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Eine echte Rarität! – Der erste Krimi von Waldi, bekannt aus der beliebten ZDF-Sendung Bares für Rares Das Leben könnte so schön sein – ein See, eine Angel, ein friedlicher Morgen – doch stattdessen erlebt Antiquitätenhändler Siggi den Schock seines Lebens. Jemand ist in sein Geschäft eingebrochen und hat ihm etwas hinterlassen: eine Leiche. Tot sitzt der Mann im Sessel und starrt ihn an. Siggi flüchtet und wählt sofort die 110. Sicher hat der Mann sich nicht selbst zum Sterben dort hingesetzt, jemand muss gewaltsam nachgeholfen haben. Doch als die Polizei endlich eintrifft und den Laden durchsucht, ist der Tote spurlos verschwunden. Keine Leiche, kein Tatort, keine Ermittlungen. Aber Siggi weiß doch, was er gesehen und gefühlt hat – der Mann war sogar noch warm! Wie kann eine Leiche einfach verschwinden? Ist er vielleicht das nächste Opfer? Siggi ist kurz davor, durchzudrehen, wäre da nicht Doro, seine neue Putzhilfe, die sich gerade an diesem Morgen bei ihm vorstellt. Immerhin sie glaubt ihm. Wenn die Polizei nichts tut, dann müssen die beiden eben selbst ermitteln.
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Seitenzahl: 370
Waldi Lehnertz
Kriminalroman
Das Leben könnte so schön sein – ein See, eine Angel, ein friedlicher Morgen –, doch stattdessen erlebt Antiquitätenhändler Siggi den Schock seines Lebens. Jemand ist in sein Geschäft eingebrochen und hat ihm etwas hinterlassen: eine Leiche. Tot sitzt der Mann im Sessel und starrt ihn an. Siggi flüchtet und wählt sofort die 110. Sicher hat der Mann sich nicht selbst zum Sterben dort hingesetzt, jemand muss gewaltsam nachgeholfen haben. Doch als die Polizei endlich eintrifft und den Laden durchsucht, ist der Tote spurlos verschwunden. Keine Leiche, kein Tatort, keine Ermittlungen. Aber Siggi weiß doch, was er gesehen und gefühlt hat – der Mann war sogar noch warm! Wie kann eine Leiche einfach verschwinden? Ist er vielleicht das nächste Opfer? Siggi ist kurz davor durchzudrehen, wäre da nicht Doro, seine neue Putzhilfe, die sich gerade an diesem Morgen bei ihm vorstellt. Immerhin sie glaubt ihm. Wenn die Polizei nichts tut, dann müssen die beiden eben selbst ermitteln.
Waldi Lehnertz, geboren 1967, ist – wie die beliebte Sendung Bares für Rares, in der er seit der ersten Folge als Händler mitwirkt – längst Kult geworden. Mit seinem Startgebot von «Achtzisch Euro» erwarb er sich den Spitznamen 80-Euro-Waldi. Wenn er nicht vor der Kamera steht, betreibt der gelernte Pferdewirt einen Antiquitätenhandel in der Eifel. Hier empfängt er Busladungen von Fans und unterhält die Gäste mit Anekdoten aus seinem Leben als Antiquitätenhändler. Die eine oder andere könnte ihn zu diesem Krimi inspiriert haben. Wenn er noch Zeit hat, angelt er oder malt seine eigenen Kunstwerke.
Miriam Rademacher (Co-Autorin), Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie hat zahlreiche Fantasy-Romane, Krimis und Kinderbücher in verschiedenen Verlagen veröffentlicht.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Jan Karsten
Covergestaltung FAVORITBUERO, München
Coverabbildung Frank Dicks, Shutterstock
ISBN 978-3-644-01928-7
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Als der liebe Waldi mich fragte: «Mensch, Horst, ich mach ’n Krimi, ich schreib ein Buch – würdest du für mich ein Vorwort schreiben?», da habe ich spontan gesagt: «Waldi, für dich mach ich das auf jeden Fall!» Natürlich habe ich mir dann erst mal den Krimi kommen lassen, hatte aber schon so meine Gedanken. Wie fang ich an? Relativ einfach: Walter Lehnertz’ Leben ist eigentlich schon ein Krimi. Bis heute Gott sei Dank mit Happy End, und ich würde meins dazu tun, dass es so bleibt. Waldi ist ein Tausendsassa. Wenn er erzählt, wenn er den Raum betritt, kommt eine Persönlichkeit rein, und diese Persönlichkeit hat sehr viel zu erzählen. Seine Fantasie, die ist nach wie vor wie bei einem Kind, und ich hoffe, er erhält sie sich. Nur deswegen kann er ein Künstler sein, nur deswegen ist er so unterhaltsam, nur aus diesem Grunde lieben ihn so viele Menschen.
Dieser Krimi in seinem Betrieb, wo auch ein Detlev Kümmel stattfindet, muss ich ganz ehrlich sagen, ist großartig und hat mich in keinster Weise enttäuscht. Ich möchte nicht zu viel vorwegnehmen, aber es gibt einen Toten – das gibt’s hoffentlich niemals nicht in Wirklichkeit bei ihm –, aber alles andere könnte sich genau so auch irgendwie abspielen. Es ist ein sehr, sehr lesenswertes, kurzweiliges Buch, das eigentlich für meine Person nach einer Fortsetzung, einer Serie verlangt. Vielleicht wird’s sogar mal verfilmt. Ich kann jedem dieses Buch nur ans Herz legen, der Waldi liebt und gernhat, und auch all denen, die ihn noch nicht kennen, denn sie werden auch ein Stückchen Waldi kennenlernen. Ich wünsche allen Menschen sehr viel Freude damit, Spannung, und vielleicht gibt’s ja auch ein Happy End!
In Hochachtung und wirklicher Verehrung
Horst Lichter, dein alter Chef – Waldi, du bist ein Träumchen!
Das Leben ist voller Irrtümer, und dieser Morgen war ein hervorragendes Beispiel dafür. Siggi hatte vorgehabt, den Tag an einem malerischen See zu beginnen, um dort mit seinem Kumpel Kurt zu angeln. Doch die Dinge entwickelten sich ganz und gar nicht so, wie es der Antiquitätenhändler erwartet hatte.
Zwar waren seine Angel und er pünktlich zur Stelle, sogar der See lag leidlich malerisch im Frühnebel vor ihm. Doch was fehlte, war Kurt, und das schon seit zehn Minuten, wie Siggi missmutig feststellte.
Er wartete schon fast eine halbe Stunde, als er endlich das Knacken von Zweigen hörte, gefolgt von leisen Flüchen.
«Ich hatte völlig vergessen, wie lange man bis hierher läuft», sagte Kurt zur Begrüßung und tauchte unter einem Ast hindurch.
«Und die Zeit hast du offensichtlich auch vergessen, du Vogel», stellte Siggi mit einem vorwurfsvollen Blick über den Rand seiner Brille fest.
«Zeit! Gut, dass du es erwähnst. Ich kann auch gar nicht lange bleiben.»
Siggi hob erstaunt die Brauen. Sein Kumpel war Junggeselle und selbst ernannter Motivationstrainer. Mit anderen Worten: Wenn Kurt etwas im Überfluss besaß, dann war es Zeit. Noch vor einem Monat war Kurt Anlageberater und davor Alltagsbegleiter für Senioren gewesen. Mit Letzterem hatte er vermutlich am meisten verdient, was Siggi irgendwie tragisch erschien.
«Es ist genau sechs Uhr dreißig. An einem Dienstagmorgen. Die meisten Menschen stoßen gerade erst ihren Wecker von der Nachttischkante. Und du hast es schon eilig?»
«Mir ist halt etwas dazwischengekommen.» Kurt setzte eine schuldbewusste Miene auf und füllte zwei mitgebrachte Becher mit Kaffee aus seiner Thermoskanne. Einen reichte er an Siggi weiter. «Du weißt doch, wie das ist. Der frühe Vogel fängt den Wurm, und wenn ich das Geschäft nicht mache, tut es ein anderer. Selbstständig ist man eben selbst, und zwar ständig.»
Siggi schlürfte wortlos den heißen Kaffee, und für einen kurzen Moment war der Morgen so, wie er sein sollte: Über dem See klarte es auf, und die Vögel stimmten zaghaft ihr erstes Lied an.
Doch der Frieden war nur von kurzer Dauer, denn Kurt stellte plötzlich in fliegender Hast seinen Klappstuhl in das feuchte Gras der Uferböschung, packte seine Angel aus, rammte den Köder auf den Haken und warf ihn aus, als ob er einen Golfball übers Grün schlagen wollte.
«Dass du es eilig hast, hab ich schon verstanden. Aber bei dem Tempo wird sogar den Hechten schwindlig.»
«Blödsinn», murmelte Kurt, warf einen frustrierten Blick auf seinen Schwimmer und meinte mit Blick auf die Armbanduhr: «Sie beißen heute nicht, oder?»
Siggis Befremdung nahm immer mehr zu. Diese Ruhelosigkeit passte in keiner Weise zu seinem Freund. Irgendjemand oder irgendetwas hatte seinen langjährigen Kumpel, einen eher phlegmatischen Typ von fast zwei Metern Körpergröße, aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht.
«Der frühe Vogel fängt also den Wurm?», begann Siggi die Unterhaltung von Neuem. «Und von was für einer Art Wurm sprichst du da?»
Sein Kumpel legte die Finger an die Lippen und sah sich misstrauisch um.
«Mach dich nicht lächerlich, wir stehen mitten im Wald», sagte Siggi. «Hier belauscht uns höchstens ein Eichhörnchen. Und mir wirst du ja wohl vertrauen, oder? Wir kennen uns seit der Grundschule!»
Kurts Blick schweifte noch einmal über das Seeufer, dann platzte es aus ihm heraus wie Popcorn aus einer heißen Pfanne. «Reis.» Er sah abwechselnd zu seinem ruhig auf dem Wasser dümpelnden Schwimmer und wieder zu Siggi. «Der Weltmarkt ist im Umbruch, und die Zukunft heißt Reis. Ich habe gerade einen todsicheren Tipp bekommen. Und wenn ich mich beeile und noch vor dem Börsenschluss in Hongkong geschickt investiere, bin ich reich, bevor du heute auch nur den ersten Hecht gefangen hast. Willst du einsteigen?»
Dies war einer der heiklen Momente, wie sie in ihrer Freundschaft gelegentlich vorkamen. Kurt war ein lieber Kerl, aber er tat Siggis Geldbeutel nicht gut. In Kurts Zeit als Anlageberater hatte er den Antiquitätenhändler gut und gerne einen Sommerurlaub gekostet. Und die Rede war in diesem Fall nicht etwa von Camping am Jungferweiher, sondern eher von einem sechswöchigen Aufenthalt auf den Malediven mit Vollpension. Vertraute man Kurt sein Geld an, musste man damit rechnen, es nie wiederzusehen.
«Kurt …» Siggi suchte nach den richtigen Worten. «Du willst heute gern noch einen Wurm fangen, wie du gesagt hast. Vollkommen in Ordnung, ich wünsche dir dabei viel Glück. Wenn du aber glaubst, darüber hinaus auch noch eine Kuh melken zu können, werde ich diese Rolle ganz sicher nicht übernehmen.»
«Soll das heißen, du vertraust mir nicht?» Kurt sah ein wenig beleidigt drein.
«Ich würde dir jederzeit mein Leben anvertrauen, aber nie wieder mein Geld», erwiderte Siggi. «Wenn du einen Hecht aus dem Teich ziehen willst, brauchst du eine geflochtene Angelschnur, ein einfacher Nylonfaden reicht da nicht aus. Und genauso verhält es sich mit deinen Finanztipps. Sie sind dünn wie Nylonfäden, auf die ich mich nie wieder verlassen werde.»
«Das heißt also nein? Du wirst es noch bereuen», Kurt gestikulierte so heftig, dass der Kaffee aus seiner Tasse schwappte. «Ich sage nur: Reis ist Geld!»
«Millionen Chinesen werden dir darin eher nicht zustimmen. Das wäre denen nämlich längst aufgefallen. Aber wenn du ohnehin noch den ganzen Tag Zeit hast, um dein Geld zu verspekulieren, warum willst du mich und die Hechte so schnell im Stich lassen?»
«Weil es bei ebendiesen Chinesen bereits Mittag ist und die Börse in Hongkong schon um zehn Uhr unserer Zeit schließt.» Erneut blickte Kurt auf seine Armbanduhr und dann ungeduldig auf den spiegelglatten See. «Die beißen heut nicht, oder?»
«Wechsel den Köder. Am besten versuchst du es mit einem Reisbällchen.» Siggi verzog keine Miene. «Die sind nämlich die Zukunft. Hab ich gerade erst gehört.»
«Sigismund Malich, machst du dich etwa über mich lustig?», fragte Kurt entrüstet.
Das tat er tatsächlich, und nicht zum ersten Mal. Doch für gewöhnlich merkte Kurt es nicht, wenn er auf den Arm genommen wurde.
«Ja, das tue ich. Und weißt du auch, warum? Weil ein Motivationstrainer, der sein Glück mit Reis in China machen will, wohl besser auf Glückskekse wetten sollte. Und jetzt setz dich in deinen Klappstuhl und fang lieber einen Hecht.»
«Du kannst das nicht verstehen.» Kurts Miene verdüsterte sich.
Siggi verstand nur zu gut. Und die Litanei seines Freundes, die auf diese Worte üblicherweise folgte, kannte er schon fast auswendig.
«Du hast ein eigenes Antiquitätengeschäft, bist ein erfolgreicher Geschäftsmann und siehst nicht aus wie ein Yeti auf Urlaub. Du hast alles im Griff, Siggi, und hast schon so viel erreicht. Ich hingegen stehe immer noch auf der Startlinie des Lebens herum und komme einfach nicht in Schwung.»
Siggi blickte aufs Wasser hinaus und erwiderte: «Was den Yeti betrifft, brauchst du dir nur diesen struppigen Vollbart abzurasieren, und schon …»
«Herrgott, es geht doch nicht um Haare, sondern darum, dass ich auch mal ein wenig Erfolg haben will! Im Beruf, bei den Frauen und überhaupt.»
Stille senkte sich wieder über ihre Seite des Seeufers, während rings um sie herum langsam die Natur erwachte. Siggi wusste nicht, was er auf Kurts Gejammer, das heute ungewöhnlich lang ausfiel, erwidern sollte. Dass seine drei gescheiterten Ehen, wobei er im letzten Fall noch nicht einmal wusste, ob sie jemals rechtsgültig gewesen war, auch nicht gerade eine Erfolgsbilanz darstellten? Dass auch sein Haar mit Anfang fünfzig langsam grau wurde, er seit Wochen in Erwägung zog, seine bisherige Brille gegen eine mit Gleitsichtgläsern auszutauschen, und sein Bauch beharrlich über den Hosenbund hinauszuwachsen drohte?
Siggis Leben war keineswegs eine reine Erfolgsgeschichte. Je nachdem, worauf der Betrachter den Fokus legte, konnte es sowohl als Tragödie wie auch als Komödie durchgehen. Doch das würde Kurt in seiner jetzigen Stimmung kaum gelten lassen.
«Ich muss jetzt los», sagte dieser unvermittelt, kippte den restlichen Inhalt seines Kaffeebechers über ein spätes Schneeglöckchen und holte die Angel ein. «Wenn du noch etwas fängst, lass es mich wissen. Immerhin ist die Stelle hier mein Geheimtipp.»
«Und der ist so geheim, dass noch nicht einmal die Hechte etwas davon wissen.» Siggi verdrehte die Augen. «Vielleicht sollte ich es ebenfalls für heute gut sein lassen.»
«Nein. Lass du dir nicht von mir das Angeln vermiesen. Du bleibst schön hier und fischst unser Abendessen», sagte Kurt mit Nachdruck und klappte den Stuhl zusammen. «Ich übernehme dafür das Kochen und spendiere das Bier.»
«Kurt, altes Haus, du weißt einfach, womit du mich rumkriegst», erwiderte Siggi, dem direkt das Wasser im Mund zusammenlief. Fisch in jeder Form, ob gedünstet, gegrillt oder gebraten, gehörte zu seinen Leidenschaften.
Also ging er, nachdem Kurt sich hektisch verabschiedet hatte, mit neu erwachtem Ehrgeiz ans Werk. Er holte die Angel ein und wechselte den Köder, denn der Hecht war ein launischer Gegner, dem mit Ausdauer allein nicht beizukommen war. Eine Viertelstunde später, der Frieden am See fing gerade an, in Langeweile umzuschlagen, klingelte sein Handy.
Auf dem Display las er den Namen Anton. Mit dem Kunstsachverständigen und Galeristen telefonierte er beinahe täglich, aber für gewöhnlich nicht in den frühen Morgenstunden. Anton Schauer war eine klassische Nachteule, die nur selten vor Anbruch der Dämmerung ins Bett fand.
«Ist es bei dir in Köln noch dunkel? Ich dachte immer, du zerfällst beim ersten Sonnenstrahl zu Staub.»
«Darüber weiß ich nichts, denn ich habe die Rollos heruntergelassen.» Sein Freund klang ein wenig aufgekratzt, was Siggi augenblicklich aufhorchen ließ. Möglicherweise ging es um ein lohnendes Geschäft für sie beide. «Erinnerst du dich an den Tischaufsatz aus Porzellan? Du hast ihn zuerst für Kitsch gehalten, bis du das gute Stück auf den Rücken gedreht hast.»
Siggi warf einen raschen Blick in Richtung Pose, doch dieser rührte sich nicht. «Du meinst die nackte Dame auf dem Seerosenblatt, die auf einen Froschteich blickt. Steht ganz hinten im Laden auf einer Biedermeierkommode und setzt schon Staub an. Wenn du mich fragst, stammt das Teil aus den Zwanzigerjahren.»
«Eher Jugendstil, mein Bester. Gut, dass ich dich nicht fragen muss. Fotografier das Schätzchen bitte mal von allen Seiten und schick mir die Bilder gleich rüber, ja? Inklusive der ungefähren Maße. Nicht die der nackten Frau, sondern die von der Schale. Ich danke dir.»
«Das geht nicht», erwiderte Siggi.
«Wieso geht das nicht?», fragte Anton und klang verwirrt. «Ich bitte dich lediglich, die Treppe hinunterzulaufen und eine Tür weiter in deinem Laden ein paar Fotos mit dem Handy zu schießen. Sobald ich meine Bilder habe, kannst du weiterschlafen.»
«Ich schlafe nicht, ich angle, und zwar Hecht», korrigierte Siggi seinen Freund. «An einem echten Teich, mit echten Fröschen. Säße die nackte Dame auch noch neben mir, wäre die Welt perfekt.»
«Ich brauche nur schnell ein paar Fotos», bettelte Anton. «Und die Maße natürlich. Bitte, Siggi. Dann liefere ich dir umgehend frei Haus einen Käufer für diesen Froschkönig. Wir reden von einer hübschen vierstelligen Summe.»
Siggi spürte, wie er schwach wurde. Seinen Ladenhüter aus der hinteren Ecke in klingende Münze zu verwandeln, klang ausgesprochen verlockend.
«Also schön.» Siggi warf einen Blick in den zunehmend grauer werdenden Morgenhimmel. Es sah nach Regen aus, und bisher hatte sich kein Hecht blicken lassen. «Dafür bist du mir aber was schuldig.»
«Nicht mehr, als du mir ohnehin schon schuldest.» Anton klang wieder gut gelaunt. «Bis gleich.»
Kopfschüttelnd schob Siggi das Handy in die Hosentasche und holte die Angel ein. Anton hatte es oft so eilig, als wäre das Leben ein Wettrennen, dessen Ziellinie er bereits in der Ferne erkennen konnte. Aus unerfindlichen Gründen gelang es ihm allerdings nie, sie je zu überqueren. Der Kunstexperte kam nur zur Ruhe, wenn er sich in den Abendstunden samt seiner Pfeife und einem Glas Rotwein am Schreibtisch niederließ und arbeitete, bis der nächste Tag anbrach. Dass bei Siggi die Uhren anders tickten, vergaß er gern.
Doch als der Himmel kurz darauf die Schleusen öffnete und erste fallende Tropfen die Wasseroberfläche mit Kreisen überzogen, sagte Siggi den, wenn überhaupt vorhandenen, Hechten Lebewohl und marschierte querfeldein zurück zu seinem Transporter. Eine Viertelstunde später hatte es sich der Himmel längst wieder anders überlegt, und sein altes, aber treues Auto rollte im Sonnenschein auf den Hof des Antiquitätenladens, der den klangvollen Namen «Kunst & Kurioses» trug.
Einsam stand das Gebäude am Straßenrand, das zu einem Teil Verkaufsfläche, aber auch sein Zuhause war. Dahinter erstreckten sich Felder, und bis zum nächsten Dorf war es weiter, als er laufen mochte, doch Siggi liebte seinen Laden, der voller Geschichten und Erinnerungen steckte. Sogar rund um den Eingangsbereich gruppierten sich Exponate aus Stein und Stahl – vorwiegend Gartendekorationen, die eher zu den Kuriositäten als zu den Antiquitäten zählten. Wie die Gruppe betagter Gartenzwerge, deren Anführer ihm von einer Holzbank aus fast vorwurfsvoll entgegenblickte.
Im Nachhinein konnte Siggi nicht sagen, was ihn stutzen ließ, während er die kurze Strecke vom Auto bis zum Haus hinter sich brachte. Zuerst war da ein Bauchgefühl, eine vage Ahnung, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Dann bemerkte er, dass seine Eingangstür einen Spaltbreit offen stand. Sein Blick ging hoch zum Lautsprecher der Alarmanlage. Der hing still an seinem Platz über der Tür. Ein trauriger Kabelrest am Gehäuse verriet auch, warum. Jemand hatte die Stromzufuhr sauber durchtrennt, um die Anlage mundtot zu machen. Alles deutete darauf hin, dass «Kunst & Kurioses» in seiner Abwesenheit Besuch bekommen hatte.
Siggi hielt inne und lauschte. Er glaubte, ein jämmerliches Piepen aus dem Teil des ersten Stocks zu hören, wo sich seine Wohnung befand. Doch ohne den Lautsprecher hier draußen blieb die abschreckende Wirkung eher bescheiden.
Er holte tief Luft, dann stieß er die Tür ganz auf. Ein paar Holzsplitter am Boden verrieten, dass jemand dem Schloss gewaltsam zu Leibe gerückt war.
Davon abgesehen wirkte alles so, wie er es am Abend zuvor verlassen hatte. Die Kasse, ein Modell im ewig hässlichen Design der frühen Siebziger, war augenscheinlich nicht angerührt worden. Die Vitrine mit antiken Schmuckstücken schien ebenfalls unversehrt. Und doch konnte Siggi den Verdacht nicht abschütteln, dass er nicht allein war. Wer immer sich hier Zutritt verschafft hatte, befand sich vermutlich noch im Haus.
Da bemerkte Siggi einen fremden Geruch. Ein Duft, wie wenn jemand über Jahrzehnte hinweg sehr sparsam mit seinem Parfum umgegangen war und den Moment verpasst hatte, da man das Zeug ins Klo hätte schütten müssen.
Schritt für Schritt tastete er sich weiter vor und verfluchte zum ersten Mal die unübersichtliche Aufteilung der Räume und die Fülle an Exponaten. Immer wieder erschrak er vor einem Schatten, glaubte, aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrzunehmen. Stand dort jemand neben der Anrichte? Oder lauerte etwas hinter dem komischen Heiligen, den er jetzt schon seit Jahren loszuwerden versuchte? Auch der vollgehängte Kleiderständer könnte einem Menschen Deckung bieten. Nur er selbst stand zwischen Regalen voller Porzellan und Glas wie auf dem Präsentierteller, während ihm der Angstschweiß ausbrach.
Im Vorübergehen nahm er den Baseballschläger an sich, der seit jeher im Schirmständer auf seinen Einsatz wartete. Nun schien seine große Stunde gekommen zu sein.
Nachdem Siggi die Räume im Erdgeschoss halbwegs überprüft hatte, stand er vor der gewundenen Holztreppe, die zu einigen kleineren Ausstellungsräumen führte. Geistesgegenwärtig ließ er die zwei unteren, knarrenden Stufen aus und stieg, den Baseballschläger erhoben, hinauf. Fast traf ihn der Schlag, als er sich auf dem oberen Treppenabsatz einem großen, dunkelhaarigen Mann mit einer schwarz gerahmten Brille und finsterem Blick gegenübersah. Erst an dem Baseballschläger in der rechten Hand erkannte er gerade noch rechtzeitig sein eigenes Abbild und unterdrückte einen Fluch. Den viktorianischen Spiegel musste er dringend anderswo unterbringen.
Nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte, folgte er dem langen, mit Beistelltischen, Kommoden und Vasen vollgestellten Flur. Aus seinen Wohnräumen in der anderen Haushälfte war deutlich das Schrillen der Alarmanlage zu hören.
In die ersten beiden winzigen Räume warf er nur im Vorbeigehen einen Blick – von seiner Sammlung historischer Kuriositäten und Kleidungsstücke für absolut keine Gelegenheit abgesehen, waren sie leer.
Er erreichte das Zimmer am Ende des Flurs und hielt auf der Schwelle inne. Ein Fremder saß dort in Hut und Regenmantel im Designersessel und starrte ihm mit offenem Mund entgegen. Er entschuldigte sich nicht für sein unerlaubtes Eindringen, blinzelte nicht einmal, und bei genauerer Betrachtung schien er auch nicht zu atmen.
Vorsichtig trat Siggi näher und legte zwei Finger an den Hals des regungslosen Mannes. Ruckartig zog er die Hand wieder zurück, als ob er sie sich verbrannt hätte. Nicht der fehlende Puls war es, was ihn schockierte. Sondern vielmehr die Wärme, die die Haut ausstrahlte, in Kombination mit dem starren Blick.
Eher aus Verzweiflung legte Siggi seinem Besucher eine Hand auf die Schulter und schüttelte ihn. «Hallo?»
Der Kopf des Mannes fiel nach vorn, und Siggi bemerkte die eigenartige Deformierung des altmodischen Hutes, einer Melone, die sicher vom Hersteller nicht so beabsichtigt war. Sein eigener Puls raste. Wie kam der Kerl hierher, und wieso war er tot? Hatte ihn jemand umgebracht?
Dieser Gedanke gab ihm den Rest. Hektisch flackerte Siggis Blick durch den Raum, und plötzlich glaubte er, fast körperlich die Nähe eines Fremden zu spüren. Jemand, der ihn aus einem Versteck heraus beobachtete und nur auf die richtige Gelegenheit wartete, auch ihn um die Ecke zu bringen.
Die rechte Hand fest um den Baseballschläger gekrallt, trat Siggi den Rückzug an. Zuerst langsam, dann immer schneller rannte er den Flur entlang und spürte dabei den starren Blick des Toten in seinem Rücken. Polternd sprang er die Treppe hinunter. Die knarrenden Stufen waren ihm egal, ebenso wie die Eierbecher aus Porzellan, die er von ihrem Tablett fegte, sodass sie am Boden zerschellten.
Erst draußen auf dem Hof hielt er schwer atmend inne. Der Parkplatz und die Straße lagen gut einsehbar und verlassen da. Er würde keinen Fuß mehr in den Laden setzen. Nicht, solange dort ein Mörder lauerte. Mit zitternden Fingern zog er sein Handy aus der Hosentasche. Was er jetzt dringend brauchte, war Hilfe.
Eine Viertelstunde später wartete Siggi noch immer draußen vor der Tür seines Antiquitätenladens auf die Polizei. Seine Knie wären längst eingeknickt, hätte er sich nicht auf die rote Gartenbank gesetzt, mitten in die Gruppe Gartenzwerge, die mit ebenso leeren Blicken in die Welt starrten wie die Leiche. Siggi widerstand der Versuchung, sie einen nach dem anderen von der Bank zu schubsen, und wünschte sich sehnlichst einen Kaffee oder etwas Stärkeres herbei. Ihm war flau in der Magengegend. Sowohl das Handy in seiner rechten als auch der Baseballschläger in der anderen Hand hörten einfach nicht auf zu zittern.
Seine Erleichterung war grenzenlos, als sich über die zu dieser frühen Stunde wenig befahrene Landstraße endlich ein Streifenwagen näherte.
Zwei Uniformierte sprangen heraus, kaum dass der Wagen den Parkplatz erreicht hatte. Einen der beiden kannte Siggi nur zu gut. Es war der doppelte Gunnar, den er in der Schule nie hatte abschreiben lassen, was dieser ihm bis heute nachzutragen schien. Dabei hatte er seinen damaligen Banknachbarn nur vor Schlimmerem bewahrt, denn Siggis Rechtschreibung war schon immer katastrophal gewesen, und das hatte sich bis heute nicht geändert.
Gunnar Bartels war zwar nicht doppelt vorhanden, aber er schielte so stark, dass er glauben musste, in einer Welt voller Zwillinge zu leben – da waren sich Kurt und Siggi einig. Natürlich trug er eine Brille, die den Sehfehler korrigieren sollte, doch die hatte nur den Effekt, dass jeder, der ihm gegenüberstand, meinte, sich in seinem toten Winkel zu befinden.
Gunnar baute sich nun vor dem zitternden Antiquitätenhändler auf und schaute demonstrativ an seinem rechten Ohr vorbei. Rasch warf Siggi einen Blick über die eigene Schulter, um sich zu vergewissern, dass es dort nichts zu sehen gab.
«Ich hab mich noch nie so sehr gefreut, die Polizei hier zu haben», begrüßte er Gunnar erleichtert.
«Leg den Prügel weg», donnerte dieser und deutete auf den Baseballschläger. «Was ist bloß in dich gefahren, Siggi? Die Zentrale erzählt mir über Funk, du hättest einen Einbrecher erschlagen.»
Augenblicklich ließ Siggi den Baseballschläger vor sich auf die Pflastersteine fallen. «So ein Quatsch! Der Mann war schon tot, als ich heimkam, ich schwöre es.»
Gunnar wechselte einen Blick mit seinem jüngeren Kollegen, bevor er erwiderte: «Wo ist der Tote?»
«Oben im ersten Stock, im hintersten Zimmer», stieß Siggi hervor. «Der Kerl sitzt in meinem Kultsessel.»
Gunnar brummte etwas Unverständliches, trat zur Ladentür und stieß sie so weit auf wie möglich. Als Siggi Anstalten machte, ihm zu folgen, bedeutete der zweite Polizist ihm wortlos, sitzen zu bleiben. Wenige Sekunden später schepperte es im Haus.
«Das war die große Vase auf der Anrichte», erklärte Siggi dem angespannt wirkenden Uniformierten, der ihn nicht aus den Augen ließ. «Bis Gunnar oben angekommen ist, wird sich eine Schneise der Verwüstung durch mein Geschäft ziehen, bitte lassen Sie uns ihn begleiten. Vielleicht können wir das ein oder andere Stück auffangen.»
Doch der junge Polizist reagierte nicht. Mit unbewegter Miene starrte er auf Siggi herab, als ob er einen Schwerverbrecher vor sich hätte. Sekunden später gab es einen dumpfen Knall, und Gunnars Fluchen verriet, dass erneut Inventar zu Bruch gegangen war.
Als der Polizeihauptmeister endlich wieder draußen auf dem Hof erschien, war Siggi mit den Nerven am Ende, während im Gesicht des schweigsamen Kollegen die ganze Zeit über noch nicht einmal ein Muskel gezuckt hatte.
«Siggi», begann Gunnar, stemmte die Hände in die nicht vorhandene Taille und sah hinauf in den langsam aufklarenden Himmel. «Willst du uns eigentlich verarschen?»
«Das würde mir im Traum nicht einfallen», entgegnete er. «Aber nur mal so nebenbei gefragt: Hast du eigentlich eine Haftpflichtversicherung?»
Der Blick seines ehemaligen Schulkameraden senkte sich auf ihn herab, und für einen kostbaren Augenblick wähnte sich Siggi direkt in seinem Fokus. «Da oben sitzt niemand, weder tot noch lebendig. Dein blöder Kultsessel, dieses grelle Plastikmonster, thront unübersehbar mitten im Raum – und er ist leer.»
«Der Tote ist weg?», wiederholte Siggi verblüfft und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es waren noch fast zwei Stunden bis zur Ladenöffnung, und zumindest ein Teil seines Problems hatte sich offenbar ganz von selbst verflüchtigt. Doch was war mit dem Mörder?
«Der oder die Täter könnten noch im Haus sein», beharrte er und suchte vergeblich Gunnars Blick.
«Siggi, da oben gibt es kein Blut, keine Anzeichen für einen Kampf, einfach gar nichts.» Gunnars Stimme wurde lauter. «Kannst du mir jetzt bitte erklären, was der ganze Blödsinn hier zu bedeuten hat?»
Entrüstet deutete Siggi auf den stummen Lautsprecher über der Tür. «Jemand hat das Kabel meiner Alarmanlage gekappt, meine Haustür aufgebrochen und mir einen Toten in die Verkaufsräume gesetzt, und da sprichst du von Blödsinn?» Den mahnenden Blick des schweigsamen Kollegen ignorierend, erhob er sich von der Gartenbank und baute sich vor Gunnar auf. Einen kurzen Moment lang genoss Siggi das Gefühl, auf dessen schütteren Scheitel herabzublicken, doch die Freude währte nur kurz. Gunnar schien plötzlich ein Licht aufzugehen, und von einer Sekunde zu anderen strahlte er so viel Überlegenheit aus, dass Siggi verunsichert einen Schritt zurücktrat.
«So ist das also. Ich habe dich durchschaut, mein Lieber.» Der doppelte Gunnar deutete auf die Holzspäne am Boden. «Ein paar übermütige Jungen stemmen deine Tür auf und schneiden ein Kabel durch, da fühlst du dich natürlich gleich persönlich angegriffen. Und weil die Kollegen vom Notruf einen Einbruch in deinem Trödelladen …»
«Antiquitäten», verbesserte Siggi und konnte einen beleidigten Unterton in seiner Stimme nicht vermeiden.
«… nicht übermäßig spannend fanden, hast du kurzerhand noch eine Leiche hinzuerfunden. Weißt du, was du bist, Siggi?»
«Ein gesetzestreuer Bürger, der nur seine Pflicht getan hat?», schlug er vor.
Gunnar verschlug es kurz die Sprache. Dann fuhr er aufgebracht fort: «Du bist ein Blödmann! Und das hat Folgen! Du kannst von Glück sagen, dass nicht die Kriminalpolizei vor deiner Tür steht, sondern nur der gute Gunnar, der es vielleicht bei einer Verwarnung und einer kleinen Geldstrafe wegen missbräuchlicher Verwendung des Notrufs bewenden lässt. Dafür kann man nämlich auch in den Bau gehen, Herr Malich!»
Siggi holte tief Luft. Gunnars Unterstellungen waren völlig aus der Luft gegriffen. Gern hätte er ihm gesagt, was für ein nachtragendes kleines Würstchen er war und dass es die Leiche wirklich gegeben hatte. Doch in Anbetracht der aufgeladenen Situation fiel ihm nur eines ein.
«Du liegst vollkommen falsch.»
Mit dieser kurzen und prägnanten Aussage handelte er sich sogar einen anerkennenden Blick von Gunnars schweigsamem Begleiter ein. Gunnar selbst hob eine Augenbraue und wartete. Als er begriff, dass Siggi mit seinen Ausführungen bereits am Ende angekommen war, packte er ihn unsanft am Arm.
«Komm mit, ich will dir zeigen, was es da oben zu sehen gibt», schnaufte der Polizist. Siggi ließ sich bereitwillig in seinen eigenen Laden hineinziehen. Der stumme Kollege folgte ihnen.
Nacheinander stiegen sie über die Scherben der großen Vase hinweg und die Treppe hinauf, dann näherten sie sich dem Raum am Ende des Flurs. Siggi begannen erneut die Knie zu zittern. Was, wenn Gunnar einfach zu sehr schielte, um das richtige Zimmer zu finden? Was, wenn der Polizist am falschen Ort gesucht hatte und der Tote noch immer mit weit geöffneten Augen im Sessel saß, bereit, ihn erneut anzustarren? Am liebsten hätte Siggi kehrtgemacht. Doch Gunnar zerrte ihn unerbittlich weiter, und so fand er sich zum zweiten Mal an diesem Morgen vor dem grellorangen Kultsessel wieder, der tatsächlich leer war.
Ungläubig trat der Antiquitätenhändler näher, warf einen Blick hinter das Möbelstück und suchte mit Blicken den Raum ab. Doch das einzig Auffällige war das Knirschen von Scherben unter seinen Sohlen. Vorwurfsvoll schaute er Gunnar an.
«Tut mir leid um den Tonklumpen», meinte der Polizist und schob das zerstörte Kunstwerk mit der Schuhspitze beiseite. «Ich muss wohl irgendwie mit dem Ellenbogen dagegengestoßen sein.»
«Walther Zander, circa 1990», klärte Siggi ihn auf. «Vierkantvase mit schwarzer Salzglasur. Im Freifeuerofen gebrannt! Das war ein Einzelstück.»
«Und jetzt sind es viele kleine Stücke, das ist doch gut», behauptete Gunnar ohne eine Spur von Schuldbewusstsein. «Aber sieh mal selbst, mein Lieber: Deinem Sessel geht es hervorragend. Der Platz darauf ist noch immer frei. Frei von einem Hintern, frei von Blut, das sich hier wohl befinden müsste, wenn jemand eines gewaltsamen Todes gestorben wäre. Hier gibt es weit und breit nichts Beunruhigendes zu entdecken.»
Der Polizist vollführte eine Drehung um die eigene Achse, was aufgrund der beengten Verhältnisse in dem kleinen Raum voller Exponate Siggis Puls gleich wieder hochschnellen ließ. Wie durch ein Wunder wurde dieses Mal nichts beschädigt.
«Vielleicht starb der Tote ja auf eine besonders saubere Art», schlug Siggi vor und inspizierte den Sessel genauer. Das orangefarbene, futuristisch wirkende Sitzmöbel, das vom Erfinder für den Garten gedacht war und sich zusammenklappen ließ, bis es nur noch wie eine überdimensionale Puderdose aussah, schien tadellos. Nichts deutete darauf hin, dass hier kurz zuvor ein toter Mann gesessen hatte. Nicht einmal ein Tropfen Körperflüssigkeit war zurückgeblieben.
«Was schwebt dir da vor? Ein fleckenloser Tod durch Vergiftung?» Gunnars Stimme triefte vor Ironie und wurde mit jedem Satz lauter. «Demnach hat ein verzweifelter Selbstmörder das richtige Ambiente für seinen letzten Atemzug gesucht und ist deshalb durch deine verschlossene Ladentür marschiert? Und nachdem er sein Leben hier oben ausgehaucht hat, ist er gütigerweise auch gleich zu Staub zerfallen, denn davon hast du hier oben ja jede Menge!»
«Damit hat er recht», hörte Siggi nun die Stimme einer Frau.
Er fuhr herum und mit ihm die zwei Polizisten. Im Flur stand, zwischen Bodenvasen, Stehlampen und gebündelten Comic-Heften, genau das, was Siggi eine Ausnahmeerscheinung nannte. Die Frau war schlank, nicht übermäßig groß und trug ihr dunkles Haar kurz geschnitten. Obwohl es gerade erst April war, stand sie in einem Sommerkleid vor ihnen und hatte die dazu farblich abgestimmte Strickjacke locker um die Schultern geknotet. Ihre Lippen umspielte ein spitzbübisches Lächeln. Rein äußerlich wirkte sie auf ihn wie die potenzielle Frau Malich Nummer 4, wenn er denn vorgehabt hätte, den Platz an seiner Seite jemals neu zu besetzen.
«Der Laden öffnet erst um zehn», murmelte er und wünschte sich, er hätte einen etwas originelleren Gesprächseinstieg gefunden. Doch er war zu fasziniert von ihrer Erscheinung.
Sie sah auf eine winzige goldene Armbanduhr, und ihr Lächeln wurde eine Spur breiter. «Na, da bleibt uns ja noch genügend Zeit, um hier ein wenig für Ordnung zu sorgen.» Mit ihrem Zeigefinger strich sie prüfend über den Schirm einer Stehlampe.
«Ich fürchte, das ist keine gute Idee», beeilte Siggi sich zu sagen. «Dies ist nämlich ein Tatort, und da sollte man nicht …»
«Dies hier ist kein Tatort!», brüllte ihm Gunnar ins Ohr. «Geht das nicht in deinen Schädel, Siggi Malich?»
«Ich habe den Kerl aber gesehen», beharrte er, während die Frau interessiert die Unterhaltung verfolgte. «Genau hier hat er gesessen und mich mit seinen toten Augen angestarrt. So etwas kann ich mir gar nicht einbilden, dazu fehlt mir die Fantasie. Ich habe nach seinem Puls getastet, Gunnar. Da war rein gar nichts mehr.»
Gunnar gab ein verächtliches Schnauben von sich.
«Er war noch warm, so als ob es gerade erst passiert wäre», fuhr Siggi fort. «Jemand muss ihn hier in meinen Geschäftsräumen umgebracht haben! Und ich würde gern wissen, wer das war … und wo er jetzt ist!»
«Der Täter oder das Opfer?» Gunnar klang genervt.
«Beide!», brach es verzweifelt aus Siggi heraus.
«Sie sind hoffentlich inzwischen alle weit weg», meinte die Fremde und sah sich verunsichert um.
«Es gibt keinerlei Anlass zur Beunruhigung, junge Frau.» Gunnar streckte seine durchaus trainierte Brust heraus und schob die Daumen in den Hosenbund. Jetzt fehlten ihm nur noch Cowboyhut und Sheriffstern, und die Parodie wäre perfekt gewesen. «Unser Freund hier hat manchmal einfach eine etwas lebhafte Fantasie.»
Siggi verspürte den Drang, ihn zu erwürgen, doch für diesen Mord hätte es Zeugen gegeben, im Gegensatz zu dem, der sich hier vor Kurzem abgespielt hatte. «Gunnar, ich will wissen, was in meinem Laden passiert ist. Ich bestehe darauf, dass die Polizei der Sache nachgeht!»
«Keine Leiche, keine Ermittlungen.» Gunnar versuchte, Siggi in die Augen zu sehen, was gründlich misslang. Dann drängte er sich an seinem Kollegen und der hübschen Fremden vorbei und fegte auf seinem Weg fast ein Keramikrelief von der Wand, das die Besucherin mit einem beherzten Griff festhielt. «Du hörst von uns, Siggi. Wegen der missbräuchlichen Verwendung des Notrufs, du weißt schon.»
Der schweigsame Kollege warf dem Antiquitätenhändler einen letzten mitleidigen Blick zu und folgte dem doppelten Gunnar die Treppe hinunter. Mit gequälter Miene musste Siggi mit anhören, wie im Erdgeschoss erneut etwas zu Boden ging.
«Nichts passiert!», rief der Polizist durch den Laden.
Siggi fiel es schwer, das zu glauben. Doch er wollte jetzt nicht darüber nachdenken, sondern konzentrierte sich auf seine Besucherin, die ruhig dastand und die Szene beobachtet hatte. Gerne hätte er die Situation mit einem flotten Spruch aufgelockert. Da ihm aber nichts einfiel, was er hätte sagen können, schwiegen sie einander an und lauschten gemeinsam dem konstanten Wimmern der noch immer eingeschalteten Alarmanlage drüben in seinen Wohnräumen.
Schließlich wandte sie sich von ihm ab und schlenderte den Flur entlang. Dabei deutete sie mit einer Hand, an deren Fingern zahlreiche billige Ringe glitzerten, auf die Dachfenster. «Es wäre hier oben viel heller, wenn man die Scheiben einmal gründlich putzen würde. Und ein paar frische Blumenarrangements könnten das Ambiente freundlicher und ansprechender wirken lassen. So etwas steigert auch die Kauflaune der Kunden.»
«Kann sein», antwortete Siggi, ohne wirklich hinzuhören, und bewunderte ihr von Spitze umrahmtes Dekolleté, als sie sich wieder zu ihm umwandte.
«Dann sind wir uns also einig?» Sie strahlte ihn an.
«Absolut», erwiderte Siggi und fragte sich, wovon eigentlich gerade die Rede war. Hatte er etwas verpasst?
«Das ist schön.» Sie ließ zwei ebenmäßige Reihen perlweißer Zähne aufblitzen. «Wollen Sie nicht rangehen?»
«Rangehen?»
«Ihre Hosentasche vibriert. Ich möchte ja gern glauben, es hätte etwas mit mir zu tun, aber ich tippe eher auf ein Handy.»
Hastig zog Siggi sein Telefon aus der Tasche und las Antons Namen auf dem Display. Mit einem entschuldigenden Blick in Richtung der amüsiert wirkenden Besucherin nahm er das Gespräch an.
«Und? Wo bleibt mein Froschkönig?», tönte Antons Stimme aus dem Handy, begleitet von einem unterdrückten Gähnen. Offensichtlich ging für den Kunstexperten eine ungewöhnlich lange und arbeitsreiche Nacht langsam ihrem Ende entgegen. Just in dem Moment, da in Siggis Antiquitätenladen die leibhaftige Sonne aufgegangen war und zufrieden vor sich hin summte. Beschwingt, als würde sie zu einer Musik tanzen, die nur sie hören konnte, begab sie sich in den Raum mit dem Kleiderfundus.
«Was für ein Froschkönig?», fragte Siggi irritiert und erinnerte sich erst jetzt wieder an Antons Bitte, die Porzellanfigur zu fotografieren. «Entschuldige, aber bei mir ist der Teufel los. Ich muss erst mal der Alarmanlage das Maul stopfen.»
Ohne ein Wort der Erklärung beendete er das Gespräch und lief hinaus ins Freie, um das Haus durch den Seiteneingang zu betreten. Auch die Treppe nach oben nahm er im Laufschritt und hielt erst vor seiner Wohnungstür inne.
Das Türschloss war unbeschädigt, und so steckte er den Schlüssel hinein und öffnete. Drinnen war der Lärm der Alarmanlage kaum zu ertragen. Siggi riss die Metalltür neben der Abstellkammer auf und blickte auf eine Reihe wild blinkender roter Lämpchen. Er hatte die gesamte Technik für einen Spottpreis bei der Auflösung eines Vereinshauses ergattert, und das Modell war vermutlich so alt wie er selbst. Aber sie tat, was sie sollte, besonders, seit er den zusätzlichen Lautsprecher über der Ladentür angebracht hatte. Der hatte ihn an diesem Tag allerdings auch nicht vor Schaden bewahrt.
Energisch legte er den Schalter um und drückte eine Reihe von Knöpfen, bis all die rot blinkenden Lichter wieder in friedlichem Grün erstrahlten. Anschließend stattete er der Küche einen Besuch ab, um nach Lola zu sehen. Die Boxerdame erhob sich bei seinem Eintreten schwerfällig von ihrem Platz.
«Man muss schon taub sein, um bei diesem Krach einfach liegen zu bleiben.» Er sah sie vorwurfsvoll an, und die Hündin schaute beleidigt zurück. «Taub oder bodenlos faul.»
Lola trottete unbeeindruckt zu ihrem Napf. Als sie ihn leer vorfand, trat abgrundtiefe Trauer in die ohnehin schon von der Schwerkraft herabgezogene Miene der Boxerdame.
«Nicht, dass du es verdient hättest», meinte Siggi, entnahm der Blechdose auf dem Küchentisch einige Hundekekse und warf sie ihr zu. Lola verschlang alles in Sekundenschnelle und verteilte im Anschluss eine Spur von Sabber auf seiner Hose. Siggi wischte ihn kommentarlos fort und streichelte ihr den Rücken. Acht Jahre war sie nun schon an seiner Seite und damit länger als jede Ehefrau. Lola gehörte zu ihm wie Antiquitäten und Fischfilet. Sie war ein fester Bestandteil seines Lebens.
«Ich habe keine Zeit zum Schmusen, ich habe zu tun.» Es war eine Ausrede, die sie nicht gelten ließ.
Mit dem Kaffeebecher in der Hand stieg er, gefolgt von Lola, die steile Treppe wieder hinunter, trat ins Freie und wenige Meter weiter wieder durch die ramponierte Tür in sein Geschäft. Erst jetzt kam ihm die hübsche Kundin wieder in den Sinn, die er nach Antons Anruf einfach stehen gelassen hatte. Was musste sie von ihm denken? Es war wirklich nicht sein Tag. Zu viele Dinge geschahen gleichzeitig, statt sich schön brav in einer Reihe anzustellen.
Da die Frau im Erdgeschoss nicht zu sehen war, wollte er die Suche oben fortsetzen, hielt jedoch schon auf der ersten Treppenstufe inne. Ein Gedanke drängte sich ihm auf, der ihm ganz und gar nicht gefiel. Was, wenn der Sessel nun, da die Polizei das Feld geräumt hatte, wieder besetzt war? Es konnte doch sein, dass da jemand ein grausames Spiel mit ihm spielte.
Siggi entschied, sich nach all der Aufregung ein wenig Feigheit zu leisten. Er beschloss abzuwarten, bis die Besucherin von selbst herunterkam, falls sie überhaupt noch im Haus war. Stattdessen suchte er die Porzellanschale mit der nackten Schönheit samt Froschkönig und fand sie unversehrt auf der Biedermeierkommode zwischen zwei Kerzenleuchtern. Mit dem Handy schoss er eine Reihe Fotos aus verschiedenen Perspektiven und schickte sie an Anton. Eine Reaktion blieb aus. Vermutlich war sein Freund endlich vom Schlaf übermannt worden.
Siggi steckte das Handy weg und wanderte durch sein Geschäft, wobei er sich aufmerksam umblickte. Da fiel sein Blick auf die Scherben am Boden.
«Kein Tatort, was?», knurrte er und ballte beim Gedanken an Gunnar die Fäuste. «Hier starb immerhin eine Antiquität, und der Täter war ein tollpatschiger Dorfbulle.»
Auf der Suche nach einem Handfeger hörte er plötzlich ein seltsames Geräusch, das ihn an das Fiepen der Alarmanlage erinnerte. Nur war es jetzt wesentlich leiser und schien aus einem der Verkaufsräume im Erdgeschoss zu kommen. Er warf Lola, die neben ihm stand, einen fragenden Blick zu, doch auch die Hündin konnte keine Antwort liefern. So folgte er dem Geräusch bis zum Porzellanzimmer. Über diesen Bereich seines Ladens hatte er schon vor langer Zeit die Kontrolle verloren, zu viele Teller und Schüsseln hatten im Laufe der Jahre hier Einzug gehalten.
Als er einen Blick hineinwarf, stellte er fest, dass es der Kundin im Sommerkleid irgendwie gelungen sein musste, die Treppe geräuschlos zu passieren. Gerade testete sie das erste Staubsaugermodell der Firma Vorwerk. Ob sie mit der Leistung dieses Dinosauriers unter den Haushaltsgeräten zufrieden war, konnte Siggi nicht erkennen, da sie ihm den Rücken zuwandte. Zumindest wusste er jetzt, wo das penetrante Fiepen herkam.
Siggi hatte nicht mehr damit gerechnet, für dieses vorsintflutliche Modell noch einen Käufer zu finden. Umso mehr freute er sich über das Interesse dieser Kundin und besonders über ihren Eifer, mit dem sie den «Kobold» über seinen Teppich schob. Dabei wollte er sie auf keinen Fall stören. Über einen Preis konnten sie sich später immer noch einig werden.
Endlich fand er seinen Handfeger, kehrte die Überreste am Boden zusammen und versenkte die Scherben im Mülleimer. Dann stand er eine Weile unschlüssig herum und fühlte sich außerstande, einfach zur Tagesordnung überzugehen. Lola beobachtete ihn aufmerksam und schien auf eine Erklärung zu warten.
«Es sind seine Augen, verstehst du?» Er schluckte. «Ich sehe sie noch immer vor mir, so starr und leblos. Wie soll ich dieses Bild jemals wieder aus meinem Kopf bekommen?»
Lola gab ein abfälliges Schnauben von sich und trottete zur Tür hinaus, um ihren Stammplatz in der Sonne gleich neben der Gartenbank einzunehmen.
«Oh, vielen Dank für dein Verständnis», rief Siggi ihr nach und schielte in Richtung Treppe. Allein der Gedanke daran hinaufzugehen trieb ihm die Schweißtropfen auf die Stirn. Aber das war sein Haus, sein Laden. Wie sollte er weiterhin hier arbeiten, wenn er sich vor einem Teil davon fürchtete?
«Also schön. Wenn man vom Pferd gefallen ist, soll man schließlich auch gleich wieder aufsteigen.» Er setzte den Fuß auf die erste Stufe, und ihr Knarren übertönte kurzfristig sogar das Summen des Staubsaugers.
Die Hände zu Fäusten geballt und die Lippen fest zusammengepresst, erreichte er das Zimmer am Ende des Flurs. Als er zu seiner Erleichterung feststellte, dass der Tote nicht zurückgekehrt war, begann er, die Scherben einzusammeln. Es war kein Vermögen, das zerschmettert vor ihm am Boden lag. Allerdings erfreuten sich die Keramikarbeiten von Walther Zander bei Sammlern nach wie vor großer Beliebtheit, also würde er Gunnar wenigstens diese Vierkantvase in Rechnung stellen.
Nachdem er die Überreste der Keramik in einer Obstschale zwischengelagert hatte, untersuchte er den Sessel ein weiteres Mal. Doch Gunnar hatte recht, es gab einfach keine Spuren, die auf ein Verbrechen hindeuteten. Trotzdem wusste Siggi, was er gesehen hatte: einen Toten. Aber der war nun weg, und Siggi hatte nicht den kleinsten Beweis für das Erlebte.
Schon leicht verzweifelt, ließ er sich auf alle viere nieder und warf nacheinander einen Blick unter die wenigen Möbelstücke im Raum. «Er wird ja nicht wie Jesus wiederauferstanden sein», sagte er zu sich selbst. «Den hat einfach jemand mitgehen lassen. Aber wer klaut denn eine Leiche?»
Die Antwort drängte sich ihm nahezu auf. Selbstverständlich der Mörder, denn nur der hatte ein Interesse daran, seine Tat zu vertuschen. Wies denn nicht alles auf ein Verbrechen hin, gerade weil der Tote fort war? Und bedeutete das nicht, dass er dem Täter an diesem Morgen tatsächlich sehr nahe gewesen sein musste?