Schwedische Familienbande - Marianne Cedervall - E-Book
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Schwedische Familienbande E-Book

Marianne Cedervall

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Beschreibung

Schweden im tiefsten Winter. Nur widerwillig tritt der ehemalige Großstadtpfarrer Samuel Williams seine neue Stelle in dem verschlafenen Dörfchen Klockarvik an. Doch der Schein trügt: Schon kurz nach seiner Ankunft stößt der Geistliche auf die Leiche des Hotelbesitzers Finn Mats Hansson – und Verdächtige gibt es zuhauf! Samuel Williams macht sich seine Position zunutze, um in seiner neuen Gemeinde nach schwarzen Schafen zu suchen. Selbst die anstehenden Weihnachtsvorbereitungen können ihn nicht von seinen Nachforschungen abhalten; einzig die traditionelle Teilnahme am Wasalauf, der berühmten Skilanglaufveranstaltung in Dalarna, bereitet ihm Schwierigkeiten. Dass der Geistliche sich in ihren Fall einmischt, gefällt der ermittelnden Kommissarin Maja-Sofia Rantatalo zunächst gar nicht, doch schließlich tut sie sich mit dem neugierigen Pfarrer zusammen. Gemeinsam lüften sie die Geheimnisse der verschrobenen Dorfbewohner und kommen dem Täter bald auf die Spur …

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Schweden im tiefsten Winter. Nur widerwillig tritt der ehemalige Großstadtpfarrer Samuel Williams seine neue Stelle in dem verschlafenen Dörfchen Klockarvik an. Doch der Schein trügt: Schon kurz nach seiner Ankunft stößt der Geistliche auf die Leiche des Hotelbesitzers Finn Mats Hansson – und Verdächtige gibt es zuhauf!

Samuel Williams macht sich seine Position zunutze, um in seiner neuen Gemeinde nach schwarzen Schafen zu suchen. Selbst die anstehenden Weihnachtsvorbereitungen können ihn nicht von seinen Nachforschungen abhalten; einzig die traditionelle Teilnahme am Wasalauf, der berühmten Skilanglaufveranstaltung in Dalarna, bereitet ihm Schwierigkeiten.

Dass der Geistliche sich in ihren Fall einmischt, gefällt der ermittelnden Kommissarin Maja-Sofia Rantatalo zunächst gar nicht, doch schließlich tut sie sich mit dem neugierigen Pfarrer zusammen. Gemeinsam lüften sie die Geheimnisse der verschrobenen Dorfbewohner und kommen dem Täter bald auf die Spur …

© Eva Lindblad

Marianne Cedervall wurde 1949 als Tochter eines Pfarrers im südschwedischen Gotland geboren und arbeitete unter anderem als Lehrerin. Ihr neuester Roman ›Schwedische Familienbande‹ ist der Auftakt zu einer neuen Krimireihe rund um den ermittelnden Pfarrer Samuel Williams.

Ulrike Brauns wuchs in der Nähe von Köln auf und studierte Germanistik, Skandinavistik und English Literature in Bonn, Stockholm und Melbourne. Seit 2004 ist sie freiberufliche Übersetzerin und Untertitlerin.

Marianne Cedervall

SCHWEDISCHE FAMILIENBANDE

Ein Fall für Pfarrer Samuel Williams

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Ulrike Brauns

Die schwedische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel ›Dö för vårt syndiga släkte‹ bei Lind & Co, Stockholm.

© Marianne Cedervall 2020 by Agreement with Grand Agency.

eBook 2021

© 2021 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Ulrike Brauns

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildungen: Schnee © JLBvdWOLF / Alamy Stock Foto; Silvester im Schnee Schweden © Stefanie Naumann; Pfarrer © Elena Naumann

Satz: Angelika Kudella, Köln

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-7117-9

www.dumont-buchverlag.de

Zur Erinnerung an meinen Vater Gösta Lavedahl,

der sein gesamtes Leben mit Humor, Wärme und Ernsthaftigkeit in den Dienst der Kirche stellte.

Unzählige Kirchenbänke habe ich durchgesessen,

während ich meinen Vater zu Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen und Gottesdiensten begleitete.

Er kommt zu uns auf Erden,

um ein Opfer zu bringen am hölzernen Kreuze,

um zu sterben für unser sündiges Menschengeschlecht,

damit endlich Gerechtigkeit vorherrsche.

Freut euch, freut euch,

freut euch an eurem Herrn und Gott.

Freut euch, freut euch

und ehrt euren König und Gott.

DAS SCHWEDISCHE GESANGBUCH,

DIE BETEILIGTEN

KIRCHENLEUTE

SAMUEL WILLIAMS, widerwillig zugezogener Pfarrer

MARIT KYRKLUND, Diakonin in Västerås und Samuels Verlobte

SIGVARD NORDQVIST, pensionierter Pfarrer

ELLINOR JOHANNESSON, Hauptpastorin

GUNNAR »HALBTON« HALVARSSON, Kantor

ANNIKA OLSSON RASK, Haushälterin

TORBJÖRN RASK, Hausmeister

CILLAN SVENSSON, Diakonin

TINDRA KLAR, Praktikantin der Kirche

TYRA LUNDIN, Mädchen für alles

POLIZEIPERSONAL

MAJA-SOFIA RANTATALO, Kriminalkommissarin

KNIS PETTER LARSSON, Kriminalinspektor

MARTINA JARNING, Kriminalinspektorin

JEANETTE SUNDELL, stellvertretende Polizeiintendantin

DORFBEVÖLKERUNG

MARKUS LUNDSTRÖM, Musiker und Sonderling

FINN MATS HANSSON, Unternehmer und Hotelbesitzer

LISS KATRIN HANSSON, Finn Mats Hanssons Ehefrau

AMANDA SNYGG, Finn Mats Hanssons junge Geliebte

FINN VIKTOR HANSSON, Finn Mats Hanssons Sohn

MIKAEL VEDBERG, Finn Mats Hanssons Geschäftspartner

MALIN KNUTSSON, Chefin des Fjällhotels

JOHAN TYSK UND INGEMAR TYSK, Dorfbewohner, denen nichts entgeht

EINS

Mittwoch, 23.November

Als Samuel Williams in Klockarvik eintraf, hatte es aufgehört zu schneien. Die Straßen von Västerås nach Dalarna waren teils vereist gewesen, und nun brannten ihm die Augen, weil er sich wegen der wirbelnden Flocken so sehr hatte konzentrieren müssen. An sich war es eine schöne Strecke, das wusste er, doch an diesem Tag gab es nichts anderes als Schnee zu sehen, nicht mal der atemberaubende Blick von Söderåsen über den Siljan hatte sich ihm präsentieren wollen. Zwischen Mora und Klockarvik hatte sich langsam ein Wetterumschwung abgezeichnet: Es schneite nicht länger, wurde aber kälter. Die offene Landschaft wandelte sich und auf dem letzten Stück schlängelte sich der Weg durch einen dichten und dunklen Kiefernwald.

Samuel stellte den Motor ab und löste den Sicherheitsgurt, bevor er einen Blick auf sein Handy warf. Es blieb ihm noch eine Viertelstunde bis zum Treffen mit seiner neuen Chefin, Hauptpastorin Ellinor Johannesson. Er stieg aus dem Wagen, wobei seine frisch polierten Halbstiefel im Schnee versanken, und schaute sich um. Die Kirche lag auf der einen, das neu gebaute Gemeindehaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Trotz der modernen Bauweise war das Gemeindehaus ein schönes Gebäude, und es fügte sich bestens zwischen die alten Holzhäuser mit ihrer aufwendigen Verzierung. Diese Häuser standen sicher schon Hunderte von Jahren dort, wenn nicht länger.

Die Kälte war greifbar, die Luft rein und frisch. Minus zwölf Grad herrschten laut Temperaturanzeige des Autos. Samuel knöpfte den Mantel zu und zog den Wollschal fester um den Hals. Er konnte gut und gern noch eine Runde über den Friedhof drehen, ehe er zu seinem neuen Team stieß. Nach der langen Fahrt fühlte er sich steif, ein schmerzlicher Hinweis darauf, dass er nicht mehr der Jüngste war. Dabei tat er, was er konnte, um in Form zu bleiben. Ging regelmäßig ins Fitnessstudio und machte lange, flotte Spaziergänge. Er war gerade erst vierzig geworden und hatte deutlich gespürt, dass dieses Ereignis eine Erinnerung an die Vergänglichkeit des Lebens war. Vierzig war ein richtiges Greisenalter, hatten seine Kinder Alva und Gabriel bei ihrer großartigen und lustigen Rede während seiner Geburtstagsfeier zum Besten gegeben. Die beiden hatten dafür Jubel und Beifall geerntet, allein beim Gedanken daran musste Samuel lächeln. Und als Pfarrer wurde er ständig an die Vergänglichkeit des Lebens erinnert, denn Beerdigungen waren ein gewöhnlicher Teil seiner Arbeit. Aber erst jetzt, seit er selbst vierzig war, fiel ihm auf, wie sehr er gealtert war.

Das Friedhofstor war gut geölt und fiel völlig lautlos hinter ihm ins Schloss. Samuel setzte seinen Gang über den schneebedeckten Weg fort. Auf den Grabsteinen lagen mindestens zehn Zentimeter Schnee, und die Wege waren nicht geräumt. Der Hausmeister hatte vermutlich eingesehen, wie sinnlos dieser Aufwand in Anbetracht der anhaltend widrigen Wetterumstände war. Samuel zog den Schal noch etwas fester und klappte den Mantelkragen hoch. Kalter Schnee hatte den Weg in einen seiner Stiefel gefunden und ließ ihn erschaudern. Hätte er mal lieber die teuren Wanderschuhe genommen, allerdings passten sie nicht wirklich zu seinem Mantel, und Autofahren konnte man mit ihnen auch nicht gut.

Er blieb stehen und schaute an sich hinunter. Der teure Mantel passte nicht in dieses Dorf, genauso wenig wie Samuel selbst. Er mochte schöne Kleidung von hoher Qualität, aber in Klockarvik würde er allein wegen der Temperaturen nicht wie in der Stadt herumlaufen können. Steppjacke, gefütterte Hose und Schnürstiefel waren hier angesagt. Und eine dieser lächerlichen Mützen mit Ohrenklappen. Vielleicht auch einfach eine gestrickte Zipfelmütze. Er seufzte schwer. Warum hatte er nicht einfach ins gemachte Bett fallen und die Stelle als Domkaplan in Västerås bekommen können? Sie war zum Greifen nah gewesen, und er hatte felsenfest daran geglaubt, dass die Stelle seine war, er hatte sogar so etwas wie eine Berufung gespürt. Der Boss, also Gott, wollte ihn sicher in der Domkirche haben, davon war er überzeugt gewesen, aber dann war der Job doch an eine Frau von der Westküste gegangen, eine Pfarrerin, die der gesamten Gemeinde und dem Stift völlig unbekannt war. Im Namen der Gleichberechtigung hatte Samuel sich geschlagen geben müssen. Da der Bischof und der Domdekan Männer waren, musste wenigstens die Stelle des Kaplans mit einer Frau besetzt werden. So hatte der Dekan es Samuel erklärt, der daraufhin irritiert und enttäuscht die große Kathedrale zu Västerås verlassen hatte und eine ganze Weile lang ohne Ziel und Sinn durch die Stadt geirrt war, während die Gedanken wie wütende Bienen durch seinen Kopf jagten.

Aber man brauchte schließlich einen Job, und die Interimsstelle als Pfarrer in Klockarvik im Norden Dalarnas, auf die er sich eher spaßeshalber beworben hatte, war plötzlich Realität geworden. Über das Dorf wusste er praktisch nichts, über Dalarna an sich auch nicht wesentlich mehr. Vage erinnerte er sich an ein Winterlager in Orsa, ein paar Kilometer von Klockarvik entfernt, wo er als Kind mal gewesen war. Langlauf und Abfahrtski waren Teil des Angebots gewesen. Abfahrt hatte ihm Spaß gemacht, Langlauf hingegen so gar nicht, dazu hatte er auch später im Leben keinen Bezug gefunden. Eigentlich hätte er liebend gern in Klockarvik angerufen und mit hochnäsiger Stimme verkündet, dass er einen wichtigeren Job gefunden habe, weshalb er »leider« das Angebot ausschlagen müsse und dieser einfachen ländlichen Gemeinde nicht dienen könne. Aber die harte Wirklichkeit hatte ihn gezwungen, die Vertretung in einem Kaff zu übernehmen, wo vermutlich jeder jede kannte und wo man nur etwas zählte, wenn man ein Stück Wald besaß, jagte oder einen unverständlichen Dialekt sprach. Samuel nannte nicht mal einen Baum sein Eigen, hatte in seinem Leben noch kein einziges Mal gejagt und den hiesigen Dialekt beherrschte er auch nicht. Hier wimmelte es vermutlich von Wolfshassern oder Menschen, die nicht gerade gütig auf Einwanderer blickten. Blieb die Frage, wie er das aushalten sollte. Seine täglichen Gebete schienen in diesem Fall kein bisschen geholfen zu haben. Dafür hatte der Boss von Samuels Vorurteilen und vorgefassten Meinungen Notiz genommen, und auf die göttliche Ermahnung hatte er auch nicht lange warten müssen. Früh am Morgen vor der Abfahrt, als er sich gerade rasierte, hatte er einen deutlichen Tadel vernommen.

Du bist gerade nicht nett, mein Sohn. Dazu auch nicht sonderlich begabt. Aber jetzt musst du los, die Gemeinde braucht dich.

Samuel blieb vor der Kirche stehen und ließ den Blick an der weiß gekalkten Wand entlanggleiten. Schon seit vielen Jahren ließ er sich auf sehr persönliche Art von Gott führen. Sicherlich hätte der eine oder die andere ein paar Takte dazu zu sagen gehabt, wenn sie etwas über dieses spezielle Verhältnis zwischen Samuel und seinem »Boss« gewusst hätten, aber das war ihm egal. Er stellte seine Fragen, und ja, vielleicht beruhten die ihm eingegebenen Antworten auf seiner eigenen Beurteilung, aber er verstand sie lieber als Führung vom göttlichen Vater selbst. Die Unterhaltungen mit Gott heiterten ihn einfach auf.

Und genau in diesem Moment, bevor er seinen neuen Job antrat, brauchte Samuel ein neuerliches Zwiegespräch mit seinem obersten Chef. Kein Ort eignete sich besser dafür als die heilige Stätte selbst, fand er und entschied, sich ein paar Minuten lang in die Kirche zu setzen. Er wollte seiner neuen Chefin in aller Deutlichkeit klarmachen, dass er nicht plante, in diesem kleinen Ort zu bleiben. Selbst wenn die Domkirche in Västerås ihn nicht wollte, dann gab es wahrlich noch andere und deutlich prestigeträchtigere Stellen. Beim Ableger der Svenska kyrkan in New York zum Beispiel, wo er auch ein paar Verwandte väterlicherseits hatte. Das sollte er definitiv noch zu seinem Lebenslauf hinzufügen. Ein großes Problem mit einer Stelle im Ausland wäre jedoch die Entfernung von seinen Kindern. Klar, sie lebten die meiste Zeit bei ihrer Mutter, aber die Ferien verbrachten sie immer bei ihm. Und Weihnachtsferien in New York waren ja an und für sich auch nicht schlecht, oder? Ausschlagen würden sie das sicher nicht. Und seine Lebensgefährtin Marit, mit der er jetzt gezwungenermaßen erst mal nicht mehr zusammenleben konnte, hätte vermutlich gegen Manhattan weit weniger einzuwenden als gegen Klockarvik. Sie war nicht gerade davon begeistert gewesen, dass er sich auf den Weg ins nordöstliche Dalarna gemacht hatte. Sie arbeitete als Diakonin in Västerås, eine Stelle, die sie gerade absolut nicht aufgeben wollte, weshalb sie plötzlich räumlich voneinander getrennt waren. Marit war unmissverständlich ebenfalls dafür, dass das Abenteuer in Dalarna so kurz wie möglich blieb, damit er wieder nach Hause kommen, sie endlich heiraten und Kinder bekommen konnten. Bei der Sache mit den Kindern waren sie sich etwas uneins, er hatte ja schließlich schon zwei großartige Kinder und war damit mehr als glücklich. Aber weil Marits Bedürfnis so stark war, musste er wahrscheinlich akzeptieren, noch einmal Vater zu werden. Ihr das auszuschlagen, wäre schwer.

Samuel steckte die Hände in die Taschen, umrundete die Kirche und erreichte den Eingang. Er prüfte die Klinke. Abgeschlossen. Typisch. Das Zwiegespräch mit Gott musste er offenbar anderswo halten. Er erschauderte und bog dann um den östlichen Teil der Kirche, hinter dessen dicken Wänden sich Altar und Chor verbargen.

Kaum hatte er die Ecke erreicht, blieb er wie angewurzelt stehen. Hatte er wirklich richtig gesehen oder spielten ihm die Schatten einen Streich? Schließlich war es seit seiner Ankunft noch dunkler geworden. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Vor ihm standen zwei alte, schmiedeeiserne Grabkreuze, etwa einen Meter hoch. Kein normaler Mensch bekam so ein feines Kreuz. Aber vielleicht der Pfarrer? Oder die reichsten Grundbesitzer der Gegend? Durch einen Windstoß bewegten sich die eisernen Verzierungen. An dem einen Kreuz lehnte etwas Großes, Klobiges, das von Schnee bedeckt war. Samuel atmete unweigerlich tief ein, als er erkannte, was er da vor sich hatte. Ein paar steife Haarsträhnen ragten aus dem Schnee, der sich wie eine Mütze über den Kopf gelegt hatte, welcher wiederum zu dem ans Kreuz geknoteten Körper gehörte. Samuel machte ein paar wacklige Schritte zur Seite. Langsam begriff sein Gehirn, was seine Augen da sahen. Wie gebannt betrachtete er den teilweise schneebedeckten Körper. Die Arme ragten hinauf und waren am Querbalken des Kreuzes befestigt, während Füße und Beine fast vollständig vom Schnee verborgen wurden. Soweit er das beurteilen konnte, handelte es sich um einen Mann. Samuel erkannte eine Jeans und einen Ledergürtel, der Oberkörper war nackt, wies aber vereinzelte Tätowierungen auf. Unter anderem ein Dalapferd direkt über einer der Brustwarzen. Auf den Schultern lag Schnee. An der Schläfe konnte er Spuren von getrocknetem oder gefrorenem Blut erkennen.

»Guter Gott, die arme Seele«, murmelte Samuel.

Unbewusst strich er sich den Pony aus dem Gesicht. Seine Atmung beschleunigte sich, außerdem wurde ihm übel. Nur mit größter Anstrengung konnte er das Zittern seiner Stimme unterdrücken, als er die Hand hob, um den so tragisch Verstorbenen zu segnen. Das war das Mindeste, was er tun konnte.

»Der Herr segne und behüte dich, wer immer du auch bist«, sagte er mit zitternder Stimme. »Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig, der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Er bekreuzigte sich. »Amen.«

Während seine Gedanken in alle Richtungen stoben, was er nun als Nächstes tun sollte, schaute er zur Friedhofsmauer und zuckte zusammen. Dahinter stand ein älterer, kleiner Mann mit einer hellblauen Wollmütze, die er bis zu den Augenbrauen heruntergezogen hatte. Er betrachtete Samuel intensiv. Ihre Blicke trafen sich, dann wandte der Mann sich ab und entfernte sich mit komischen, wiegenden Schritten. Auf seinem Rücken wippte ein Geigenkoffer.

Samuel blieb wie versteinert stehen und schaute dem Mann nach, der ohne ein Wort verschwunden war. Dann erwachte er aus seiner Trance. Er musste die Polizei verständigen, sie darauf aufmerksam machen, dass an einem Grabkreuz vor der Kirche Klockarviks eine unschöne Aufgabe auf sie wartete. Er holte das Handy aus der Tasche. Er wollte sich der Leiche nicht weiter nähern. Sollte er vermutlich auch nicht, ging ihm da auf, sonst könnte er eventuelle Spuren zerstören. Vielleicht sollte er sich auch erst an die Hauptpastorin wenden, damit diese die Polizei verständigte?

»Entschuldige«, flüsterte er dem Toten zu und steckte das Handy wieder weg. »Ich bin gleich zurück.«

Samuel stapfte, so schnell er konnte, durch den hohen Schnee und schlitterte zum Gemeindehaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Dort riss er die Tür auf und eilte hinein, nur um fast über Einkaufstüten zu stürzen, die direkt hinter der Tür standen. Samuel wedelte mit den Armen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und bekam dann den Türrahmen zu fassen. Eine große Frau in Stoffhose, weiter Strickjacke und Pastorinnenhemd erschien vor ihm. Fast hätte er sie nicht wiedererkannt, sie waren sich erst einmal kurz bei einer Versammlung begegnet, auf der sie ihm vorgeschlagen hatte, nach Klockarvik zu kommen. Seither hatten sie nur in telefonischem Kontakt gestanden.

»Samuel Williams«, sagte die Hauptpastorin Ellinor Johannesson, die ihn offenbar sofort zuordnen konnte, und hob die Augenbrauen. »Was für ein eigentümlicher Auftritt für unseren neuen Pfarrer. Willkommen!«

Samuel schluckte ein paarmal und schaute seiner neuen Chefin in die Augen. Seine Knie schlotterten, er musste sich zusammenreißen, damit seine Stimme fest klang.

»Ich muss dich bitten, einen Mord zu melden«, sagte er und zog seine nassen Schuhe aus.

ZWEI

Als die Pastorin verstanden hatte, was Samuel zum dritten Mal unzusammenhängend zu erklären versuchte, erkannte sie den Ernst der Lage und verständigte sogleich die Polizei. Samuel zog derweil die nassen Strümpfe aus, trocknete seine Füße ab und bekam ein Paar farbenfrohe Wollsocken aus dem reichhaltigen Vorrat des Handwerksvereins.

»Die sind eigentlich für den Weihnachtsbasar gedacht, aber ich halte das für eine Notlage, da darf man auch mal eine Ausnahme machen«, hatte die Haushälterin gesagt. »Vielleicht stecken Sie dann später einfach eine Münze in die Kasse des Handwerksvereins.«

Die Haushälterin hatte sich als Annika Olsson Rask vorgestellt, ihnen schnell Tee gekocht und sich außerdem darum gekümmert, dass Samuel sich kurz ausruhen konnte. Dazu hatte sie ihn in einen Sessel gesetzt, der im Eingangsbereich stand, der wiederum eher einem Wohnzimmer ähnelte. An den Wänden hingen Gemälde, die den Sonnenuntergang über dem Siljansee zeigten oder niedliche Kinder, deren Schutzengel ein wachsames Auge auf sie hatten. Außerdem gab es Regale mit Zeitungen und Büchern, dazu noch das eine oder andere Gefäß mit kleinen, roten Tulpen. Durch den warmen Tee fühlte Samuel sich nach einer Weile fast wieder wie ein Mensch, und seine Hände hörten auf zu zittern. So diskret wie möglich holte er seine Dose Snus heraus und steckte sich eine Portion Tabak unter die Lippe. Der Anblick des Toten, wie er da am Kreuz hing, hatte sich auf seine Netzhaut gebrannt. Vermutlich würde ihn das Bild noch eine ganze Zeit lang verfolgen. Er hoffte inständig, dass er keine Albträume bekam.

Samuel stand abrupt auf, stieß dabei gegen den Tisch und verschüttete ein wenig Tee. Ein junges Mädchen, das gerade den Zeitungsstapel ordnete, kicherte. Samuel war sie bis dahin gar nicht aufgefallen, was sicher der Tatsache geschuldet war, dass seine Gedanken gerade so intensiv um anderes kreisten.

»Sie haben gekleckert«, sagte sie mit funkelnden Augen.

»Ja, ach, das ist gar nicht so verwunderlich«, antwortete Samuel und tupfte den Fleck mit einer Serviette weg. »Das wäre dir nicht anders gegangen, wenn du gesehen hättest, was ich gerade sehen musste.«

Das Mädchen ließ die Zeitungen Zeitungen sein und kam mit neugierigem Blick auf ihn zu. Höflich hielt sie ihm die Hand hin.

»Tindra«, sagte sie. »Konfirmandin, die keinen Bock auf Schule hat und deshalb hier ein Praktikum macht. Was haben Sie denn gesehen?«

»Samuel Williams«, erwiderte er und schüttelte ihre Hand. »Neuer Pfarrer hier. Ich habe gerade einen Toten auf dem Friedhof gefunden.«

Es war sicher besser, direkt zu sein, dachte er. Tindra runzelte die Stirn und setzte sich in den gegenüberstehenden Sessel.

»Einen Toten auf dem Friedhof? Das klingt ja schrecklich. Wobei … Muss man genau dort nicht eigentlich damit rechnen?«

»Na ja, normalerweise liegen die da unter der Erde«, sagte er und lächelte matt. »Und wenn sie sich noch darüber befinden, dann vielleicht nicht gerade an ein Grabkreuz geknotet.«

Tindra riss die Augen auf, trotzdem schien seine Schilderung sie nicht gerade in Angst und Schrecken versetzt zu haben.

»Cool!«, sagte sie auch noch. »Und Sie heißen Samuel? Dann können wir Sie doch bestimmt Sam nennen, oder? Samuel ist so lang. Wollen wir nicht rausgehen und mal nachschauen?«

»Nein, das wollen wir wirklich nicht«, hörten sie Ellinor Johannessons laute Stimme sagen. Die Pastorin kam aus ihrem Büro und hatte offenbar Teile ihres Gesprächs aufgeschnappt. »Ich habe die Polizei in Mora verständigt, die haben sich sofort auf den Weg gemacht. Ihr bleibt schön hier, und du, Tindra, verlierst bitte kein Wort über den Friedhof. Ich habe Torbjörn rübergeschickt, damit niemand Unbefugtes auf die Idee kommt, dort rumzutrampeln.«

»Och …«, machte eine enttäuschte Tindra.

Samuel betrachtete sie. Er konnte ihre Neugierde ja verstehen, obwohl die Situation an sich ziemlich makaber war. Manche Menschen fanden Katastrophen und Schreckliches einfach spannend. Er selbst gehörte auch eher dazu.

»Ich erzähle dir später mehr«, flüsterte er ihr zu, damit die Pastorin es nicht hörte. »Aber viel mehr gibt’s gerade sowieso nicht zu sagen. Und wenn du mich Sam nennst, freue ich mich.«

Kurze Zeit später hatte sich auf dem Friedhof im schwachen Licht, das die Straßenlaternen spendeten, eine kleine Gruppe gebildet. Samuel hatte der Polizei den Weg gezeigt. Der Hausmeister Torbjörn Rask wirkte erleichtert, dass sie eingetroffen waren. Er hockte auf dem Boden, den Rücken an die Kirchwand gelehnt, war ganz blass und schien aufgewühlt. Er hatte das Gesicht abgewandt, vermutlich weil er so vor dem Anblick des Grabkreuzes geschützt war. Die Totenwache gehörte nicht gerade zu seinen gewöhnlichen Aufgaben, und es sah ganz so aus, als hätte dieser Abend schon jetzt seinen Tribut von ihm gefordert. Aus Mora waren eine Polizistin und ein Polizist gekommen. Die Frau kam Samuel vage bekannt vor, aber wirklich zuordnen konnte er sie trotzdem nicht.

»Maja-Sofia Rantatalo, Kriminalkommissarin«, stellte sie sich vor.

Der Blick aus ihren braunen, etwas schmalen Augen war ernst. Sie hatte einen kurzen, schräg geschnittenen Pony, hohe Wangenknochen, eine niedliche Nase und einen schönen Mund, fand Samuel. Vielleicht lag er falsch, aber er hatte den Eindruck, ihr Parfum oder ihre Bodylotion würde erfrischend nach Wald riechen.

»Und das ist mein Kollege, Larsson«, sagte sie und deutete zu ihrem Begleiter, bevor sie ein paar Schritte auf das Grabkreuz zuging. »Das ist wirklich abscheulich, muss ich schon sagen.«

»Knis Petter Larsson«, sagte ihr Kollege und nickte in die Runde. »Kriminalinspektor.«

»Petter!«, platzte es aus Torbjörn Rask heraus. Er stand hastig auf. »Mensch, das ist ja ewig her.«

Der Polizist runzelte die Stirn und betrachtete den Hausmeister fragend. Dann klärten sich seine Gesichtszüge.

»Tobbe Rask!«, sagte er. »Dich hab ich zuletzt in der Neunten gesehen. Wie haben die dich früher immer genannt? Robbe?«

Rask zuckte mit den Schultern und öffnete den Mund, weil er wohl etwas antworten wollte, doch dann wurde er noch blasser, fing an zu schwanken und huschte schnell um die Ecke. Samuel folgte ihm, nur um mitansehen zu müssen, wie der Hausmeister sich in ein Gebüsch neben dem Kompost erbrach. Die Gesamtsituation hatte den Mann offenbar überfordert, vielleicht war er aber auch einfach zu schnell aufgestanden, als ihm klar wurde, dass er den Polizisten kannte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Samuel und fühlte sich dabei irgendwie unbeholfen. »Kann ich irgendetwas für Sie tun?«

Torbjörn nahm eine Handvoll frischen Schnees, richtete sich auf und wischte sich damit über den Mund.

»Danke, aber jetzt ist es schon wieder gut«, sagte er. »Irgendwie konnte ich mich zusammenreißen, bis Sie alle gekommen sind, aber das ist einfach zu grausam. Ich hol mir mal eben etwas Wasser aus der Sakristei.«

»Soll ich mitkommen?«

Torbjörn wehrte ab.

»Nein, nein, nicht nötig. Gehen Sie zu den anderen zurück, ich komme schon klar. Falls die noch mit mir sprechen wollen, könnten Sie sie dann zu mir reinschicken? Ich leg mich auf eine der Kirchenbänke, ich muss unbedingt kurz die Augen zumachen.«

»Der, der Sie Robbe genannt hat«, sagte Samuel, »war der während der Schulzeit gemein zu Ihnen?«

Torbjörn schüttelte den Kopf.

»Im Gegenteil«, sagte er. »Wir haben alle so Witze gerissen, dabei kam niemand zu Schaden. Mit Petter unterhalte ich mich gern.«

Samuel nickte und kehrte zu den anderen zurück. Die beiden Polizisten hatten den Bereich schon abgesperrt und mit der Untersuchung angefangen. Ihre starken Taschenlampen waren auf die traurige Gestalt gerichtet. Der grelle Lichtkegel verdichtete die sie umgebende, tiefe Winterdunkelheit nur noch mehr, sodass der Tote weit gruseliger aussah als vor einer Stunde, als Samuel ihn entdeckt hatte. Allen Lebendigen stand eine Wolke vor dem Mund, wenn sie sprachen oder atmeten. Dem Toten nicht.

»Hat jemand eine Ahnung, wer das ist?«, fragte Kommissarin Rantatalo.

»Der Hoteldirektor«, sagte Hauptpastorin Ellinor Johannesson. Sie wirkte gefasst, doch das Zittern in ihrer Stimme verriet, dass die Situation auch an ihr nicht spurlos vorüberging. »Er heißt Finn Mats Hansson«, fuhr sie fort, nachdem sie sich kurz gesammelt hatte.

Knis der eine, Finn der andere. Samuel fragte sich, ob er sich jemals all die sonderbaren Namen in Dalarna merken können würde.

»Hoteldirektor Hansson? Hat der nicht gerade erst diesen Luxuskasten hier in Klockarvik eröffnet?«, fragte Maja-Sofia Rantatalo. »Ich meine, ich habe darüber was im Dala-Demokraten gelesen.«

»Ja, genau«, sagte Ellinor. »Er betreibt das Hotel mit Mikael Vedberg.«

»Braucht Klockarvik wirklich noch so eins?«, fragte die Kommissarin. »Wenn ich mich nicht irre, gibt es hier doch schon mehr als ausreichend Hotelbetten, oder etwa nicht?«

»Sie denken sicher ans Fjällhotel, nicht wahr?«, fragte Ellinor. »Auch ein sehr gemütliches und exklusives Hotel, und die Chefin Malin Knutsson leistet außerordentliche Arbeit, aber sie richtet sich eher an den Skitourismus. Das neue Hotel ist noch mal was ganz anderes und zieht ein anderes Klientel an, glaube ich. Konferenzteilnehmer und Geschäftsleute auf der Durchreise. Das ist zumindest das, was ich gehört habe. Wie schrecklich, dass er jetzt tot ist.«

Kaum war Ellinor verstummt, stieß Torbjörn Rask mit den Händen in den Hosentaschen zu ihnen. Er hatte sich offensichtlich etwas erholt.

»Das ist das Familiengrab«, sagte er und nickte zu den Kreuzen. »Verdammtes Elend! Oh, entschuldigen Sie, ich sollte nicht fluchen, aber das ist wirklich hart für mich.«

»Was meinen Sie? Wessen Familiengrab?«, fragte Maja-Sofia Rantatalo.

»Finn Hanssons. All seine Vorfahren liegen dort«, antwortete Torbjörn. »Reiche, alte Bauernfamilie.«

Larsson hatte noch ein paar Fotos mit dem Handy gemacht, bevor Rantatalo alles absperren ließ. Und zwar nicht nur den Bereich um die Grabkreuze, sondern den gesamten Friedhof inklusive Kirche und allem. Danach griff sie zu ihrem Handy und tätigte einen Anruf. Soweit Samuel das beurteilen konnte, war jemand Höherrangiges am anderen Ende.

»Hallo, Sundell«, sagte sie, »Larsson und ich bleiben hier und bewachen den Fundort, aber du musst so schnell wie möglich die Kriminaltechnik herschicken. Wenn Tamara Pettersson sich herbemühen würde, wäre das sogar noch besser. Hier gibt es definitiv was zu tun für eine Rechtsmedizinerin.«

Samuel hörte ganz genau zu. Dass sie ursprünglich nicht aus Dalarna stammte, war sofort an ihrem Akzent zu erkennen. Eher war da ein finnischer Einschlag.

»Kommt sie auch?«, fragte Larsson, als Rantatalo aufgelegt hatte.

Sie nickte und verzog den Mund.

»Natürlich. Die Sundell findet, wir müssen von Anfang an mit Schwung an die Sache rangehen, das ist wichtig«, sagte sie und verdrehte die Augen.

»Als wäre uns das nicht selbst klar«, murmelte ihr Kollege.

Samuel entging kein Wort. Wie hieß er noch mal, der männliche Polizist? Kniv Petter? Nein, Knis, oder? Er musste sich wirklich Mühe geben, sich diese sonderbaren Namen zu merken. Diese Sundell jedenfalls schien bei beiden nicht sonderlich beliebt zu sein.

»Das war meine Chefin, Jeanette Sundell«, erklärte Rantatalo, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Sie ist nur eine Vertretung, aber sie hat zu allem eine Meinung, um die kommen wir nicht herum.«

Ihr Kollege schüttelte leicht den Kopf. Samuel fragte sich, ob er dachte, sie hätte zu viel gesagt. Sie schienen ihrer Vorgesetzten gegenüber nicht gerade positiv gestimmt zu sein, aber das hatte ja nichts mit ihm zu tun.

»Es kommt auch wer aus Falun«, fuhr Rantatalo fort, »aber das kann ein paar Stunden dauern. Wie dem auch sei, wir müssen erst mal alles abgesperrt lassen und dafür sorgen, dass hier nicht alles zertrampelt wird, besonders um die Leiche herum. Auch von uns nicht.«

Ellinor Johannesson warf Maja-Sofia Rantatalo einen aufgeschreckten Blick zu, als sie hörte, dass sich erst mal niemand dem Friedhof nähern durfte.

»Aber … Aber in ein paar Tagen ist doch der erste Advent«, sagte sie bestürzt. »Der erste Tag des Kirchenjahrs. Am Sonntag kommen die Menschen scharenweise, außerdem wird Samuel Williams hier ganz offiziell und feierlich als neuer Pfarrer begrüßt. Da brauchen wir unbedingt Zugang zur Kirche.«

Maja-Sofia Rantatalo zuckte mit den Schultern.

»Tja«, sagte sie. »Jetzt haben wir es leider mit einem höchst unschönen Mord zu tun, soweit ich das bisher überblicken kann, da wird Ihnen nichts als Protest übrig bleiben, aber tun können wir nichts. Einen Gottesdienst können Sie natürlich abhalten, aber der muss woanders stattfinden.«

Im selben Moment öffnete ein Mann das Friedhofstor und steuerte geradewegs auf sie zu.

»Was höre ich da?«, fragte er noch im Herankommen. »Ich muss aber in die Kirche. Wo zur Hölle soll der Chor denn bitte sonst proben? Das kann nicht sein, dass wir nicht reindürfen! Sagen Sie mir bitte, dass das nicht wahr ist!«

»Achte bitte auf deine Wortwahl, Gunnar«, mahnte die Pastorin. »Geflucht wird nicht. Zumindest nicht hier.«

Der Mann blieb wie angewurzelt vor der kleinen Menschenansammlung stehen und starrte auf die Leiche im Lichtkegel der Taschenlampe.

»Das ist unser Kantor, Gunnar Halvarsson«, stellte Ellinor ihn vor.

»Finn Mats?«, fragte Halvarsson mit Unglauben in der Stimme. »Finn Mats Hansson? Wie konnte das denn passieren? Also, das ist nicht gut, gar nicht gut.«

»Alle Gottesdienste sind schon angekündigt. Müssen wir jetzt auf die Kirche in Fridnäs umsatteln? Dann brauchen wir unbedingt Kirchenbusse. Verdammt, ich glaube fast, ich lass mich krankschreiben«, entfuhr es der Pastorin. Sie war offenbar immer noch im Planungsmodus.

»Vielleicht solltest erst mal du auf deine Wortwahl achten, Ellinor«, konterte Gunnar Halvarsson trocken.

»Ja, ja, aber ich glaube, mein Gott vergibt mir einen leichten Kraftausdruck unter Umständen wie diesen«, erwiderte sie.

Maja-Sofia Rantatalo schaute von der einen zum anderen. Samuel konnte sich denken, was in ihr vorging. Ein Mann hatte sein Leben verloren, und hier verzweifelte das Kirchenvolk, weil sie nicht wussten, wo sie den nächsten Gottesdienst oder die nächste Chorprobe abhalten sollten. Vermutlich fragte sie sich, ob die noch ganz sauber tickten.

»Kirchen scheint es ja genug zu geben«, verkündete sie. »Und ja, es ist gut möglich, dass Sie Ihre Gottesdienste erst mal anderswo abhalten müssen. Ehrlich gesagt ist es sogar wahrscheinlich, aber die Kriminaltechnik arbeitet eigentlich sehr schnell. Vielleicht haben Sie ja Glück und können am Sonntag schon wieder rein.«

Dafür erntete sie nur Schweigen. Dem kleinen Grüppchen war die Puste ausgegangen. Samuel betrachtete die Kommissarin eingehend. Sie war auf ganz eigene Weise hübsch. Die schmalen Augen, der schwarze Pony und der leichte Singsang. Irgendwie würde er sie gern näher kennenlernen. Nicht irgendwie anzüglich, selbstverständlich nicht, sondern freundschaftlich. Trotzdem schrillte eine Alarmglocke in seinem Hinterkopf. Genauso hatte er Marit vor drei Jahren kennengelernt. Samuel und Sara, die Mutter seiner Kinder, waren damals noch verheiratet, doch ihre Ehe war schon mausetot gewesen. Zu diesem Zeitpunkt teilte sie nicht mal mehr seinen Glauben und war längst aus der Kirche ausgetreten. Die Trennung war nicht sonderlich dramatisch verlaufen, und die Kinder hatten es gut verkraftet.

»Mit Ihnen müsste ich mal sprechen«, sagte Rantatalo plötzlich an ihn gewandt.

Sofort war Samuel zurück in der Gegenwart. Wie konnten seine Gedanken denn in so eine Richtung laufen, wo sie doch in unmittelbarer Nähe eines Toten standen? Sie dürfen sehr gern mit mir sprechen, hätte er fast geantwortet, doch erinnerte sich noch rechtzeitig an das sechste Gebot: Du sollst nicht Ehebrechen. Er war zwar noch nicht mit Marit verheiratet, hatte ihr aber versprochen, sich nicht lange hier oben aufzuhalten, und er hatte wirklich nicht vor, die ganze Angelegenheit durch eine andere Frau zu verkomplizieren. »Nur, damit du das weißt«, flüsterte er unhörbar für die anderen und warf einen kurzen Blick zum Himmel. Sofort war ihm, als hörte er das säuerliche Räuspern seines Chefs, aber das war sicher nur Einbildung.

»Wir müssen die Angehörigen unterrichten«, fuhr Maja-Sofia Rantatalo an ihn gewandt fort. »Wissen Sie, an wen wir uns am besten wenden?«

»Seine Frau heißt Liss Katrin Hansson«, antwortete die Pastorin an seiner statt, weil ihr bewusst war, dass Samuel das nicht wissen konnte.

Schau an, dachte Samuel, noch so ein sonderbarer Name.

»Er hat eine Neue«, meldete sich nun Tobbe Rask zu Wort. »So ein junges Ding. Im Dorf heißt es, dass sie in die Luxushütte eingezogen ist und Katrin das Feld freigeben musste.«

»Ach?«, machte Ellinor. »Das habe ich ja noch gar nicht mitbekommen. Ich treffe Liss Katrin regelmäßig im Rotary Club, und da hat nichts darauf hingedeutet, dass sie eine solch einschneidende Veränderung durchmacht.«

Torbjörn zuckte mit den Schultern.

»Amanda Snygg heißt das Mädel jedenfalls«, sagte er, »sie ist nicht viel älter als zwanzig und kommt aus Mora. Er da drüben am Kreuz ist ungefähr dreißig Jahre älter. War älter, meine ich natürlich.«

Ellinor Johannesson kommentierte das nicht weiter, sondern wandte sich direkt an Samuel.

»Wärst du so freundlich und würdest das übernehmen?«, bat sie. »Kein Traumstart in den neuen Job, aber du hast doch sicher schon mal die Polizei dabei begleitet, wenn eine Todesnachricht überbracht wurde, oder?«

DREI

»Samuel Williams«, sagte Maja-Sofia Rantatalo und startete das Zivilfahrzeug, »was ist das denn für ein Name?«

Samuel schaffte es gerade noch, die Beifahrertür zuzuziehen, bevor sie anfuhr. Sie hatte gesagt, es wäre am besten, wenn er gleich mitkäme. Sein Sicherheitsgurt rastete ein, als sie schon auf die Kyrkogatan bogen.

»Das könnte ich genauso fragen«, sagte er und klammerte sich am Türgriff fest, als sie durch einen kleinen Kreisverkehr düsten. »Rantatalo ist ja schon ungewöhnlich.«

Sie schaute zu ihm und grinste.

»Haben Sie Angst?«, fragte sie. Ihr war seine Reaktion auf die schnelle Abfahrt wohl nicht entgangen.

Darauf antwortete er nicht. Irgendwie erschien ihm dies nicht als der richtige Zeitpunkt, um sich über den Fahrstil einer Polizistin zu beklagen.

»Ich komme aus Tornedalen«, fuhr sie fort. »Kuivalihavaara heißt der Ort, falls Ihnen das was sagt, aber das wird es vermutlich nicht. Liegt ein paar Kilometer von Kiruna entfernt. Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich zuletzt dort war.«

Samuel wusste, wo Kiruna lag, aber das Dorf sagte ihm tatsächlich nichts. Ihm entging nicht, wie sich ihr Ton änderte, als sie von ihrer Heimat sprach. Eine Spur von Kummer streute sich hinein.

»Mein Vater stammt aus den USA«, erläuterte nun Samuel, »daher der Nachname. Wenn Sie mögen, können Sie mich auch Sam nennen.«

»Nicht Vater Samuel?«, fragte sie, ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Oh, das hat was«, lachte er, »aber nein. Ich bin nicht katholisch.«

»Ist das ein schöner Job?«, fragte sie dann. »Pfarrer sein, meine ich.«

Samuel dachte kurz nach.

»Ist es ein schöner Job?«, sagte er schließlich und schielte zu ihr. »Ja, finde ich schon. Als Pfarrer geht man nie mit dem Gefühl nach Hause, dass ein Tag sinnlos war. Oft geht es um Leben und Tod, und es ist wunderbar, die Menschen in ihren wichtigsten Momenten zu begleiten.«

Kaum hatte er das ausgesprochen, kamen ihm seine Worte fast ein bisschen übertrieben vor. Was würde sie jetzt über ihn denken? Dass er ein hochnäsiger Städter war? Aber die Sorge hätte er sich sparen können.

»Ganz ähnlich wie der Polizeijob also«, kommentierte sie nur. »Da geht es auch ständig um Leben und Tod. Manchmal ist es hart, aber es gibt natürlich auch Lichtblicke.«

Sie verfielen in Schweigen und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Was sie vor sich hatten, war ernst, da waren Smalltalk oder Scherze fehl am Platze. Eigentlich fand er es nicht sonderlich nett, dass die Hauptpastorin ihm gleich diese Aufgabe gegeben hatte, schließlich war er doch noch gar nicht richtig angekommen. Immerhin hatte er es geschafft, ein Paar seiner eigenen Strümpfe anzuziehen, er musste also nicht länger in bunten Wollsocken durch die Gegend rennen, und das war ja auch schon mal etwas.

Sie verließen den Ort durch einen etwas größeren Kreisverkehr, und Maja-Sofia steuerte den Wagen einen Berg hinauf. Rote Häuschen waren über die verschneite Böschung verstreut, in denen warmes Licht leuchtete. Samuel musste zugeben, dass der Ort, an den er gerufen worden war, durchaus reizvoll und malerisch war. Viele kleine Ortschaften reihten sich aneinander, und von ganz oben musste man einen atemberaubenden Blick über die verschneite Landschaft haben. Und just auf so ein Grundstück bogen sie schon bald ab. Darauf stand eine protzige Villa im Dalastil, von der man den schönsten Ausblick hatte, den man sich vorstellen konnte.

»Da wären wir«, verkündete Maja-Sofia.

»Wow! Das ist ja mal eine Villa«, entfuhr es Sam, der die fein gezimmerte Fassade betrachtete. »Hier wohnen keine armen Leute.«

»Oder es gehört der Bank«, konterte Maja-Sofia und hielt neben einem roten Toyota. »Das werden wir gleich erfahren. Bereit?«

Er konnte sich gar nicht an der Weite sattsehen, die in ihm gleich ein Gefühl von Ruhe auslöste.

»Bereit«, sagte er und sammelte sich, »so bereit, wie man für diese Aufgabe eben sein kann. Wieso kennen Sie sich hier eigentlich so gut aus?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Nach zwei Jahren und einer Menge Irrfahrten – sowohl dienstlich wie privat – habe ich das eine oder andere über die Gegend und die Leute erfahren. Buchstäblich.«

»Wohnen Sie in Klockarvik? Nicht in Mora?«

»In einem der Nachbarsorte.« Sie nickte in eine undefinierbare Richtung und öffnete gleichzeitig die Autotür. »Dann wollen wir mal.«

Er hätte liebend gern gefragt, ob sie mit jemandem zusammenlebte, aber versuchte stattdessen, sich auf das zu konzentrieren, was vor ihnen lag. Jemandem eine unerwartete Todesnachricht zu überbringen, war kein Zuckerschlecken. Dass es sich dabei noch um einen Mord handelte, machte die Sache nicht leichter. Er bat schnell um Unterstützung von oben.

Maja-Sofia musste mehrmals anklopfen, bis innen Schritte zu hören waren und die Tür geöffnet wurde. Eine junge Frau mit schulterlangem, blondem Haar, angeklebten Wimpern und grellrotem Lippenstift stand im Rahmen. Der hautenge Rock und das ebenso eng anliegende Oberteil verrieten, dass sich an diesem Körper keine Unze Übergewicht befand. Wie alt mochte sie sein? Vielleicht fünfundzwanzig?

»Hallo, mein Name ist Maja-Sofia Rantatalo, ich bin von der Polizei in Mora«, sagte Maja-Sofia und hielt ihre Dienstmarke hoch. »Dürfen wir reinkommen?«

Die Frau wirkte überrascht, aber machte eine einladende Geste.

»Sie sind nicht beide von der Polizei, oder?«, sagte sie und lächelte, während sie auf Samuels Kragen deutete. »Er scheint mir ein Pfarrer zu sein. Was kann ich für Sie tun?«

Sie schaute vom einen zum anderen und klimperte mit ihren langen Wimpern. Das Lächeln verschwand allmählich, als sie zu erahnen schien, dass etwas nicht in Ordnung war. Maja-Sofia blieb ruhig, bei Samuel meldeten sich jedoch nervöse Schmetterlinge im Bauch. War dies die Tochter, die gleich die tragische Wahrheit erfahren würde, oder war sie die junge Liebhaberin, von der Tobbe Rask gesprochen hatte?

»Sind Sie Amanda Snygg?«, fragte Maja-Sofia Rantatalo, als sie sich auf das Sofa im Wohnzimmer gesetzt hatten, zu dem die junge Frau sie gebracht hatte. Das riesige Panoramafenster machte es fast unmöglich, den Blick von der gewaltigen Aussicht zu lösen, denn dahinter lagen die schneebedeckten Berge mit ihren erleuchteten Liftanlagen, die auf die Skitouristen warteten, die in der Nähe die Weihnachtsfeiertage verbringen würden.

»Ja, bin ich«, erwiderte sie. »Ist was passiert? Nicht Viktor, oder?«

Sie schlug sich die Hand vor den rot geschminkten Mund. Tränen traten in ihre Augen.

»Viktor?«, fragte Samuel. »Ist das noch ein Verwandter?«

»Mats’ Sohn«, flüsterte Amanda.

Trotz Schminke konnte man deutlich sehen, wie blass sie geworden war.

»Nein, wir sind nicht wegen Viktor hier, sondern wegen Mats Hansson«, erklärte Maja-Sofia Rantatalo. »Er ist tot.«

»Mats?«

»Wohnen Sie hier?«, fragte Maja-Sofia.

Amanda Snygg nickte.

»In welcher Beziehung stehen Sie zu Mats Hansson?«

»Wir sind … Wir sind zusammen«, sagte sie mit dünner Stimme.

Die junge Frau ließ sich aufs Sofa sinken, legte die Hände in den Schoß. Samuel war froh, dass Maja-Sofia Rantatalo sie nicht hetzte.

»Mats?«, fragte Amanda nach einer Weile. »Tot? Ich verstehe das nicht ganz. Gestern ging es ihm doch noch gut. Wie ist er gestorben? War es ein Unfall?«

Samuel suchte Blickkontakt mit Maja-Sofia, die fast unmerklich nickte.

»Es tut uns schrecklich leid, Sie davon in Kenntnis setzen zu müssen«, sagte Samuel. »Aber die Polizei geht davon aus, dass er ermordet wurde.«

Amanda riss die Augen auf.

»Ermordet?« Dieses einfache, aber entscheidende Wort war nicht mehr als ein Flüstern. »Oh, my God!«

»Mein herzliches Beileid«, sagte Samuel, während sein Magen wegen der ausgefallenen Mahlzeit knurrte, und sofort kam er sich vor wie ein Idiot. Er hatte seit dem Frühstück in Västerås nichts mehr gegessen, trotzdem grenzte es an Taktlosigkeit, hier mit knurrendem Magen zu sitzen.

Jemand öffnete die Haustür. Dann waren Schritte zu hören und eine Frauenstimme, die etwas murmelte, außerdem wurden offenbar Schuhe ausgezogen. Alle drei schauten auf.

»Soso, dann wurde der Mistkerl also ermordet?«, sagte die Frau, als sie ins Wohnzimmer kam und den Blick über die Anwesenden wandern ließ. »Das wird zumindest im Dorf erzählt. Und hier ist offenbar ein junges Fräulein in mein Haus eingezogen. Alles sehr eigenartig, muss ich schon sagen.«

Amanda stand langsam auf.

»Katrin?«, fragte sie und schien ihren Augen nicht zu trauen.

»Eben die«, antwortete die Frau und trat zu einem Tisch, auf dem Zigaretten lagen. Sie zündete sich eine an und blies den Rauch demonstrativ ins Zimmer.

Samuel hustete unwillkürlich. Dass jemand im Haus rauchte, war heutzutage sehr ungewöhnlich, aber die Frau stand sicher unter Schock und musste sich beruhigen. Es galt, das zu ertragen.

»Tja, wie Sie sehen können, hat eine junge Flamme mein Haus eingenommen«, sagte sie mit unmissverständlicher Wut in der Stimme, den Blick auf Amanda gerichtet.

»Eingenommen?«, konterte Amanda, die offenbar Mut geschöpft hatte und Katrin wütend anblitzte. »Sie sind doch geschieden. Das hat Mats mir erzählt.«

Dass Katrin die Frau des Verstorbenen war, wurde mehr als deutlich, das musste Maja-Sofia und Samuel nicht weiter erklärt werden. Sie bewegte sich mit solcher Selbstsicherheit, es war nicht zu übersehen, dass sie hier zu Hause war. Sie zog noch einmal an der Zigarette und blies ein paar perfekt geformte Ringe in die Luft. Etwas, das sie sicher jahrelang geübt hatte, dachte Samuel. Dann ging sie zu einem der Küchenschränke, holte eine Kaffeedose heraus und befüllte die Kaffeemaschine.

»Das kann ich mir vorstellen. Erzählen konnte er wirklich, der gute Mats«, sagte sie und lachte. »Und jetzt ist er tot. Geschieht ihm recht. Da muss jemand sehr sauer auf ihn gewesen sein, soviel ist klar. Das wundert mich nicht das geringste bisschen.«

Wenig später saß Samuel allein mit Katrin auf dem Sofa, die ihm einen Kaffee eingeschenkt hatte. Maja-Sofia war mit Amanda zur Aufnahme ihrer Aussage ins Polizeirevier gefahren. Die Kriminalkommissarin hatte Samuel versprochen, jemanden vorbeizuschicken, um ihn später abzuholen.

»Ich habe damit gerechnet«, sagte Katrin. »Er hatte viele Feinde.«

»Denken Sie da an jemand Bestimmtes?«, fragte Samuel.

Darüber konnte Katrin nur trocken lachen.

»An so ziemlich jeden, mit dem er in diesem Jahr Geschäfte gemacht hat«, sagte sie. »Und das sind viele, müssen Sie wissen. Mats hatte seine Finger in ziemlich vielen, verschiedenen Projekten und war seinen Mitarbeitern und Partnern gegenüber immer gnadenlos. Von der Familie ganz zu schweigen. Da kannte er nichts.«

Pflichtbewusst tunkte Samuel ein Gebäckstück in seinen Kaffee. Man musste gehörig aufpassen, dass sich die ganzen Einladungen zum Kaffee, die man als Pfarrer bekam, nicht um die Hüfte herum bemerkbar machten. Er hoffte inständig, dass es in Klockarvik ein Fitnessstudio gab, damit er genauso weitertrainieren konnte, wie er es gewohnt war. Die Zimtschnecke war jedoch ausgesprochen lecker, und er griff gleich zur nächsten, um den schlimmsten Hunger zu stillen. Wenn er hier fertig war, wollte er sofort zu dem Imbiss, den er am Ortsausgang gesehen hatte.

»Jetzt bin ich Witwe«, stellte Katrin fest und lächelte ihn zufrieden an. »Das hat einen gewissen Status, oder, Herr Pfarrer? ›Witwe Hansson‹, das klingt schon nach was.«

Eine trauernde Witwe sind Sie jedenfalls nicht, dachte Samuel, während er ihr lauschte, aber das sprach er natürlich nicht laut aus.

»Witwe … Dann sind Sie also nicht geschieden, wie Amanda vorhin meinte?«, fragte er. »Ich finde die ganze Geschichte etwas verwirrend, um ehrlich zu sein. Wie passt denn Amanda ins Bild?«

Katrin zuckte mit den Schultern.

»Was zum Spielen für Mats. Er hat schon vor einer Weile um die Scheidung gebeten, aber ich habe nie unterschrieben. Darauf hätte er lange warten können. Und dafür gibt es auch einen verdammt guten Grund!«, sagte sie giftig.

»Möchten Sie darüber reden?«, bot Samuel an. »Sie wissen sicher, dass für mich Schweigepflicht gilt.«

Katrins Mund wurde zu einem Strich.

»Nein«, sagte sie. »Das geht niemanden etwas an.«

VIER

Donnerstag, 24.November

Knis Petter Larsson kam mit einem Pappbecher voller Kaffee für jeden in das kleine Besprechungszimmer. Das Polizeirevier war nicht gerade groß, und sie hatten eigentlich auch keinen Bedarf an einem Gemeinschaftsraum, außer im Falle eines Mordes. Und das kleine Besprechungszimmer verfügte über eine Magnettafel und war einfach der größte, unbenutzte Raum, also musste er für sie alle drei reichen. Sofern Jeanette Sundell meinte, sich einmischen zu müssen, würden sie auch noch irgendwie eine Vierte unterbringen können, aber die Vorgesetzte war offenbar klug genug, die kleine Gruppe erst einmal allein agieren zu lassen und nur Berichte von ihnen zu fordern, bevor sie sich an die Staatsanwaltschaft wandte.

»Für dich, Rantatalo«, sagte Larsson. »Ein echter Automatenkaffee ist vielleicht genau das Richtige, bevor wir die Leute abklappern, die sowieso nur alles abstreiten werden.«

»Danke, Larsson«, sagte Maja-Sofia. »Nett von dir. Ist Jarning auch am Platz?«

Martina Jarning war die andere Kriminalinspektorin im Team und eine wahre Expertin in der Informationsbeschaffung. Sei es nun aus den ihnen zugänglichen Registern oder eben auf anderem Wege, sie fand immer die interessanten Kontodaten, Telefonate oder SMS. Eben alles, was wichtig war, um Profile über das Leben und die Gewohnheiten von Opfern oder Verdächtigen anzulegen.

»Sie prüft gerade irgendwas mit Mats Hanssons Handydaten«, erklärte Larsson. »Stößt so schnell sie kann zu uns.«

Maja-Sofia schlürfte ihren Kaffee, der zwar warm war, aber eigentlich nach nichts schmeckte. Hätte sie die Wahl, gäbe es richtigen Kochkaffee, wie sie ihn bei ihren Eltern in Kuivalihavaara bekam. Aber sie war hier schließlich in Dalarna, nicht in Tornedalen, und so oder so war es eine nette Geste von Larsson. Sie hatte Glück mit ihrem Team, und dafür war sie dankbar. Wie immer, wenn sie an die Heimat dachte, überfiel sie auch das andere. Das, was wehtat. Dabei war es schon so lange her. Manchmal hatte jemand in den vielen Jahren, die seither vergangen waren, versucht, sie anzurufen, aber sie war nie ans Telefon gegangen. Sie seufzte schwer, schob die Gedanken beiseite und betrachtete das leere Blatt, das vor ihr lag. Vielmehr handelte es sich um ein fast leeres Blatt. In eine Ecke hatte sie »Samuel Williams« geschrieben und ein Fragezeichen hinter den Namen gesetzt. Der neue Pfarrer, der direkt vollen Einsatz zeigte, kaum dass er vor Ort eingetroffen war. Er hatte sich professionell verhalten und heute offensichtlich nicht seine erste Todesnachricht überbracht. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er mit dem Mord nichts zu tun, trotzdem würde sie mit ihm sprechen müssen. Er hatte den Toten schließlich gefunden, und eigentlich wusste sie nichts über ihn. Nur eins: dass er die Leiche praktisch sofort am Grabkreuz entdeckt hatte, nachdem er aus seinem Wagen gestiegen war.

»Hast du schon eine Auskunft von der Rechtsmedizin, wann Mats Hansson ungefähr gestorben ist?«, fragte Larsson.

»Ja, die kam vor einer halben Stunde«, antwortete Rantatalo. »Hier ist der Bericht. Tamara Pettersson geht davon aus, dass er noch nicht tot war, als er ans Kreuz gebunden wurde. Nur bewusstlos durch einen heftigen Schlag gegen den Kopf, er wurde ziemlich übel zugerichtet.«

»Aber?«, fragte Larsson. »Ich ahne ein Aber.«

Maja-Sofia nickte. Sie kannten sich gut, sie und ihre Kollegen.

»Aber sie glaubt, er hätte den Schlag überleben können. Der an sich war nämlich noch nicht tödlich. Hansson ist erfroren, oberkörperfrei und von Schnee bedeckt. Wahrscheinlich starb er kurz nach Mitternacht am dreiundzwanzigsten November. Tamara schätzt, dass er den Schlag irgendwann zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht abbekommen hat.«

»Nach Angaben des Wetterdienstes herrschten minus dreizehn Grad, lange wird es also nicht gedauert haben bis zum Tod«, sagte Larsson. »Höchstens eine Stunde, würde ich schätzen.«

»Nur? Bist du dir da sicher?«, fragte Maja-Sofia. »Dreizehn Grad unter null ist schon ziemlich kalt, aber nur eine Stunde?«

»Ein Unverletzter hält wahrscheinlich etwas länger durch, aber Hansson hatte ja eine schwere Kopfverletzung, das wird kein Vorteil gewesen sein.«

»Furchtbarer Tod«, sagte Maja-Sofia.

»Ist sie sich ihrer Sache sicher, diese Tamara Pettersson?«, fragte Larsson. »Krasser Name für ein russisches Landei, findest du nicht?«

»Sie ist sich absolut sicher«, antwortete Maja-Sofia. »Und da hast du recht. Ich weiß übrigens noch etwas, was gar nichts mit diesem Fall zu tun hat, einfach nur ein bisschen Klatsch aus Tornedalen. Du kommst nie darauf, wie ihr Mann heißt.«

»Abgesehen von Pettersson?«, lachte Larsson. »Nein, keine Ahnung.«

»Glenn-Bertil! Und er kommt aus Pajala, sonst könnte ich das gar nicht wissen. Von da ist es nicht weit bis in die Heimat.«

Larsson grinste und leerte seinen Kaffeebecher.

»Hört, hört«, sagte er. »Na, dann richten wir uns nach Tamaras Zeitfenster«, fuhr er fort. »Mal sehen, wessen Alibi sich damit sprengen lässt. Außerdem müssen wir die Tatwaffe finden. Dieser Schlag wurde ja mit irgendeinem Gegenstand ausgeführt.«

»Einem stumpfen Gegenstand, laut Tamaras Bericht«, sagte Maja-Sofia. »Und sie glaubt nicht, dass der Friedhof der Tatort war. Hansson wurde dorthin gebracht, schreibt sie.«

Larsson tippte mit dem Stift auf den Tisch.

»Okay. Dann müssen wir also auch noch einen Tatort finden. Ich wette zehn Kronen, dass er nicht weit vom Fundort entfernt liegt. Klockarvik ist ja nun nicht gerade eine Weltmetropole.«

Maja-Sofia schaute zum Fenster hinaus und dachte nach.

»Dieses Hotel«, sagte sie langsam, »könnte ein Ansatzpunkt sein. Finn Mats Hanssons ganzer Stolz.«

»Dann schicken wir die Kriminaltechnik doch gleich dorthin, wenn sie auf dem Friedhof fertig sind«, antwortete Larsson, »aber vielleicht sollten auch wir einmal hinfahren und uns einen ersten Eindruck verschaffen.«

Die Tür ging auf und Martina Jarning kam herein, den Laptop unterm Arm.

»Dann legen wir mal los«, sagte Maja-Sofia und stellte sich mit einem Stift bewaffnet an die Magnettafel. »Was haben wir denn bisher?«

Knis Petter Larsson und Martina Jarning redeten sofort durcheinander, beide hatten Wichtiges mitzuteilen. Maja-Sofia hielt eine Hand hoch.

»Halt, halt! Bitte nacheinander. Wollen wir erst mal rekonstruieren, was das Opfer in seiner letzten Woche getan hat, wen er getroffen hat? Larsson?«

Sie schrieb »Opfer Hansson« mitten auf die Tafel, während Larsson in seinen Aufzeichnungen blätterte.

»Ich habe alle Angaben seit Freitag vor dem Mord zusammengetragen«, sagte Larsson. »Am achtzehnten November war Premiere im Neuen Hotel. Großer Empfang mit vielen geladenen Gästen, Schampus und Schnittchen.«

»Weißt du, wer alles dort war?«

Larsson kratzte sich am Kopf.

»Noch nicht, aber da bin ich dran. Bisher kann ich dir nur eine Übersicht über die letzte Woche geben. Aber das Hotel hat eine Liste aller geladenen Gäste, insofern sollte es kein Problem sein, an die Namen zu kommen.«

Maja-Sofia nickte. »Gut. Dann mal weiter im Text.«

»Am neunzehnten November herrschte schon Normalbetrieb im Hotel, und Hansson kam gegen Mittag zur Arbeit. Die Nacht und den Morgen hat er zu Hause verbracht. Mit wem weiß ich noch nicht.«

»Vermutlich mit Amanda Snygg«, meldete sich Jarning zu Wort, »aber das werden wir sicher noch herausfinden.«

»Alles in allem war es ein ruhiger Tag und ein ruhiges Wochenende. Sonntag war er in der Kirche, dafür interessierte er sich offenbar. War auch im Kirchenrat, dort sogar Vorsitzender. Sonntagnachmittag fuhr er mit dem Drei-Uhr-Zug nach Stockholm und kam erst Montagabend zurück. Die Nacht verbrachte er in seinem Hotel, weil er tags drauf um elf Uhr ein Treffen mit Mikael Vedberg hatte.«

»Vedberg? Das ist sein Geschäftspartner, oder?«, fragte Maja-Sofia. »Jemand hat am Fundort seinen Namen erwähnt.«

»Ja. Wobei … Richtiger wäre ja, zu sagen, dass er sein Geschäftspartner war«, erklärte Larsson. »Wie genau die Besitzverhältnisse sind, wissen wir noch nicht, da müssen wir dranbleiben. Und dann kommt Dienstag, der zweiundzwanzigste November. Finn Mats Hansson scheint den ganzen Tag gearbeitet zu haben, und abends nahm er am Treffen des Kirchenrats teil.«

Maja-Sofia schrieb »Kirchenrat« an die Tafel.

»Wann genau fand dieses Treffen denn statt? Wann fing es an, wann endete es? Weißt du das?«

»Um sechs haben sie angefangen, und laut der Sekretärin müssten sie gegen acht fertig gewesen sein.«

Maja-Sofia notierte die Uhrzeiten, drehte sich dann um und schaute zum Fenster hinaus. Der Kirchenrat, offiziell gewählte Vertreter, die über die Gemeinde bestimmten. Davon konnte sie ein Liedchen singen, ihr Vater saß seit vielen Jahren im Kirchenrat Kuivalihavaaras.

»Die Kirchenratsmitglieder dürften mit die letzten gewesen sein, die Hansson lebend gesehen haben«, sagte sie. »Hast du ihre Namen?«

Larsson schaute zu Jarning.

»Dein Zuständigkeitsbereich.«

»Ja, da kann ich aushelfen«, sagte sie und übernahm den Staffelstab. »Es ist eine lange Liste. Ich hab sie dir ausgedruckt, damit du sie an die Tafel hängen kannst.«

Jarning stand auf und reichte Maja-Sofia das Blatt, die es mit einem Magneten an der Tafel befestigte. Dann las sie laut vor: »Finn Mats Hansson, das ist unser Opfer. Dann haben wir Tyra Lundin, die Hauptpastorin Ellinor Johannesson, Sigvard Nordqvist, Gunnel Claesson, Beppe Claesson, Torkel Bergmark, Vanja Södergren, Johanna Olofsdotter, Sigbritt Hedmark.«

Maja-Sofia hielt inne und betrachtete den Zettel genau.

»Außerdem habe ich schon herausgefunden, dass Tyra Lundin als Raumpflegerin für die Kirche arbeitet«, erläuterte Jarning, »Sigvard Nordqvist ist pensionierter Pfarrer, Gunnel und Beppe sind verheiratet und beide pensionierte Lehrer, Torkel Bergmark ist der größte Waldbesitzer Klockarviks und Sigbritt Hedmark ist Kassiererin.«

»Großartige Arbeit, danke«, sagte Maja-Sofia. »Wäre es vorstellbar, dass ein Kirchenratsmitglied ein Problem mit Hansson hatte?«

»Wir müssen sie auf jeden Fall alle befragen«, sagte Jarning. »Das kann ich gern übernehmen, schließlich habe ich mich schon damit befasst und habe eine Vorstellung davon, wer sie sind. Einigermaßen jedenfalls.«

»Gut!«, sagte Maja-Sofia. »Und du, Larsson, knöpfst du dir diesen Vedberg vor? Den Geschäftspartner?«

»Mach ich.«

»Nur eins noch«, sagte Jarning und hielt einen durchsichtigen Plastikbeutel hoch, in dem ein Handy steckte. »Eine Frau – ich hab ihren Namen notiert, komme gerade nur nicht darauf – hat das hier vor etwa einer Stunde abgegeben. Sie hat es vorm Hotel gefunden und hielt es für eine gute Idee, es gleich zu uns zu bringen.«

»Wem gehört es? Kannst du das schon sagen?«

»Ja, es ließ sich recht leicht entsperren, die Zahlenkombination war simpel. Das ist Finn Mats Hanssons Handy. Ich habe mir einen schnellen Überblick über Anrufe und SMS verschafft. Der Großteil der Gespräche erfolgte mit seinem Sohn Viktor, außerdem gibt es ein paar Liebesbotschaften an Amanda Snygg. Die letzte SMS hat er um 18:30Uhr am 22.November bekommen, am Abend des Mordes also.«

»Von wem?«

»Einem Gunnar Halvarsson«, sagte Jarning. »Ich schau mir das noch genauer an, sobald wir hier fertig sind.«

Larsson pfiff durch die Zähne.

»Halvarsson ist Kantor in Klockarvik«, sagte er dann. »Sie nennen ihn Halbton, wie ich von meiner Nichte weiß. Die wurde in Klockarvik konfirmiert und hat sich darüber lustig gemacht. Was zur Hölle will der denn von Finn Mats Hansson?«

»Geld«, antwortete Jarning. »Er hat ihm wohl was geliehen.«

»Okay, interessant. Wir müssen uns definitiv mit allen unterhalten, die ihm geschrieben haben. Mit Amanda habe ich ja schon gesprochen, aber die können wir noch mal einbestellen. Den Sohn müssen wir auch kontaktieren.«

»Eins noch«, sagte Jarning. »Hansson hat in den letzten Tagen sowohl von Vedberg als auch Liss Katrin Nachrichten bekommen, und ganz sicher kann ich das natürlich nicht sagen, aber der Ton ist ein wenig … Wie formuliere ich das am besten? Sie klingen sehr barsch. Freundlich jedenfalls nicht.«

»Worum geht es in den Nachrichten?«, fragte Maja-Sofia.

»Ausschließlich um Geld«, antwortete Jarning. »Und sowohl Vedberg als auch Katrin fordern Geld.«

FÜNF

Erst ein Tag war vergangen, seit Finn Mats Hansson tot auf Klockarviks Friedhof gefunden worden war. Mikael Vedberg hatte eine schreckliche Nacht hinter sich. Erst in den frühen Morgenstunden hatte er in den Schlaf gefunden, der trotzdem nichts als unruhig gewesen war. Nicht wegen Mats’ Tod, diesem gewissenlosen Kerl weinte er sicher keine Träne nach, eher wegen der vielen Probleme, die dieser Mann verursacht und nun hinterlassen hatte.

Mats hatte nur gewollt, dass er Teil des Hotelprojekts ist, weil er von seiner Kreditwürdigkeit wusste, dessen war er sich mittlerweile sicher. Mats war klar gewesen, dass Mikael eher eine hohe Kreditsumme bekäme als er, der in den letzten Jahren mit all seinen verrückten, halbverrückten und selten sogar mal vernünftigen Projekten sein Vertrauenskapitel restlos verspielt hatte. Der ewige Unternehmer, der ständig neue Herausforderungen suchte und dem völlig egal war, wem er auf seinem Weg nach oben auf die Füße trat. So war er schon als Kind gewesen. Ein taffer Typ, der einfach nur lachte, wenn er mal wieder jemanden im zu wilden Spiel verletzt hatte, und frei von der Leber weg log, wenn ihm ein kleiner Diebstahl vorgeworfen wurde. Mikael wusste das, weil er manchmal schon mitbekommen hatte, dass die Sache ganz anders gelaufen war, als Mats das erzählte.

Mats hatte sich richtig heißgeredet über das Hotelprojekt, und dann hatte er Mikael die Position als Geschäftspartner angeboten, womit er sich hatte ködern lassen. Schließlich mochte auch er die Herausforderung. Zusammen hatten sie das alte Hotel Klockarviks renoviert und geschmackvoll traditionell eingerichtet. Genau das war Mikaels Stärke, er hatte eine künstlerische Ader und sich deshalb sehr gut einbringen können. Finn Mats Hansson hatte ihm versichert, dass das Hotel eine sichere Nummer war – und darin sollte er sogar recht behalten. Es kam schon jetzt sehr gut an.

Direkt vor dem Eröffnungsbuffet am großen Tag, als sie bis aufs Feinste herausgeputzt waren, um die sorgfältig ausgewählten Gäste willkommen zu heißen, hatte Mats ihn zu sich ins Büro bestellt. Seine Miene war ernst gewesen, und sofort hatte es in Mikaels Rückgrat gekribbelt. Diese Reaktion kannte er schon aus Kindheitstagen. Mats hatte irgendwas am Laufen, soviel stand fest, und die Finn-Männer lösten ihre Probleme eigentlich immer nach demselben Prinzip.

»Es tut mir leid, Mikael«, hatte Mats gesagt und den Kopf schiefgelegt, »aber das ist dein letzter Tag im Hotel.«

»Was soll das heißen?«

»Du musst gehen, ich kann dein riesiges Gehalt nicht länger bezahlen. Die Einnahmen reichen nicht für uns beide.«

Mikael war sprachlos gewesen, obwohl er geahnt hatte, dass irgendwas kommen würde. Aber das war jenseits von allem, was er für möglich gehalten hatte.

»Ach wirklich, du kannst mich nicht länger bezahlen?«, zischte er. »Entschuldige, aber muss ich dich daran erinnern, dass ich hier eine ganze Menge Geld investiert habe? Der Kredit läuft auf meinen Namen. Du kannst nicht einfach ankommen und behaupten, dass du mich nicht länger bezahlen kannst.«

Mats hatte sein so typisches, selbstgefälliges Grinsen aufgesetzt, das Mikael nur zu gut von früher kannte.

»Doch, das kann ich«, sagte er. »Grüß mir die Bank und richte meinen herzlichen Dank aus. Aber jetzt gehen wir erst mal raus und lassen uns feiern, bester Bruder.«

Mikael hatte sich aus Mats’ Arm gewunden, den er um ihn gelegt hatte, und als sie das Foyer erreichten, hatte er tatsächlich ein Lächeln zustande gebracht, um die Gäste gebührend zu begrüßen. Aber ganz egal wie sehr er auch versuchte, dieses Affentheater aufrechtzuerhalten, vor der nackten Wahrheit gab es kein Entrinnen, und als sie endlich bei ihm eingesunken war, hatte er sich seine Jacke geschnappt und die Feier verlassen.

Mikael verdrängte die Gedanken und zog eine Jogginghose und ein T-Shirt an. Darüber jetzt weiter zu grübeln ergab auch keinen Sinn. Er packte seine Trainingstasche, ließ bewusst die Dusche aus und machte sich auf den Weg ins Fitnessstudio. Nach ein paar Runden an den Geräten würde es ihm besser gehen, das wusste er. Sport war das einzige, das die Angst in Schach hielt. Zumindest für eine Weile.

Im Fitnessstudio ging er zum Aufwärmen erst mal kurz aufs Laufband. Tyra Lundin stand ein wenig entfernt und trainierte mit Zwei-Kilo-Hanteln. Sie grüßte ihn kurz. Von ihr abgesehen war das Studio leer.

»Alles in Ordnung, Mikael?«, fragte sie nach einer Weile.

»Ja«, antwortete er und ging zu einem der Geräte, mit dem man die Rückenmuskulatur stärkte.

»Siehst aber nicht so aus«, sagte Tyra. »Entweder hast du sehr schlecht geschlafen oder durchgefeiert. Davon künden die dunklen Ringe unter deinen Augen. Tyra entgeht nichts, schon klar, oder?«

Mikael ging ans nächste Gerät, eine Beinpresse. Auch Tyra machte unbeirrt weiter. Sie war ganz schön rüstig für ihr Alter, fand er. Er würde sie auf über siebzig schätzen.

»Schlecht geschlafen«, gab er schließlich zu. Aber er wollte nicht näher darauf eingehen, deshalb fügte er hinzu: »Nicht weiter dramatisch.«

Sie lächelte. Im gleichen Moment fing sein Handy an zu klingeln. Mikael überlegte kurz, bevor er dann doch das Trainingsgerät verließ.

»Hallo?«

»Mikael Vedberg?«, fragte die Stimme im Hörer.

»Ja, mit wem spreche ich?«

»Stefan Bergman von der Bank. Es tut mir sehr leid, dass ich Sie jetzt schon kontaktieren muss, so kurz nach dem Tod Ihres Geschäftspartners und Freundes.«

»Ja?«

Stefan Bergman räusperte sich, wohl schien ihm nicht zu sein.

»Also, wir müssten einen Termin mit Ihnen vereinbaren«, sagte er. Seine Stimme klang bedauernd.

»Ach, ja? Worum geht es denn?«

Sofort wurde ihm kalt. Als hätte jemand Eiswasser über ihm ausgekippt. Genau diesen Anruf hatte er schon länger befürchtet, aber trotz allem gehofft, dass Mats weiter den Kredit bediente, wie er es versprochen hatte. Jetzt deutete alles daraufhin, dass dem nicht so gewesen war.