Mord im Orientexpress - Agatha Christie - E-Book

Mord im Orientexpress E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Nach einigen Mühen hat Hercule Poirot ein Abteil im Kurswagen Istanbul - Calais des Luxuszugs ergattert. Doch auch jetzt ist ihm keine Ruhe vergönnt: Ein amerikanischer Tycoon ist ermordet worden, der ganze Zug voller Verdächtiger. Und der Mörder könnte jederzeit wieder zuschlagen.  Eine Aufgabe, wie gemacht für den Meisterdetektiv.

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Seitenzahl: 294

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Agatha Christie

Mord im Orientexpress

Ein Fall für Poirot

Aus dem Englischen von Otto Bayer

Atlantik

Für M.E.L.M. Arpachiya, 1933

Teil 1Die Tatsachen

Erstes KapitelEin bedeutender Fahrgast im Taurus-Express

Es war ein kalter Wintermorgen in Syrien. Früh um fünf Uhr wartete auf dem Bahnhof von Aleppo der Zug, der in den Kursbüchern großspurig als »Taurus-Express« bezeichnet wird. Er bestand aus einem Küchen- und Speisewagen, einem Schlafwagen und zwei gewöhnlichen Reisewagen.

Vor dem Trittbrett zum Schlafwagen unterhielt sich ein junger französischer Leutnant in prächtiger Uniform mit einem dünnen kleinen Mann, der sich bis über die Ohren eingemummt hatte, sodass man von ihm nur noch die rote Nasenspitze und die beiden Enden eines aufwärts gezwirbelten Schnurrbarts sah.

Es war bitterkalt, und niemand war um die Aufgabe zu beneiden, einen berühmten Fremdling am Bahnhof zu verabschieden, aber Lieutenant Dubosc stellte sich ihr wie ein Mann. Von seinen Lippen flossen elegante Sätze in geschliffenem Französisch. Aber man glaube nicht, dass er gewusst habe, worum es hier eigentlich ging. Natürlich waren Gerüchte in Umlauf gewesen, wie es sie in solchen Fällen immer gibt. Der General – sein General – war zusehends misslauniger geworden. Und dann war dieser Belgier gekommen – offenbar aus dem fernen England angereist. Eine ganze Woche lang hatte eine merkwürdig gespannte Atmosphäre geherrscht. Und dann hatten sich gewisse Dinge ereignet. Ein hochdekorierter Offizier hatte Selbstmord begangen, ein anderer seinen Abschied genommen – aus bekümmerten Mienen war der Kummer gewichen, bestimmte militärische Vorsichtsmaßnahmen waren gelockert worden. Und Lieutenant Duboscs höchsteigener General hatte plötzlich zehn Jahre jünger ausgesehen.

Dubosc hatte Teile eines Gesprächs zwischen ihm und dem Fremden mitgehört. »Sie haben uns gerettet, mon cher«, hatte der General mit bewegter Stimme gesagt, und sein prächtiger weißer Schnurrbart hatte beim Reden gezittert. »Sie haben die Ehre der französischen Streitkräfte gerettet – und ein großes Blutvergießen abgewendet. Wie kann ich Ihnen dafür danken, dass Sie meiner Bitte nachgekommen sind? Dass Sie diesen weiten Weg gemacht –«

Worauf der Fremde (ein gewisser Monsieur Hercule Poirot) eine geziemende Antwort gab, in der unter anderem der Satz fiel: »Aber sollte ich denn vergessen haben, dass Sie mir einmal das Leben gerettet haben?« Worauf der General wiederum etwas Geziemendes erwiderte und jedes Verdienst an dieser lange zurückliegenden Gefälligkeit in Abrede stellte. Und so hatten sie unter Austausch weiterer Artigkeiten, in denen Wörter wie Frankreich, Belgien, Ruhm und Ehre vorkamen, einander herzlich umarmt, und das Gespräch war zu Ende gewesen.

Lieutenant Dubosc hatte noch immer keine Ahnung, worum es bei dem allen gegangen war, doch ihm war nun die Aufgabe übertragen worden, Monsieur Poirot an den Taurus-Express zu bringen, und diese Aufgabe erledigte er mit all dem Eifer und Pflichtbewusstsein, das man von einem jungen Offizier am Beginn einer verheißungsvollen Karriere wohl erwarten durfte.

»Heute ist Sonntag«, sagte Lieutenant Dubosc. »Morgen Abend sind Sie in Istanbul.«

Er sagte diesen Satz nicht zum ersten Mal. Bahnsteiggespräche vor Abfahrt eines Zuges sind für Wiederholungen anfällig.

»So ist es«, bestätigte Monsieur Poirot.

»Und Sie gedenken dort ein paar Tage zu verbringen, nehme ich an?«

»Mais oui. Istanbul, in dieser Stadt war ich noch nie. Es wäre doch schade, da nur durchzureisen – comme ça –« Er schnippte beredt mit den Fingern. »Mich drängt nichts – ich werde mich ein paar Tage als Tourist dort umsehen.«

»Die Hagia Sophia – sehr schön«, sagte Lieutenant Dubosc, der sie noch nie gesehen hatte.

Ein eisiger Wind pfiff über den Bahnsteig. Beide Männer erschauerten. Lieutenant Dubosc gelang dabei ein verstohlener Blick auf seine Uhr. Fünf vor fünf – nur noch fünf Minuten!

Da er argwöhnte, der andere habe seinen verstohlenen Blick auf die Uhr bemerkt, stürzte er sich sogleich wieder ins Gespräch.

»Um diese Jahreszeit verreisen nicht viele Leute«, sagte er und sah zu den Schlafwagenfenstern über ihnen auf.

»So ist es«, bestätigte Monsieur Poirot.

»Hoffentlich werden Sie im Taurus-Gebirge nicht eingeschneit!«

»Kommt das vor?«

»Ja, es ist schon vorgekommen. Dieses Jahr allerdings noch nicht.«

»Dann wollen wir auf das Beste hoffen«, meinte Monsieur Poirot. »Die Wettermeldungen aus Europa sind schlecht.«

»Sehr schlecht. Viel Schnee auf dem Balkan.«

»Auch in Deutschland, habe ich gehört.«

»Eh bien«, sagte Lieutenant Dubosc rasch, als das Gespräch erneut zu stocken drohte. »Morgen Abend um neunzehn Uhr vierzig sind Sie jedenfalls in Konstantinopel.«

»Ja«, sagte Monsieur Poirot.

»Die Hagia Sophia –«, fuhr er verzweifelt fort, »ich habe gehört, sie soll sehr schön sein.«

»Prachtvoll, soviel ich weiß.«

Über ihren Köpfen wurde der Vorhang an einem der Schlafwagenfenster zur Seite geschoben, und eine junge Frau schaute heraus.

Mary Debenham war kaum zum Schlafen gekommen, seit sie letzten Donnerstag von Bagdad abgefahren war. Weder auf der Fahrt nach Kirkuk noch im Rasthaus Mosul noch in der letzten Nacht im Zug hatte sie richtigen Schlaf gefunden. Jetzt war sie es leid, wach in ihrem überheizten Abteil zu liegen, weshalb sie aufgestanden war, um aus dem Fenster zu schauen.

Das musste Aleppo sein. Natürlich gab es hier nichts zu sehen. Nur einen langen, schlecht beleuchteten Bahnsteig, auf dem irgendwo laut auf Arabisch gestritten wurde. Unter ihrem Fenster standen zwei Männer und unterhielten sich auf Französisch. Der eine war ein französischer Leutnant, der andere ein kleiner Mann mit gewaltigem Schnurrbart. Mary Debenham lächelte matt. Noch nie hatte sie eine derart vermummte Gestalt gesehen. Es musste sehr kalt sein da draußen. Deswegen heizten sie ja den Zug so grässlich. Sie versuchte das Fenster hinunterzuschieben, aber es ging nicht.

Gerade war der Schlafwagenschaffner zu den beiden Männern getreten. Der Zug werde gleich abfahren, sagte er. Monsieur solle lieber einsteigen. Der kleine Mann nahm seinen Hut ab. Was da für ein Eierkopf zum Vorschein kam! Obwohl Mary Debenham ganz andere Sorgen hatte, musste sie lächeln. Wie albern der kleine Kerl doch aussah! Einer dieser kleinen Männer, die man nie richtig ernst nehmen konnte.

Lieutenant Dubosc hielt seine Abschiedsrede, die er sich schon vorher zurechtgelegt und bis zur letzten Minute aufgespart hatte. Es war eine schöne, geschliffene Rede.

Da konnte Monsieur Poirot natürlich nichts schuldig bleiben.

»En voiture, Monsieur«, rief der Schlafwagenschaffner.

Mit allen Anzeichen größten Widerstrebens stieg Monsieur Poirot in den Zug, der Schlafwagenschaffner hinterdrein. Monsieur Poirot winkte. Lieutenant Dubosc salutierte. Und mit einem schauerlichen Ruck setzte der Zug sich in Bewegung.

»Enfin«, murmelte Monsieur Hercule Poirot.

»Brrr«, machte Lieutenant Dubosc, der jetzt erst merkte, wie kalt ihm war.

 

»Voilà, Monsieur.« Der Schaffner wies Poirot mit theatralischer Gebärde auf die ganze Schönheit seines Schlafabteils und das ordentlich verstaute Gepäck hin. »Monsieurs kleiner Koffer, er ist hier.«

Seine ausgestreckte Hand sprach Bände, und Hercule Poirot drückte einen zusammengefalteten Geldschein hinein.

»Merci, Monsieur.« Jetzt wurde der Schaffner ganz dienstlich. »Monsieurs Fahrkarten habe ich schon. Wenn es recht ist, nehme ich nun auch noch Monsieurs Pass an mich. Monsieur werden die Reise in Istanbul unterbrechen, soviel ich weiß?«

Monsieur Poirot bejahte.

»Es sind wohl nicht viele Leute im Zug?«, fragte er.

»Nein, Monsieur. Ich habe nur noch zwei weitere Fahrgäste. Einen englischen Oberst aus Indien und eine junge Engländerin aus Bagdad. Haben Monsieur noch einen Wunsch?«

Monsieur bat um ein Fläschchen Perrier.

Fünf Uhr früh ist eine unangenehme Zeit zum Verreisen. Es waren noch zwei Stunden bis zur Morgendämmerung. Im Bewusstsein seines zu kurz gekommenen Nachtschlafs sowie einer erfolgreich abgeschlossenen, sehr heiklen Mission kuschelte Poirot sich in eine Ecke und schlief ein.

Als er aufwachte, war es schon halb zehn, und da ihm nach einer heißen Tasse Kaffee war, begab er sich in den Speisewagen.

Dort saß zurzeit nur noch eine weitere Person, offenbar die Engländerin, die der Schaffner erwähnt hatte. Sie war groß, schlank und dunkelhaarig – vielleicht achtundzwanzig Jahre alt. Die kühle Selbstsicherheit, mit der sie ihr Frühstück verzehrte und beim Kellner einen Kaffee nachbestellte, verriet Weltgewandtheit und Reiseerfahrung. Sie trug ein dunkles Reisekostüm aus einem dünnen Stoff, der für die überheizte Atmosphäre in diesem Zug gerade richtig war.

Da Monsieur Hercule Poirot nichts Besseres zu tun hatte, vertrieb er sich die Zeit damit, sie zu beobachten, ohne es sich anmerken zu lassen.

Nach seinem Eindruck gehörte sie zu jener Sorte junger Frauen, die sich überall, wohin sie kamen, mit der größten Selbstverständlichkeit bewegten. Sie wirkte ausgeglichen und tüchtig. Ihm gefiel die strenge Regelmäßigkeit ihrer Züge, die zarte Blässe ihrer Haut. Ihm gefielen auch die dunkelbraune, sanft gewellte Frisur und der kühle, unpersönliche Blick ihrer grauen Augen. Für seinen Geschmack war sie für eine jolie femme, wie er das nannte, nur ein ganz klein wenig zu selbstsicher.

Kurz darauf kam noch jemand in den Speisewagen, diesmal ein hochgewachsener Mann zwischen vierzig und fünfzig Jahren, hager, braungebrannt und an den Schläfen leicht angegraut.

»Der Oberst aus Indien«, sagte sich Poirot.

Der Neuankömmling verneigte sich kurz vor der Dame.

»Guten Morgen, Miss Debenham.«

»Guten Morgen, Colonel Arbuthnot.«

Der Oberst fasste nach dem Stuhl auf der anderen Tischseite. »Sie gestatten?«

»Selbstverständlich. Bitte, nehmen Sie Platz.«

»Aber Sie wissen, beim Frühstück sind die Leute nicht immer sehr gesprächig.«

»Das hoffe ich. Aber ich beiße nicht.«

Der Oberst setzte sich.

»Boy!«, rief er in gebieterischem Ton.

Er bestellte Eier und Kaffee.

Sein Blick streifte ganz kurz Hercule Poirot, wanderte aber uninteressiert weiter. Poirot, der die englische Seele verstand, wusste genau, dass er bei sich gesagt hatte: »Bloß wieder so ein komischer Ausländer.«

Getreu ihrer Nationalität waren die beiden Engländer beim Frühstück alles andere als gesprächig. Sie wechselten nur die eine oder andere kurze Bemerkung, und schon wenig später erhob sich die Dame und kehrte zu ihrem Abteil zurück.

Beim Mittagessen saßen die beiden wieder am selben Tisch, und wieder schenkten sie dem Fremden nicht die mindeste Beachtung. Ihre Unterhaltung war angeregter als beim Frühstück. Colonel Arbuthnot erzählte vom Pandschab und stellte der jungen Dame ein paar Fragen nach Bagdad, wo sie, wie sich herausstellte, als Gouvernante gearbeitet hatte. Im weiteren Verlauf des Gesprächs entdeckten sie ein paar gemeinsame Bekannte, worauf sie gleich freundlicher und lockerer wurden. Sie sprachen über den guten alten Tommy Dingsda oder den lieben Jerry Soundso. Der Oberst erkundigte sich, ob Miss Debenham bis England durchzufahren oder in Istanbul einen Zwischenaufenthalt einzulegen gedenke.

»Nein, ich fahre gleich weiter.«

»Ist das nicht ein bisschen schade?«

»Ich bin vor zwei Jahren auf dem Hinweg dieselbe Strecke gefahren, und da habe ich mich drei Tage in Istanbul aufgehalten.«

»Aha. Aber dann darf ich sagen, dass ich sehr erfreut bin. Ich fahre nämlich auch durch.«

Er machte bei diesen Worten eine linkische kleine Verbeugung und wurde sogar ein bisschen rot.

»Er ist empfänglich, unser Oberst«, dachte Hercule Poirot amüsiert. »Eine Eisenbahnfahrt scheint doch ebenso gefährlich zu sein wie eine Schiffsreise.«

Miss Debenham sagte gelassen, das sei ja nett. Sie gab sich nicht sehr entgegenkommend.

Hercule Poirot beobachtete, dass der Oberst sie zu ihrem Abteil begleitete. Später fuhren sie durch die herrliche Landschaft des Taurus-Gebirges. Während sie, nebeneinander auf dem Gang stehend, zum Kilikischen Tor hinunterblickten, entrang sich der Dame plötzlich ein Seufzer. Poirot, der nicht weit von ihnen entfernt stand, hörte sie leise sagen:

»Das ist so schön! Ich wünschte mir – wünschte –«

»Was?«

»Ich wünschte, ich könnte es genießen.«

Arbuthnot antwortete nicht. Sein kantiges Kinn wirkte noch etwas strenger und grimmiger.

»Und ich wünschte mir beim Himmel, wir wären aus der Sache raus.«

»Still, bitte. Still.«

»Ach was!« Er warf einen unwirschen Blick in Poirots Richtung. Dann fuhr er fort. »Aber mir gefällt der Gedanke überhaupt nicht, dass Sie die Gouvernante spielen müssen – immer nach der Pfeife tyrannischer Mütter und ihrer ungezogenen Bälger zu tanzen.«

Sie lachte, und es lag nur der allerkleinste Anflug von Unsicherheit darin.

»Oh, so dürfen Sie das nicht sehen. Die mit Füßen getretene Gouvernante gehört längst ins Reich der Legende. Ich kann Ihnen im Gegenteil versichern, dass die Eltern Angst haben, von mir tyrannisiert zu werden.«

Mehr sagten sie nicht. Vielleicht schämte Arbuthnot sich ja ein wenig für seinen Ausbruch.

»Was für eine drollige kleine Komödie bekomme ich hier zu sehen«, dachte Poirot bei sich.

Ein Gedanke, an den er sich später wieder erinnern sollte.

Nachts gegen halb zwölf erreichten sie Konya. Die beiden Engländer stiegen aus, um sich auf dem verschneiten Bahnsteig ein wenig die Füße zu vertreten.

Monsieur Poirot begnügte sich damit, dem Treiben auf dem Bahnsteig durchs Fenster zuzusehen. Nach etwa zehn Minuten fand er aber, dass ein bisschen frische Luft auch ihm vielleicht nicht schaden könnte. Er traf dazu gewissenhafte Vorbereitungen, zog mehrere Mäntel und Schals übereinander an und hüllte seine schmucken Stiefel in Überschuhe. So gerüstet, stieg er vorsichtig auf den Bahnsteig hinunter und begann ihn abzuschreiten. Er ging ganz nach vorn, noch an der Lokomotive vorbei.

Erst die Stimmen machten ihn auf die beiden undeutlichen Gestalten aufmerksam, die im Schatten eines Gepäckwagens standen. Arbuthnot sprach soeben.

»Mary –«

Die Frau unterbrach ihn.

»Nicht jetzt. Nicht jetzt. Erst wenn alles vorbei ist. Wenn wir es hinter uns haben – dann – «

Monsieur Poirot wandte sich diskret ab. Er machte sich seine Gedanken.

Er hatte Mary Debenhams sonst so kühle, selbstsichere Stimme kaum wiedererkannt …

»Sonderbar«, sagte er bei sich.

Am nächsten Tag fragte er sich, ob die beiden sich vielleicht gestritten hatten. Sie sprachen kaum miteinander. Die Frau wirkte nervös. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen.

Am Nachmittag gegen halb drei hielt der Zug plötzlich an. Leute steckten die Köpfe aus den Fenstern. Neben dem Gleis stand ein Grüppchen von Männern, die auf irgendetwas unter dem Speisewagen zeigten.

Poirot lehnte sich hinaus und sprach den Schlafwagenschaffner an, der gerade vorbeirannte. Der Mann antwortete, und als Poirot den Kopf wieder zurückzog und sich umdrehte, stieß er fast mit Mary Debenham zusammen, die unmittelbar hinter ihm stand.

»Was ist los?«, fragte sie ein wenig atemlos auf Französisch. »Warum stehen wir hier?«

»Nichts weiter, Mademoiselle. Unter dem Speisewagen hat irgendetwas Feuer gefangen. Nichts Schlimmes. Der Brand ist schon gelöscht. Jetzt wird noch der Schaden repariert. Es besteht keine Gefahr, das versichere ich Ihnen.«

Sie winkte ungehalten ab, als wäre der Gedanke an Gefahr für sie etwas völlig Nebensächliches.

»Ja, schon, das ist mir klar. Aber die Zeit!«

»Zeit?«

»Ja. Wir bekommen Verspätung.«

»Möglich – ja«, pflichtete Poirot ihr bei.

»Aber wir können uns keine Verspätung leisten! Der Zug kommt um sechs Uhr fünfundfünfzig an, und dann müssen wir über den Bosporus und auf der anderen Seite um neun Uhr den Simplon-Orient-Express erreichen. Eine Verspätung von ein, zwei Stunden, und wir verpassen den Anschluss.«

»Ja, das könnte passieren«, räumte er ein.

Er sah sie neugierig an. Die Hand, die den Fenstergriff hielt, war nicht ganz ruhig, und auch ihre Lippen zitterten.

»Ist es Ihnen sehr wichtig, Mademoiselle?«, fragte er.

»Ja. O ja. Ich – muss diesen Zug erreichen.«

Sie wandte sich von ihm ab und ging zu Colonel Arbuthnot, der weiter hinten auf dem Gang stand.

Ihre Sorge erwies sich jedoch als unbegründet. Nach zehn Minuten fuhr der Zug wieder an. Er traf mit nur fünf Minuten Verspätung in Haydapassar ein, nachdem er unterwegs etwas Zeit aufgeholt hatte.

Der Bosporus war rau, und Monsieur Poirot genoss die Überfahrt nicht. Auf dem Schiff wurde er von seinen Reisegefährten getrennt und sah sie nicht wieder.

Sowie sie an der Galata-Brücke angelegt hatten, fuhr er geradewegs zum Hotel Tokatlia.

Zweites KapitelHotel Tokatlia

Im Hotel Tokatlia ließ Hercule Poirot sich ein Zimmer mit Bad geben, dann ging er zum Portier und fragte, ob Post für ihn da sei.

Drei Briefe und ein Telegramm warteten auf ihn. Beim Anblick des Telegramms zog er die Augenbrauen ein wenig hoch. Damit hatte er nicht gerechnet.

Er öffnete es auf seine gewohnt ordentliche, uneilige Art. In deutlichen Großbuchstaben stand darauf:

»IHRE VORAUSSAGE IM FALL KASSNER UNERWARTET EINGETROFFEN. BITTE SOFORT ZURÜCKKOMMEN.«

»Voilà ce qui est embêtant«, brummelte Poirot verärgert. Er sah zur Uhr hinauf.

»Ich muss noch heute Abend weiter«, sagte er zum Portier. »Wann fährt der Orientexpress ab?«

»Um neun Uhr, Monsieur.«

»Können Sie mir einen Schlafwagenplatz besorgen?«

»Gewiss, Monsieur. Um diese Jahreszeit gibt es da keine Schwierigkeiten. Erste oder zweite Klasse?«

»Erste.«

»Très bien, Monsieur. Wie weit fahren Sie?«

»Bis nach London.«

»Bien, Monsieur. Ich besorge Ihnen eine Fahrkarte nach London und lasse Ihnen ein Schlafabteil im Kurswagen Istanbul–Calais reservieren.«

Poirot sah wieder auf die Uhr. Es war zehn vor acht.

»Habe ich noch Zeit zum Essen?«

»Gewiss, Monsieur.«

Der kleine Belgier nickte. Er ging wieder zum Empfang, um seine Zimmerbestellung zu annullieren, und begab sich dann ins Restaurant.

Gerade bestellte er beim Kellner sein Essen, als eine Hand sich auf seine Schulter legte.

»Ah, mon vieux! Ist das eine unverhoffte Freude«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Der Sprecher war ein kleiner, untersetzter älterer Herr mit Bürstenhaarschnitt. In seinem Gesicht stand ein erfreutes Lächeln.

Poirot sprang auf.

»Monsieur Bouc!«

»Monsieur Poirot!«

Monsieur Bouc war Belgier und gehörte zum Direktorium der Compagnie internationale des wagons-lits. Seine Bekanntschaft mit dem ehemaligen Star der belgischen Polizei reichte viele Jahre zurück.

»Sie sind aber fern der Heimat, mon cher«, sagte Monsieur Bouc.

»Eine kleine Geschichte in Syrien.«

»Ah, und nach Hause geht es wieder – wann?«

»Heute Abend.«

»Ausgezeichnet! Ich nämlich auch. Das heißt, ich fahre bis Lausanne mit, wo ich zu tun habe. Sie nehmen den Simplon-Orient, nehme ich an?«

»Ja. Ich habe schon darum gebeten, mir einen Schlafwagenplatz zu besorgen. Eigentlich hatte ich ja ein paar Tage hierbleiben wollen, aber nun habe ich gerade ein Telegramm erhalten, das mich in einer wichtigen Angelegenheit nach England zurückruft.«

»Ach ja«, seufzte Monsieur Bouc. »Les affaires – les affaires! Aber – Sie sind ja inzwischen ein ganz großer Mann, mon vieux.«

»Ich hatte vielleicht den einen oder anderen kleinen Erfolg zu verzeichnen.« Hercule Poirot versuchte bescheiden dreinzublicken, was ihm gründlich misslang.

Monsieur Bouc lachte.

»Wir sehen uns später«, sagte er.

Hercule Poirot widmete sich der schwierigen Aufgabe, seinen Schnurrbart aus der Suppe zu halten.

Nachdem das geschafft war, blickte er sich, während er auf den nächsten Gang wartete, im Restaurant um. Es war nur ein rundes halbes Dutzend Leute da, und von diesem halben Dutzend interessierte sich Hercule Poirot nur für zwei.

Diese zwei saßen an einem nicht weit entfernten Tisch. Der Jüngere war ein durchaus liebenswert aussehender Mann um die dreißig, eindeutig Amerikaner. Aber nicht ihm galt die Aufmerksamkeit des kleinen Detektivs, sondern seinem Gefährten.

Dieser Mann mochte zwischen sechzig und siebzig sein. Von weitem hatte er das freundliche Gesicht eines Philanthropen. Sein schütteres Haar, die gewölbte Stirn, der lächelnde Mund, der ein sehr weißes falsches Gebiss entblößte, das alles deutete auf Gutmütigkeit hin. Nur die Augen straften diesen Eindruck Lügen. Sie waren klein, saßen tief in den Höhlen und wirkten verschlagen. Nicht genug damit: Als der Mann einmal etwas zu seinem Begleiter sagte und sich dabei im Raum umsah, blieb sein Blick ganz kurz an Poirot hängen, und nur für die Dauer dieser einen Sekunde blitzte eine sonderbare Bösartigkeit darin auf, etwas unnatürlich Gespanntes.

Dann erhob er sich.

»Bezahlen Sie die Rechnung, Hector«, sagte er.

Seine Stimme klang ein wenig heiser. Und sie hatte einen ungewöhnlich sanften, gefährlichen Unterton.

Als Poirot sich mit seinem Freund wieder in der Hotelhalle traf, waren die beiden Männer drauf und dran, das Hotel zu verlassen. Ihr Gepäck wurde heruntergebracht. Der Jüngere überwachte diesen Vorgang. Gleich darauf öffnete er die Glastür und sagte: »Wir wären so weit, Mr Ratchett.«

Der Ältere grunzte etwas und ging hinaus.

»Eh bien«, sagte Poirot. »Was halten Sie von diesen beiden?«

»Amerikaner«, sagte Monsieur Bouc.

»Auf jeden Fall sind es Amerikaner. Aber ich meinte, was haben Sie für einen Eindruck von ihnen?«

»Der junge Mann erschien mir recht angenehm.«

»Und der andere?«

»Um ehrlich zu sein, mein Freund, er gefiel mir nicht. Er wirkte auf mich irgendwie unangenehm. Und auf Sie?«

Hercule Poirot ließ sich mit der Antwort etwas Zeit.

»Als er im Restaurant an mir vorbeiging«, sagte er endlich, »hatte ich ein eigenartiges Gefühl. Als wäre ein wildes Tier – ein grausames wildes Tier, wenn Sie verstehen – an mir vorbeigegangen.«

»Dabei macht er doch einen durch und durch gediegenen Eindruck.«

»Précisément! Der Körper – der Käfig – alles gediegen – doch durch die Gitterstäbe blickt das wilde Tier heraus.«

»Sie haben eine lebhafte Phantasie, mon vieux«, meinte Monsieur Bouc.

»Mag sein. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass mir das Böse begegnet war.«

»Dieser gediegene amerikanische Gentleman?«

»Dieser gediegene amerikanische Gentleman.«

»Hm«, meinte Monsieur Bouc vergnügt. »Das ist ja gut möglich. Es gibt so viel Böses auf der Welt.«

In diesem Moment ging die Tür auf, und der Portier kam zu ihnen. Er trug eine kummervolle Miene zur Schau.

»Es ist unglaublich, Monsieur«, sagte er zu Poirot. »Aber in diesem Zug ist kein einziges Schlafwagenabteil erster Klasse mehr zu haben.«

»Comment?«, rief Monsieur Bouc. »Um diese Jahreszeit? Ah, da ist bestimmt so eine Journalistengruppe unterwegs – oder Politiker – ?«

»Ich weiß es nicht, Monsieur«, wandte der Portier sich nun respektvoll an ihn. »Aber so stehen die Dinge.«

»Hm, hm.« Monsieur Bouc wandte sich an Poirot. »Aber seien Sie unbesorgt, mein Freund. Wir werden schon etwas organisieren. Es ist immer ein Abteil frei – die Nummer sechzehn – sie ist nie belegt. Dafür sorgt der Schaffner!« Er lächelte, dann sah er zur Uhr hinauf. »Kommen Sie«, sagte er. »Zeit zum Aufbruch.«

Am Bahnhof wurde Monsieur Bouc von einem übereifrigen Schlafwagenschaffner in brauner Uniform respektvoll begrüßt.

»Guten Abend, Monsieur. Sie haben Abteil Nummer eins.«

Er rief die Gepäckträger herbei, und sie rollten ihre Fracht zur Mitte des Wagens, auf dem ein Blechschild die Reiseroute angab:

Istanbul–Triest–Calais

»Ich höre, wir sind voll besetzt?«

»Es ist nicht zu glauben, Monsieur. Alle Welt will heute Nacht verreisen.«

»Trotzdem müssen Sie noch einen Platz für diesen Herrn finden. Er ist ein Freund von mir. Er kann die Nummer sechzehn haben.«

»Nummer sechzehn ist leider belegt, Monsieur.«

»Wie bitte? Nummer sechzehn?«

Die beiden wechselten einen verständnisinnigen Blick, dann lächelte der Schaffner. Er war ein Mann in mittleren Jahren, hochgewachsen und von bleichem Teint.

»Aber ja, Monsieur. Wie gesagt, wir sind voll belegt – voll – überall.«

»Aber wie kommt denn das?«, fragte Monsieur Bouc gereizt. »Findet irgendwo eine Konferenz statt? Oder ist das eine Reisegesellschaft?«

»Nein, Monsieur. Reiner Zufall. Es trifft sich einfach so, dass heute vielen Leuten der Sinn nach Verreisen steht.«

Monsieur Bouc schnalzte verdrossen mit der Zunge.

»In Belgrad«, sagte er dann, »wird der Kurswagen aus Athen angehängt. Auch der Wagen Bukarest–Paris – aber wir sind erst morgen Abend in Belgrad. Das Problem ist die heutige Nacht. Es ist auch kein Schlafplatz zweiter Klasse mehr frei?«

»Ein Bett zweiter Klasse ist noch frei, Monsieur.«

»Also, dann –«

»Aber das ist ein Damenabteil. Und es befindet sich schon eine Dame darin – eine deutsche Zofe.«

»Là, là, wie unangenehm«, sagte Monsieur Bouc.

»Grämen Sie sich nicht, mein Freund«, sagte Poirot. »Dann muss ich eben in einem normalen Abteil reisen.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage.« Monsieur Bouc wandte sich wieder an den Schaffner. »Sind denn alle Fahrgäste da?«

»Richtig«, sagte der Mann, »einer ist noch nicht da.«

Er sagte es langsam und zögernd.

»Was ist denn?«

»Bett Nummer sieben – in der zweiten Klasse. Der Herr ist noch nicht da, und es ist vier Minuten vor neun.«

»Wer ist dieser Herr?«

»Ein Engländer.« Der Schaffner sah auf seiner Liste nach. »Mr Harris.«

»Ein gutes Omen, dieser Name«, sagte Poirot. »O ja, ich habe meinen Dickens gelesen. Mr Harris wird nicht kommen.«

»Bringen Sie Monsieur in Nummer sieben unter«, befahl Monsieur Bouc. »Sollte dieser Mr Harris noch kommen, dann sagen wir ihm, er ist zu spät – wir können die Liegeplätze nicht so lange freihalten – wir werden die Sache auf die eine oder andere Weise regeln. Was kümmert mich ein Mr Harris?«

»Wie Monsieur befehlen«, sagte der Schaffner.

Er erklärte dem Gepäckträger, wohin er Poirots Sachen zu bringen habe.

Dann gab er das Trittbrett frei, damit Poirot einsteigen konnte. »Tout à fait au bout, Monsieur«, rief er. »Ganz hinten, das vorletzte Abteil.«

Poirot begab sich durch den Gang, wobei er ziemlich langsam vorankam, da die meisten Reisenden vor ihren Abteilen standen. Sein »Pardon, pardon« erklang mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks. Schließlich kam er zu dem genannten Abteil. Drinnen griff der junge Amerikaner aus dem Hotel Tokatlia gerade nach einem Koffer über sich.

Bei Poirots Eintreten runzelte er die Stirn.

»Entschuldigen Sie«, sagte er, »aber ich glaube, Sie haben sich im Abteil geirrt.« Dann wiederholte er mühsam auf Französisch: »Je crois que vous avez un erreur.«

»Sind Sie Mr Harris?«, fragte Poirot auf Englisch zurück.

»Nein, mein Name ist MacQueen. Ich –«

Im selben Moment sprach jedoch der Schlafwagenschaffner über Poirots Schulter hinweg – bedauernd und ein wenig atemlos: »Es gibt keine anderen Schlafplätze mehr im Zug, Monsieur. Dieser Herr muss zu Ihnen hinein.«

Mit diesen Worten öffnete er das Korridorfenster und begann Poirots Gepäck hereinzuwuchten.

Poirot nahm das Bedauernde in seinem Ton mit gewisser Belustigung zur Kenntnis. Zweifellos war dem Mann ein gutes Trinkgeld in Aussicht gestellt worden, wenn er es schaffte, dieses Abteil für den anderen zur alleinigen Verfügung zu halten. Aber auch das fürstlichste Trinkgeld verliert seine Wirkung, wenn ein Direktor der Internationalen Schlafwagengesellschaft im Zug sitzt und Befehle erteilt.

Der Schlafwagenschaffner kam aus dem Abteil, nachdem er die Koffer ins Gepäcknetz befördert hatte.

»Voilà, Monsieur«, sagte er. »Alles fertig. Sie haben das obere Bett, Nummer sieben. In einer Minute fahren wir ab.«

Er eilte über den Gang davon. Poirot betrat wieder das Schlafwagenabteil.

»Ein selten zu beobachtendes Phänomen«, meinte er vergnügt. »Dass ein Schlafwagenschaffner eigenhändig das Gepäck verstaut. Das hat es ja noch nie gegeben!«

Sein Mitreisender lächelte. Offenbar hatte er seinen Ärger überwunden – wahrscheinlich eingesehen, dass es keinen Sinn hatte, die Sache anders als mit philosophischer Gelassenheit hinzunehmen.

»Der Zug ist ungewöhnlich voll«, bemerkte er.

Ein Pfiff ertönte, dann gab die Lokomotive einen langgezogenen, wehklagenden Schrei von sich. Beide Männer traten auf den Gang hinaus.

»En voiture!«, rief draußen eine Stimme.

»Jetzt fahren wir«, sagte MacQueen.

Aber sie fuhren noch nicht. Wieder ertönte ein Pfiff.

»Hören Sie«, sagte der junge Mann plötzlich, »wenn Sie lieber das untere Bett hätten – bequemer und so – also, mir soll es recht sein.«

»Nicht doch«, protestierte Poirot. »Ich würde es Ihnen nie zumuten –«

»Es macht mir wirklich nichts –«

»Zu liebenswürdig –«

Höfliche Beteuerungen auf beiden Seiten.

»Es ist ja nur für eine Nacht«, erklärte Poirot. »In Belgrad –«

»Ah, Sie steigen in Belgrad wieder aus –«

»Das nicht. Aber sehen Sie –«

Plötzlich gab es einen Ruck. Beide Männer drehten sich rasch zum Fenster um und sahen den langen, erhellten Bahnsteig langsam vorbeiziehen.

Der Orientexpress hatte seine Dreitagereise quer durch Europa angetreten.

Drittes KapitelPoirot lehnt einen Auftrag ab

Monsieur Hercule Poirot kam am nächsten Mittag etwas verspätet in den Speisewagen. Er war früh aufgestanden, hatte fast allein gefrühstückt und dann den Vormittag damit verbracht, die Notizen zu dem Fall durchzulesen, der ihn nach London zurückrief. Von seinem Abteilgefährten hatte er noch wenig zu sehen bekommen.

Monsieur Bouc, der bereits Platz genommen hatte, winkte seinem Freund zur Begrüßung zu und bot ihm den freien Platz ihm gegenüber an. Poirot setzte sich und sah sich bald in der privilegierten Situation, an einem Tisch zu sitzen, der nicht nur immer zuerst bedient wurde, sondern von allem auch die besten Stücke bekam. Zudem war das Essen ungemein gut.

Erst bei einem delikaten Frischkäse gestattete Monsieur Bouc es seinen Gedanken, sich von der Nahrungsaufnahme ab- und etwas anderem zuzuwenden. Er hatte jenes Stadium der Mahlzeit erreicht, in dem der Mensch philosophisch wird.

»Ach«, seufzte er. »Hätte ich nur Balzacs Feder, wie gern würde ich diese Szene beschreiben.« Er zeigte in die Runde.

»Keine schlechte Idee«, sagte Poirot.

»Ah, Sie finden das auch? Das hat noch niemand gemacht, glaube ich. Und doch, mein Freund – es bietet sich als Romanstoff geradezu an. Um uns herum sitzen Menschen aller Schichten, aller Nationalitäten, jeden Alters. Für drei Tage bilden diese Menschen, lauter Fremde füreinander, eine Gemeinschaft. Sie schlafen und essen unter einem Dach, sie können sich nicht aus dem Weg gehen. Und nach den drei Tagen trennen sie sich wieder, jeder geht seine eigenen Wege, und sie werden sich vielleicht nie wieder sehen.«

»Dennoch«, meinte Poirot, »nehmen wir einmal an, ein Unglück –«

»Nicht doch, mein Lieber –«

»Aus Ihrer Sicht wäre das gewiss bedauerlich, zugegeben. Nehmen wir es trotzdem einmal an. Dann wären alle diese Menschen für immer miteinander verbunden – durch den Tod.«

»Trinken wir noch ein Glas Wein«, sagte Monsieur Bouc und schenkte schnell nach. »Sie haben eine schlimme Phantasie, mon cher. Vielleicht kommt das von der Verdauung.«

»Es ist wahr«, räumte Poirot ein, »das Essen in Syrien war meinem Magen nicht so recht zuträglich.«

Er trank einen Schluck Wein. Dann lehnte er sich zurück und blickte sich nachdenklich im Speisewagen um. Dreizehn Leute saßen da, und wie Monsieur Bouc gesagt hatte, waren es Menschen aller Klassen und Nationalitäten. Er sah sie sich genauer an.

Am Tisch gegenüber saßen drei Männer. Sie waren seiner Einschätzung nach Alleinreisende, vom unfehlbaren Blick des Speisewagenpersonals als solche erkannt und an denselben Tisch verwiesen. Ein korpulenter, dunkelhäutiger Italiener stocherte genüsslich in seinen Zähnen. Ihm gegenüber saß ein hagerer, adretter Engländer mit dem ausdruckslos missbilligenden Gesicht des geschulten Dieners. Neben dem Engländer saß ein vierschrötiger Amerikaner in einem schreienden Anzug – möglicherweise ein Handlungsreisender.

»Man muss da groß einsteigen«, verkündete er soeben laut und näselnd.

Der Italiener nahm seinen Zahnstocher aus dem Mund und gestikulierte ungeniert damit herum.

»Klar«, meinte er. »Sag ich doch die ganze Zeit.«

Der Engländer blickte aus dem Fenster und hüstelte.

Poirots Blick wanderte weiter.

An einem kleinen Tisch saß kerzengerade eine alte Dame, wie er sie hässlicher kaum je gesehen hatte. Es war allerdings eine Hässlichkeit von eigener Würde, die eher faszinierte als abstieß. Die Dame saß sehr aufrecht. An ihrem Hals hing ein Collier aus sehr großen Perlen, die aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz echt waren. Ihre Hände waren mit Ringen bedeckt. Sie hatte ihre Zobeljacke über den Schultern zurückgeschlagen. Ein sehr kleines, teures schwarzes Hütchen passte ausgesprochen schlecht zu dem gelblichen Krötengesicht darunter.

Soeben sprach sie mit klarer Stimme, die höflich, aber befehlsgewohnt klang, zum Speisewagenkellner:

»Haben Sie die Liebenswürdigkeit, mir eine Flasche Mineralwasser und ein großes Glas Orangensaft ins Abteil zu bringen. Und sorgen Sie dafür, dass ich heute zum Abendessen gedünstetes Hühnchen ohne Beilagen bekomme – und ein Stückchen gekochten Fisch.«

Der Kellner versicherte ihr respektvoll, dass es so geschehen werde. Sie nickte gnädig, dann erhob sie sich. Dabei streifte ihr Blick ganz kurz Poirot, huschte aber mit aristokratischer Nonchalance sogleich über ihn hinweg.

»Das ist die Fürstin Dragomiroff«, sagte Monsieur Bouc leise. »Russin. Ihr Gatte hat vor der Revolution sein ganzes Geld flüssig gemacht und im Ausland angelegt. Sie ist steinreich. Eine Kosmopolitin.«

Poirot nickte. Er hatte von der Fürstin Dragomiroff schon gehört.

»Eine Persönlichkeit«, sagte Monsieur Bouc. »Hässlich wie die Sünde, aber sie versteht Eindruck zu machen. Finden Sie nicht auch?«

Poirot fand das auch.

An einem der anderen großen Tische saß Mary Debenham mit noch zwei Frauen zusammen. Die eine, hochgewachsen und mittleren Alters, trug eine karierte Bluse mit Tweedrock. Ihr volles, abgestumpftes blondes Haar war unvorteilhaft zu einem großen Knoten geschlungen; dazu hatte sie eine Brille auf, und ihr langes Gesicht hatte die Sanftmut und Liebenswürdigkeit eines Schafs. Sie hörte der Dritten zu, einer robusten älteren Frau mit freundlichem Gesicht, die einen langen Monolog herunterleierte und scheinbar weder Luft zu holen brauchte, noch je ein Ende zu finden gedachte.

»… und da sagte meine Tochter: ›Hör mal‹, sagte sie, ›du kannst in diesem Land keine amerikanischen Sitten einführen. Faul zu sein liegt einfach in der Natur dieser Menschen‹, sagte sie. ›Sie haben es nun einmal nie eilig.‹ Und trotzdem, Sie würden staunen, wenn Sie sehen könnten, was unsere Schule dort zu Wege bringt. Die haben sehr gute Lehrer. Ich denke, es geht nichts über Bildung. Wir müssen unsere westlichen Ideale zur Geltung bringen und den Osten lehren, sie anzuerkennen. Meine Tochter sagt –«

Der Zug fuhr in einen Tunnel ein. Die monotone Stimme wurde kurzerhand ertränkt.

Am Tisch daneben, einem kleinen, saß Colonel Arbuthnot – allein. Sein Blick klebte an Mary Debenhams Hinterkopf. Sie saßen nicht zusammen. Dabei hätte sich das leicht so einrichten lassen. Warum?

Vielleicht ziert sich Mary Debenham, dachte Poirot. Als Gouvernante weiß sie sich vorzusehen. Der Schein ist alles. Eine junge Frau, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen will, muss auf Diskretion achten.

Sein Blick wanderte weiter zur anderen Seite. Am fernen Ende, gleich bei der Wand, saß eine schwarzgekleidete Frau mittleren Alters mit breitem, ausdruckslosem Gesicht. Deutsche oder Skandinavierin, dachte er. Wahrscheinlich die deutsche Zofe.

Ihr zunächst saßen ein Mann und eine Frau, beide weit über den Tisch gelehnt und in angeregter Unterhaltung. Der Mann trug einen saloppen englischen Tweedanzug, aber er war kein Engländer. Obwohl Poirot nur seinen Hinterkopf sehen konnte, war dessen Form ebenso verräterisch wie die Schulterhaltung. Er war kräftig und gut gebaut. Als er plötzlich den Kopf wandte, sah Poirot sein Profil. Ein sehr gutaussehender Mann in den Dreißigern mit großem, blondem Schnurrbart.

Die Frau ihm gegenüber war fast noch ein junges Mädchen – vielleicht um die zwanzig. Sie trug ein enganliegendes schwarzes Kostüm, eine weiße Bluse und ein schickes schwarzes Hütchen, das sie nach der herrschenden Mode lächerlich schief auf dem Kopf sitzen hatte. Ihr schönes, fremdländisches Gesicht war schneeweiß, die großen Augen braun, die Haare pechschwarz. Sie rauchte eine Zigarette an einer langen Spitze. Ihre manikürten Fingernägel waren tiefrot. Sie trug einen großen, in Platin gefassten Smaragd. Ihr Blick war schelmisch, ihre Stimme kokett.

»Elle est jolie – et chic«, sagte Poirot leise. »Mann und Frau, ja?«

Monsieur Bouc nickte.

»Ungarische Botschaft, soviel ich weiß«, sagte er. »Ein schönes Paar.«

Sonst saßen nur noch zwei Leute beim Mittagessen – Poirots Abteilgenosse MacQueen und sein Arbeitgeber, Mr Ratchett. Letzterer saß Poirot zugewandt, und zum zweiten Mal betrachtete der Detektiv diese wenig einnehmenden Züge, die falsche Gutmütigkeit der Stirn und die kleinen, grausamen Augen.

Zweifellos erkannte Monsieur Bouc den veränderten Gesichtsausdruck seines Freundes.

»Sehen Sie wieder Ihr wildes Tier?«, fragte er.

Poirot nickte.

Als der Kaffee kam, erhob sich Monsieur Bouc. Er hatte vor Poirot mit dem Essen angefangen und war schon seit einiger Zeit damit fertig.

»Ich gehe wieder in mein Abteil«, sagte er. »Kommen Sie doch nachher auf ein Schwätzchen zu mir.«

»Mit Vergnügen.«

Poirot trank seinen Kaffee und bestellte noch einen Likör. Der Kellner ging mit seiner Geldkassette von Tisch zu Tisch, um zu kassieren. Die Stimme der älteren Amerikanerin erhob sich schrill und klagend.

»Meine Tochter hat gesagt: ›Kauf dir ein Heftchen Essensbons, und du hast keinerlei Schwierigkeiten.‹ Aber das ist ja nicht wahr. Immer kommen noch diese zehn Prozent Trinkgeld dazu, genauso diese Flasche Mineralwasser – und was für komisches Wasser! Evian oder Vichy hatten die nicht, und das finde ich schon komisch.«

»Es ist wohl – die müssen – wie sagt man – Wasser von Land servieren«, erklärte die Dame mit dem Schafsgesicht.

»Also, ich finde es komisch.« Sie starrte angewidert auf das Häufchen Wechselgeld, das vor ihr auf dem Tisch lag. »Sehen Sie sich dieses Zeug an, das er mir herausgegeben hat. Dinare oder so. Wertloser Kram, wenn Sie mich fragen. Meine Tochter hat gesagt –«

Mary Debenham schob ihren Stuhl zurück, nickte den beiden anderen kurz zu und ging. Colonel Arbuthnot stand ebenfalls auf und folgte ihr. Die Amerikanerin raffte ihr geschmähtes Wechselgeld zusammen und schloss sich an, nach ihr ging auch die Dame mit dem Schafsgesicht. Die beiden Ungarn waren schon fort. Im Speisewagen saßen jetzt nur noch Poirot, Ratchett und MacQueen.

Ratchett sagte etwas zu seinem Begleiter, worauf dieser aufstand und den Speisewagen verließ. Dann erhob auch er sich, aber er folgte MacQueen nicht nach draußen, sondern setzte sich völlig unerwartet Poirot gegenüber.

»Könnten Sie mir wohl Feuer geben?«, fragte er. Seine Stimme klang leise, ein wenig näselnd. »Mein Name ist Ratchett.«