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Ein Irisches Dorf auf der Suche nach einem Bücher-Mörder Eigentlich ist Aoife eine typische Großstadtfrau und kann mit dem Landleben wenig anfangen. Doch nach der Trennung von ihrem langjährigen Freund hat die erfolgreiche Schriftstellerin eine Schreibblockade. Auf Anraten ihres Verlegers zieht sie sich mit ihrem Kater Dr. Jingles in ein Cottage in das kleine irische Dorf Ard Carraig zurück. Doch die erhoffte Ruhe bleibt aus, denn schon am nächsten Tag findet Aoife ein zerstörtes Exemplar eines ihrer Romane im Garten. Als weitere Bücher folgen, ist klar, dass jemand die Schriftstellerin bedroht. Doch wer könnte das sein? Zum Glück findet die Autorin bei den Dorfbewohnern unerwartete Unterstützung. Gemeinsam mit dem örtlichen Pubbesitzer Tom versucht sie, dem Täter auf die Spur zu kommen.
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Die AutorinAnna Bednorz, geboren 1982, ist eigentlich Paläontologin, arbeitet heute aber in der Software-Branche. Sie lebt mit ihrem Mann und drei Katzen im Schwarzwald, hat aber schon früh ihr Herz an Irland verloren. Land und Leute haben es ihr auf zahlreichen Wandertouren v.a. im Südwesten angetan, und so spielt ihr erster Roman vor diesem Hintergrund. Neben dem Schreiben gehören Reenactment, Trekking sowie altmodische Handarbeiten zu ihren Hobbys.
Das Buch
Eigentlich ist Aoife eine typische Großstadtfrau und kann mit dem Landleben wenig anfangen. Doch nach der Trennung von ihrem langjährigen Freund hat die erfolgreiche Schriftstellerin eine Schreibblockade. Auf Anraten ihres Verlegers zieht sie sich mit ihrem Kater Dr. Jingles in ein Cottage in das kleine irische Dorf Ard Carraig zurück. Doch die erhoffte Ruhe bleibt aus, denn schon am nächsten Tag findet Aoife ein zerstörtes Exemplar eines ihrer Romane im Garten. Als weitere Bücher folgen, ist klar, dass jemand die Schriftstellerin bedroht. Doch wer könnte das sein? Zum Glück findet die Autorin bei den Dorfbewohnern unerwartete Unterstützung. Gemeinsam mit dem örtlichen Pubbesitzer Tom versucht sie, dem Täter auf die Spur zu kommen.
Anna Bednorz
Mord im Cottage
Ein Krimi mit Katze
Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de
Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin August 2017 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat ISBN 978-3-95819-119-8 Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Der erste Gedanke, der mir beim Anblick meines neuen Domizils auf Zeit durch den Kopf schoss, war: »Ach du meine Güte …«
Das Cottage schien wahr gewordenes Landhausidyll und der Traum einer jeden Hausfrau-aus-Überzeugung.
»Also genau das Richtige für mich«, grollte ich.
Was hatte sich Laurie nur dabei gedacht? Wäre er in diesem Moment hier, ich hätte mich auf ihn gestürzt, und das nicht aus Begeisterung.
Genervt stieg ich aus meinem vollbeladenen Auto und seufzte. Beim Gedanken an meine zahlreichen Koffer und Kisten überkam mich eine grenzenlose Unlust. Ich hasste Umzüge. Nicht nur, weil sie Stress bedeuteten, Dinge verlegt und dann ein halbes Jahr später in einer noch nicht ausgepackten Kiste entdeckt wurden und beim Auspacken definitiv irgendetwas zu Bruch ging. Nein, man bekam auch neue Nachbarn, wurde von Anfang an beobachtet und bespitzelt und kam sich wie ein Schwerverbrecher vor. Außerdem mochte Dr. Jingles keine Umzüge. Er konnte das Autofahren nicht ausstehen und zeigte das für gewöhnlich auch. Ihm – und meinen Nerven – zuliebe hatte ich es die letzten Jahre vermieden, meine Wohnung zu wechseln. Aber dieser Umzug war nicht zu vermeiden gewesen, also musste Dr. Jingles da durch. Wenigstens hatte er ab heute einen Garten, von daher würde ich seine Beschwerden konsequent ignorieren können.
Mit dem Haustürschlüssel in der einen und Dr. Jingles’ Tragekörbchen in der anderen Hand trat ich auf das Cottage zu. Es war sogar schlimmer als erwartet. Das Dach war tatsächlich mit Reet gedeckt, und der rechte Teil des Hauses war zu einem guten Teil von Efeu und anderen Rankenpflanzen bewachsen. Das versprach eine freudig hohe Zahl an Ungeziefer, das aus den Pflanzen durch das kleine, von vier Sprossen unterteilte Fenster ins Innere des Hauses krabbeln würde. Vielleicht sollte ich Dr. Jingles’ Nahrungsportionen verkleinern, schließlich würde er hier eine Menge Zusatzproteine bekommen.
Die Tür übertraf das reetgedeckte Dach noch um ein Vielfaches an Kitsch: Sie war knallrot und besaß doch wirklich einen Türklopfer! Das wurde immer schlimmer. Ein pausbäckiger Löwe mit enormer Mähne grinste mich metallglänzend an. Vergeblich suchte ich einen gewöhnlichen Klingelknopf, aber den schien es hier nicht zu geben. Ob ich den Löwen brüllen hören würde, wenn Besucher kämen?
Ein etwas kleinerer Löwe machte in diesem Moment auf sich aufmerksam: Ein verdächtig trotziges und unzufriedenes Maunzen war aus dem Tragekorb zu hören. Ich stellte den Korb vor die Tür und öffnete den Verschluss. Sofort kam Dr. Jingles herausgesprungen und stolzierte wild miauend um meine Beine.
»Na, mein Guter, die Fahrt ist vorbei. Wir sind da. Ich hab sogar extra für dich einen Garten organisiert …«
Nach seinem kurzen Tanz um meine Beine verschwand Dr. Jingles wie vom Blitz getroffen im Garten. Ich folgte ihm. Ich wollte mir das Übel erst von außen ansehen, bevor mich im Inneren des Hauses der Schlag traf.
Der Garten war nicht allzu groß, doch ich sah auf den ersten Blick, dass er in der Vergangenheit sehr liebevoll gehegt und gepflegt worden war. Die verschiedensten Pflanzen – von Rosen über Rhododendren bis hin zu Hortensien – wechselten sich ab mit mannshohen Büschen, die mein Grundstück von den anderen trennten, und überboten sich in Farbenfülle und Duftreichtum. Ich fühlte mich schier erschlagen – ich war nicht gerade bekannt dafür, einen grünen Daumen zu haben. Ich liebte Blumen zwar, dennoch besaß ich nur wenige Topfpflanzen – meistens Kakteen. In meiner Anwesenheit hatten Pflanzen die Angewohnheit, innerhalb kürzester Zeit traurig vor sich hin zu siechen und einzugehen. Ich war überzeugt davon, dass das nicht meine Schuld war. Ich kümmerte mich um meine Pflanzen. Licht, Wasser, Dünger, keine Fremdworte für mich, und trotzdem, es überstanden nur die Wenigsten meinen Einsatzwillen.
Ich hoffte, Laurie hatte das mit der Besitzerin abgeklärt. Ich konnte mir nur zu gut ihre Reaktion vorstellen, sollte sie hierher zurückkommen und eine nukleare Wüste vorfinden.
Ich seufzte vernehmlich, doch meine Laune besserte sich schlagartig, als ich im hinteren Bereich des Gartens den Glasanbau des Cottage sah: ein Wintergarten! Herrlich! Einen perfekteren Arbeitsort gab es nicht. Er war nicht allzu groß, es passten gerade eine kleine Couch, ein Sessel, ein winziges Bücherregal und ein ebenso winziger Couchtisch rein und – natürlich – die obligatorischen Zimmerpflanzen – auch noch Orchideen. Ich versuchte, die Terrassentür des Wintergartens zu öffnen, doch es war von innen abgeschlossen. Nun denn, dann würde ich mich nun endlich in die Höhle des Löwen begeben.
Ich ließ Dr. Jingles im Garten – ich sah ihn nicht, sondern hörte nur verdächtige Kratzgeräusche in den nahen Büschen – und ging, nicht ohne zuvor aus dem Auto zwei Koffer mitzunehmen, aufs Haus zu. Der erste Schlüssel am Schlüsselbund passte sofort, ich betrat eine kleine muffige Diele und sah mich um. Ganz nett, dezent. Hoher, schmaler und offenbar antiker Hängespiegel, Kleiderhaken für Jacken und Mäntel, der unvermeidbare Schirmständer.
Das Erdgeschoss bestand aus lediglich zwei Zimmern. Das kleinere war die Küche, und die war für meinen Geschmack sehr rustikal eingerichtet, mit dunklem Eichenholz, Hängevitrinen mit dickem Buntglas davor und vielen kleinen Haken für Tassen und Küchenutensilien. Fehlten nur noch von der Decke herabhängende … ah ja, da waren sie, die getrockneten Kräuterbündel und Knoblauchketten. Eine Spülmaschine suchte ich vergebens, aber wenigstens gab es Kühlschrank, Herd und Backofen. Ein massiver Holztisch mit geklöppeltem Spitzendeckchen und frischen Wildblumen war die Krönung des Ganzen. Nicht gerade eine Umgebung, in der ich meinen üblichen Cappuccino würde trinken können, ohne auf den Gedanken zu kommen, eigentlich guten englischen Tee konsumieren zu müssen. Vielleicht sollte ich auch gleich damit anfangen. Nach kurzem Suchen fand ich eine Kanne (mit floralem Muster, was sonst), setzte einen Tee auf, und inspizierte die Nahrungsvorräte. Ich würde so schnell wie möglich einkaufen müssen. Abgesehen von einer offenen Packung Shortbread und einem noch nicht angebrochenen Marmeladenglas war der Vorratsschrank leer.
Ich goss meinen Tee auf und ging mit meiner vollen Tasse ins Wohnzimmer. Das war nun wirklich mein persönlicher manifestierter Alptraum. Das Zimmer war stilsicher in einer Mischung aus Landhausidylle und Antiquitätengeschäft eingerichtet. Die blauen und violetten Blümchen der Tapete bissen sich auf das Grässlichste mit dem Sessel und dem Chintz-Sofa, die beide einen Überzug mit roten Rosen besaßen. Die Läufer, allesamt orientalisch, schienen völlig wahllos auf dem Boden verteilt worden zu sein, und die Möbel hätten einem Landleben-Artikel zur Ehre gereicht. Lediglich der offene Kamin und die deckenhohen Bücherregale entlockten mir ein zufriedenes Seufzen, auch wenn diese Elemente natürlich zu dem Bild eines perfekten Cottage passten wie die Marmelade auf die Scones.
Objektiv gesehen hatte das alles seinen Charme, es war idyllisch, niedlich, zuckersüß – und überhaupt nicht mein Fall.
Als typisches Großstadtmädchen hatte ich so meine Vorbehalte dem Landleben gegenüber – und momentan schienen sie sich alle zu bewahrheiten.
Am heißen Tee nippend, ging ich zurück in den Flur und von dort aus die Treppe hoch in den ersten Stock. Mir standen noch das Schlafzimmer und das Bad bevor, und mir schwante Übles. Das Schlafzimmer war tatsächlich erneut beunruhigend: Alles war mit Rüschen und Schleifen verziert. Die Vorhänge waren gerafft, und sowohl die Tagesdecke des Bettes als auch der Überzug der Nachttischlampe waren ebenfalls in Falten geworfen … das würde Alpträume hervorrufen.
Das Bad, bei dem ich mich auf das Schlimmste gefasst machte (Badewanne mit Füßen oder goldene Wasserhähne) überraschte mich positiv. Es war rundum modern, mit Dusche und Eckbadewanne und schönen, klaren Strukturen.
Ich atmete tief durch, klatschte mir etwas kaltes Wasser zur Erfrischung ins Gesicht und betrachtete mich im Spiegel. Was ich sah, gefiel mir so gar nicht. Müde Augen blickten mich an, und ich hatte den Eindruck, ich würde schon wieder neue Falten entdecken. Mit fünfunddreißig Jahren konnte man keine faltenfreie Gesichtslandschaft erwarten, erst recht nicht nach der entnervenden Zeit, die hinter mir lag. Doch mehr als meine Falten erzürnten mich meine ersten grauen Haare. Sie waren noch sehr spärlich verteilt und bei meiner natürlichen Haarfarbe kaum zu sehen, doch ich wusste, dass sie da waren, und sie ärgerten mich zutiefst. Meiner gedanklichen Einkaufsliste fügte ich eine Haartönung hinzu. Gab es solche weltlichen Luxusartikel auf dem Lande überhaupt, oder führten die örtlichen Läden und Geschäfte nur Tee, Kartoffeln, Gemüse und Fleisch? Mit einem boshaften Blick streckte ich meinem Zwilling die Zunge heraus und verließ das Bad in Richtung Erdgeschoss.
Die nächsten Stunden bestanden aus der üblichen Arbeit, die Umzüge so mit sich bringen: Schleppen und Auspacken, gekrönt von dem Versuch, die Möbel und Einrichtungsgegenstände im Wohnzimmer zu einem etwas harmonischeren Bild umzuordnen und dem Haus etwas von meiner persönlichen Note zu verleihen.
Gerade als ich mit meinem wichtigsten Arbeitsutensil, dem Laptop, den Wintergarten in Beschlag nehmen wollte, klingelte mein Handy. Es war Laurie.
»Na, du kannst dich auf was gefasst machen«, grummelte ich zur Begrüßung.
»Aoife, endlich erreiche ich dich!“, rief Laurie mit seiner penetranten gut gelaunten Stimme. »Ich versuche es schon den ganzen Vormittag bei dir. Das Netz da draußen scheint nicht das Beste zu sein, hä? Wie geht’s dir, mein Mädchen? Schnupperst du auch ordentlich Landluft?«
Ich verdrehte die Augen. »Du mieser kleiner …« Den Rest verkniff ich mir lieber. »Was zur Hölle hast du mir hier angemietet? Noch ein wenig idyllischer und ich koche mir spontan ein traditionelles Irish Stew. Ich komme mir vor wie im Landleben-Magazin. Laurie, du kennst doch meinen Geschmack. Warum also so was? Warum nicht etwas, das entfernt an ein normales Leben erinnert?«
Ich hörte ein unterdrücktes Kichern am Ende der Leitung. »Wie? Es gefällt dir nicht? Das enttäuscht mich jetzt aber … ich habe mir solche Mühe gegeben beim Aussuchen …«
»Du willst mich wohl verarschen! Laurie, ich schwöre dir …«
Ich wurde jäh von einem ernsteren Laurie unterbrochen: »Hör mal Aoife, es tut mir leid, aber auf die Schnelle war nichts anderes frei, und ich hielt dieses Angebot für das beste. Das Cottage ist groß, für deine Verhältnisse zumindest, du hast genug Raum zum Arbeiten, einen tollen Garten, hab ich mir sagen lassen, und wohnst relativ abgeschieden. Das Dorf hab ich noch nicht einmal auf der Landkarte gefunden, ich war nicht sicher, ob es überhaupt existiert. Aber Mrs Kyle, deine Vermieterin, meinte, die Gegend wäre für deine Bedürfnisse perfekt, und die Miete ist nicht allzu hoch, also, tut mir leid, wenn es nicht hundertprozentig deinen Vorstellungen entspricht, aber es ist ja nur eine Übergangslösung. Sobald sich die Lage beruhigt hat, kannst du wieder in dein altes Leben zurück, okay? Es ist nur für kurze Zeit. Versuche es zu ertragen.«
Ich hasste es, wenn er so vernünftig war, und so verdammt recht hatte. Es nahm mir den Wind aus den Segeln. »Alles klar, ich füge mich«, sagte ich resigniert. »Aber du hältst mich auf dem Laufenden, ja?«
»Na klar, mein Mädchen. Bis dahin lass es dir gut gehen, und mach mir die einheimischen Pubs nicht allzu unsicher.« Mit einem letzten Kichern legte er auf.
Schicksalsergeben starrte ich noch eine Weile auf mein Handy, bevor ich es leicht entnervt in die Tasche zurücklegte. Hier war ich nun also. Eine Frau aus der Großstadt mitten im Nirgendwo.
Ich hatte recherchiert. Das Dorf Ard Carraig war auf keiner meiner Karten verzeichnet, dafür war es wohl zu klein. Lediglich im Internet konnte ich einen winzigen Hinweis darauf finden, dass dieses Dorf nicht einfach nur erfunden war, sondern tatsächlich existierte. Und hier sollte ich die nächsten Wochen irgendwie überstehen. Danke, Laurie!
Aber es half ja nichts. Bevor ich Gefahr lief, wegen meiner Lage in totalem Frust zu ertrinken, beschloss ich, da ich ohnehin dringend Vorräte brauchte, einen Streifzug durch das Dorf zu unternehmen. Ich schnappte mir einen Korb und entschied mich, das Auto stehen zu lassen. Das Dorf bestand wahrscheinlich nur aus einer Hauptstraße, wozu also Benzin verschleudern, wenn ich in zwei Minuten zu Fuß da sein konnte?
Nachdem ich die Tür verschlossen und erneut den scheußlichen Türklopfer betrachtet hatte, rief ich kurz nach Dr. Jingles, doch der reagierte nicht. Er erkundete vermutlich schon die gesamte Gegend.
Aus den Augenwinkeln sah ich beim Heraustreten auf den Gehweg, wie sich plötzlich im Nachbarhaus ein Vorhang im Erdgeschoss verdächtig bewegte und ein Gesicht kurz zum Vorschein kam, um gleich wieder zu verschwinden. Aha! Hatte ich es doch gewusst! Die ersten Nachbarn beäugten mich misstrauisch. Puh. Vielleicht sollte ich nach meinen Einkäufen einen Direktangriff versuchen und mich kurz vorstellen?
Der Streifzug durch das Dorf machte mir deutlich, dass nicht nur mein Häuschen hübsch und gut gepflegt war, das schien hier tatsächlich auf alle Häuser zuzutreffen. Die Vorgärten waren durchweg mit viel Liebe und Aufwand bepflanzt, die Häuser frisch gestrichen. Die Fenster waren mit kitschigen Gardinen behangen, und in vielen der Auffahrten lag entweder ein Hund mit aufmerksam gespitzten Ohren und wachsamen Augen oder eine träge Katze, die mein Vorbeigehen lediglich registrierte, mich als nicht interessant genug abstempelte und weiterdöste. Mir fiel auf, dass kaum ein Auto in den Auffahrten oder vor den Häusern parkte, was aber für diese Zeit – Dienstagmorgen, elf Uhr – nicht weiter ungewöhnlich war. Vermutlich war das Dorf voll von Menschen, die hier wohnten und in der nächstgrößeren Stadt arbeiteten. Ich hoffte, dass es nicht ganz so schlimm sein würde. Es gab kaum etwas Deprimierenderes als Geisterdörfer. Unter der Woche kaum etwas los, und am Wochenende überfüllt mit gestressten und erholungssuchenden Pendlern.
Ich vermutete, dass ich mich allmählich dem Dorfzentrum näherte, denn ich erreichte etwas, das aussah wie ein Marktplatz. Ein großer Stein mit Inschrift besagte, dass es Ard Carraig bereits seit 1383 – urkundlich festgehalten – gab. Na ja, viel hatte sich seitdem nicht getan.
Zumindest das Dorfzentrum gab Grund zur Freude, denn es ging wesentlich lebhafter zu als erwartet. Ich konnte auf Anhieb ein Pub entdecken, das sehr urig und atmosphärisch wirkte, dessen Ernsthaftigkeit jedoch von der rosa Fassadenfarbe wie auch dem großen rosa Schwein als Namensschild etwas gemindert wurde. The Laughing Pig verkündete das Pubschild, gab es auch nicht erst seit vorgestern, sondern seit 1825. Verdammt viel Geschichte in diesem kleinen Dorf.
Neugierig trat ich auf das Pub zu und rüttelte an der Tür, die sich zunächst sträubte, dann jedoch nachgab. Mir schlug ein Geruch nach schalem Bier, fettigem Essen, würzigem Whisky und der Anwesenheit fröhlicher und zechender Menschen entgegen. Ich liebte diesen Duft und blieb deshalb einen Augenblick stehen und schloss die Augen. Das Pub war wie ein öffentliches Wohnzimmer ausgestattet: rustikale Tische aus Holz, die von hohen Barhockern oder etwas niedrigeren Holzbänken umstellt waren, eine zentrale Theke mit Zapfhähnen diverser wohlbekannter Brauereien, viele unterschiedlich gerahmte Bilder an den Wänden, die von Schnappschüssen bis hin zu Zeitungsausschnitten und alten Reklametafeln reichten, sowie ein Sammelsurium von Lampen, Dekokram, Werbeartikeln der Getränkehersteller und allerlei Flohmarktfunden.
Mir wurde bewusst, dass ich vollkommen alleine war, vermutlich hatte das Pub offiziell noch geschlossen und ich sollte eigentlich gar nicht hier sein. Unsicher, ob ich nun bleiben oder gehen sollte, hörte ich aus dem Hintergrund ein Poltern und Rumoren, dann eine Stimme: »Ed? Bist du das schon wieder? Waren wir uns nicht einig, dass ich vormittags geschlossen habe und dass diese Öffnungszeiten auch für dich gültig sind?«
Huch, es war wohl Zeit, mich zu verdrücken. Auf eine Konfrontation an meinem ersten Tag hatte ich so überhaupt keine Lust. Doch bevor ich die Tür erreichte, kam ein Mann hinter dem Tresen hervor, ein Handtuch lässig über die Schulter geworfen, und polterte los: »Ed, verflucht noch mal, so gern ich dich auch habe, aber …« Er stockte und schien erst in diesem Augenblick zu erkennen, dass ich nicht Ed war.
Sekundenlang starrten wir uns wortlos an und stammelten dann gleichzeitig los. »Es tut mir leid, ich war nicht sicher, ob Sie offen haben, oder …«
»Hey, Sie sind ja gar nicht Ed!«
Wieder starrten wir uns an und mussten dann losprusten.
Ich schaffte es als Erste, wieder Luft zu holen. »Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht einfach einbrechen, ich war mir nur nicht sicher, ob Sie geöffnet haben oder nicht. Die Tür war nur angelehnt.«
Er winkte abwehrend mit der Hand. »Nein, nein, Sie müssen sich nicht entschuldigen. Wenn ich im Pub bin, dann ist die Tür stets offen, auch wenn ich offiziell noch gar nicht geöffnet habe. Aber das können Sie ja nicht wissen.« Er sah mich neugierig an. »Sind Sie auf der Durchfahrt? Wenn Sie möchten, einen Kaffee kann ich Ihnen schon machen, bevor Sie weiterreisen.«
Das fing ja gut an. Wollte er mich gleich wieder loswerden?
»Durchfahrt? Nein, ich … ähm … ich … ich wohne seit heute hier.« Ich trat auf ihn zu, mit ausgestreckter Hand. »Ich bin Aoife, Aoife Sullivan. Seit heute Morgen Bürgerin von Ard Carraig.«
Perplex schüttelte er meine Hand, und es sprudelte weiter aus mir heraus: »Ich wohne im Cottage von Mrs Kyle. Solange sie bei ihrer Tochter in den Staaten ist, meine ich.«
Das Gesicht des Wirtes zeigte erstmals Verständnis. »Ah, ja. Mrs Kyle hat erwähnt, dass sie ihr Haus zwischenvermietet. Na dann, herzlich willkommen hier bei uns in Ard Carraig, pulsierende Metropole im County Kerry.« Er grinste mich an und fügte dann noch schnell hinzu: »Bevor ich es vergesse, ich bin Tom.«
Er schüttelte mir erneut die Hand und winkte mich dann heran. »Kommen Sie, setzten Sie sich doch, Aoife. Auf Ihre Ankunft müssen wir einen trinken. Los, setzen Sie sich.« Er führte mich zu einem hohen Hocker direkt an der Bar und verschwand selber hinter dieser.
»Was kann ich Ihnen anbieten: Guinness, Cider oder etwas mit mehr Rums? Wir haben hier auch etwas ganz Spezielles, ein selbst gebrautes Ale, das mit besonderem Malz hergestellt wird, wäre das was für Sie?« Er zwinkerte mir zu.
Gütiger, wollte er etwa, dass ich noch vor der Mittagszeit Alkohol zu mir nahm? »Ähm«, stammelte ich, »wie wäre es mit einem Tee?«
Er lachte laut auf. »Klar. Lassen Sie sich von mir nicht verwirren, ich hab Sie nur auf den Arm genommen. Tee, kommt sofort.«
Während er mit schnellen und geübten Handgriffen meinen Tee zubereitete, konzentrierte ich mich darauf, ihn nicht allzu offensichtlich zu beobachten. Tom war ein großer Mann, fast ein Hüne, sicher an die eins neunzig hoch, und hatte ein offenes und gutmütiges Gesicht. Er sah genauso aus, wie ich mir immer einen Pub-Wirt auf dem Lande vorgestellt hatte: die strubbeligen Haare unter eine Schiebermütze älteren Datums gesteckt, ein nasses und benutztes Geschirrtuch über einer Schulter hängend, ein fleckiges, aber nicht unbedingt schmuddelig wirkendes Hemd und eine Schürze um die Hüften. Er hatte sehr helle, blaue Augen, die ausnehmend gut zum rötlichen Haar passten. Wie aus einem Rosamunde-Pilcher-Roman, kitschig, aber doch passend.
»Sagen Sie«, rief ich ihm zu, während er noch mit meinem Tee beschäftigt war. »Wer ist Ed?«
Er drehte sich zu mir um und meinte verschmitzt: »Ed? Den werden Sie noch kennenlernen, ja, auf jeden Fall. Man kommt um ihn nicht herum, selbst wenn man will.« Und nach einem kurzen Kichern: »Nein, keine Sorge, Ed ist ein sehr netter und warmherziger Mensch, nur einfach anders als die Meisten. Sie werden schon noch sehen! So, aber hier kommt erst einmal Ihr Tee.«
Er reichte mir eine Tasse und nahm sich selber auch eine. Schweigend prosteten wir uns zu, und ich nippte an dem heißen schwarzen Tee.
Tom stellte seine Tasse ab, betrachtete mich neugierig und ohne jede Scheu. »Und was hat Sie hierhergeführt?«, fragte er.
Ich verschluckte mich beinahe an meinem Tee. Zittrig musste ich meine Tasse mit beiden Händen festhalten. Genau diese Frage hatte ich befürchtet, genau deswegen hatte ich versucht, Laurie zu überzeugen, dass das Landleben nichts für mich war.
Ich hustete kurz und meinte dann: »Mein Arbeitgeber hat mich hierhergeschickt.«
Das war noch nicht einmal gelogen. Als ich mir meine Geschichte ausdachte, war mein Grundsatz: Bleib so dicht wie es nur geht an der Wahrheit, ohne sie auszuplaudern.
»Wissen Sie, ich arbeite mit Computern.« Auch das stimmte noch, mein Laptop war mein wichtigstes Arbeitsutensil. »Also in der Computerbranche.« Okay, das war gelogen. »Ich hatte in den letzten Monaten einen großen und schwierigen Auftrag.« Auch gelogen. »Deshalb hat mir mein Chef netterweise das Angebot gemacht, die nächste Zeit etwas ruhiger anzugehen und von daheim aus zu arbeiten.« Das war immerhin fast wahr. »Und weil mir zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen ist und ich mich nach etwas Ruhe und frischer Luft gesehnt hab«, das war furchtbar gelogen, »habe ich etwas Stilles, Ländliches gesucht, und tja … nun bin ich hier.«
Ich sah Tom offen ins Gesicht und versuchte herauszufinden, ob er meinen Blödsinn glaubte oder nicht. Doch ich sah keinen Argwohn in seinen Augen, er schien es für bare Münze zu nehmen.
»Ah, Sie kennen sich mit Computern aus? Sie schickt doch wirklich der Himmel. Der Computer meiner Tochter funktioniert in letzter Zeit nicht so, wie er sollte, vielleicht könnten Sie …«
Er musste meinen geschockten Gesichtsausdruck gesehen und falsch interpretiert haben, denn er lenkte sofort ein: »Nein, nein, Aoife, nicht sofort, und nicht in den nächsten Tagen. Sie sind ja hier, weil Sie etwas Ruhe und Entspannung haben möchten, nicht um noch mehr zu arbeiten. Vielleicht einfach … irgendwann. Wenn Sie Zeit und Lust haben.«
Oh Gott, gerade noch davongekommen. Ich wusste zwar, wie mein Computer ein- und ausgeschaltet wurde, ich kannte die gängigen Office-Programme und ich konnte im Internet surfen, ohne dabei aus Versehen auf Pornokanäle zu stoßen, aber alles andere war für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Plötzlich schien mir die Idee, eine versierte Computerexpertin zu mimen, sehr dumm zu sein. Was hatte mich da bloß geritten? Ach ja, ich hatte vermutet, dass Computer auf dem Lande in etwa so futuristisch und unrealistisch waren wie fliegende Autos in der Stadt. Da hatte ich mich wohl gewaltig verschätzt.
»Also dann, ich kann ja, wenn ich etwas mehr Zeit und mich häuslich eingerichtet habe, bei Ihnen vorbeischauen.« Ich stand auf und griff nach meinem Korb. »Vielen Dank für den Tee, Tom, das war sehr nett von Ihnen. Ich komme sicher wieder.«
Tom schien ein fröhlicher Mensch zu sein, denn er grinste schon wieder und begleitete mich zur Tür. Kurz bevor ich heraustrat, fragte ich ihn noch nach dem Weg zu einem Lebensmittelladen.
Darauf angesprochen meinte Tom: »Gleich links um die Ecke«, drückte mir die Schulter und winkte mir hinterher.
Ich stand vor dem Pub und musste erst einmal tief durchatmen. Meine erste Begegnung mit einem Eingeborenen. So schlecht war es gar nicht gelaufen, im Gegenteil, ich war sehr freundlich aufgenommen worden, auch wenn mich die Computersache kalt erwischt hatte. Aber daran war ich selbst schuld. Ich packte meinen Korb fester, trat in den sonnigen Tag hinaus und machte mich auf die Suche nach dem Laden.
Dieser lag tatsächlich direkt um die Ecke und war sehr unscheinbar. Ein kleines verwittertes, dringend erneuerungsbedürftiges Schild verkündete in unauffälligen Farben: Murphy´s Groceries. Schon vor dem Lädchen pulsierte das Leben: Mehrere Fahrräder waren – selbstverständlich nicht abgeschlossen – nachlässig abgestellt worden, zwei kleine Schoßhunde warteten hechelnd auf ihre Herrchen, und eine Traube von drei Hausfrauen stand lachend und plaudernd mit ihren gefüllten Taschen und Körben unter den Armen neben der Ladentür.
Sie sahen mich näherkommen und taten ihr Bestes, mich nicht allzu offenkundig anzustarren. Ihre Gespräche verstummten, aber nur für einen winzigen, kaum wahrnehmbaren Moment, bevor sie weiter ihre alltäglichen Klatsch- und Tratschgeschichten auffrischten. Gab es in so einem kleinen Dorf überhaupt genug Gesprächsstoff, damit man nicht Tag für Tag alte Kamellen aufwärmen musste?
Ich drückte mich an dem Grüppchen vorbei, murmelte ein leises »Schönen Tag zusammen« und betrat den Laden.
Dieser überraschte mich auf das Positivste. So unscheinbar und ungepflegt er von außen aussah, in das Innere musste der Besitzer ordentlich investiert haben. Auf großen und offenen Regalen unter grellscheinenden, modernen Leuchten bot der Laden so gut wie alles, was man in einem Supermarkt auch finden konnte – allerdings in erheblich kleinerem Umfang. So konnte ich mich nicht zwischen zehn Packungen verschiedener Pommes entscheiden, sondern musste mich mit der Vorauswahl des Ladenbesitzers zufriedengeben, aber immerhin. Von Tiefkühlessen, Tütensuppen und Dosenbohnen hin zu einer kleinen Metzgertheke, einer Gemüseabteilung und einer überschaubaren Hygieneecke, die auch Haartönungen anbot, fand ich fast alles. Ich würde nicht in die Stadt zum Einkaufen fahren müssen, es sei denn, mir stand der Sinn unbedingt nach Garnelen in Limonensoße, denn von Feinkost war der Laden meilenweit entfernt.
Ich kaufte großzügig alles ein, worauf ich Lust hatte und ging in Richtung Kasse. Die wirkte nun wieder etwas altbacken, denn ein gewöhnliches Laufband mit Scanner gab es nicht, sondern eine Art Theke, auf die ich meine Waren legte. Ein Mann älteren Semesters mit Nickelbrille und grauem Arbeitskittel sah mich lächelnd an.
»Guten Tag«, sagte er, während er die Preise der Artikel in eine kleine Kasse eingab. »Sie müssen unser Neuzugang sein.«
Überrascht blickte ich auf. Hatten die Buschtrommeln also schon getönt? »Ja, das sehen Sie richtig. Sie sind aber gut informiert.«
Er stoppte kurz in seiner Arbeit, langte in eine Tasche seines Kittels, hielt ein Handy hoch und schüttelte es leicht. »Mein Geheimagent hat es mir soeben mitgeteilt.«
Ich musste wohl ziemlich dumm geguckt haben, denn er schüttelte sich vor Lachen.
»Entschuldigen Sie, das verstehen Sie natürlich noch nicht. Der Geheimagent ist meine Frau, Petula Murphy. Sie ist … ähm, wie soll ich das sagen … bekannt dafür, stets auf dem neuesten Stand der Dinge zu sein, um es mal freundlich auszudrücken. Wir sind Ihre Nachbarn. Das Haus links von Mrs Kyle ist unseres.«
Aaaah! Mir ging ein Licht auf. Der sich bewegende Vorhang, das kurz aufblitzende Gesicht – das war wohl Mrs Murphy gewesen.
»Nett, Sie kennenzulernen, Mr Murphy. Dann auf gute Nachbarschaft«, sagte ich vergnügt und stellte mich vor. Das wurde ja immer besser, die Menschen hier waren zutiefst freundlich und zuvorkommend.
Mr Murphy sah etwas verlegen drein und druckste herum: »Ja, sehen Sie, meine Frau hat nicht nur angerufen, um mir mitzuteilen, dass wir eine neue Nachbarin haben. Sie hat eigentlich angerufen, um mich zu beauftragen, etwas mitzubringen, das … das …« Er hielt inne.
Ich sah ihn neugierig an, und er fuhr nach kurzem Zögern fort: »Das Katzen von unserem Grundstück fernhält. Sie meinte, eine neue Katze hätte ihre Hortensien als Katzenklo benutzt. Petula liebt nichts auf der Welt mehr als ihren Garten.« Mr Murphy machte ein reuiges Gesicht. »Es ist nicht zufällig Ihre Katze?«, fragte er ganz kleinlaut.
Ich betrachtete plötzlich ziemlich interessiert meine Schuhe.
»Doch«, murmelte ich leise. »Doch, das ist mein Kater. Es tut mir leid, Mr Murphy. Ich werde dafür sorgen, dass er sich von Ihrem Grundstück fernhält.«
Was wohl nur so viel bedeuten konnte, als dass ich ihn im Haus einsperren musste. Denn seit wann ließen Katzen sich sagen, wohin sie zu gehen hatten?
Mr Murphy atmete erleichtert auf. »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe nichts gegen Katzen, früher als Kind hatte ich selber eine, aber meine Frau verträgt sich nicht mit ihnen, sie sagt immer, ihre Augen fangen an zu tränen, sobald eine davon in ihre Nähe kommt. Und natürlich wegen ihres Gartens … Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel. Ich will nicht, dass Sie sich direkt am Anfang schon unwohl hier bei uns in Ard Carraig fühlen.«
Das fand ich sehr nett von dem älteren Herrn. »Nein, nein, keine Sorge, ich werde mich hier schon einleben, unabhängig davon, ob mein Kater nun gern gesehen ist oder nicht. Vielen Dank für Ihre Offenheit.«
Als ich mich Richtung Ausgang aufmachte, raunte Mr Murphy mir noch zu: »Sollte ich Ihren Kater jemals bei uns im Garten sehen …«
Erschrocken wandte ich mich zu ihm um.
»… dann werde ich Petula vorerst nichts sagen«, vollendete er seinen Satz und lächelte wieder verschmitzt.
Ich verließ das Lädchen mit einem wohligen Gefühl und lief natürlich prompt in das Frauengrüppchen, das noch immer vor dem Laden stand. Sie hatten mich wohl schon erwartet und eine Strategie entwickelt, wie sie mich dezent abfangen konnten. Denn sie standen nicht mehr tratschend zusammen, sondern hatten ganz subtil einen kleinen Halbkreis rund um den Ausgang des Lebensmittelladens gebildet. Mir blieb nichts anderes übrig, als mitten durch ihr Grüppchen zu gehen.
Ich grüßte nach links und nach rechts und wollte schon meines Weges ziehen, als mir die dickste der drei Frauen nachrief: »Sie müssen die neue Mieterin in Cathys Haus sein.«
Aha, Mrs Kyle hatte also auch einen Vornamen.
Ich drehte mich mit meinem vollbepackten Korb unterm Arm um. »Wenn Sie damit Mrs Kyle meinen, dann ja.«
Meine Stimme musste sich wohl leicht genervt angehört haben, denn die Frau bekam direkt ein schuldbewusstes Gesicht und stammelte: »Oh, wir wollen ja gar nicht neugierig wirken, aber wir haben Ihr Gespräch mit Ian mitbekommen, unbeabsichtigt natürlich … die Akustik in diesen alten Gemäuern ist schon etwas seltsam.«
Na klar, die Akustik.
»Und da dachten wir, wir sprechen Sie einfach mal an. Immerhin sind Sie jetzt Teil unseres Dorflebens, und auch wenn es für Sie vielleicht etwas monoton hier wirkt, ganz so langweilig ist es bei uns nicht, nein, überhaupt nicht. Wir sind alle sehr aktive Menschen, und es gibt eine Menge schöner Sachen hier, unseren Strickzirkel etwa, oder wenn Sie möchten, wir veranstalten auch alle drei Wochen archäologische Wanderungen in der Umgebung. Wissen Sie, das hier ist ein geschichtlich sehr interessanter Ort, und wir haben sehr oft Archäologen und diese Grabungsspezialisten hier. Aber wenn Sie das nicht interessiert, dann wäre vielleicht unsere kleine Theatergruppe etwas für Sie oder der Flohmarkt, der ist auch schon Ende dieser Woche, und vielleicht möchten Sie ja auch …«
Ich starrte die Dame vollkommen fasziniert an. Wie konnte man nur so viel und so schnell reden, und das mit einer fremden Person? Zum Glück wurde sie von ihrer Freundin unterbrochen.
»Deborah, lass die Miss doch in Ruhe. Entschuldigen Sie, wir sind natürlich sehr neugierig, eine neue Anwohnerin in unserem Dorf ist immer etwas Besonderes, aber wir wollen Sie natürlich nicht erschlagen.« Sie lächelte mich warmherzig an und war mir sofort sympathisch. »Sie sind vermutlich noch gar nicht so lange hier und wollen sich erst einmal einrichten und erholen. Aber Deborah hat recht, Sie dürfen nicht glauben, dass es langweilig bei uns wäre, wir haben viel zu bieten. Das werden Sie sicher noch entdecken.«
Die mollige Person mit Namen Deborah wollte das Gespräch wieder an sich reißen, und ich merkte, dass ich, wenn ich nicht auch etwas sagte, vermutlich gar nicht mehr fortkommen würde.
»Das ist sehr nett von Ihnen. Tatsächlich bin ich erst heute Morgen angekommen und packe gerade aus.« Es folgten weitere fünfzehn Minuten mit gegenseitigen Vorstellungen (Deborah, die Mollige, Claire, die Sympathische und Maevie, die Schweigsame), einem Austausch von kurzen Anekdoten über das Dorf und seine Bewohner und erstem Klatsch. Ich hatte zum Beispiel nicht gewusst, dass Mrs Kyle nicht wegen ihrer Tochter und dem neugeborenen Enkel in den Staaten war, sondern wegen einer kleinen Rolle bei einem Musical.
Ich kam in dieser Viertelstunde kaum zu Wort, das war jedoch auch nicht nötig. Die drei waren ein eingespieltes Team, das sich seine verbalen Bälle geschickt hin und her warf und mich damit direkt als einen Teil des Dorfes akzeptierte. Natürlich würde über mich geredet werden, aber ich wurde von Anfang an in den Tratsch über andere mit eingebunden. So war es wohl auf dem Lande.
Sie entließen mich nur, weil sie merkten, dass ich meinen Korb von einem Arm auf den anderen wuchtete, weil er mir langsam schwer wurde.
»Aber Liebes, warum stellen Sie ihn denn nicht auf den Boden?«, fragte Deborah mich mit einem eindeutigen Blick auf den Korb.
Die sympathische Claire ergriff erneut Partei für mich. »Deborah, ich glaube, Aoife muss allmählich nach Hause, sie hat ja noch einiges zu tun.«
Ich war entlassen, jedoch nicht ohne eine eidesstattliche Versicherung meinerseits, bei der Dorfversammlung kommenden Samstag vorbeizuschauen.
Ich schaffte es nach Hause, ohne auf weitere interessierte Dorfbewohner zu treffen. Vor allem auf ein Gespräch mit der katzenliebenden Mrs Murphy hatte ich keine Lust. Und so verbrachte ich den Rest des Tages mit Auf- und Umräumen und der, zum Glück erfolgreichen, Suche nach Dr. Jingles.
Am Abend genoss ich das erste offene Kaminfeuer meines Lebens, und ging für meine Verhältnisse zeitig und völlig erledigt zu Bett. Trotz gerüschter Schlafzimmerausstattung schlief ich schnell ein, wachte jedoch immer wieder auf. Die ungewohnten Geräusche der Grillen im Garten und der fehlende Straßenlärm fühlten sich falsch an und ließen mich nicht richtig zur Ruhe kommen. Ich hoffte, das würde sich in den nächsten Tagen geben.
Gegen drei Uhr nachts schlummerte ich dann endgültig ein und wachte bereits vier Stunden später wieder auf. Sieben Uhr morgens war definitiv nicht normal für mich, ich war eigentlich eine Langschläferin. Ich überlegte, ob ich mich nochmal umdrehen sollte, als ich Dr. Jingles unten in der Küche rumoren hörte. Ich nahm an, er habe Hunger und zerlege die Kücheneinrichtung, um an etwas Essbares zu kommen. Schicksalsergeben stand ich auf, wickelte mich in meinen betagten und grässlich hässlichen, aber geliebten Morgenmantel und wankte die Treppe herunter.
Dr. Jingles hörte mich kommen und lief mir maunzend entgegen, um mich unter beschwörenden Blicken aus seinen grünen Katzenaugen in die Küche zu lotsen. Er setzte sich vor seinen Napf und stierte mich an. Nach einem ausgiebigen Frühstück seiner- und meinerseits begab er sich in Richtung Haustür und begann demonstrativ, seine Krallen an der Tür zu wetzen. Dieses Verhalten war untypisch für ihn. Dr. Jingles war ein wohlerzogener Kater und wusste sehr genau, weshalb Menschen Kratzbäume und -matten in Wohnungen und Häuser stellen. Mir war sofort klar, mein Kater hatte sich in seine neue Freiheit verliebt und wollte dringend raus.
»Na gut, du Monster, aber nur, wenn du nicht wieder den Garten von Mrs Murphy besudelst, klar?« Sein treuherziger und eindeutig manipulativer Blick war mir Antwort genug, und ich öffnete die Tür, um ihn herauszulassen.
Im ersten Moment bemerkte ich es gar nicht, doch als ich mich herumdrehte, sah ich aus den Augenwinkeln einen Farbklecks, der nicht zu den grün blühenden Büschen im Vorgarten passte. Kalter Angstschweiß brach mir aus, als ich registrierte, was da unter den Pflanzen lag, aber nicht dort hingehörte. Sehr vorsichtig und langsam stieg ich die Treppen herab und ging auf die Büsche zu.
Kein Zweifel: Dort lag Lady Huntington von Baddon Hall, und sie war unverkennbar tot.
Meine Hände zitterten und meine Knie waren weich, dennoch zwang ich mich, näher an das Geschehen heranzugehen. Dr. Jingles blieb ungerührt und machte Anstalten, seine Krallen am Opfer wetzen zu wollen, doch ich verjagte ihn mit ungewöhnlich barschen Worten. Er reagierte erschrocken und floh in den Nachbargarten, zu Mrs Murphy natürlich.
Ich hob das verstümmelte Opfer hoch und begutachtete es. Seine Seiten waren zum Teil herausgerissen oder verbrannt, es gab kaum eine Seite, die nicht irgendeinen Schaden davongetragen hatte. Der Buchumschlag war ebenfalls angesengt, der Schutzumschlag lag zerrissen in der Nähe meines Gartentores, zusammen mit anderen Seiten, die der Wind willkürlich im Garten verteilt hatte.
Der Täter hatte es nicht geschafft, den Buchumschlag vollkommen zu zerstören; er hatte offensichtlich versucht, ihn zu verbrennen, doch die dicke Pappe mit dem Leinenüberzug hatte den Flammen getrotzt. Nur die Ecken waren verkohlt, und das Feuerzeug, oder welche Feuerquelle auch immer es gewesen war, war kreuz und quer über den Buchdeckel gezogen worden.
Dennoch konnte man noch deutlich den Titel lesen. Lady Huntington und der Hüter des Smaragds stand da in goldfarbenen, üppig geschwungenen Lettern. Würde ich das Buch nicht kennen, ich hätte Probleme gehabt, den Autor zu identifizieren. Irgendjemand hatte große Anstrengungen unternommen, um den Autorennamen vom Buchdeckel zu entfernen. Tiefe Kratzer durchzogen das stabile Material. Nur einzelne Buchstaben – ein A und ein großes T – waren grob auszumachen. Trotzdem wusste ich, welcher Name eigentlich über dem Titel prangen sollte: Miranda Towney.
Ich kannte die Autorin und ihre Werke gut, besser als jeder andere Mensch auf der Welt, denn Miranda Towney war niemand anderes als ich. Sie war mein Pseudonym, das ich bereits seit Jahren verwendete, und Lady Huntington war meinem Gehirn entsprungen. Die Figur war mein Werk – und nun hatte jemand das Bedürfnis gehabt, sie zu töten, warum auch immer.
Tief erschüttert blieb ich noch minutenlang im Garten stehen, bis mir bewusst wurde, dass ich in meinem dünnen Morgenmantel zu zittern begann und allmählich dämlich aussehen musste, so vollkommen zur Salzsäule erstarrt. Mit unbewegter Miene und tausenden von wirren Gedanken im Kopf sammelte ich die Überreste auf, selbst den kleinsten Schnipsel. Ich ging ins Haus, schloss die Tür und warf alles angeekelt auf den Küchentisch.
Rastlos wanderte ich vom Wohnzimmer zur Küche, zurück zum Wohnzimmer und wieder in die Küche, wo ich mir erst einmal einen starken Tee machte. Nach dem ersten Schluck fühlte ich mich gleich besser, meine Hände zitterten nicht mehr ununterbrochen und mir wurde allmählich wärmer. Ich zog mir einen Stuhl unter dem Küchentisch hervor und ließ mich schwer darauf fallen.
Meine Gedanken schlugen Saltos. Wieso lag ein Buch aus meiner Huntington-Reihe gänzlich zerstückelt und zerstört vor einem Haus, in das ich erst vor knapp vierundzwanzig Stunden gezogen war? Wieso? Niemand, keine Seele in diesem Dorf, geschweige denn in dieser Gegend, kannte mich. Kaum jemand wusste, wer ich war. Es gab nur wenige Personen, die den realen Menschen Aoife Sullivan mit der erfolgreichen Autorin Miranda Towney in Verbindung bringen konnten, sie beliefen sich auf nicht mehr als fünf. Trotzdem lag nun eines meiner Bücher vor meinem Haus, und das sollte nicht sein. Mir wurde bewusst, dass genaugenommen vor niemandes Türschwelle mein mutwillig zerstörtes Buch liegen sollte. Und dennoch war er so.
War das Huntington-Buch zufällig vor meinem Haus zerfleddert worden? Hätte es auch jedes andere Buch sein können? Oder bedeutete das ermordete Buch vor meiner Tür etwa, dass jemand wusste, wer ich war? War meine Identität aufgeflogen? Mein Verlag, mein Lektor und alle privaten Personen, die um meine zweite Identität wussten, hatten bisher alles getan, um sie geheim zu halten. Niemand von ihnen würde mich auffliegen lassen, warum auch? Ich wollte ja eigentlich nur deshalb unerkannt bleiben, weil ich auf den Ruhm und das ständige öffentliche Dasein keine Lust hatte. Mir entstünde kein wirklicher Schaden, außer Ruhm und Ehre und jede Menge neugieriger Fotografen, aber das würde ich überleben. Bei mir gab es skandaltechnisch nichts zu holen, nichts, womit man mich vielleicht hätte erpressen können. Und doch lag da nun dieses Buch, dieses verfluchte Buch, und ich konnte es nicht ignorieren.
Im Affekt hatte ich das dringende Bedürfnis, meiner lang zurückliegenden Sucht nachzugeben. Irgendwo in meiner Handtasche mussten doch noch die Notfallzigaretten … ah, da waren sie ja. Nervös und zittrig zündete ich mir eine an und inhalierte tief. Seit dem Beziehungsaus mit Andrew rauchte ich nicht mehr, doch jetzt in diesem Augenblick war eine Zigarette genau das Richtige. Das Nikotin half mir, und ich wurde schnell wieder ruhiger.
Was sollte ich tun? Zur Polizei gehen wäre lächerlich und kontraproduktiv. Wie konnte ich den Ernst der Lage verdeutlichen, ohne zu erkennen zu geben, wer ich war? Polizei schied also aus. Vielleicht sollte ich mit Laurie darüber reden? Diesen Gedanken verwarf ich gleich wieder, ich wollte ihn nicht aus der Bahn werfen. Und aktiv etwas gegen den Vorfall könnte er sowieso nicht ausrichten. Laurie schied also auch aus. Womöglich wäre es das Beste, den Vorfall zu ignorieren. Ganz nüchtern betrachtet: Was war mir schon passiert? Außer einem ziemlich großen Schrecken, nichts.
Innerlich noch etwas zwiegespalten, beschloss ich, erst einmal nichts zu tun und abzuwarten.
Schweren Herzens machte ich mich eine Stunde später erstmals in meinem neuen Domizil an die Arbeit. Mein Laptop stand bereits im Wintergarten, ich setzte mich mit einer Tasse Tee dazu. Ich überflog meine bisherigen Seiten, um mein Gedächtnis aufzufrischen, und legte konzentriert los.
Ich arbeitete momentan am sechsten Band meiner Huntington-Reihe, und die Erwartungen meiner Leser waren groß. Trotz der Tatsache, dass am Anfang – mit wenigen Ausnahmen – kaum einer an den Erfolg meines Projekts geglaubt hatte, verkauften sich die Bände außerordentlich gut und führten teilweise die Bestsellerlisten an. Der sechste Band sollte in knapp einem halben Jahr erscheinen, mein Vertrag garantierte mir bisher sieben Bände. Sollten die alle gut laufen, stünde einem Folgevertrag nichts im Wege. Noch war ich Lady Huntingtons nicht überdrüssig, aber ich wollte nicht wie viele andere Autoren enden, die einmal ein gut verkauftes Buch oder eine Reihe fertiggebracht hatten und dann nur noch darauf reduziert wurden. Irgendwann würde ich mich von Lady Huntington und ihrem Herrensitz verabschieden müssen. Jedoch nicht heute.
Ich hatte vielleicht zwei Stunden emsig vor mich hin getippt, als es an der Haustür klingelte. Ich dachte kurz darüber nach, weshalb mich diese schlichte Tatsache irritierte, bis ich realisierte, dass ich beim Einzug den Klingelknopf vermisst hatte. Verdutzt speicherte ich meine Arbeit ab und ging an die Tür. Tom stand davor. Das überraschte mich dann doch.
»Hallo, was machen Sie denn hier?«, fragte ich ihn.
Tom grinste mich breit an. »Ich liefere einmal die Woche mein besonderes Ale an Pubs in der Umgebung aus, und da schaue ich auch immer ganz gern bei den Nachbarn vorbei.«
Tatsächlich, im Hintergrund stand ein älterer kleiner Lieferwagen mit zahlreichen Logos ansässiger Brauereien und einem riesigen Aufkleber, der lauthals Harold´s Ale zu schreien schien.
»Und warum Harold’s Ale und nicht Tom’s Ale?«
»Oh, stimmt, das können Sie ja noch gar nicht wissen, Harold ist mein Nachname. Tom Harold.« Tom lächelte charmant.
»Also, verstehe ich das richtig, kein Milchmann, eher ein Biermann …?«, versuchte ich einen Witz.
»Ja, so in etwa«, antwortete er. »Es gibt viele hier im Dorf, die sich zu alt fühlen, um auf ein Glas im Pub vorbeizukommen, aber dennoch nicht auf ein gutes Bier verzichten wollen. Das liefere ich ihnen dann eben, ist nur ein kleiner Mehraufwand, und es bringt Geld in die Kasse.«
Ich staunte. Gar kein schlechter Einfall. »Bevor ich Sie jetzt aber nach Ihrem besonderen Ale frage«, sagte ich und sah ihn verschmitzt an, »muss ich erst wissen, wie und wo sie meine Türklingel gefunden haben.«
Tom lachte dröhnend. »Sie dachten wohl, sie hätten nur diesen ollen Messingklopfer hier? Ganz so rückständig sind wir auf dem Land nun auch wieder nicht. Sehen Sie?«
Er schob eine dicke Ranke Efeu neben dem Türrahmen beiseite, und ich konnte eine gewöhnliche Türklingel mit Namensschild sehen. Ich errötete peinlich berührt, wovon ich abzulenken versuchte, indem ich das Efeugestrüpp beiseite zupfte, um die Klingel auf Dauer wieder sichtbar zu machen.
Tom sah sich meine kläglichen Versuche eine Weile an, dann fragte er: »Nun? Wie viel möchten Sie?«
Ich hielt inne und fragte mich verzweifelt, was er meinte. »Wie viel was?«
»Bier! Wie viel Ale kann ich Ihnen dalassen?«
Oh weh, der wollte tatsächlich ein Türklinkengeschäft mit Bier machen. »Tom, danke für Ihr nettes Angebot, aber ich bin noch nicht zu alt, um ins Pub zu gehen. Was halten Sie davon? Ich komme einfach heute Abend auf ein Ale vorbei, und Sie erzählen mir, was es so besonders macht?«
Toms Gesicht erstrahlte. »Das ist eine hervorragende Idee. Dann sehe ich Sie heute Abend, und wehe, wenn nicht.« Er winkte mir beim Hinausgehen zu und stieg in seinen Transporter.
Ich schloss die Tür wieder hinter mir und lehnte mich kurz dagegen. Mein Herz klopfte unnatürlich schnell, und Toms Lächeln hing mir noch nach. Ich war doch wohl nicht auf dem Weg, mich zu verlieben? Erschrocken horchte ich in mich hinein. Nein, es war noch zu früh, die Trennung von Andrew war noch nicht lange her. Aber Tom hatte so etwas Grundehrliches und Nettes an sich, dass es mir das Herz wärmte. Und das hatte ich nach all der harten Zeit auch dringend nötig.
Dank Andrew hatte ich eigentlich die Nase voll von Männern, oder eher von Männern, die sich wie Idioten benahmen. Wenn ich nur an unseren letzten Abend dachte, stieg direkt die Wut in mir hoch. Bevor Andrew und ich ein Paar geworden waren, hatten wir uns bereits lange aus diversen Vorlesungen gekannt. Ich studierte damals englische Literatur, und Andrew war bereits im vorletzten Semester Journalismus. Wir sahen uns öfter auf dem Campus, in der Bibliothek und natürlich auf diversen Studentenpartys. Von Freunden wusste ich, dass Andrew wohl sehr gut auf seinem Gebiet war, er hatte bereits während seines Studiums zahlreiche Volontariate bei verschiedensten Tageszeitungen gemacht. Er musste sich keine Gedanken über eine Zukunft nach seinem Studium machen. Ganz anders als ich. Ich studierte Literatur, weil ich ein gewisses (ich gebe zu, ein nicht klar definiertes) Interesse daran hatte, wusste aber mit mir und meinem Leben damals nicht wirklich etwas anzufangen. Ich hatte keine reiche Familie vorzuweisen, die mir mein Studium aus dem Hintergrund finanzierte, so wie Andrew, ich musste mir mein Geld während des Studiums erarbeiten. Das fand ich nicht schlimm, der Großteil meiner Kommilitonen musste das ebenfalls, und ich kannte es nicht anders. Erst als sich die Freundschaft mit Andrew vertiefte, lernte ich diese andere Welt kennen, und ja, sie gefiel mir. Irgendwann in der Mitte meines Studiums merkte ich, dass mir mein Fach nicht lag. Ja mehr noch, ich entwickelte beinahe eine Aversion dagegen, doch ich wechselte es nicht, sondern sprang von einem Nebenjob zum nächsten. Ich machte nicht wirklich viel Geld damit, aber meine Punkte in Sachen Lebenserfahrung stiegen.
Im siebten Semester stieß ich dann durch Zufall in einer Zeitung auf die Annonce eines Groschenromanverlags, der händeringend nach neuen Autorinnen suchte. Der Anzeigentext lautete damals sinngemäß »Autorinnen mit einem Sinn für Romantik, Herzschmerz und den Hochadel«. Die Bezahlung schien für meine Verhältnisse gut zu sein, und so bewarb ich mich mit einer schmalzigen Kurzgeschichte über eine junge adlige Erbin und deren Suche nach der wahren Liebe mitten in der Gesellschaft. Die Geschichte traf wohl den Nerv des Verlags, denn ich wurde ohne weitere Umstände eingestellt, und das Vollzeit, sodass ich mein ohnehin ungeliebtes Studium an den Nagel hing und fortan vollberuflich als Kitschromanautorin schrieb.
Der Job machte mir auch großen Spaß, abgesehen von den fast unerträglich schlechten und höchst unwahrscheinlichen Geschichten, die ich zu der Zeit aufs Papier brachte. Ich hatte nur ein einziges Mal versucht, meinen Chef von einer minimal niveauvolleren Geschichte zu überzeugen; mein dickbäuchiger und etwas verranzter Verleger las sie durch und murmelte dann aus dem Mundwinkel heraus: »Schätzchen, das liest doch keiner, das ist für unsere Leser viel zu anspruchsvoll.« Seitdem blieb ich bei Schema F.
Privat war damals alles in Ordnung für mich. Ich kam mit Andrew auf der Geburtstagsfeier eines gemeinsamen Bekannten zusammen, alles war rosig und blieb es dann auch für die nächsten acht Jahre. Andrew mauserte sich in dieser Zeit enorm und arbeitete sich bei einer angesehenen Dubliner Tageszeitung nach oben, während ich zunächst weiter auf der Romane-für-vereinsamte-Hausfrauen-Ebene blieb.
Doch das änderte sich dann von einem Tag auf den anderen schlagartig. Obwohl ich schreibtechnisch nichts Weltbewegendes fertigbrachte, meine Geschichten sich alle sehr stark ähnelten und nur in Nuancen abwichen, kontaktierte mich ein großer Verlag mit einem Projekt: Sie wollten mich abwerben. Ich sollte eine Buchreihe für sie schreiben, die im Grunde nichts anderes war als die Groschenromane, welche ich bisher auch schon schrieb, jedoch auf einem höheren Niveau. Also keine dünnen Bahnhofsheftchen mit einem Umfang von achtzig Seiten für zwei Euro, die man nach dem Auslesen sofort wieder in die Mülltonne kloppte und augenblicklich aus dem Gedächtnis verbannte. Nein, sie wollten eine echte Romanreihe von mir herausgeben. Bücher, die dann auch in Buchhandlungen – großen landesweiten Buchhandlungen – stehen würden, die nicht zwei, sondern fünfzehn Euro kosten würden, und die man nach dem Auslesen ins Buchregal stellte, um sie vielleicht Jahre später wieder hervorzuholen und erneut zu lesen.
Der Verlag bot mir die Chance, eine echte Schriftstellerin zu werden. Zwar würde ich immer noch romantische und kitschige Geschichten erfinden, aber es war ein Schritt nach vorne. So sah ich das jedenfalls.
Andrew sah das anders. Er hatte noch nie verstanden, weshalb ich ein Studium – die höchste und einzige berufliche Bildung, die er akzeptierte – für einen minderwertigen Job, den seiner Ansicht nach auch ein Schreibroboter hätte erledigen können, aufgegeben hatte. Er akzeptierte es mit der Zeit, jedoch zähneknirschend. Meine neue Chance sah er nicht als einmalige Gelegenheit, sondern als pure Zeitverschwendung. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es Menschen gab, die meine Bücher auch irgendwann kaufen würden, und er demoralisierte mich von Anfang an.
Dennoch ließ ich mich nicht beirren. Ich unterschrieb einen Vertrag über drei Bücher, die auch in drei Jahren, eines pro Jahr, erscheinen sollten, bekam reichlich Geld und war glücklich. Die einzige Bedingung, die ich stellte – wie schon bei den Romanen zuvor wollte ich auch hier nicht unter meinem echten Namen schreiben, sondern wählte ein Pseudonym – wurde ohne Murren akzeptiert, und somit betrat Miranda Towney die Bildfläche. Es schien meinem Verlag sogar recht zu sein, ein wenig Geheimniskrämerei um die Person des Autors zu machen, denn irgendwie schafften es seine PR- und Marketing-Spezialisten, den Roman so geheimnisvoller und begehrenswerter zu machen, und waren dadurch sicher nicht ganz unschuldig am Erfolg der Reihe.
Wider Andrews Erwarten – seinen Misserfolg in Sachen Erfolgsprognose gestand er mir übrigens nie ein – wurde der erste Roman ein Riesenerfolg, und auch die darauffolgenden Bände gelangten alle in die Bestsellerlisten. Die Geschichte der reichen und schönen Lady Huntington, alleinige Erbin von Baddon Hall und deren Ländereien, wurde genau zur richtigen Zeit veröffentlicht. Hochrechnungen zeigten, dass die Bücher von jeder Gesellschaftsschicht gekauft wurden, auch wenn Hausfrauen jeglichen Alters, Schülerinnen und Studentinnen die Hauptabnehmer waren. Es fehlte zu der Zeit an Kitsch, gebrochenen Herzen und nebulösen adligen Verwandtschaftsverhältnissen, die ich in meinen Romanen zum Leben erweckte. Meine Romane und ich kamen also wirklich zur rechten Zeit. Als es sich abzeichnete, dass der Erfolg so schnell nicht abnehmen würde, einigte ich mich mit dem Verlag auf sieben Bände. Und tatsächlich, die Verkaufszahlen stiegen sogar nochmals. Von Band zu Band warteten die Leser ungeduldiger, die Leserpost nahm zu, und auch in den Medien wurde immer öfter gerätselt, wer hinter der geheimnisvollen Autorin steckte, die niemals auch nur ein öffentliches Interview oder eine Lesung gab, ja, von der man noch nicht einmal wusste, wie sie aussah, gab es doch keine Fotos. All das steigerte die Umsätze, mehr als ich es persönlich mit Autorenlesungen und -fahrten quer durchs Land hätte erreichen können. Durch meine dezente Zurückhaltung half ich mehr, als ich es durch aktives Einschreiten hätte tun können. Mir war das recht, so konnte ich ungestört an meinen Romanen arbeiten.
Nach dem vierten Band war beruflich alles in Ordnung, Geld hatte ich für die nächsten Jahre genug, und ich hatte mir eine schicke und großzügige Wohnung geleistet. Jedoch ging es privat langsam bergab. Andrew und ich verbrachten immer weniger Zeit miteinander. Er hatte einen neuen und verantwortungsvollen Posten übernommen, der viel Zeit fraß, und wenn wir dann doch zusammen waren, fehlte uns der Bezug zueinander. Unsere Welten waren so verschieden. Ich würde unter meinem richtigen Namen niemals einen Preis gewinnen für das, was ich tat. Andrew hingegen hatte bereits Ehrungen und Auszeichnungen erhalten, die einem Pulitzerpreis in nichts nachstanden, und das hing oft wie Nebelschwaden zwischen uns. Mir machte es nichts aus, ich war nicht auf Lob und Ehre aus, ich wollte nur Spaß in meinem Beruf und halbwegs vernünftig Geld verdienen. Andrew war das nicht genug. Er wollte mehr für mich und verstand nicht, dass ich zufrieden war.
Diese Krise hätten wir vielleicht überwunden, wer weiß, aber als ich mein fünftes Buch fertig geschrieben hatte und es kurz vor der Veröffentlichung stand, passierte etwas Unvorhergesehenes: Ich bekam einen Stalker. Irgendwie war doch irgendwo durchgesickert, wer Miranda Towney wirklich war, und nun gab es eine junge Studentin, die wusste, wo ich wohnte, meine Telefonnummer kannte und das Gefühl hatte, mein Schatten werden zu müssen. Egal wo ich hinging, ob nur zum Supermarkt oder Dessous kaufen, ob ins Restaurant oder zu meinem Verleger, sie folgte mir. Zunächst unauffällig, doch es wurde schnell ungemein störend. Mein Lektor und ich einigten uns darauf, sie anzuzeigen. Selbstverständlich konnten die nichts ausrichten, da meine Stalkerin bisher nichts anderes tat, als mich zu observieren. Weder hatte sie meine Identität ausgeplaudert, noch mich belästigt oder bedroht, doch das sollte nicht lange so bleiben. Irgendwann wurde sie zudringlicher und belästigte sogar Andrew. Eines Tages hatte ich plötzlich tote Kleintiere, Hamster, Vögel, Mäuse in meinem Briefkasten. Von diesem Moment an wurde die Polizei aktiv. Dennoch dauerte es unerträglich lange, bis meine Stalkerin von der Bildfläche verschwand. Wie sich herausstellte, war sie eine Wiederholungstäterin, bereits seit Jahren in psychiatrischer Behandlung und wies sich schließlich selbst in eine Klinik ein. Ich war sie los, und mit ihr einiges an Gewicht und Nerven.
Den Rest aber gab mir Andrew selbst, denn kaum war die Krise ausgestanden, kaum drehte ich mich nicht mehr bei jedem Geräusch herum und starrte konzentriert in die Menge, um ein bestimmtes Gesicht auszumachen, da servierte er mich ab. Nach knapp acht Jahren Beziehung kam der Schluss von heute auf morgen und für mich vollkommen überraschend. Natürlich war mir stets bewusst gewesen, dass unsere Partnerschaft in der letzten Zeit gekriselt hatte, aber ich hatte es nie als so drastisch und unüberbrückbar empfunden. Andrew offenbar schon.
Bei einem gemeinsamen und für mich harmonischen Abendessen eröffnete er mir, dass ich zwar immer ein Teil seines Lebens bleiben würde, aber dass dieser Teil von seiner Seite aus weniger aktiv sein müsse. Ich verstand erst nach einigen Augenblicken, was er da eigentlich meinte und war geschockt. Es kamen die Argumente zu Wort, die schon immer zwischen uns gestanden hatten: mein fehlender beruflicher Ehrgeiz und sein Problem damit. Ich sah es ganz und gar nicht so, denn immerhin war ich eine erfolgreiche Schriftstellerin. Sicherlich, ich brachte keine hochwertige Weltliteratur zustande, aber meine Werke wurden gekauft. Alle Argumente, die mir in meiner Verzweiflung spontan einfielen, konnten ihn jedoch nicht überzeugen oder von seinem Standpunkt abbringen. Ich hatte das Gefühl, dass er sich diese Trennung gut zurechtgelegt und hieb- und stichfest abgesichert hatte.
Somit endete unser gemeinsamer Weg, und ich war sehr froh, dass wir niemals eine gemeinsame Wohnung besessen, sondern stets unabhängig voneinander gelebt hatten. So blieb mir wenigstens eine schmerzhafte Erfahrung in Sachen »Die Couch nehme ich mit, du bekommst die Katze« erspart.
Seit unserem Auseinandergehen waren nun knapp fünf Monate vergangen, und ich hatte mich emotional inzwischen stark von Andrew gelöst. Dennoch verfolgten mich in Dublin unsere gemeinsamen Zeiten und Erinnerungen, weshalb es mir schwerfiel, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Ich versuchte es mit einem Kurzurlaub im Süden Englands, sah mir Cornwall und jede Menge archäologisch interessanter Orte an und dachte, es würde helfen. Daheim jedoch starrte ich wieder nur auf eine leere Bildschirmseite. Mir wollte einfach kein einziger guter Satz mehr einfallen.