gideon, der schweigend bei ihnen stand und aufmerksam zugehört hatte. Da hupte der Busfahrer, es war Zeit zur Abfahrt.

»Ich muss los«, sagte Tindra und stieg in den Bus. »Tschüss, wir sehen uns ja bald in …«

Die Türen schlossen sich im selben Moment, in dem ein dumpfer, dröhnender Knall den Ort zum Beben brachte. Alle Umstehenden schauten in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Eine schwarze Rauchwolke stieg hinter den Hausdächern auf. Klops presste sich ans Schienbein seines Herrchens und zitterte fürchterlich.

»Was um alles in der Welt!«, platzte es aus Sigvard heraus. »Gideon, hast du das gehört?«

Der Wanderer nickte.

»Ja, das hat heftig geknallt. Ist da irgendwas explodiert?«

Der Bus, der sich an den Fahrplan zu halten hatte, egal, was hier gerade geschehen war, entfernte sich von der Haltestelle. Tindra schaute mit besorgtem Gesicht aus dem Fenster.

Kurz darauf heulten die Sirenen der Feuerwehr durch Klockarvik.

FÜNF

»Natürlich wagen Sie sich so raus! Sie sehen superstylish aus, Samuel! Zehn Jahre jünger. Und der Haarschnitt gefällt Ihnen doch, oder?«

Malin betrachtete ihn etwas verunsichert. Samuel zögerte seine Antwort einen Augenblick lang hinaus und schaute sich noch einmal ausgiebig im Spiegel an, bevor er ihr ein Lächeln schenkte.

»Sie haben wie immer ganze Arbeit geleistet, Malin«, sagte er. »Ich finde es richtig cool.«

Ein heftiger Knall, der die Fenster klirren ließ, unterbrach ihre Unterhaltung. Die Passanten draußen auf der Straße hielten schockiert inne. Dann waren Schreie zu hören, und alle deuteten in dieselbe Richtung.

»Lieber Gott, was ist denn da los?«, rief Emma. »Ist etwa ein Flugzeug abgestürzt?«

Inga-Gun, mit frisch foliertem Haar, war aufgestanden. Sie und Emma zogen sich tiefer ins Innere des Frisörsalons zurück, weg von dem großen Fenster. Samuel blieb sitzen und beobachtete das Geschehen im Spiegel. Malin schien wie eingefroren.

»Es riecht nach Rauch, oder?«, fragte sie.

Samuel schnüffelte.

»Nein, Sie haben recht«, sagte er. »Das tut es tatsächlich.«

Die sich nähernden Sirenen bestätigten ihre Befürchtungen. Mit hoher Geschwindigkeit sausten zwei Feuerwehrfahrzeuge vorbei, dicht gefolgt von einem kleineren Einsatzwagen. Die Leute auf der Straße brachten sich schnell auf dem Bürgersteig in Sicherheit. Samuel überlegte, was in der Richtung lag, in die die Fahrzeuge unterwegs waren. Die Kirche und das Gemeindezentrum zum einen, aber auch das Altenheim, wo er hin und wieder Andachten hielt, und natürlich die Schule. Ganz zu schweigen vom Pfarrhaus, in dem er wohnte. Aber der Brand konnte natürlich auch etwas weiter entfernt ausgebrochen sein. Vielleicht stand eins der Häuser am See jenseits der Brücke in Flammen. Aber so sehr wie die Scheiben hier gezittert hatten, konnte der Ort des Geschehens nicht allzu weit entfernt liegen.

Die Tür wurde aufgerissen, und diesmal klang das Klingeln fast wütend. Ingemar Tysk, im Ort eher bekannt als Brysk, der zusammen mit seinem Cousin Johan eigentlich immer über alles im Bilde war, was im Ort vor sich ging, steckte den Kopf herein.

»Das Brauereicafé brennt! Jemand hat das Ding in die Luft gejagt! Tysk und ich fahren hin.«

So wurden sie hier genannt: Tysk und Brysk. Die Tür fiel wieder zu, und Brysk war so schnell verschwunden, wie er gekommen war. Samuel riss sich den Umhang herunter und stand auf. Die beiden neigten zur Übertreibung, aber der Ernst in Brysks Stimme war nicht zu überhören gewesen.

»In die Luft gejagt?« Fragend sah Samuel Malin an. »Die Brauerei?«

»Und die Bäckerei«, ergänzte sie. »Und das Café. Das ist gar nicht mal so weit weg. Hoffentlich ist niemand zu Schaden gekommen. Die arme Signe, der arme Daniel, die haben so hart gearbeitet, um das alles aufzubauen.«

»Aha, dann hat der ach so gute Kråk Daniel Eriksson jetzt die gerechte Strafe für seine Sünden bekommen«, murmelte Inga-Gun.

Niemand reagierte auf ihren Kommentar.

Samuel nahm seinen Mantel von der Garderobe an der Tür. Die Pflicht rief. Als Pfarrer war er selbstverständlich zuständig, wenn sich im Ort eine Katastrophe ereignete.

»Ich muss sofort hin, Malin«, sagte er. »Ist es in Ordnung, wenn ich später wiederkomme, um zu bezahlen?«

»Selbstverständlich!«, sagte sie mit abwehrender Geste. »Beeilen Sie sich, und beten Sie doch bitte, dass nichts allzu Schlimmes passiert ist.«

Und genau das tat Samuel, während er in die Richtung joggte, in die es auch alle anderen zog.

»Boss«, sagte er laut und deutlich, »ich hoffe sehr, dass du die eifrigen Menschen im Brauereicafé geschützt hast.«

In dem allgemeinen Gewimmel vernahm er keine Antwort, aber er war felsenfest davon überzeugt, dass der Boss bei ihm war – wie immer in Momenten der Not.

SECHS

Bill hielt das Handy vor sich und warf einen Blick auf die Karte. Dann fand er den Weg, von dem Signe letztens so geschwärmt hatte. Sie mussten nur an der Kirche vorbei und der von großen Häusern gesäumten Straße folgen, dann würden sie auf einen Pfad stoßen, der durch ein kleines Waldstück bis zum See führte. Dort war das Bootshaus, in dem die Kirchboote lagen, hatte sie erklärt. Man hatte einen ungehinderten Blick über den See und konnte bis nach Våmhus sehen.

»Es ist nicht weit«, sagte Bill und zeigte Peg das Display. »Signe geht oft dorthin, wenn sie mal einen Moment für sich braucht.«

»Na, dann los«, sagte sie und fasste die Leine etwas fester.

Signe hatte die beiden noch vor Öffnung des Cafés gebeten, eine große Runde mit dem Hund zu drehen, was sie nur zu gern versprochen hatten. Signe hatte ihn in der Früh nur schnell in den Garten lassen können, und er brauchte definitiv mehr Bewegung.

Bill und Peg waren beide um zwei aufgestanden, um Signe in der Bäckerei über die Schulter zu schauen. Als Erstes hatten sie geholfen, Teig für Zimtschnecken anzusetzen, und danach eine ganze Weile mit Daniel in der Brauerei verbracht. Es gab so unendlich viel zu lernen, und sie wollten so viel wie möglich erfahren, das ihnen nutzen würde, wenn sie in die USA zurückkehrten. Sie planten nämlich, etwas ganz Ähnliches in ihrer kleinen Stadt in Minnesota aufzubauen, die einst von schwedischen Auswanderern gegründet worden war. Guten Kaffee würden sie anbieten, dazu Zimtschnecken, Mürbegebäck und Prinzessinnentorte und außerdem ein selbst gebrautes Lagerbier. Schwedisch, erfrischend und gut. Es gab bereits einige schwedische Restaurants und Cafés, aber noch keine Kombination aus Zimtschnecken und Mikrobrauerei, und darum ging es ihnen.

Der Hund schnüffelte eifrig und zog an der Leine. Peg hielt ihn zurück.

»Come here!«, sagte sie auffordernd. »Walk here with us.«

Bill lachte herzhaft.

»Rick versteht doch kein Englisch«, sagte er. »Das wird witzig, wenn er dich einmal quer durchs Gebüsch zerrt und du wieder rauskriechen musst.«

Pegs Mundwinkel bogen sich nach unten, doch dann gab sie ihrem Mann einen Kuss und lachte.

»Mensch, Bill«, sagte sie, als sie gerade die Straße verließen und den Pfad betraten, an dem ihnen ein schön geschnitztes Schild verriet, wohin der Weg sie führen würde. »Was für ein Glück, dass wir meine Verwandten gefunden haben und herkommen konnten, um das alles zu lernen, oder?«

»Absolut«, antwortete Bill. »Die haben so viel Ahnung, da müssen wir nicht bei null anfangen, wenn wir wieder zu Hause sind. Und es ist so interessant zu sehen, wo deine Vorfahren gelebt haben, bevor sie nach Amerika aufgebrochen sind.«

Beide hingen eine Weile lang ihren eigenen Gedanken nach. Bevor sie nach Klockarvik gekommen waren, hatten sie ein altes Bergdorf vor den Toren des Ortes besucht. Als sie dort auf dem Friedhof gestanden und die beiden moosbewachsenen Grabsteine mit den Peg allzu bekannten Nachnamen betrachtet hatten, waren ihnen die Tränen gekommen. Ihre Eltern hatten sich gezwungen gesehen, all das hier zurückzulassen und ihr Glück in Amerika zu versuchen. Bills Ahnen waren ebenfalls Europäer, sie waren aus Nordengland nach Amerika gekommen.

Peg holte ein Taschentuch aus der Tasche und fing damit eine Träne auf, die sie beim Gedanken an den Friedhofsbesuch vergießen musste. Bill strich ihr sanft übers Gesicht und nahm ihr den Hund ab. Dieser nutze den Radius, den ihm die Leine bot, voll aus. Bill hielt ihn fest, so gut es ging. Sie wagten es nicht, ihn loszumachen. Vermutlich würde er auf einen englischen Rückruf nicht hören, und das war ihnen zu riskant. Da ließen sie ihn lieber angeleint, während sie sich allmählich dem Wasser näherten.

»Oh, schau dir das Haus an!«, sagte Peg mit einer deutenden Geste. »Mit schwedischen Flaggen und allem Drum und Dran.«

»Da steht was auf den Schildern«, sagte Bill. »Hier liegen sicher die Kirchboote.«

Er deutete auf eins der kleineren Schilder.

»Hier gibt es eine Kamera«, sagte er. »Die Gegend wird überwacht. Dann sollten wir uns was anderes überlegen, als da reinzugehen und uns die Boote anzusehen.«

»Da hast du recht«, sagte Peg. »Fenster gibt es auch keine. Wie schade!«

Bill ging hinunter zum Wasser, und Peg wartete auf dem Pfad. Sie schaute auf den See, auf dem der Nebel in allen Abstufungen von Grau langsam zum Ufer kroch. Die Sonne, die am Morgen noch ihre Strahlen auf den Nachtfrost gerichtet hatte, schien aufgegeben zu haben und versteckte sich hinter Regenwolken. Unweit des Ufers ließen sich kleine Inseln erahnen, und langsam breitete sich das Eis aus. Nicht mehr lange, dann würde der See zugefroren sein. Daniel und Signe hatten ihnen erzählt, wie sehr die Dorfbewohner es liebten, darauf Schlittschuh zu fahren. Ein paar Niederländer kamen sogar nur deswegen her, um hier zu trainieren. Es wäre wunderbar, wenn sie den Winter hier verbringen könnten, um dies alles selbst zu erleben, aber ein so langer Aufenthalt war leider nicht eingeplant.

»Komm schon«, rief Peg. »Lass uns weitergehen.«

Genau in dem Augenblick hörten sie einen dumpfen Knall.

»Oh«, machte sie. »Was war das? Wurde da geschossen?«

Bill lachte nur.

»Das war sicher nichts Ernstes. Es klang wie eine kleine Explosion, vielleicht wird ja irgendwo gebaut. Jetzt guck doch nicht so erschrocken.«

Also wanderten sie weiter, Rick schlenderte mittlerweile hinter ihnen her und blieb schlussendlich mitten auf dem Weg stehen, um zu schnüffeln. Seine Rute bewegte sich langsam, die Nase hatte er emporgereckt. Der muskulöse Hund zitterte am ganzen Leib.

»Schau mal«, sagte Bill, »irgendwas macht ihm Angst.«

Jetzt hielt auch Peg die Nase in die Luft und schnupperte. Sie musste Rick zustimmen, irgendetwas roch. Beißend.

»Rauch«, sagte sie mit felsenfester Überzeugung. »Bill, irgendwo brennt es. Riechst du das nicht?«

Bill gab sich die größte Mühe, roch aber nichts. Dann kratzte er sich am Kopf, versuchte es noch einmal. Der Hund fing an zu winseln und zerrte an der Leine.

»Du hast recht«, sagte er. »Es scheint vom Dorf zu kommen, und das ist sicher kein harmloses, kleines Feuerchen. Komm, gehen wir zurück. Das ist ja auch offenbar das, was der Hund will.«

Nur zwanzig Minuten später standen sie in der großen Menschentraube und hielten sich die Hände vor den Mund, während sie zusahen, wie noch immer schwarzer Rauch aus einem zerborstenen Giebelfenster drang.

»Die Brauerei steht in Flammen«, sagte Bill und deutete darauf. »Aber das Café auf der anderen Seite hat noch kein Feuer gefangen.«

Das stimmte. Der Teil des Gebäudes, in dem das Café lag, war noch nicht betroffen.

Viele Dorfbewohner hatten sich an der Polizeiabsperrung versammelt und verfolgten das Geschehen von dort aus.

Peg und Bill wechselten einen Blick.

»Wir waren doch zur Führung verabredet«, flüsterte Peg. »Ausgerechnet heute.«

»Das regeln wir später«, flüsterte Bill zurück. »Gerade können wir ja doch nichts tun.«

SIEBEN

Kriminalkommissarin Maja-Sofia Rantatalo saß an ihrem Schreibtisch in der Polizeiwache von Mora, eine Tasse frisch gebrühten Kaffees vor sich. Herrlich, dass die alte Kaffeemaschine, die sowieso nur dünne, bittere Brühe zustande brachte, endlich entsorgt worden war und stattdessen eine Stempelkanne Einzug gehalten hatte, die wesentlich besseren Kaffee zauberte. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie gleich eine richtige Kanne für Kochkaffee besorgt, wie man sie in ihren Heimatgefilden in Lappland nutzte. Aber das hätte sie unmöglich durchsetzen können, niemand hatte die Muße, mehrmals am Tag echten Kaffee zu kochen. Der leiseste Hinweis in die Richtung wäre im Keim erstickt worden. Oder aber jedes Kaffeekochen am Arbeitsplatz wäre an ihr hängen geblieben, und dazu hatte auch sie keine Zeit.

Der Morgen war fantastisch gewesen, so wie eigentlich jeder Morgen sein sollte. Maja-Sofia war im Pfarrhaus neben Samuel aufgewacht und hatte es genossen, Samuels warmen Körper direkt neben sich zu spüren. Sie schlief nicht jede Nacht dort, manchmal kam er auch zu ihr, und jede zweite Woche, wenn Samuel sein jüngstes Kind bei sich hatte, blieb Maja-Sofia allein in ihrem gemütlichen Missionshaus. Doch dieser Montagmorgen hatte ganz ihnen gehört, und das hatten sie voll ausgekostet.

Maja-Sofia war aufgestanden, hatte sich Kaffee für die Thermoskanne gekocht und war zum Klockarviksee gegangen, um ein kurzes Bad zu nehmen.

Mit einer Mütze und Handschuhen im Gepäck ging das sehr gut, und manchmal hatte sie Gesellschaft von anderen Dorfbewohnern. Sie schätzten ebenfalls die Freude und das belebende Gefühl, die sich nach dem Eisbaden unweigerlich einstellten. Es gab keinen besseren Weg, in den Tag zu starten. Maja-Sofia hatte sich kontrolliertes Atmen angewöhnt, und mit jedem Atemzug machte sie einen Schritt weiter in den eiskalten See. Kaum war ihr ganzer Körper unter Wasser, blieb sie stehen und spürte nach, was er ihr zurückmeldete, und das war immer ein Erlebnis. Dann langsam und meditativ, Schritt für Schritt wieder aus dem Wasser zu kommen und dabei sonderbarerweise nicht zu frieren, fühlte sich unschlagbar an. Wie schön es wäre, wenn Samuel sie dabei begleiten würde, aber als sie das einmal angesprochen hatte, hatte er sofort abgelehnt. Ein Bad im eiskalten See war unvorstellbar für ihn, das musste sie einfach akzeptieren. Und eigentlich war es sogar gut, diesen Moment nur für sich zu haben. Einen Moment, in dem sie alles vergessen konnte, Berufliches und Privates.

Den Blick auf den Computer gerichtet, nippte Maja-Sofia vorsichtig an dem warmen Kaffee und betrachtete die Aufgabe, die heute vor ihr lag. Ein noch unaufgeklärter Todesfall in Idre, zu dem sie ein paar Zeugen erneut vernehmen musste. Eine Tote war in einem der Häuser in der Nähe der Wallfahrtskirche gefunden worden, und es hatte drei Wochen gedauert, sie zu identifizieren. Wie sich herausstellte, handelte es sich um eine alleinstehende Siebzigjährige aus Salangen in Norwegen. Wahrscheinlich lag eine natürliche Todesursache vor, aber es fehlten noch ein paar Arbeitsschritte, bis sie den Fall zu den Akten legen konnten. Sie warteten auf den Bericht der Rechtsmedizin, vielleicht waren Hinweise auf einen Suizid gefunden worden. Mord und Totschlag hatten sie schon ausschließen können.

Vorsichtig wurde an die Tür geklopft, und ihr Kollege Knis Petter Larsson tauchte auf.

»Morgen, Rantatalo! Alles in Ordnung?«

Maja-Sofia nickte, bat ihn herein und deutete auf den freien Stuhl.

»Guten Morgen, Kriminalinspektor«, grüßte sie zurück. »Alles bestens. Ich bin mit einem fantastischen Sprung ins Wasser in den Tag gestartet.«

»Du bist echt verrückt«, lachte Larsson. »Obwohl, vielleicht auch nicht. Irgendwas muss ja am Eisbaden dran sein, wenn das so viele machen.«

»Du solltest es mal probieren«, sagte sie. »Ist eine tolle Ablenkung von all dem Elend, das wir Tag für Tag sehen. Man spült alle Probleme weg und kann wieder klarer denken.«

Ein weiteres Klopfen ertönte, und schon gesellte sich Kriminalinspektorin Martina Jarning zu ihnen.

»Planänderung«, sagte sie, wie immer seelenruhig, »was immer für heute angedacht war, muss warten. In Klockarvik brennt es.«

»Bitte?«, Maja-Sofia setzte sich auf. »Da komme ich doch gerade erst her.«

Jarning schaute sie mitfühlend an.

»Deshalb wende ich mich ja gleich an dich.«

»Aber doch nicht das Pfarrhaus?«, fragte Maja-Sofia mit einem Kloß im Hals.

»Nein, soweit ich weiß, ist es die Brauerei. Oder war es das Café?«

»Aber«, sagte Maja-Sofia, »eine Streife ist doch sicher schon unterwegs? Und die Feuerwehr? Da müssen wir vermutlich gar nicht los, sofern kein …«

Sie wurde vom Klingeln ihres Handys unterbrochen. Maja-Sofia schaute aufs Display. Ein Foto von Samuel lächelte sie freundlich an.

Der musste warten. Sie drückte auf die vorgefertigte Antwort. Beschäftigt, melde mich später.

»Ja, die Kollegen sind schon los«, beantwortete Jarning ihre erste Frage.

»Selbstverständlich«, sagte sie.

Das Handy klingelte erneut. Samuel ließ nicht locker. Vielleicht war ihm etwas passiert?

»Ich muss das gerade annehmen«, sagte Maja-Sofia entschuldigend. »Aber ich mach’s kurz.« Dann: »Samuel.«

»Das Brauereicafé brennt!«, sagte er ohne Umschweife.

Samuels sonst so ruhige, warme Stimme, klang verändert. Er hatte sogar die Begrüßung ausgelassen.

»Das haben wir auch gerade erfahren«, sagte sie, »aber danke für deinen Anruf. Eine Streife ist unterwegs.«

»Ich auch«, sagte er. »Muss mal sehen, ob ich irgendwo anpacken kann. Also ob ich jemandem helfen kann, meine ich.«

»Verstehe schon. Vielleicht sehen wir uns. Pass auf dich auf.«

Sie legte auf und das Handy weg.

»Kontaktiert mal die Kollegen«, sagte sie, allerdings war dies überflüssig, denn Jarning deutete schon aufs Funkgerät.

Gespannt lauschte Maja-Sofia dem kurzen Funkspruch und zog ihre Jacke an.

»Schwarzer Rauch, wahrscheinlich Explosion, kommen.«

»Verletzte? Kommen.«

»Unbekannt, aber möglich. Kommen.«

»Okay, wir sind unterwegs, Ende«, sagte Jarning.

ACHT

Samuel rannte die Straße hinunter in die Richtung, in der die Katastrophe wartete. Die Kombination aus Mikrobrauerei, Bäckerei und Café lag mitten im Ort und genau zwischen Frisörsalon und Pfarrhaus. Da war es nicht weiter erstaunlich, dass die Fenster des Salons so gebebt hatten, eigentlich ein Wunder, dass sie nicht zerbrochen waren.

»So, Boss«, murmelte Samuel an Gott gerichtet, »jetzt musst du uns beistehen und die Katastrophe eindämmen, damit niemand in Klockarvik zu Schaden kommt.«

Samuel erreichte die Brauerei. Orangerote Flammen waren zu sehen, schwarzer Rauch quoll aus dem zersprungenen Giebelfenster und stand über der Straße. Samuel zog sich den Schal über Nase und Mund und bog in die Querstraße ein, um sich dem Unglücksort von der anderen Seite zu nähern und den Wind im Rücken zu haben. In den Rauch zu laufen, wäre keine gute Idee.

Sein Einfall zahlte sich aus, denn als er ankam, brannte kein Rauch in seinen Augen oder versperrte ihm die Sicht. Die Flammen züngelten bereits am Ziegeldach. Er dankte dem Boss schnell, dass es sich nicht um ein Holzgebäude handelte, denn sonst wäre längst alles heruntergebrannt. Die Feuerwehr hatte bereits mit den Löscharbeiten begonnen und mehrere Wasserstrahlen auf den Ziegelbau gerichtet. Je nachdem, was dort gelagert war, bestand jederzeit die Gefahr, dass es weitere Explosionen gab. Was brauchte man eigentlich zum Bierbrauen? Er näherte sich so weit wie möglich und stellte sich in den Schatten des alten Nebengebäudes. Ein kleiner Zettel am Boden, wenig größer als eine Briefmarke, erregte seine Aufmerksamkeit. Offenbar handelte es sich um ein buntes Lesezeichen. Er hob es auf und steckte es gedankenverloren in die Tasche, während er sich weiter umsah. Was konnte er bloß tun?

Sicher wäre es klug, die versammelten Schaulustigen in die Kirche zu bitten, denn dort wären sie sicherer als in unmittelbarer Brandnähe. Sie könnten die Türen schließen und wären geschützt vor dem giftigen Rauch, außerdem könnten sie Kerzen anzünden und sich von dem Schreck erholen.

Als er den Entschluss gerade in die Tat umsetzen wollte, hörte er ein Geräusch, jemand murmelte wieder und wieder die gleichen Worte, wie ein Mantra.

»Nicht so«, schluchzte jemand. »So war das nicht gedacht.«

Eine Frau, aber wo war sie? Samuel wandte sich um und umrundete das Nebengebäude. Auf der Rückseite stand sie gegen die Wand gepresst und zitterte am ganzen Leib. Sie hatte sich fest in eine grellgrüne Strickjacke gewickelt und umklammerte sich selbst. Mit verschrecktem Blick sah sie ihn an.

»So war das nicht gedacht«, wiederholte sie.

Samuel kannte sie, das war Signe, sie betrieb das Café. Er näherte sich ihr langsam, legte ihr einen Arm um die Schultern und führte sie ein Stück weg. Dazu sprach er unzusammenhängend, aber – wie er hoffte – beruhigend auf sie ein, als wäre sie ein Kind. Wieder und wieder sagte sie ihren Satz: »So war das nicht gedacht.«

Samuel sah sich um. Wohin sollte er sie bringen? Hier konnten sie unmöglich bleiben. Und wovon sprach sie eigentlich? Was war nicht so gedacht?

Auf der Straße hatten sich in der Zwischenzeit noch mehr Menschen versammelt, es würde schwer werden, sie alle davon zu überzeugen, in die Kirche mitzukommen. Da sah er, dass Ellinor, Cillan und Torbjörn angerannt kamen, und hörte ihre Rufe, die Kirche sei offen und alle herzlich willkommen, dort Schutz zu suchen. Die meisten folgten ihnen, nur die Neugierigsten blieben.

Samuel schlug nicht den Weg zur Kirche ein. Er führte Signe ein Stück weg hinter die Brauerei, zum Gehweg am Flussufer. Sie folgte ihm ohne Gegenwehr. Als sie nur noch wenige Hundert Meter vom Schutz des Pfarrhauses entfernt waren, kam Samuel ein Gedanke, aber er sprach Signe erst darauf an, als sie angekommen waren.

»Signe«, sagte er auf den Verandastufen, »wo ist Daniel?«