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Samuel Williams braucht eine Auszeit. Nicht nur erwartet seine Lebenspartnerin Marit ein Kind von ihm – seit Weihnachten will ihm auch die Kriminalkommissarin Maja-Sofia Rantatalo nicht aus dem Kopf gehen. Auf Anraten seines Mentors zieht sich der Pfarrer für ein paar Tage in ein verschneites Schweigekloster zurück, um über seine Zukunft nachzudenken. Doch die Ruhe wird jäh gestört, als Maja-Sofia ihm einen unverhofften Besuch abstattet: Eine alte Frau wurde ermordet, und die Spuren führen direkt zu der Klostergemeinschaft. Es dauert nicht lange, bis Samuel Williams’ Neugier wieder mal die Oberhand gewinnt und er eigene Untersuchungen anstellt. Wofür züchtet Schwester Maine Giftpflanzen im klostereigenen Garten? Woher holt sich Schwester Petra die Inspiration für ihre unter Pseudonym verfassten Kriminalromane? Und was hat es mit Schwester Maudes mysteriösen Heiligenbildern auf sich?
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Samuel Williams braucht eine Auszeit. Nicht nur erwartet seine Lebenspartnerin Marit ein Kind von ihm – seit Weihnachten will ihm auch die Kriminalkommissarin Maja-Sofia Rantatalo nicht aus dem Kopf gehen.
Auf Anraten seines Mentors zieht sich der Pfarrer für ein paar Tage in ein verschneites Schweigekloster zurück, um über seine Zukunft nachzudenken. Doch die Ruhe wird jäh gestört, als Maja-Sofia ihm einen unverhofften Besuch abstattet: Eine alte Frau wurde ermordet, und die Spuren führen direkt zu der Klostergemeinschaft. Es dauert nicht lange, bis Samuel Williams’ Neugier wieder mal die Oberhand gewinnt und er eigene Untersuchungen anstellt: Wofür züchtet Schwester Maine Giftpflanzen im klostereigenen Garten? Woher holt sich Schwester Petra die Inspiration für ihre unter Pseudonym verfassten Kriminalromane? Und was hat es mit Schwester Maudes mysteriösen Heiligenbildern auf sich?
© Eva Lindblad
Marianne Cedervall wurde 1949 als Tochter eines Pfarrers im südschwedischen Gotland geboren und arbeitete u. a. als Lehrerin. Ihr Roman ›Schwedische Familienbande‹ (2021) ist der Auftakt der Krimireihe um den ermittelnden Pfarrer Samuel Williams, ›Schwedische Schwestern‹ ist der zweite Fall für den neugierigen Geistlichen.
Ulrike Brauns wuchs in der Nähe von Köln auf und studierte Germanistik, Skandinavistik und English Literature in Bonn, Stockholm und Melbourne. Seit 2004 ist sie freiberufliche Übersetzerin und Untertitlerin.
Marianne Cedervall
SCHWEDISCHE SCHWESTERN
Ein Fall für Pfarrer Samuel Williams
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen von Ulrike Brauns
Von Marianne Cedervall ist bei DuMont außerdem erschienen:Schwedische Familienbande
Die schwedische Originalausgabe erschien 2021
unter dem Titel ›Fri från skulden‹ bei Lind&Co, Stockholm.
© Marianne Cedervall 2021
by Agreement with Grand Agency.
eBook 2022
© 2022 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Ulrike Brauns
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln Umschlagabbildungen: Dorf © Ingemar Magnusson /Alamy Stock Photo; Nonne mit Schlitten © Elena Naumann
Satz: Angelika Kudella, Köln Gesetzt aus der Franziska Pro
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN eBook 978-3-8321-8254-0
www.dumont-buchverlag.de
Maj-Britt Lavedahl gewidmet, mein unübertroffenes »drittes Elternteil«, die die besondere Fähigkeit besaß, stets zu wissen, wann sie am dringendsten gebraucht wurde. Ein strahlendes Kompliment für Mama und Papa.
Und was einst meine Ehreund mein Stolz war, wurde Scham,aber was ich tragen sollte,trugst du selbst, Gottes Lamm.Jetzt hast du alles mir vergeben.Ich gehe ohne Pein,und es kehrt zurück das Leben.Mit dir kann ich sein.
DAS SCHWEDISCHE GESANGBUCH,LIED 454, VERS 2
DIE BETEILIGTEN
KIRCHENLEUTE
SAMUEL WILLIAMS, Pfarrer
ELLINOR JOHANNESSON, Hauptpastorin
TINDRA KLAR, Konfirmandin
SIGVARD NORDQVIST, pensionierter Pfarrer
CILLAN SVENSSON, Diakonin
TYRA LUNDIN, Mädchen für alles
MARIT KYRKLUND, Samuels Verlobte
POLIZEIPERSONAL
MAJA-SOFIA RANTATALO, Kriminalkommissarin
MARTINA JARNING, Kriminalinspektorin
KNIS PETTER LARSSON, Kriminalinspektor
BEATA LÖFBLAD, neue Polizeiintendantin
TAMARA PETTERSSON, Rechtsmedizinerin
LUTHERS TÖCHTER
MUTTER VERONICA, Vorsteherin
SCHWESTER MAINE, Gartenbeauftragte
SCHWESTER BIRGITTA, kümmert sich ums Kochen und Backen
SCHWESTER MAUD, Heiligenzeichnerin
SCHWESTER PETRA, schreibt christliche Kinderbücher (und heimlich auch Krimis)
ANWÄRTERIN CHARLOTTE, hilft, wo sie kann
HELGE FREDENGREN, Klostergast, Pflanzenexperte
VATER JOHANNES, Hauspfarrer
WEITERE WICHTIGE PERSONEN
AGNES BUSK, pensionierte Lebensgenießerin
CHRISTIN LINDÉN, Agnes’ Gesellschafterin
SMID KARIN KARLSDOTTER, hilfsbereite Freundin
JOHAN TYSK UND INGEMAR TYSK (GENANNT BRYSK), Cousins und selbst ernannte »Dorfkenner«
DANNE YLITALO, Maja-Sofia Rantatalos Ex-Freund
Prolog
Donnerstag, 27. Februar, Wasastaffel
Siebzehn Kilometer geschafft. Die Skier glitten gleichmäßig und ruhig über den Schnee. Stück für Stück kämpfte Samuel sich vor. Besonders schnell kam er nicht voran, viel Kraft hatte er nicht mehr in den Armen, aber bergab lief es immer noch bestens. Hartnäckiger Schneefall mischte sich mit peitschendem Wind, und ihm liefen Tränen und Rotz übers Gesicht. Hart war es, schließlich war er solche Wettkämpfe nicht gewohnt, aber das Wintertraining zahlte sich auf jeden Fall aus.
Während des Laufs dachte er nicht ein einziges Mal an seine privaten Probleme, und das war gut. Seine ganze Energie floss in den Wettkampf. Hier zählte nur eins: sein Etappenziel der Wasastaffel zu erreichen und alles für das Team der Gemeinde Klockarvik zu geben. Nur noch ein Kilometer bis Hökberg, wo er den Staffelstab an die Hauptpastorin Ellinor Johannesson weiterreichen würde, deren Ziel Mora war. Samuel selbst wollte nach Hause fahren, duschen, die Klamotten wechseln und sich das ein oder andere Bier zur Belohnung gönnen. Dann wollte er sich an den allwissenden Boss wenden, von dem er sich Antworten auf die großen Fragen des Lebens erhoffte. Der Kontakt zwischen Samuel Williams und Gott war in letzter Zeit eher sparsam ausgefallen. Es würde alles andere als schaden, daran baldmöglichst etwas zu ändern.
Er hob den Blick vom Boden vor sich und richtete ihn auf die roten Häuschen an der Kuppe des Hügels. Die Loipe war mit farbenfrohen Werbebannern abgesteckt, und oben aus den Lautsprechern drangen für ihn noch unverständliche Worte. Dort musste er hin, nur noch dieses letzte Stück lag vor ihm. Tindra, seine noch so jugendliche Freundin und Langlauflehrerin, hatte ihn vor dieser Steigung gewarnt. »Lass dich nicht täuschen, die sieht nicht nach viel aus, aber du wirst ordentlich kämpfen müssen. Bloß nicht aufgeben.«
Je näher er dem Etappenziel kam, desto mehr Zuschauer säumten die Strecke.
»Da ist ja der Pfarrerdetektiv!«, rief eine ihm unbekannte Männerstimme. »Los, los, weiter!«
Er schielte in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war, und brachte gerade so ein Lächeln zustande, bevor er den Fuß des Hügels erreichte. Von hier an ging es nur noch hinauf, hinauf. Nur noch diese Steigung! Wenn seine beiden Kinder ihn jetzt sehen könnten. Alva und Gabriel hatten verwundert, ja fast misstrauisch reagiert, als er ihnen von seiner Teilnahme an diesem Lauf erzählt hatte. Er würde sie gleich nach dem Zieleinlauf per Video anrufen und ihnen zeigen, dass ihr Vater es tatsächlich geschafft hatte.
Noch etwa hundert Meter. Das Laktat meldete sich in seinen Muskeln, und die Oberschenkel wurden schwach. Achtzehn Kilometer gingen nicht spurlos an einem Amateur vorbei. Aber aufgeben? Niemals! Seine Loyalität den anderen Staffelmitgliedern gegenüber hätte das nicht zugelassen.
»Auf geht’s, Sam!«, drang eine Mädchenstimme aus der Menschenmenge. »Los, du schaffst das!«
Das war Tindra! Sie hatte den ganzen Winter über mit ihm trainiert, um ihm das Langlaufen beizubringen. Die so optimistische, fleißige Tindra! Jetzt durfte ihm bloß nicht die Puste ausgehen, das wäre ja fast ein Verrat an ihr und der ganzen Mühe und Zeit, die sie ihm gewidmet hatte. Dass diese Jugendliche seine unbeholfenen Versuche und bescheidenen Fähigkeiten ertragen hatte, obwohl sie selbst eine vielversprechende Langläuferin war und bei ganz anderen Wettkämpfen mitmischte, war wirklich bemerkenswert.
Er wedelte leicht mit dem Skistock in ihre Richtung und versuchte sich an einem Lächeln, aber es endete eher in einer Grimasse. Das Atmen fiel ihm schwer. Doch er musste noch die allerletzten paar Meter bewältigen. Tindra rannte neben ihm her und feuerte ihn an.
»Komm schon Sammy Williams, mit allerletzter Kraft, bald hast du’s geschafft. Los, los, los.«
Er holte noch mal alles aus sich heraus, gleich würde er die Kuppe und das langersehnte Ziel erreichen. Es wurde gejubelt und applaudiert! Trotz aller Anstrengung machte es auch ziemlichen Spaß. Nur noch wenige Meter. Ellinor erwartete ihn schon, um den Staffelstab für ihr kleines, feines Klockarvik-Team zu übernehmen.
Samuel klopfte ihr gegen den Rücken und sackte zu Boden. Er konnte ihr nicht mal nachsehen, um sicherzustellen, dass sie einen guten Start hingelegt hatte. Sein Brustkorb hob und senkte sich in rasender Geschwindigkeit. Er spürte nicht, wie kalt der Boden war, auch die fallenden Schneeflocken kümmerten ihn nicht. Sollten sie ihn doch hier liegen lassen, noch mit den Skiern an den Füßen, er würde sofort einschlafen und nie wieder achtzehn Kilometer beim Wasalauf hinter sich bringen.
Aber jemand war anderer Meinung. Freundliche Arme halfen ihm auf.
»Trinken Sie das.«
Ein Becher mit warmer Blaubeersuppe wurde ihm gereicht, und als er aufschaute, sah er in die freundlichen Augen Tyra Lundins. Tyra war praktisch der gute Geist der Gemeinde Klockarvik, darüber hinaus auch die Küsterin und Samuels Vermieterin. Gierig trank er den Becher leer.
»Und da haben Sie gleich noch einen«, sagte sie und hielt ihm einen weiteren Becher hin.
Auch diesen trank er in Rekordzeit aus, während sie ihm eine warme Jacke umhängte. Tindra kam herbeigelaufen.
»Gut gemacht, Sam. Richtig gut!«
»Danke«, keuchte er. »Das hab ich nur dir zu verdanken, weil du so hartnäckig drangeblieben bist. Eigentlich ist das dein Verdienst.«
»Papperlapapp. Das hast ganz allein du geschafft. Nächstes Jahr übernimmst du eine längere Strecke.«
Da konnte Samuel nur stöhnen. Undenkbar, jemals wieder dem Skilanglauf zu frönen, geschweige denn über eine längere Strecke als achtzehn Kilometer.
Tyras Mann Sven-Erik kam ebenfalls herbei und klopfte Samuel auf die Schulter. Dann nahm er Tyra beiseite und sagte etwas, das Samuel nicht verstehen konnte. Sie wechselten ernste Blicke. War etwas passiert? Tyra wandte sich an Samuel.
»Sie müssen sich so schnell wie möglich umziehen«, sagte sie. »Es sind zwei Frauen gefunden worden.«
»Gefunden? Was soll das heißen? Sind sie tot?«
»Eine ist tot, um die andere steht es schlecht.«
Da wurde auch er ernst. All die Unbeschwertheit, die er auf den achtzehn Kilometern hatte erleben dürfen, war wie weggeblasen. Das Leben eines Pfarrers pendelte immer zwischen den hellen, freudigen und den dunklen, schweren Stunden. Sie alle gehörten zum Leben dazu.
»Aber wie kann ich helfen?«, fragte Samuel. »Eine Tote und eine Verletzte, das klingt eher wie ein Fall für die Polizei und den Krankenwagen, nicht für einen Pfarrer.«
Tyra legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm.
»Im selben Haus sitzt noch eine weitere Frau, die völlig aufgelöst ist«, sagte sie. »Deshalb werden Sie gebraucht. Ellinor bringt die Staffel in Mora ins Ziel. Sven-Erik hat ihr absichtlich nichts gesagt, sie und die anderen müssen sich auf den Wettkampf konzentrieren.«
»Wer hat uns denn verständigt?«, fragte Samuel und merkte, wie sich sein Magen zusammenzog.
»Die eine da«, antwortete Sven-Erik. »Rantatalo heißt sie. Mein Wagen steht da drüben. Schnallen Sie sich die Dinger da von den Füßen, dann können wir los.«
Selbstverständlich hatte sie sich gemeldet. Klockarvik fiel in den Zuständigkeitsbereich von Kriminalkommissarin Maja-Sofia Rantatalo. Samuel wollte ihr wirklich nicht begegnen, aber offenbar hatte er keine andere Wahl.
EINS
Mittwoch, 5. März Aschermittwoch
Eine Woche war seit Samuels Meisterleistung vergangen, dem erfolgreichen Bewältigen seiner Strecke von achtzehn Kilometern beim Wasalauf. Seither hatte er alle Hände voll zu tun und nicht viel Gelegenheit zum Nachdenken gehabt. Und jetzt war schon Aschermittwoch, der die vierzigtägige Fastenzeit einläutete, die erst am Ostersonntag wieder endete. Eine Zeit der Einkehr und des Hinterfragens.
Samuel stand vorm Altar der Kirche Klockarviks, bereit, alle willkommen zu heißen, die ein Aschekreuz auf der Stirn wünschten und am Abendmahl teilnehmen wollten. Ein Kreuz, das für mehr Klarheit im Leben sorgen und zur Besinnung anregen sollte. Eine lange Schlange hatte sich vor ihm im Mittelgang gebildet. Stille lastete auf dem Kirchenraum, da keine Musik gespielt wurde. Die Stimmung war aufgeladen. Samuel schielte zu Ellinor. Sie stand mit den Oblaten bereit, neben ihr die diensthabende Küsterin mit dem Kelch. Alle hatten sie ihre eigenen Aufträge, hoffentlich würde alles ohne Zwischenfälle ablaufen. Auch Samuel musste dringend in sich gehen, mehr Klarheit über sein Leben gewinnen und sich besinnen, wie er weiter vorgehen wollte. Die große Frage war, wie er jemals wieder Ordnung in das Chaos bringen sollte, das er sich selbst zuzuschreiben hatte.
Er malte ein Kreuz auf Tindras Stirn, die Erste in der Schlange. Ihre Blicke trafen sich, sie schaute sehr ernst. Was für ein tolles Mädchen, sie würde das Leben mit links meistern, davon war er überzeugt.
»Gott segne dich«, sagte er und wandte sich an die Nächste.
Ein Kreuz nach dem anderen strich er mit dem Zeigefinger auf die Stirn derer, die es wünschten. Manche ließen ihn aus und nahmen nur das Abendmahl zu sich. Die meisten kannte er, aber auch ein paar neue Gesichter waren dabei, wie zum Beispiel ein Mann in einem schwarzen Jackett, unter dem ein älteres Modell eines Pfarrerhemds zu sehen war.
»Der Herr sei mit dir«, sagte Samuel zu dem fremden Pfarrer und erfüllte seine Pflicht.
Der Mann hatte die Hände demütig gefaltet, und Samuel fiel sofort der Ring auf, den er an einem seiner Finger trug. Er war ungewöhnlich geformt, hatte ein Rautenmuster, ein Feld in der Mitte war türkis. So etwas hatte Samuel noch nie gesehen. Dieser Pfarrer war sicher ein guter Mensch, gänzlich frei von Schuld, ganz im Gegensatz zu ihm. Einem Sünder, der nicht mal bei Sinnen gewesen war, Verantwortung zu übernehmen, als seine Verlobte Marit ihm an Weihnachten erzählte, dass sie ein Kind erwartete, Samuels Kind, während er selbst mit dem Gedanken kämpfte, sich in eine ganz andere Richtung zu orientieren, in die eines anderen Menschen.
Ein wohlbekanntes Gesicht, das Samuel jedoch lange nicht gesehen hatte, nahm gerade das Abendmahl entgegen und tauchte dann vor ihm auf. Sigvard, sein alter Kollege und Mentor, schüttelte leicht den Kopf. Er hatte sich von dem Herzinfarkt erholt, den er kurz vor Weihnachten erlitten hatte. Ein Pfarrer vom alten Schlag, der alles so wollte, wie er es aus seiner Jugend gewohnt war, weshalb er das mit dem Aschekreuz als unnötig erachtete. Sigvard legte Samuel eine Hand auf die Schulter und bedachte ihn mit einem langen, besorgten Blick, ehe er sich abwandte und zu seinem Platz in einer der Kirchenbänke zurückkehrte.
Samuels Gedanken wanderten hin und her, während er seiner heiligen Pflicht nachkam. Hatte er überhaupt noch das Recht, hier zu stehen und Gott zu vertreten, wenn er doch selbst der vielleicht größte Sünder war? Das war möglicherweise etwas, womit er sich an seinen Mentor wenden sollte. Als Samuel vor ein paar Monaten nach Klockarvik gekommen war, hatte der alte Pfarrer ihn mit der Gemeinde vertraut gemacht. Das, was Sigvard nicht über die Dorfbewohner wusste, musste man gar nicht erst wissen. Er war zuverlässig, und man konnte ihm vertrauen, das hatte er bereits bewiesen. Samuel sollte ihn besuchen, ihm seine hoffnungslose Situation schildern und ihn um Rat bitten.
Die Schlange der Wartenden wurde immer kürzer, und am Ende stand nur noch sie da. Maja-Sofia Rantatalo, die Frau, die er weder treffen sollte noch treffen dürfte. Sie hatten sich zuletzt gesehen, nachdem Samuel nach seinem Zieleinlauf bei der Wasastaffel zu dem Hof mit den drei Frauen gerufen worden war. Dort hatten sie nur ein paar wenige Worte gewechselt, rein beruflich. Danach hatte Samuel sich ganz auf die verzweifelte Frau konzentriert und Maja-Sofia auf ihre Polizeiarbeit. Wieso war sie ausgerechnet heute Abend hergekommen? Er hatte sie noch nie bei einem der Gottesdienste unter der Woche gesehen. Sie kam langsam näher, ohne ihn anzusehen. Dann blieb sie stehen und schaute ihm direkt in die Augen. Er konnte geradeso ihre schönen Augen unter dem dunklen Pony erahnen, da wandte sie sich schon abrupt ab. Mit schnellen Schritten entfernte sie sich durch den Mittelgang und durch die Kirchentür. Das Geräusch der hinter ihr zufallenden Tür hallte in der Kirche nach und brachte Samuel vollkommen aus dem Konzept.
Ellinor musste ihn leicht am Arm berühren, um ihn daran zu erinnern, dass nun sie selbst an der Reihe waren, den Leib Christi und das Aschekreuz entgegenzunehmen. Seine Hände zitterten, als er erst Ellinor und dann der Küsterin das Kreuz auf die Stirn malte. Während Ellinors Finger das Kreuz auf seine Stirn aufbrachte, war er sich sicher. Das war der Wendepunkt. Er musste sich sofort seiner Probleme annehmen. Wenn er seine privaten Probleme während der vierzig Tage währenden Fastenzeit nicht löste, konnte er genauso gut seinen Kollar abgeben und sich einen neuen Job suchen. Als Musiker vielleicht, er war kein schlechter Gitarrist und hatte eine gute Stimme. Aber vorher sollte er sich darüber klar werden, was er überhaupt wollte.
Ellinor räusperte sich und schaute die Gemeindemitglieder an.
»Nun haben wir den Herrn Jesus Christus empfangen«, sagte sie. »Er beschützt uns im ewigen Leben. Amen.«
Samuel war mit seinen Gedanken ganz woanders. Maja-Sofia hatte ihn aus der Fassung gebracht. Marit erwartete ein Kind von ihm, dabei war er hoffnungslos in eine Polizistin verknallt, der er nicht mal in die Augen zu schauen wagte. Seit Weihnachten hatte er wie manisch für den Staffellauf trainiert und war so vor dem Problem geflohen. Zu Mittsommer sollte er erneut Vater werden, was er, wenn er ganz ehrlich war, gar nicht wollte. Wann hatte er zuletzt mit Marit gesprochen?
»Der Friede sei mit euch«, sagte Ellinor und beschloss damit den Gottesdienst.
Friede? Würde Samuel doch nur im Entferntesten so etwas wie Frieden verspüren. Sigvard war seine letzte Hoffnung. Er beschloss, ihm gleich am nächsten Tag einen Besuch abzustatten.
ZWEI
Die Kirchentür schlug viel zu laut hinter ihr zu. Maja-Sofia musste sich eingestehen, dass es unnötig gewesen war, so schnell das Weite zu suchen. Feige war es noch dazu. Superfeige. Nicht mal an den Fastenritualen teilzunehmen oder die Chance zu nutzen, im Anschluss mit Samuel zu sprechen. Er hätte ihr zugehört, da war sie sicher. Wenn sie erzählt hätte, was ihr auf dem Herzen lag, wäre er in seine Rolle als professioneller Seelsorger geschlüpft. Das hätte sie heute Abend dringend gebraucht, aber sie war zu feige gewesen. Weil da etwas in seinem Blick gelegen hatte, als sie sich ansahen. Es wirkte fast so, als hätte er Angst.
Maja-Sofia verließ den Kirchhof und stieg in ihren Wagen, den sie vor der niedrigen Mauer abgestellt hatte. Einen Moment lang blieb sie einfach sitzen, ohne den Motor zu starten, und starrte durch die Windschutzscheibe. Die Sonne war vor einer Stunde untergegangen, hatte aber einen hellen Abendhimmel zurückgelassen, der vom nahenden Frühling kündete. Eine leise Hoffnung nach diesem harten Winter. Wieso war alles mit einem Mal so kompliziert? Sie war doch taff und absolut fähig, für sich selbst zu sorgen. Sie war Kriminalkommissarin Rantatalo, die schwere Verbrechen aufklären, sehr gut schießen und sich um verzweifelte Menschen kümmern konnte. Außerdem war sie stark wie eine Bärin. Dazu eine kundige Polizistin. Derzeit war sie sogar die stellvertretende Polizeichefin, bis die Stelle neu besetzt werden würde. Aber heute Abend fühlte sie sich elend und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Und woher sollte sie den Mut nehmen, ganz allein in ihr gemietetes ehemaliges Missionshaus zu fahren?
In der charmanten Behausung hatte sie sich sonst immer wohl und sicher gefühlt, aber seit dem Nachmittag war die Ruhe gestört. Alles wegen ihrem Ex-Freund Danne Ylitalo. Viel hatte er dafür nicht mal tun müssen. Es hatte gereicht, dass eine Telefonnummer auf ihrem Display auftauchte. Normalerweise nahm Maja-Sofia keine Anrufe unbekannter Nummern an, diesmal hatte sie bloß nicht nachgedacht und war einfach drangegangen. Sie hatte mit ihrer Kollegin Martina Jarning und ihrem Kollegen Knis Petter Larsson den Tod der Frau von vergangener Woche durchdiskutiert und alle Informationen gebündelt, die sie seither gesammelt hatten. Der Arzt aus Klockarvik hatte sich an die Polizei gewandt, weil er an einer natürlichen Todesursache zweifelte.
»Sie könnte etwas Ungesundes zu sich genommen haben«, hatte er gesagt. »Die Symptome deuten darauf hin, aber ganz sicher bin ich mir nicht.«
Maja-Sofia und Kollege Larsson waren nach Klockarvik gefahren, hatten sich mit dem Arzt unterhalten und dann die Rechtsmedizinerin Tamara Petterson zurate gezogen. Petterson wollte sicherheitshalber einen Blick auf die Leiche werfen, besonders wegen der Befürchtung des Arztes, damit sie ausschließen konnte, dass jemand die Frau umgebracht hatte. Die Tote, Agnes Busk, wies keine sichtbaren äußeren Verletzungen auf, aber Menschen ließen sich ja auch auf andere Arten des Lebens berauben. Mit Methoden, die man ihnen nicht ansah, einer erfahrenen Rechtsmedizinerin aber nicht entgingen.
Sie hatten also zusammengesessen und verschiedene Theorien durchgespielt, und dann hatte Maja-Sofias Telefon geklingelt und sie war ohne nachzudenken drangegangen. Sie hatte ihn sofort erkannt. Er hatte tief eingeatmet und dann triumphierend gelacht.
»Hier ist dein Lieblingsmann«, hatte er gesagt.
Maja-Sofia hatte ihn sofort weggedrückt.
Jarning und Larsson hatten sie fragend angeschaut, als sie das Handy auf den Tisch gelegt hatte. Maja-Sofias Hände zitterten, und in ihrem Magen schmerzte es unangenehm. Danne Ylitalo würde nie lockerlassen, und er war zu allem fähig. Seine Rache würde kein Ende kennen, sofern er nicht auf wundersame Weise zu Tode käme. Danne war zwar ehemaliger Polizist, aber gewaltig falsch abgebogen und hatte durch seine Zeit im Gefängnis vermutlich eine Menge dubioser Kontakte geknüpft. Manchmal brachten sich die schlimmen Finger ja gegenseitig um, wovon sie bisweilen träumte, wenn sie über Danne nachdachte. Selbstverständlich war das grausam, aber ändern konnte sie daran trotzdem nichts.
In der Mittagspause war sie schnell nach Färnäs gefahren, um sich ein neues Handy inklusive neuem Vertrag zu besorgen. Damit hätte sie eine Weile Ruhe, wenn auch nicht lang. Danne würde sie so oder so wiederfinden.
Maja-Sofia schob den Gedanken beiseite, startete den Wagen und ließ ihn langsam vom Parkplatz rollen. Im gleichen Augenblick trat Samuel durch das Tor und kam direkt an ihrem Auto vorbei. Sie bremste und ließ das Fenster hinunter.
»Samuel«, sagte sie leise.
Er blieb stehen. Sein Schal flatterte im Wind, sein Mantel war nicht zugeknöpft. Sein widerspenstiger Pony hing ihm wie immer in die Stirn.
»Maja-Sofia«, sagte er und beugte sich zu ihr hinunter. »Eigentlich geht es mich ja nichts an«, sagte er, »aber Sie sind so schnell gegangen. Darf ich fragen, warum?«
Sie dachte kurz nach. Sollte sie ihn wirklich noch einmal mit ihren Sorgen belasten? An Weihnachten war er ein guter Zuhörer gewesen, als Danne aus dem Gefängnis entlassen worden war und sie lähmende Angst gehabt hatte, er könne jederzeit in Klockarvik auftauchen. Seither hatten sie kaum ein Wort miteinander gewechselt, wenn man von den paar wenigen vergangene Woche absah, und die waren ja absolut geschäftlich gewesen. Sollte sie erwähnen, dass Danne angerufen hatte? Dass sie so große Angst hatte, dass sie zitterte, obwohl sie wusste, dass sie ihm durchaus gewachsen war, zumindest körperlich? Sobald er jedoch mit seinen Psychospielchen anfing, würde sie keine Chance haben. Die ganze Angst des schon so viele Jahre zurückliegenden Weihnachtsfests stieg wieder in ihr auf. Als Danne seine Eltern vor den Augen seiner beiden kleinen Geschwister erschossen hatte, und die ganze Tragödie ihren Lauf nahm. Die Trauer war immer noch direkt unter der Oberfläche. Tags darauf hatte Maja-Sofia eine Fehlgeburt erlitten.
»Samuel, ich …«, setzte sie an.
»Ja?«
Nein, das war einfach nicht richtig, sie sollte ihn nicht wieder mit ihren Sorgen belasten. Nicht hier auf dem Parkplatz vor Klockarviks Kirche. Ein andermal vielleicht.
»Wie geht es der Frau, die Sie betreut haben?«, fragte sie, statt ihre eigenen Probleme anzusprechen. »Waren Sie seit dem Einsatz noch einmal bei ihr?«
»Smid Karin Karlsdotter, ja. Sie ist noch immer sehr mitgenommen von den Geschehnissen«, sagte Samuel, »auch wenn der gröbste Schock vorbei ist. Die beste Freundin tot, die andere schwer krank. Gibt schon wesentlich weniger schlimme Dinge, die einem das Lachen verderben können.«
Maja-Sofia nickte. Sofort war sie ruhiger. Über die Arbeit zu sprechen gab ihr ein Gefühl von Sicherheit.
»War es denn ein natürlicher Tod?«, fragte Samuel. »Kann man das schon sagen? Karin fragt sich das, und das kann man ja nachvollziehen.«
Maja-Sofia zögerte. Wie viel konnte sie verraten, ohne die Ermittlungen zu gefährden? Die Schweigepflicht galt für sie beide, für ihn sogar ein bisschen mehr als für sie, da er nicht mal vor Gericht davon entbunden werden konnte, wenn sich jemand im Vertrauen an ihn gewandt hatte.
»Tamara Pettersson, unsere Rechtsmedizinerin, arbeitet daran«, sagte sie. »Noch wissen wir nichts mit Sicherheit, aber lange werden wir nicht mehr warten müssen.«
»Um was könnte es sich denn handeln? Es gab ja keine …«
»… Anzeichen äußerer Gewalt, nein«, vervollständigte Maja-Sofia. »Wir werden uns noch einmal mit Smid Karin Karlsdotter unterhalten müssen, ich habe ja nur sehr kurz nach unserer Ankunft mit ihr gesprochen. Gleichzeitig führen wir eine Nachbarschaftsbefragung durch und bitten um Hinweise aus der Bevölkerung. Wir machen erst mal weiter, obwohl es nicht leicht ist, Antworten zu finden.«
»Aber Sie gehen doch nicht etwa von Mord aus?«
Maja-Sofia schaltete in den ersten Gang, ohne auf seine Frage zu antworten. Stattdessen lächelte sie ihn leicht an.
»Stramme Leistung beim Wasalauf«, sagte sie und schloss das Fenster.
DREI
Donnerstag, 6. März
Am nächsten Morgen auf dem Weg zu Sigvard konnte Samuel nicht anders, als an Maja-Sofia zu denken. Das Treffen am Vortag hatte Gefühle in ihm entfacht, die er absolut nicht zulassen durfte. Er musste wirklich dringend mit dem alten Pfarrer darüber sprechen, auch wenn es schwer und das Thema äußerst privat war.
Samuel parkte bei der Brücke und folgte dem Uferweg des Klockarflusses. Sigvard, der alte Fuchs, hatte sich wirklich mitten in die Wildnis zurückgezogen, nachdem er sein etwas zentraler gelegenes Haus seinem Sohn Markus vermacht hatte. Hier war es überwältigend schön, aber sehr abgelegen, zumindest zur Winterzeit. Aber das machte Sigvard nichts aus, das wusste Samuel. Kaum war der Herzinfarkt überstanden, war er schon wieder eifrig unterwegs gewesen. Ski und Schlittschuh im Winter, und im Sommer griff er sicher wieder zum Fahrrad. Außerdem hatte er sicher noch ein Boot, mit dem er zum Einkaufen in den Ort fahren konnte.
Während Samuel den Blick auf den Boden gerichtet hielt, um nicht über Wurzeln oder Steine zu stolpern, ging er gedanklich noch einmal den Hausbesuch der vergangenen Woche durch. Der Staffellauf hatte ihn erschöpft, trotzdem hatte er sofort auf tröstenden Pfarrer umschalten können. Nicht dass er eine Wahl gehabt hätte, so war das eben, wenn ein Gemeindemitglied Hilfe und Trost brauchte.
Als er das Haus betrat, hatte er Agnes Busk tot in einem bequemen Lehnstuhl angetroffen. Maja-Sofia Rantatalo und ihr Kollege Knis Petter Larsson hatten sich schon einen ersten Überblick verschafft. Augen und Mund der Frau standen offen, der Kopf war zur Seite gefallen. Kein schöner Anblick, aber nicht die erste Leiche, die Samuel zu Gesicht bekommen hatte. Der Tod war immer gegenwärtig, wenn man als Pfarrer arbeitete.
Im angrenzenden Zimmer war eine weitere Frau, Christin Lindén, die sich als »Gesellschafterin« der Toten vorgestellt hatte.
»Die gibt’s noch? Klingt so altmodisch«, hatte Maja-Sofia gesagt, und Samuel hatte nur zustimmen können.
Christin hatte aufrecht in ihrem Bett gesessen, eine rot getigerte Katze ruhte auf ihrem Schoß. Die Frau hatte kraftlos gewirkt, geradezu krank, doch als Maja-Sofia ihr einen Besuch in der Notaufnahme vorschlug, hatte sie abgelehnt. Sie hatte keinen Arzt behelligen, nicht mal mit dem Arzt sprechen wollen, der hergekommen war, um den Tod festzustellen, sondern sich in ihr Zimmer zurückgezogen.
Maja-Sofia und ihr Kollege Larsson waren irgendwann aufgebrochen, und so war Samuel allein am Küchentisch mit der so untröstlichen Smid Karin Karlsdotter zurückgeblieben. Karin schien eine rüstige Rentnerin zu sein und berichtete ihm, dass sie den Freundinnen beim Einkaufen, Putzen und Spülen zur Hand gegangen war. Karin hatte Agnes gefunden. Was sie selbstverständlich schockiert und verwirrt hatte, alles andere wäre ja sonderbar gewesen, und Samuel hatte sich größte Mühe geben müssen, Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen. So hatten sie also zusammengesessen und sich unterhalten, und da war sein Blick auf einen Wandkalender hinter ihr gefallen. Das Bild des Monats war mit »Luthers Töchter« überschrieben und zeigte eine Frau mit blau-weißer Haube, die an einem Tisch saß und ein Heiligenbild malte. Ihr Gemälde stellte Maria dar, Jesu Mutter. Samuel war aufgestanden, hatte im Kalender geblättert und Einblick in ein buntes Klosterleben bekommen, das er so noch nicht kannte. Auf jedem Foto war eine typische Tätigkeit des Klosteralltags abgebildet oder eine Andacht in einer Kapelle.
»Wo liegt dieses Kloster?«, fragte er, als Karins Tränen allmählich versiegt waren.
»Etwa zehn Kilometer von hier«, sagte sie. »Wir fahren zu den Gottesdiensten dorthin, Agnes, Christin und ich. Es ist kein richtiges Kloster, eher eine kirchliche Gemeinschaft, in der wir uns aufgehoben fühlen. Der Herr Pfarrer möge es mir nachsehen, aber dort fühlen wir uns wohler als in der Kirche Klockarviks.«
Plötzlich wirkte Karin beunruhigt.
»Ich muss die Schwestern anrufen und ihnen schildern, was passiert ist«, sagte sie. »Das muss ich einfach.«
Samuel hatte Karin nach Hause gefahren, die am Rande des Dorfs wohnte, direkt am Wald. Er hatte sie erst allein gelassen, nachdem sie ihm versichert hatte, dass sie zurechtkam. Bevor Karin ins Haus ging, verharrte sie auf dem Treppenabsatz und schien über etwas nachzudenken.
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte Samuel. »Oder ist Ihnen noch etwas eingefallen?«
Er betrachtete Karin, die grauhaarige Frau, die eine blaue Baskenmütze auf dem Kopf und eine Handtasche quer über dem Mantel trug. In Agnes’ Küche war sie noch so voller Verzweiflung gewesen, jetzt lag in dem Blick, der ihn traf, nichts als Wut.
»Wenn die Polizei glaubt, dass Agnes einfach friedlich entschlummert ist, irrt sie sich gewaltig«, sagte sie mit Nachdruck. »Das war kein natürlicher Tod, da bin ich mir absolut sicher.«
Aber bevor Samuel nachfragen konnte, wie sie darauf kam, war Karin bereits schnellen Schritts im Haus verschwunden und hatte die Tür hinter sich zugeschlagen.
Erst gestern, als Maja-Sofia angedeutet hatte, dass es sich um einen Mord handeln könnte, war ihm Karins eigenartiger Kommentar wieder eingefallen. Wenn es sich um keinen natürlichen Tod handelte, musste Samuel sich so weit wie möglich fernhalten. Er konnte sich nicht auch noch in einen Mordfall verwickeln lassen, er hatte genügend eigene Sorgen, dachte er, während er sich Sigvards kleinem Reich näherte. Er freute sich schon auf den Kaffee und die Aussicht, sich einen Teil seiner Probleme von der Seele zu reden.
VIER
Eine braun gestrichene Hütte tauchte zwischen den Fichten und Kiefern auf. Sie lag direkt am Ufer, und beim Näherkommen konnte Samuel erkennen, dass die Ecken und Fensterrahmen grün waren. Durch die Farbauswahl verschmolz das kleine Bauwerk mit den Nadelbäumen der Umgebung. Hier hatte der alte Sigvard also sein kleines Paradies gefunden, wo er seine letzten verbliebenen Jahre lang ein einfaches, stilles Leben führen konnte. Glücklicherweise war er fit und hatte mit Sicherheit noch einige Zeit vor sich. Der Infarkt hatte ihn nicht gebrochen. Samuel musste daran denken, wie sehr er und Maja-Sofia darum gekämpft hatten, ihn am Leben zu halten, bis der Krankenwagen eintraf. Kurz hatten sie jede Hoffnung verloren, dass Sigvard das alles überstehen würde. Aber als die Hilfe kam, hatte er noch seinen Puls gespürt, und den Sanitätern war es gelungen, sein Herz wieder in Gang zu bringen. Samuel hatte etwas gebraucht, um mit dem grimmigen alten Mann warm zu werden. Aber ohne Sigvard Nordqvist wäre ihm das kleine Klockarvik nicht so ans Herz gewachsen.
Samuel erklomm die Stufen, hob die Hand zum Klopfen, aber bevor er die Haustür überhaupt berührt hatte, öffnete sie sich schon.
»Komm herein, bester Bruder!«, sagte Sigvard. »Tritt ein in mein einfaches Heim, herzlich willkommen sollst du sein.«
Samuel spürte Sigvards schwere Hand auf der Schulter und wäre am liebsten zusammengesackt. Aber er riss sich zusammen.
»Hallo, Sigvard«, sagte er freudig.
Er selbst brachte es nicht über sich, den Kollegen als Bruder zu bezeichnen, es war eine so alte Bezeichnung. Außerdem schloss es die Pfarrerinnen aus, weshalb es sich einfach falsch anfühlte für Samuel. Aber Sigvard musste man nehmen, wie er war, inklusive guter und schlechter Seiten, und die guten überwogen eindeutig.
Samuel betrat die Hütte, die aus einem großen Wohnzimmer mit Kochzeile bestand, von dem ein kleines Schlafzimmer abging. Das Mobiliar war alt und stabil. Die Küchenbank war mit selbst gewebtem Stoff bezogen, auf dem Klapptisch lag eine schöne Tischdecke und darauf standen zwei Messingkerzenständer, in denen Kerzen brannten. Im Kamin loderte ein Feuer.
»Wie schön du es hast«, sagte Samuel. »So gemütlich. Aber wie kommst du an Wasser und wo ist dein Klo?«
»Das Flusswasser ist rein«, sagte Sigvard. »Und ich habe eine Trockentoilette. Ich gehe ein paarmal pro Woche in die Sauna, häufiger muss sich ja kein Mensch waschen.«
»Und wenn du krank wirst?«, fragte Samuel. »Hilfe hat es weit zu dir.«
»Ja, und?«, fragte Sigvard. »Dann sterbe ich in aller Ruhe hier. Wenn der Herr findet, meine Zeit ist abgelaufen, und mich zu sich ruft, dann ist ihm egal, wo ich bin.«
Sigvard setzte Kaffee auf und forderte Samuel auf, sich an dem Teller mit gekauften Plätzchen zu bedienen.
»Wie geht es Markus?«, fragte Samuel. »Wie kommt er in deinem ehemaligen Haus klar?«
Ein Lächeln huschte über Sigvards sonst so ernstes Gesicht.
»Oh, sehr gut. Der hält das Haus so gut in Schuss, so toll sah es nie zuvor aus«, antwortete er. »Ich habe ihn schon ein paarmal besucht, und wir haben versucht, das aufzuholen, was uns all die Jahre entgangen ist. Markus ist, wie er ist, aber er ist auch sehr sorgfältig und unfassbar talentiert, was das Geigenspiel betrifft. Ich bin sehr froh, dass es noch zu einem guten Ende kam.«
Samuel konnte das gut verstehen. Markus Lundström war Sigvards Sohn aus Jugendtagen, den er aber wegen seiner Eltern nie hatte anerkennen dürfen. Erst jetzt hatten die beiden sich kennenlernen können, und Sigvard hatte ihm als Wiedergutmachung sein gepflegtes rotes Haus vermacht.
»Wie schön, dass es ihm gutgeht«, sagte Samuel. »Da freue ich mich für euch beide.«
»Ja, das ist schön«, stellte Sigvard fest und schenkte ihnen Kaffee ein. »Man sollte es nicht als gegeben ansehen.«
Nachdem beide zwei Tassen geleert hatten und Samuel seinen alten Kollegen über das Geschehen in der Gemeinde auf den neusten Stand gebracht hatte, lehnte Sigvard sich zurück, faltete die Hände vorm Bauch und musterte Samuel. Offenbar erwartete er von seinem jüngeren »Bruder«, dass er nun etwas sagte.
»Das ist alles etwas vertrackt«, setzte Samuel zögernd an.
Sigvard verzog keine Miene.
»Es geht um Marit«, fuhr er fort. »Oder, nein, eigentlich geht es eher um mich. Ja, überwiegend um mich.«
Sigvard nickte leicht.
»Sie erwartet ein Kind«, brachte Samuel heraus, »aber ich …«
Hilflos schaute er zu seinem Kollegen.
»Du willst das Kind nicht«, vollendete Sigvard den Satz.
Jetzt war es raus. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sigvard sollte ihn verstehen, er selbst hatte seinen Sohn fast ein Leben lang verleugnet und erst vor wenigen Monaten Verantwortung übernommen.
Sigvard lehnte sich vor. Er schaute Samuel direkt in die Augen.
»Ich bin nicht der, der dich richten sollte«, sagte er, »aber vielleicht kann ich dir einen Rat geben. Und der lautet: Mach nicht, was ich gemacht habe. Verleugne das Kind nicht. Aber ich nehme an, dass das nicht dein eigentliches Problem ist?«
Samuel griff zur Kaffeekanne und schenkte sich nach, um Zeit zu gewinnen. Jetzt musste er das Schwerste gestehen.
»Das stimmt«, sagte er. »Es ist das reinste Chaos.«
»Die Polizistin?«
Samuel nickte und leerte die Tasse in einem Zug.
»Du hast mir vor ein paar Monaten geraten, ich solle einfach nicht mehr an Maja-Sofia denken, dann würde das schon vorbeigehen.«
»Aber das ist es nicht?«
»Nein«, antwortete Samuel. »Ich kann ihr nicht mal gefahrlos begegnen, und manchmal kreuzen sich unsere Wege ja beruflich. Letzte Woche haben wir uns in dem Haus getroffen, wo die Tote entdeckt wurde. Vielleicht hast du davon in der Zeitung gelesen? Da haben wir kein privates Wort gewechselt, aber gestern haben wir kurz auf dem Parkplatz der Kirche gesprochen.«
Sigvard stand auf und legte ein paar Scheite nach. Das Feuer flammte auf und warf einen herrlichen Schein in die kleine Stube.
So sollte man leben, dachte Samuel. In aller Einfachheit, weit weg von allen Versuchungen. Ein asketisches Leben, bei dem man nur gelegentlich mit dem Boss sprach und sonst Holz hackte. Einfach und problemlos. Weit weg von Windeln, durchwachten Nächten und haferschleimbefleckten Pfarrershemden. Ja, jedes Kind war ein Geschenk Gottes, aber vorerst war er sehr zufrieden mit den beiden etwas älteren Geschenken namens Alva und Gabriel.
Sigvard setzte sich wieder zu ihm.
»Ich nehme an, du hast dich bereits an den Chef gewandt?«, fragte er.
Das war Sigvards Name für Gott. Eigentlich gar nicht so anders als Samuels.
»Schon, ja, aber das Schlimme ist, Sigvard«, antwortete er, »dass ich gerade keine wirkliche Hilfe vom Boss bekomme.«
Sigvard lehnte sich wieder zurück, diesmal mit einer tiefen Falte auf der Stirn. Das Feuer knisterte, Kaffeegeruch lag noch in der Luft, und vor dem Fenster zwitscherte eine Kohlmeise.
»Manchmal dauert es, bis man eine Antwort bekommt«, sagte Sigvard langsam, als würde er noch beim Sprechen weiterdenken.
»Und nicht immer kommt sie aus der Richtung, aus der man sie erwartet«, sagte Samuel. »Das weiß ich alles.«
Sigvard schenkte ihm ein Lächeln, wenn auch ein kleines.
»Ich glaube, du, Bruder Samuel, solltest dich mal ein paar Tage zurückziehen und mit dir und deinen Gedanken allein sein. Und der ›Boss‹, wie du Ihn nennst, kommt natürlich auch mit. Denn allein bist du nie, auch wenn es sich gerade so anfühlt.«
Ein glühendes Holzscheit bewegte sich im Kamin und machte ein zischendes Geräusch. Die Flammen erschufen eine angenehm ruhige Stimmung.
»So wie du lebst, das stelle ich mir gerade auch sehr schön vor«, sagte Samuel und machte eine Geste, die die gesamte Hütte einschloss. »Vielleicht sollte ich mir eine Hütte mieten.«
Sigvard lehnte sich wieder vor und schaute Samuel tief in die Augen.
»Ich hatte an etwas anderes gedacht«, sagte er. »Hast du mal von Luthers Töchtern gehört? Das ist eine klosterähnliche Gemeinschaft gar nicht weit von hier, die sich bestens zum Rückzug anbietet.«
Samuel nickte und hatte sofort wieder den Wandkalender vor Augen. Über Smid Karins Schulter hinweg hatte er zuerst davon gelesen.
»Ich weiß, dass es sie gibt«, sagte er. »Gibt es eine Verbindung zu unserer Gemeinde?«
»Keine direkte, es ist einfach eine Gruppe von Frauen unterschiedlicher Konfession, die sich zusammengefunden haben. Kein Klosterorden im eigentlichen Sinn, eher eine ökumenische Kongregation. Hin und wieder waren wir mal da, aber die haben ihre eigene Vorstellung von Gottesdiensten und der Andacht.«
Samuel lauschte seinem Kollegen gebannt. Ein Besuch bei Luthers Töchtern klang spannend.
»Du solltest mal hinfahren«, sagte Sigvard. »Ein Schweigewochenende sollte reichen, damit du wieder Ordnung in deine Gedanken bekommst. Glaub mir.«
»Bist du sicher?«
»Absolut! Und deine Zwiegespräche mit Unserem Herrn werden dort auch wieder Fahrt aufnehmen, wirst schon sehen. Wenn du abreist, wirst du wissen, wie du deine Probleme am besten angehst.«
Die Idee war nicht dumm. Außerdem musste er dringend etwas unternehmen. Das Kloster war leicht zu erreichen, er konnte in einer Stunde dort sein und war trotzdem weit weg von seinem Alltag. Ein dringend nötiger Tapetenwechsel.
»Hast du am kommenden Wochenende Dienst?«, fragte Sigvard.
Ja, hatte er, und schnell erzählte er ihm, welche.
»Die übernehme ich«, sagte Sigvard ohne zu zögern. »Ellinor Johannesson darf davon gern halten, was sie möchte. Fahr gleich morgen zu Luthers Töchtern, worauf willst du warten?«
»Aber schaffst du das? Die Gottesdienste und alles?«, fragte Samuel. »Zwei Hauptgottesdienste, dann noch die Musikandacht Sonntagabend. Und außerdem eine Taufe am Samstag.«
Sigvard stand auf.
»Ob ich das schaffe?«, fragte er in einem Ton, der die Balken der Hütte dröhnen ließ. »Was ist das für eine unsinnige Frage! Los, mach dich auf den Weg. Die Fastenzeit ist die Zeit der Entsagung, und du hast allen Grund, der dunkeläugigen Polizistin zu entsagen. Deine Zukunft liegt anderswo, dafür hast du selbst gesorgt.«
FÜNF
Freitag, 7. März
Samuel schloss den Wagen ab, nahm seine Tasche und steuerte auf den Eingang zu. »Luthers Töchter« stand an der Fassade direkt neben einem Kreuz, um das sich eine Pflanze rankte. Zweifellos war er richtig. Er hatte ein bisschen über das Klosterleben gelesen und sich belehren lassen, dass sich ein Pilgergefühl am ehesten einstelle, wenn man das Kloster zu Fuß aufsuche. Sollte sich dies nicht umsetzen lassen, so sei es am besten, die Anreise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln vorzunehmen und das letzte Stück von der Bushaltestelle oder dem Bahnhof zu Fuß zu gehen. Er hatte sich nicht daran gehalten, war stattdessen mit seinem Auto hergekommen, aber er hoffte, das Wochenende würde trotzdem gut werden.
Vor der Eingangstür blieb er stehen und betrachtete das Kreuz an der Fassade.
»Jetzt, Boss«, sagte er, »jetzt packe ich mein schwieriges Leben an, und dabei werde ich deine Hilfe brauchen, da kannst du dir sicher sein.«
Der Boss war in letzter Zeit nicht gerade mitteilsam gewesen, aber jetzt hatte Samuel den Eindruck, ein liebevolles Schulterklopfen zu spüren. Er deutete es als Ermunterung und drückte auf die Klingel. Kurz darauf waren von drinnen schnelle Schritte zu hören. Die Tür wurde geöffnet, und eine junge Frau mit weißer Haube und blauer Tracht fing an zu strahlen, als sie ihn erblickte.
»Samuel Williams, nehme ich an«, sagte sie. »Willkommen!«
»Danke.«
Sie war auf natürliche Art hübsch. Ihre blauen Augen hatten dieselbe Farbe wie ihre Tracht. Samuel schätzte sie auf fünfundzwanzig, aber das war schwer zu bestimmen.
»Ich heiße Charlotte«, stellte sie sich vor. »Ich bin Anwärterin.«
»Aha, dann sind Sie auf Probe hier?«, sagte Samuel. »Um herauszufinden, ob Ihnen das Klosterleben liegt.«
»Genau, man sollte es nicht überstürzen«, erwiderte die junge Frau. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer, und nach der Vesper können Sie die anderen Schwestern kennenlernen. Also, nach der Abendandacht, aber das wissen Sie vermutlich alles, Sie sind ja Pfarrer.«
Statt einer Antwort lächelte er nur freundlich.
Charlotte ging voran und brachte ihn quer über den Hof zu einem frei stehenden Holzhaus. Im Obergeschoss befand sich sein schlichtes Zimmer. Ein Bett mit Nachttisch, ein winziger Schreibtisch mit Stuhl, ein Regal mit ein paar religiösen Büchern. Die Bibel nahm einen zentralen Platz ein, aber es gab auch andere Literatur. Das Bett war bezogen und sah einladend aus.
»Dann hätte ich gar keine Bettwäsche mitbringen müssen?«, fragte er und nickte zu seinem Rollkoffer.
Charlotte schüttelte den Kopf.
»Den müden Wanderer soll ein gemachtes Bett erwarten«, sagte sie freundlich. »Und jetzt machen Sie es sich erst mal gemütlich. Badezimmer und Toilette finden sie direkt gegenüber. Sie teilen es mit einem anderen Mann, der ebenfalls an der Klausur teilnimmt.«
»Das klingt perfekt.«
»Haben Sie irgendwelche Fragen?«
»Gerade nicht, aber vielleicht kommen mir später noch welche«, antwortete Samuel, während er den Kopf schüttelte.
»Alles klar. Sie können sich jederzeit an eine von uns wenden. Dann sehen wir uns um halb sechs zur Vesper in der Kapelle«, sagte sie und verschwand schnellen Schritts die Treppe hinunter.
Samuel packte die wenige Kleidung aus, die er mitgebracht hatte, und tauschte sein Kollarhemd gegen ein einfaches graues. Er war nicht als Pfarrer hier im Kloster, sondern aus privaten Gründen. Um sich während der Klausur mit sich selbst und seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen, um sein Leben wieder zu ordnen. Er wollte nicht riskieren, dass sich jemand auf der Suche nach Unterstützung an ihn wandte. Nicht im Moment.
Vor seinem Aufbruch hatte er Marit angerufen. Er hatte ihr erklärt, dass er kleine Kinder niedlich fände und seine eher verhaltene Reaktion nur darauf zurückzuführen sei, dass es ihm gerade nicht gutgehe. Marit war eine gutherzige Frau, die ihm ein schönes Wochenende wünschte und dass er im Kloster die Hilfe fand, die er suchte. Darauf hatte er nur etwas Einfältiges erwidert, er konnte sich nicht mal mehr richtig erinnern, was er geantwortet hatte. Nach dem Telefonat mit Marit hatte er noch einen Videoanruf mit seiner Tochter Alva geführt und ihr erzählt, wo er das Wochenende verbringen würde und dass er für ein paar Tage unerreichbar sein wird.
»Richtest du das auch Gabriel aus?«, bat er und warf ihr einen Handkuss zu. »Wir hören uns nächste Woche!«
Samuel lag die Neuigkeit über das neue Geschwisterchen auf der Zunge, aber er konnte sich nicht überwinden, es auszusprechen. Auch gut, schließlich fühlte sich alles gerade so kompliziert an. Er würde an Ostern mit seinen Kinder darüber sprechen, denn da hatten sie einen Besuch in Klockarvik geplant. Die Reaktionen konnten so oder so ausfallen – Wut, Freude, Gleichgültigkeit. Aber er rechnete nicht damit, dass seine jugendlichen Kinder übermäßig erfreut über seine Neuigkeiten sein würden.
Er schaute auf die Uhr. Bis zur Vesper dauerte es noch eine Weile, also beschloss er, sich derweil im Haus umzusehen. Schräg gegenüber von seinem Zimmer lag der Aufenthaltsraum, das war sein erstes Ziel. Darin saß ein Mann mit dem Rücken zu ihm gewandt und las die Kirchenzeitung. Samuel räusperte sich, woraufhin der Mann die Zeitung sinken ließ und sich umschaute.
»Einen wunderschönen Tag«, sagte der Mann und stand auf, um ihn zu begrüßen. »Helge Fredengren der Name. Und wie heißen Sie?«
Er schien etwas älter zu sein als Samuel, vielleicht fünfzig, aber er sprach wie ein Siebzigjähriger.
»Samuel Williams«, antwortete er. »Offenbar sind wir Zimmernachbarn und werden uns das Bad teilen. Was für ein schöner, friedlicher Ort das hier ist. Wie geschaffen, um zu lesen und zur inneren Ruhe zu finden.«
Über die gesamte Kurzseite spannte sich ein großes Fenster, das einen Blick auf den See bot. Mittlerweile hatte es zu dämmern angefangen, und die Lichter vereinzelter Häuser funkelten am gegenüberliegenden Ufer. Noch war der See zugefroren und würde es vermutlich auch ein paar weitere Wochen bleiben.
»Das stimmt«, sagte Helge. »Ein gut gewählter Ort für eine Gemeinschaft wie Luthers Töchter. Waren Sie schon einmal hier?«
»Nein, das ist mein erstes Mal«, antwortete Samuel.
»Dann brauchen Sie eine schnelle Einführung, besonders weil wir für den Rest des Wochenendes schweigen müssen. Ich war schon oft hier, gehöre fast zum Inventar. Also, ich besuche auch andere Klöster. Das ist mein Leben, sozusagen.«
Sie setzten sich in die Sesselgruppe.
»Ich bin ganz Ohr«, sagte Samuel.
»Charlotte, die Anwärterin, haben Sie ja schon kennengelernt«, fing Helge an. »Ein tolles Mädchen. Des Weiteren haben wir Mutter Veronica, die auf dem Papier die Vorsteherin ist, aber die meisten Beschlüsse werden hier gemeinschaftlich getroffen. Schwester Maine kümmert sich um den Garten und kennt sich sehr gut mit Pflanzen aus. An mein Wissen kommt sie selbstverständlich nicht heran, aber doch ganz ordentlich.«
»Sind Sie Botaniker?«
Helge kratzte sich am Hals.
»Ich weiß das ein oder andere«, sagte er. »Was man in den vielen Jahren in unterschiedlichen Klöstern nun mal so aufschnappt. Ich gebe Kurse und schreibe Bücher und so was. Schwester Maine unterstützt mich manchmal dabei.«
Der traute sich ja eine Menge zu, der gute Helge, dachte Samuel. Und diese Schwester Maine schien seine Lieblingsschwester zu sein.
»Dann gibt es noch drei weitere«, fuhr Helge fort. »Schwester Birgitta hält sich meist in der Küche auf und kann die einfachsten Zutaten in die leckersten Mahlzeiten verwandeln. Mit ihr sollte man sich gutstellen, dann backt sie vielleicht was zum Nachmittagskaffee.«
»Und die anderen beiden?«
»Die anderen beiden, ja. Sie sind eher künstlerische ›Töchter‹. Das sind Maud, die Heiligenbilder malt, und Petra, eine fröhliche Norrländerin, die lustige religiöse Kinderbücher schreibt.«
»Oh, wie ungewöhnlich. Was machen sie mit den Heiligenbildern und Büchern? Verkaufen sie die?«
Helge nickte.
»Ganz genau. Es ist kein großes Einkommen, aber alles wird gebraucht. Eins der Bilder hängt hier.«
Er deutete zur Wand, und Samuel stand auf, um es sich anzusehen. Es war ein sehr klassisch gehaltenes Gemälde von Christus mit zum Segen erhobener Hand, Daumen und Zeigefinger aneinandergelegt. Das Bild wurde von einer Pflanze gerahmt, die grüne Blätter hatte und wunderschöne lila Blumen an kahlen Zweigen.
»Was für eine tolle Arbeit«, sagte Samuel. »Sie versteht ihr Handwerk, diese Schwester Maud.«
Helge Fredengren griff zu seiner Tweedjacke, die über der Sessellehne hing.
»Zeit für die Vesper«, sagte er und zog die Jacke an. »Nehmen Sie sich eine Jacke mit, abends wird es kalt, und wir müssen einmal quer über den Hof.«
»Wer hält den Gottesdienst?«, fragte Samuel. »Die Schwestern selbst?«
»Nein, nein. Es kommt regelmäßig ein Pfarrer«, erklärte Helge. »Sie nennen ihn Vater Johannes, aber unter uns: Eigentlich heißt er Janne Boman. Vielleicht kennen Sie ihn ja?«
»Janne Boman?« Samuel dachte nach. »Sagt mir jetzt erst mal nichts, aber vielleicht erkenne ich ihn, wenn ich ihn sehe.«
Helge nickte.
»Dann wollen wir mal«, sagte er. »Vielen Dank für das Gespräch. Nach dem Abendessen wird bis Sonntagnachmittag geschwiegen, danach können wir uns gern weiter austauschen.«
SECHS
»Was macht sie denn für einen Eindruck?«, fragte Maja-Sofia und schaute verstohlen zu Martina Jarning.
Mit »sie« war die neue Polizeichefin Beata Löfblad gemeint. Maja-Sofia saß mit ihren Kollegen Jarning und Larsson in ihrem Büro. Jarning hatte die neue Chefin vom Bahnhof abgeholt, und alle waren verständlicherweise neugierig. Ihre Vorgängerin, Jeanette Sundell, hatte nur einen Vertretungsjob gehabt, der zudem vorzeitig beendet worden war. Sie hatte sich nicht gerade beliebt gemacht, und besonders Maja-Sofia hatte erleichtert aufgeatmet, als klar war, dass die Sundell gehen musste. Sie waren nie gut miteinander ausgekommen, und wenn die Sundell keine andere Aufgabe gefunden hätte, wäre es an Maja-Sofia gewesen, sich eine neue Stelle zu suchen.
»Einen ganz normalen«, sagte Jarning. »Ruhig, gefasst und nett. Auf dem Weg hierher hatten wir ein gutes Gespräch.«
Das klang ja vielversprechend. Jarning neigte nicht gerade zur Übertreibung, weshalb Maja-Sofias Hoffnung wuchs. Sie fand es nicht nur großartig, Sundell los zu sein, sondern auch endlich ihre Arbeit als Kriminalkommissarin wieder aufnehmen zu können. Diese Aufgabe erfüllte sie einfach.
»Dann müssen wir dich ja nicht länger mit Chefin ansprechen«, sagte Larsson, knüllte ein Blatt zusammen und warf es spielerisch nach Maja-Sofia, die es nicht schaffte, sich rechtzeitig wegzuducken.
»Darüber kann ich nur dankbar sein«, erwiderte sie und verzog den Mund. »Anstrengendere Mitarbeiter als euch muss man erst mal finden. Den Job übergebe ich nur zu gern.«
Alle wussten, dass Maja-Sofia nur scherzte, schließlich waren sie ein eingeschweißtes Team und mochten einander sehr. Die Zusammenarbeit funktionierte problemlos, und manchmal gingen sie sogar nach der Arbeit noch ein Feierabendbierchen trinken. Larsson führte ein typisches Familienleben, weshalb er dazu nicht immer Zeit hatte. Aber so langsam kamen seine Kinder in das Alter, in dem sie allein zum Training und sonstigen Aktivitäten fahren konnten. Er hatte erwähnt, dass es schön war, endlich mal wieder nur mit seiner Frau etwas zu unternehmen, hatte aber absolut nichts dagegen, auch mal einen Abend mit den Kolleginnen zu verbringen. Jarning hatte eine Weile lang einen Freund gehabt, doch die Beziehung hatte an Silvester geendet, weil er sich einfach nicht daran gewöhnen konnte, dass sie auch mal zu ungewöhnlichen Zeiten arbeiten musste. Maja-Sofia wusste, dass Jarning auf Tinder und anderen Dating-Apps unterwegs war, und sie hoffte, dass sie bald wieder jemanden finden würde. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die ihren Lebensabend allein verbringen wollten, außerdem war sie Mitte dreißig und wünschte sich eine Familie.
»Wie auch immer das gehen soll als Polizistin«, hatte sie mal gesagt.
»Das geht sehr gut«, hatte Maja-Sofia ihr daraufhin erklärt. »Ich bin schließlich mit einem Vater aufgewachsen, der Polizist ist. Und was ist aus mir geworden? Klar, auch Polizistin!«
Derzeit war es angenehm still auf dem Revier, es gab nur eine Handvoll kleinerer Vergehen aufzuklären, ein paar Einbrüche und ein anonymer Tipp wegen Schwarzbrennerei. Larsson versuchte, einen Fall von Jagdwilderei aufzuklären, der die Gemüter der Gegend erhitzte. Irgendein Durchgeknallter hatte einen Steinadler erschossen, und wie gewöhnlich wussten alle, wer der Schuldige war, aber niemand wollte eine offizielle Zeugenaussage abgeben. Im Großen und Ganzen hatten die drei vom Mora-Revier genug Zeit, um sich von dem Mord an Weihnachten und Jeanette Sundells beklagenswerter Führung zu erholen, die versucht hatte, ihre Ideen mit eiserner Hand durchzusetzen, ohne ein Verständnis von der eigentlichen Arbeit zu haben.
Was die Tote in Klockarvik anging, lagen die Ermittlungen sozusagen auf Eis. Die Rechtsmedizinerin zweifelte noch an einer natürlichen Todesursache, wollte sich aber noch mal melden, sobald sie mehr Sicherheit hatte. Dann würden sie sicher die neue Chefin miteinbinden, denn sollte dieser Fall weitere Ermittlungen nach sich ziehen, leitete sie automatisch die Voruntersuchung.
»Man sollte einfach Urlaub einreichen«, sagte Maja-Sofia und schaute sehnsüchtig zum Fenster hinaus. »Wer kann schon sagen, wann es das nächste Mal wieder so gut passt wie jetzt. Ein paar Wochen an der Costa del Sol in Spanien. Oder eine Schneeschuhtour daheim in Tornedalen. Braun werde ich da wie dort.«
Larsson murmelte etwas Unverständliches, und Jarning seufzte.
»Aber wirklich«, sagte sie dann. »Ich würde sofort mitkommen, aber wir kriegen ja niemals gleichzeitig Urlaub. Das können wir glatt vergessen.«
Es wurde leicht an den Rahmen der geöffneten Tür geklopft. Dort stand eine große blonde Frau mit Kurzhaarfrisur, der die Uniform auf den durchtrainierten Körper geschneidert schien. Maja-Sofia nahm sich sofort vor, selbst wieder mehr Sport zu machen.
»Hallo«, sagte sie. »Ich bin Beata Löfblad. Das sieht ja nach einer entspannten und illustren Runde aus.«
In ihrer Stimme lag keine Ironie, nur menschliche Wärme.
»Gerade ist es ruhig«, sagte Maja-Sofia und stand auf, um ihr die Hand zu geben. »Was auch mal schön ist. Das ändert sich leider schneller, als man meint. Maja-Sofia Rantatalo, angenehm.«
»Herzlich willkommen«, sagt Larsson und schüttelt ihr ebenfalls die Hand.
Der Mann hatte Manieren. Maja-Sofia, die ja bis zu Löfblads Eintreffen stellvertretende Chefin gewesen war, hätte eigentlich diejenige sein müssen, die ihre Nachfolgerin willkommen heißt, aber sie hatte den Faden verloren.
Löfblad setzte sich auf den einzigen noch freien Stuhl im Büro.
»Ja, es ändert sich in der Tat schneller, als man meint«, sagte sie und wedelte mit einem Blatt. »Sie haben die Frau, die vor circa zehn Tagen tot in Klockarvik gefunden wurde, nicht vergessen, nehme ich an? Sie, Rantatalo, waren doch vor Ort? Und Sie, Larsson?«
Maja-Sofia blieb kurz still. Sie war davon ausgegangen, die neue Chefin über den Fall informieren zu müssen, aber Löfblad hatte das offenbar schon selbst getan. Sie war nicht unvorbereitet an ihrem neuen Arbeitsplatz erschienen. Maja-Sofia war beeindruckt.
»Ein reiner Routineeinsatz«, sagte Maja-Sofia und dachte an Samuel, dem sie dort begegnet war. »Weil der dortige Arzt nicht sicher war, ob es sich um eine natürliche Todesursache handelte, verständigte er uns. Ich habe mit der zuständigen Rechtsmedizinerin gesprochen, ob es auch eine andere Erklärung geben könnte. Tamara Pettersson heißt sie. Sie wollte sich melden, sobald sie mehr weiß.«
Löfblad nickte.
»Und das hat sie getan«, sagte sie. »Und sie hält leider an ihrem Verdacht fest, dass es keine natürliche Todesursache war.«
»Mord?«, fragte Larsson.
»Da hat sie sich bisher noch nicht festgelegt. Auch Suizid kann nicht ausgeschlossen werden, auch wenn ich das in diesem Fall für weit hergeholt halte. Aber man weiß ja nie.«
Der Urlaub, von dem Maja-Sofia gerade noch geträumt hatte, war geplatzt. So wie es aussah, übertrug die neue Chefin ihnen gerade einen schrecklichen und womöglich schwierigen Fall.
»Was war denn die Ursache?«, fragte Maja-Sofia, um das hinter sich zu bringen.
»Der Leichnam wurde obduziert, und alles deutet auf eine Vergiftung hin, da die inneren Organe, besonders die Nieren, angegriffen sind. Auch in der Mundhöhle sind mehrere Bläschen.«
»Was war das denn für ein Gift?«, fragte Jarning.
»Das weiß sie noch nicht«, antwortete Löfblad. »Sie hat eine Probe des Mageninhalts eingeschickt, das kann eine Weile dauern, bis da ein Ergebnis kommt. Wir wissen ja alle, wie viel das forensische Institut zu tun hat.«
Maja-Sofia, die ihre Beine ausgestreckt hatte, richtete sich auf.
»Dann müssen wir jetzt einen Giftmord aufklären?«, fragte sie.
»So sieht es aus«, antwortete Löfblad. »Sofern die Frau sich nicht selbst vergiftet hat, wie gesagt. Aber das könnten Sie wahrscheinlich in einem Gespräch mit den anderen beiden herausfinden? Ging es nicht auch einer weiteren Bewohnerin schlecht?«
»Ja, richtig«, sagte Maja-Sofia. »Sie lag krank im Bett. Wenn ich das korrekt in Erinnerung habe, hatte sie eine Ma- gen-Darm-Grippe. Gefunden wurde die Tote von einer guten Freundin. Die war ganz außer sich, ich musste seelischen Beistand rufen. Aber wenn das keine Magen-Darm-Grippe war …« Maja-Sofia stand auf und zog ihre Jacke an.
»… könnte die andere Frau ebenfalls vergiftet worden sein«, vollendete Löfblad den Satz.
»Okay, dann fahren wir da wohl mal hin«, sagte Maja-Sofia. »Wer kommt mit? Am besten lassen wir gleich noch die Spurensicherung aus Falun kommen.«
Jarning meldete sich, um Maja-Sofia zu begleiten. Larsson wollte auf dem Revier bleiben und die Adleraugen offen halten, womit er die Arbeit an dem Wildereivorfall meinte.
»Ich verständige die Kriminaltechnik«, sagte Beata Löfblad, »dann müssen Sie sich damit nicht aufhalten. Im Übrigen freue ich mich auf die Zusammenarbeit. Sie scheinen mir ein gut eingespieltes Team zu sein. Den Eindruck hatte ich gleich, als ich das Zimmer betrat.«
Was für ein himmelweiter Unterschied, dachte Maja-Sofia, als sie und Jarning sich auf den Weg machten. Endlich hatten sie eine zugewandte Chefin, die Respekt vor Erfahrung und Können hatte. Wenn sie sich jetzt noch als fähige Voruntersuchungsleiterin herausstellte, war Beata Löfblad mehr als willkommen.
SIEBEN
Smid Karin Karlsdotter stellte das Tablett auf den Tisch neben Christins Bett. Dort lag sie, blass im Gesicht und mit trockenen Lippen. Ihr Blick war trüb und starr geradeaus gerichtet.
»Wie geht es dir?«, fragte Karin. »Kannst du was essen? Ich habe dir Eis mitgebracht.«
Christin stützte sich mühsam auf, konnte sich aber erst mit Karins Hilfe aufsetzen. Sie roch nicht mehr ganz frisch, musste unbedingt duschen, aber Karin wagte es nicht, ihr auch dabei ihre Hilfe anzubieten, aus Angst, sie könnte Christin damit zu nahe treten.
»Ich versuche es mit einem bisschen Eis«, sagte sie und leckte sich über die trockenen Lippen. »Und etwas Wasser. Mein Mund tut weh. Ich glaube, da sind kleine Bläschen.«
»Nimm auch was von dem Hagebuttenkompott«, sagte Karin. »Den mögt ihr, ich meine, den magst du doch so gern. Darin stecken jede Menge Vitamine, und es schmeckt sicher großartig zusammen mit dem Eis. Du wirst schon sehen, damit hast du gleich wieder etwas mehr Kraft.«
Karin setzte sich mit ihrem Kaffee zu ihr, um ihr ein wenig Gesellschaft zu leisten. Christin war schon ein paar Tage vor Agnes’ Tod krank geworden, und das Schlimme war, dass Agnes genau dieselben Symptome gehabt hatte, die sich nun bei Christin zeigten. Schmerzen im Mund, Übelkeit und Durchfall. Und dann hatte ihr Körper einfach aufgegeben. Sie war keine Jugendliche mehr, aber siebzig war ja trotzdem noch kein Alter, und eine Magen-Darm-Grippe hätte sie problemlos überstehen müssen.
»Und du willst wirklich nicht, dass ich dich zum Arzt bringe?«, fragte Karin. »Du weißt ja, wie es mit Agnes ausgegangen ist.«
Christin knallte überraschend heftig den Löffel auf den Teller.
»Halt Agnes da raus«, zischte sie. »Agnes hatte Krämpfe und wurde immer wieder ohnmächtig, bevor sie starb, wie du vielleicht noch weißt. Das hier ist nichts weiter als eine herkömmliche Magen-Darm-Grippe.«
Karin trank ihren Kaffee aus und goss sich nach. »Wenn das stimmt, dann war das bei Agnes auch nicht mehr«, murmelte Karin leise.
»Wie bitte?«, fragte Christin.
»Ach, nicht so wichtig.«
Christin lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie hatte etwa die Hälfte des Eises heruntergebracht, der Rest schmolz auf dem Teller und mischte sich mit dem Hagebuttenkompott. Karin betrachtete sie. Sie waren sich nie wirklich nähergekommen. Agnes war viel ungezwungener gewesen als Christin, die dem Leben eher ernst gegenüberstand und in ihrer Freizeit Klassiker las oder sich Konzerte im Fernsehen ansah. Wie Agnes auf die Idee gekommen war, dass Christin ihre perfekte Gesellschafterin sein könnte, war Karin absolut schleierhaft. Noch weniger verstand sie, warum Agnes nicht einfach sie um Hilfe gebeten hatte. Sie kannten einander doch von Kindesbeinen an. Nein, stattdessen musste sie diese Fremde in ihr Haus bringen. So hatte sie es gewollt. Unter allen Umständen immer allen zwei Schritte voraus sein. Christin und Karin folgten ihr wie ein königlicher Hofstaat, egal ob sie zu Luthers Töchtern, einfach nur einkaufen oder in ein Museum gingen. Karin hatte sich etwas zurückgezogen, aber nicht komplett. Christin war Agnes in den vergangenen drei Jahren zwar pflichtschuldig zur Hand gegangen, aber wirklich praktisch veranlagt war sie nicht.
Christin öffnete die Augen. Ihr Blick war müde und matt.
»Sag mal«, fragte Karin, »wie willst du es mit Agnes’ Beerdigung machen? Wenn du Hilfe brauchst, musst du nur Bescheid sagen.«
Christin öffnete den Mund, um zu antworten, doch im gleichen Moment schrillte die Klingel grell und laut. Karin stand auf, nahm den Teller mit dem letzten bisschen Eis und stellte ihn in die Spüle, bevor sie die Tür öffnete.
»Maja-Sofia Rantatalo, Kriminalkommissarin«, sagte die Frau auf der Veranda. »Und das ist meine Kollegin Martina Jarning. Wir haben uns ja schon einmal gesehen.«
Sie erkannte die Polizistin wieder, die der Arzt nach Agnes’ Tod hergeschickt hatte. Die andere hatte sie noch nie gesehen. Karin schüttelte ihnen die Hände, stellte sich selbst aber nicht vor. Kriminalpolizei hatten sie gesagt? Irgendwie kam sie nicht richtig mit. Was wollten die hier?
»Sind Sie allein?«, fragte die Polizistin mit dem finnisch klingenden Namen.
Karin schüttelte den Kopf und fand endlich ihre Stimme wieder. »Nein, nein, ich bin nur eine Freundin des Hauses. Christin braucht gerade Unterstützung, ihr geht es nicht gut, und ich dachte, ich kann vielleicht helfen. Ich habe Agnes auch geholfen. Manchmal jedenfalls.«
Sie unterbrach sich selbst und brachte sie in Christins Zimmer. Um etwas zu tun zu haben, fragte sie, ob sie ihnen einen Kaffee anbieten könne. Den Vorschlag nahmen die beiden gern an, und während die Kaffeemaschine gurgelte, versuchte sie, etwas von dem Gespräch zu belauschen.
»Kriminalpolizei?«, hörte sie Christin in ihrem Zimmer fragen. »Warum?«
»Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte Rantatalo. »Es gibt noch ein paar Unklarheiten, wie Agnes Busk gestorben ist.«
Karin schlich näher zur Tür und späte durch den Spalt. Sie sah, wie Christin sich halb aufsetzte, aber sofort wieder erschöpft zusammensackte.
»Unklarheiten?«, fragte Christin. Sie klang schwach, aber auch eine Spur beunruhigt. »Sie war krank und saß in ihrem Sessel, als sie entschlafen ist.«