Mord in der HafenCity - Linn Greve - E-Book
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Mord in der HafenCity E-Book

Linn Greve

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Beschreibung

Ein Hamburger Spitzenkoch auf dem Zenit seines Erfolgs. Doch die Messer in der Welt der Sterneküche sind scharf. Und tödlich.

Mitten im Trubel der Hamburger HafenCity wird Gabriel Otto, besser bekannt als Gallo, in der Tiefgarage seines Wohnhauses erschossen. Auch für Kriminalkommissarin Dorothee Anders ist Gallo kein Unbekannter. Seit Monaten hat er die Gastroszene der Hansestadt mit seinem Konzept der „radikalen Nachhaltigkeit“ aufgemischt und für Schlagzeilen gesorgt. Je weiter sich Dorothee und ihr Kollege Ben Fleck in die Welt der Sterneküche begeben, desto klarer wird, dass sich Gallo auf seinem Weg nach ganz oben nicht nur Freunde gemacht hat. Als ein zweiter Mord geschieht, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit – denn der Täter hat vermutlich längt sein nächstes Opfer im Visier ...

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Linn Greve ist das Pseudonym einer deutschen Krimiautorin. Sie ist auf einem Weingut an der Mosel aufgewachsen, studierte Anglistik und Französische Philologie in Trier, absolvierte ein Verlagsvolontariat und promovierte anschließend in Sprach- und Übersetzungswissenschaft. Immer wieder zieht es sie hinaus in die Welt und insbesondere ans Meer. »Mord in der HafenCity« ist der erste Band ihrer atmosphärischen Hamburg-Krimi-Reihe um die sympathische Kommissarin Dorothee Anders.

Mitten im Trubel der Hamburger HafenCity wird Gabriel Otto, besser bekannt als Gallo, in der Tiefgarage seines Wohnhauses erschossen. Auch für Kriminalkommissarin Dorothee Anders ist Gallo kein Unbekannter. Seit Monaten hat er die Gastroszene der Hansestadt mit seinem Konzept der »radikalen Nachhaltigkeit« aufgemischt und für Schlagzeilen gesorgt. Je weiter sich Dorothee und ihr Kollege Ben Fleck in die Welt der Sterneküche begeben, desto klarer wird, dass sich Gallo auf seinem Weg nach ganz oben nicht nur Freunde gemacht hat. Als ein zweiter Mord geschieht, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit – denn der Täter hat vermutlich längt sein nächstes Opfer im Visier …

Linn Greve

EIN FALL FÜR DOROTHEE ANDERS

Kriminalroman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2022 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susann Säuberlich

Umschlaggestaltung: bürosüd

Umschlagmotiv: mauritius images / Ingo Boelter

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel GmbH, Köln

ISBN 978-3-641-26777-3V001

www.penguin-verlag.de

Du hast gekocht

Es gab Steine

Die liegen jetzt in meinem Bauch

Sie sind schwer

Ich bin alleine

Bitte wer

Schneidet mich auf

Peter Fox

1

Die Klinge fuhr in das Fleisch wie in Crème brûlée. Nach dem Bruchteil einer Sekunde wurde der gefaltete Stahl durch den Widerstand des Knochens gestoppt. Eine Blutfontäne schoss auf und ergoss sich über junge Mangoldblätter.

Carolin Freitag starrte auf die klaffende Wunde. Seltsamerweise fühlte sie keinen Schmerz, nur einen Druck und dann ein dumpfes Pochen, in dessen Rhythmus das Blut herauspulste. Ein unterdrückter Schreckenslaut entfuhr ihr, er verlor sich in der Geräuschkulisse brüllender Männer und klappernder Töpfe.

»Scheiße«, murmelte der Kollege neben ihr, griff nach der Kasserolle mit Kalbsbries und ging damit einen Arbeitsplatz weiter.

Carolins Blut bereitete dem Aged Beef auf dem Schneidbrett vor ihr einen verblüffend monochromen Soßenspiegel. Es war so heiß hier drin, ein Raum aus Flammen und brutzelndem Fett. Ihr war schwindelig.

»Du blöde Kuh!« Gallos Stimme knallte wie ein Peitschenhieb durch die Küche. »Kannst du nicht aufpassen?«

Wie auf Kommando setzte die hektische Betriebsamkeit um sie herum einen Moment lang aus. Dann werkelten alle wieder, konzentriert und lärmend.

»Du hast mir letzte Woche schon Ware versaut.« Gallo war herangekommen und schrie Carolin ins Gesicht. »Bei mir arbeiten Profis. Und zwar nur Profis. Du brauchst morgen nicht mehr wiederzukommen.« Seine Züge waren entgleist. Er warf ihr ein Geschirrhandtuch hin. »Bind das gefälligst drum, siehst du nicht, dass du alles vollsaust?«

Carolin wickelte den weißen Baumwollstoff um ihre Hand. Damit kam der Schmerz. Er lief die Nervenbahnen hoch und breitete sich wie eine Feuerwalze aus.

»Raus hier!« Gallo zeigte auf die Tür.

Carolin zögerte. Sie fixierte ihren Chef, seine fuchsbraunen Augen, die griechische Nase, das markante Kinn.

»Denk an Marcel«, sagte sie kühl, zog mit der unverletzten Hand ihre Schürze ab, ließ sie achtlos zu Boden fallen und verließ die Küche.

»Kai, du machst das da sauber und dann das Beef fertig«, kommandierte Gallo.

»Neu Tisch sechs, im ersten Austern und Zunge, im zweiten Ochsenbäckchen«, annoncierte eine der Kellnerinnen laut.

Die Bestellung drang in die Ohren und Köpfe von Gallos Brigade. Deren einziger Daseinszweck war es, sie zuverlässig umzusetzen – so wie alle Bestellungen, an allen Abenden.

Gallo brannte für seinen Beruf, für seine Passion. Er war ein Künstler, leidenschaftlich und gnadenlos. Alle in der Küche wussten, dass das »Mercurio« seine große Chance war, sein zweites eigenes Restaurant. Seit etwa anderthalb Jahren kochte er darin wie ein Besessener. Neue Produkte, neue Wege, die Inspiration schien unendlich. Gallo fühlte sich auf dem Zenit und ließ das jeden in seinem Umfeld spüren. Letzte Woche hatte das Magazin einer großen Tageszeitung über ihn berichtet, davor war er bei einer Talkshow im TV eingeladen gewesen.

Er hatte die »Neue Nachhaltigkeit« in die Spitzengastronomie eingeführt, hatte Hirn und Nieren gourmettauglich gemacht.

»Ein getötetes Tier verdient es, dass nichts von ihm vergeudet wird«, pflegte er zu proklamieren. »Wir gehen kompromisslos ehrlich mit unseren Produkten um, die Grundphilosophie ist Respekt.«

Zwischen Achtsamkeitsdünkel und der Gier nach Exotischem nahmen die übersättigten Großstädter seine Vision an. Sie bestellten den Kuheuter, in Heumilch gegart, mit Sternanis und Kimchi von Roter Bete. Sie ließen sich Hirnpralinés servieren, die eine atemberaubende Konsistenz hatten, cremig, fast wie eine Mousse, und wahnsinnig fein. Lammherzen in einer Lakritz-Jus waren der Renner im »Mercurio«.

Gallo konnte kochen. Er dirigierte komplexe Aromen wie eine Symphonie zusammen. Dabei bot er Innovatives neben Klassikern an, gab den Leuten die Option, mutig und unkonventionell zu sein. Sie mussten es nicht – aber so herangeführt, waren es fast alle.

»Chef, der Herr an Tisch drei … Ich glaube, er ist es.« Jens vom Service stand vor der langen Edelstahl-Durchreiche, in seinem Gesicht lag so etwas wie freudige Erwartung. »Er möchte Ihnen persönlich seine Hochachtung ausdrücken. Er habe formidabel gespeist.«

Gallos Züge erstarrten. »Du denkst tatsächlich, dass er es ist?«

»Ja.«

Hastig tupfte Gallo mit einem Zipfel seiner Schürze Schweißtropfen von der Stirn, atmete tief ein und setzte ein gewinnendes Lächeln auf. Die Haltung straffend, ging er aus der Küche hinüber in den Gastraum. Dessen Einrichtung hatte ein preisgekrönter Architekt im Stil der »Neuen Geradlinigkeit« entworfen: heimisches Vollholz, klare Formen, Recycling-Design.

Gallo schritt auf einen etwa fünfzigjährigen Mann mit Brille und Seitenscheitel an Tisch drei zu. Während er sich ihm näherte, nickte er den anderen Gästen aufmerksam zu und versicherte sich ihrer Zufriedenheit.

Erklärtes Ziel war der Guide Michelin.

Gabriel Otto, genannt Gallo, war auf dem direkten Weg in den Sterne-Olymp.

2

Dorothee Anders schob den mit Jasminranken verzierten Teller von sich weg. Die Ente süßsauer konnte auf ihrem Glutamat-See unbekannten Ufern entgegentreiben, Doro wollte damit nichts mehr zu tun haben.

»Nicht gut?«, fragte Michael und beförderte mit gekreuzten Stäbchen ein paar gebratene Nudeln in seinen Mund. Danach griff er mit der linken Hand nach Doros. Die chinesische Zupfzither im Hintergrund kam ihr noch schräger als sonst vor.

»Ach, bevor ich’s vergesse …« Michael schmatzte und schluckte, legte die Stäbchen beiseite und langte in seine Jacketttasche. Er zog eine türkisfarbene Schmuckschatulle heraus und reichte sie Doro. »Schau mal.«

Erstaunt nahm Doro sie an. Michael hatte ihr noch nie etwas geschenkt – sah man von einem mit einer roten Schleife verzierten Haftbefehl ab, den er ihr einmal ins Büro gebracht hatte. Zögerlich öffnete sie den Deckel. Auf reinweißes Innenfutter schmiegte sich eine Kette aus Platin oder Weißgold. Der rund gefasste Solitär daran war traumhaft schön.

»Denkst du, die gefällt Caren?« Erwartungsvoll sah Michael Doro an. »Zum Vierzigsten muss es schon was Besonderes sein.«

»Sie ist wundervoll.« Doro klappte das Etui zu und gab es Michael zurück. »Caren kann sich glücklich schätzen, mit dir verheiratet zu sein.«

»Nicht wahr?« Michael zwinkerte. In dem Aquarium hinter ihm glupschte ein Zierfisch ans Glas, er sah aus wie eine zerfranste Sofadecke.

Doro hatte die bildhübsche Amerikanerin mit dem vollen aschblonden Haar und der Topfigur einmal auf einem Sommerfest getroffen. Auf ein zweites Mal konnte sie verzichten.

»Sehen wir uns am Mittwochabend bei dir?«, fragte Michael.

In Doro stiegen widerstreitende Gefühle auf. »Morgen … Hm. Du, ich bin mir nicht sicher, ob …«

»Dorothee, bitte. Du weißt, wie sehr ich dich mag. Mach’s nicht kompliziert.« Michaels Züge vereinten Willensstärke mit jungenhaftem Charme, seine Stimme war herb und zärtlich zugleich.

Wie Salzkaramell, dachte Doro und fühlte sich unweigerlich zu ihm hingezogen. Das Licht der tief hängenden Lampe beschien seinen kahlen Schädel, in den dunklen Augen lag ein warmer Glanz. Doro versuchte, aufkommende Erinnerungen an Michaels Küsse zu verdrängen.

»War’s gut?« Die chinesische Kellnerin lächelte mit falschen Zähnen.

»Oh, ja. Danke schön.« Doros Gaumen kribbelte.

Die in einen bestickten Kimono gehüllte Frau räumte den Teller mit der Ente ab. Anschließend nahm sie eines der beiden mit einer grellorangen Flüssigkeit gefüllten Schnapsgläser vom Tablett und stellte es vor Doro.

»Für mich bitte nicht.« Michael hob abwehrend die Hände.

Der Herr Staatsanwalt käme im Leben nicht auf die Idee, im Dienst zu trinken, dachte Doro.

»Aber einen Glückskeks?« Wieder entblößte ein Lächeln die weißen Porzellanrechtecke in dem runden Gesicht. Eine kleine Hand legte zwei in Goldfolie verpackte Kekse in die Mitte des Tisches.

»Ja, gern. Glück kann man immer gebrauchen.« Michael schmunzelte.

Doro griff nach dem Schnapsglas, hob es an und kippte den Inhalt herunter. Eine Explosion künstlicher Aromen schoss durch ihren Mund bis hinauf in die Nase, irritierend und abscheulich lecker, Mango made in China. Dazu kam das Beißen des Alkohols, das ihr für einen Moment den Atem raubte.

»Prost«, sagte Michael und trank einen Schluck Tafelwasser. »Was ist mit Mittwoch?«

»Okay.« Doro war alt genug, um mit Arrangements umgehen zu können. Und sie war alt genug, um für sich entschieden zu haben, dass Sex mit einem verheirateten Mann besser war als gar keiner.

Michael nahm einen Glückskeks, den anderen schob er Doro hin.

Sie zerriss die Folie und brach das gebogene Teighörnchen auseinander. Mit spitzen Fingern zog sie den weißen Zettel heraus, die Schrift darauf erschien ihr winzig. Sie hatte ihre Lesebrille im Büro vergessen, genau genommen hatte sie sie liegen lassen. Sie hasste die Zeichen des Alters.

Ihre Augen versuchten, sich scharf zu stellen.

Geheim und apart ist die Blume der Nacht.

Doro steckte sich die beiden Kekshälften in den Mund und zerknüllte den Zettel.

»Sei immer du selbst, außer du kannst ein Einhorn sein, dann sei ein Einhorn«, las Michael von seinem kleinen Papierstreifen vor. »Doro, möchtest du, dass ich ein Einhorn bin?« Er grinste anzüglich.

»Um Himmels willen.« Doros Stimme trug laszive Empörung.

Michael hielt ihren Blick fest, ihr wurde warm. Dabei bemerkte sie ein Brummen in ihrer Jackentasche und brauchte eine Sekunde, um das Geräusch zuzuordnen.

Sie nestelte ihr Handy heraus. Auf dem Display stand die Nummer ihres Kollegen Ben Fleck, darüber wurde ein verpasster Anruf von ihm angezeigt. Sie nahm das Gespräch an.

»Hi, Ben.«

»Hallo, Doro. Ich störe ungern deine Mittagspause, aber es gab einen Mord in der Hafencity. Der Mann heißt Gabriel Otto und ist wohl ein ziemlich bekannter Koch. Er wurde in der Tiefgarage seines Apartmenthauses erschossen. Gezielter Kopfschuss.«

Doro sog Luft ein. »Wo wohnte er?«

»An der Elbtorpromenade. In dem neuen Quartier dort. Wann kannst du da sein?«

Doro sah auf ihre Armbanduhr, es war kurz nach zwei. »Um Viertel nach etwa.« Der Tatort lag nicht weit vom »Shanghai Paradise« entfernt. »Bis gleich.« Sie legte auf.

»Arbeit?«, fragte Michael. Die Fälle von Hauptkommissarin Dorothee Anders landeten häufig auch auf seinem Schreibtisch.

Doro zog den Geldbeutel aus ihrer Jackentasche. »Ein Gastronom namens Gabriel Otto. Kopfschuss in der Tiefgarage seines Hauses an der Elbtorpromenade.«

»Oh«, machte Michael, zögerte einen Moment und zischte »Shit«.

»Kann man so sagen.« Doro winkte der Kellnerin. »Zahlen, bitte.«

»Bei dem hatte ich für Carens Geburtstag reserviert«, schloss Michael an. »Sie hat sich total drauf gefreut. Die halbe Stadt spricht von seinem Restaurant.«

»Ach so?« Doro kräuselte die Lippen.

»Ja, angeblich kocht der sensationell und ziemlich ungewöhnlich. Aber das hat sich nun wohl erledigt.«

Die Kellnerin war mit kleinen Schritten herangekommen und legte die Rechnung auf den Tisch.

»Lass doch, ich übernehme das.« Michael zückte seine Kreditkarte. »Falls ich gleich auch einen Anruf bekomme, sehen wir uns am Tatort.«

»In Ordnung.« Doro erhob sich.

Es gab keine Abschiedsküsse zwischen Michael und ihr, auch keine zur Begrüßung. Doch sie hatten die Angewohnheit, sich in die Augen zu sehen, bevor sie sich trennten. Oft empfand Doro das wie eine zärtliche Berührung.

»Tschüs«, sagte sie. »Vielleicht bis später.«

3

Eilig verließ Doro das Restaurant und lief zu ihrem Rennrad, das an einem Laternenpfosten stand. Sie drehte die kleinen Zahlenräder des Nummernschlosses auf den Geburtstag ihres Sohnes, schwang sich auf den Sattel und fuhr los.

Vom Gehweg aus fädelte sie sich in den Stadtverkehr ein, Strähnen ihres rotbraunen Haares wehten ihr ins Gesicht. Sie schüttelte sie zurück und trat so fest sie konnte in die Pedale.

Kopfschuss. Bislang hatte sie in ihrer Laufbahn bei der Polizei erst einen Menschen gesehen, der auf diese Weise umgekommen war, Suizid durch aufgesetzte Großkaliberwaffe. Der Anblick war furchtbar gewesen.

Sie lavierte sich an Autos vorbei, die an einer roten Ampel hielten, und schnellte über einen Fußgängerüberweg.

»Hee!«, rief ihr ein älterer Mann hinterher. »Für Radfahrer ist Rot!«

Unbeirrt raste Doro weiter. Links und rechts ragten moderne Bürogebäude auf, in ihren Glasfronten spiegelte sich die trübe Septembersonne.

Doro fuhr am Wasser entlang, das die Hafencity durchzog und ihr ein besonderes Flair von Freiheit und Lebendigkeit verlieh. Sie überquerte eine Brücke, registrierte das Funkeln der Elbe. Etliche Menschen waren unterwegs, sie schoss an einer Frau vorbei, die einen Kinderwagen schob. Daneben stapfte ein Kleinkind auf einem Laufrad vorwärts.

Geradeaus sah sie bereits die Streifenwagen vor einem neuen Apartmenthaus parken. Sie brachte die letzten Meter hinter sich, stieg ab und lehnte ihr Rad an eine Hauswand. Zwei uniformierte Kollegen standen vor der Tiefgarageneinfahrt. Doro zeigte ihren Dienstausweis, einer der Beamten nickte und ließ sie passieren.

Sie lief den glatten Betonboden der Einfahrt herunter. Mit jedem Schritt wurde es stickiger, es roch nach Abgasen und Gummi. Am Ende der Auffahrt wandte sich Doro nach rechts.

Etwa in der Mitte der Parkfläche befand sich ein schwarzer Landrover mit offener Fahrertür.

In Doros Schläfen stach etwas, ein Hitzeschwall überlief ihren Körper. Es war der gleiche Wagen, den Alexander fuhr. Alexander und Julia, auf dem Rücksitz die beiden Mädchen.

Doro schluckte trocken. Ihr Ex-Mann und seine neue Familie.

Schräg hinter dem Wagen stand ihr junger Kollege Ben Fleck. In Lederjacke und tief hängenden Jeans, das Haar wie immer verstrubbelt, sprach er mit einem Kriminaltechniker.

Doro eilte heran. Wenige Sekunden später sah sie in den mit beigem Leder ausgestatteten Innenraum des Rovers. Dabei zwang sie ihren Blick zum Torso des Mannes, der nach rechts geneigt auf dem Fahrersitz saß. Das weiße Hemd war voller Blut, es hatte sich in prangenden Flecken und feinen Spritzern verteilt. Unterhalb des Kragens klebte etwas Hellgraues und ein rötlicher Knochensplitter.

Langsam richtete Doro ihre Augen nach oben.

Bei Kopfschüssen trat die Kugel häufig wieder aus dem Schädel aus, mitunter nicht ohne die Hirnschale zu fragmentieren.

Doro atmete gepresst. Der Knochen war an der Einschussstelle flächig geborsten. Wie bei einem Modell für den Biologieunterricht sah man Hirnstrukturen und einen Teil der Augenhöhle.

Das Sicherheitsglas des Beifahrerfensters hing zerfetzt im Rahmen, die Kugel hatte es nach ihrem Austritt aus dem Kopf durchschlagen.

»Hallo, Doro.« Ben kam zu ihr. »Ziemliche Sauerei, was?«

Doro schätzte die robuste Art ihres Kollegen. Seit etwa zwei Jahren arbeiteten sie zusammen, und in der Zeit hatte sie ihn noch nicht die Gesichtsfarbe wechseln sehen. Sie fand es gut so, für Zartbesaitete war die Kripo der falsche Arbeitsplatz.

»Wenn du mich fragst, sicher kein Zufallsopfer«, ergänzte Ben.

»Das sind die wenigsten«, antwortete Doro. »Was wissen wir über den Mann?«

»Er ist vierundvierzig, ledig, kinderlos. Ihm gehört das Restaurant ›Mercurio‹, das gerade sehr angesagt ist.«

»Ich hab davon gehört.«

»Du?« Ben runzelte die Stirn. »Gehst du in solche Edelschuppen?«

Doro ignorierte die Frage. In ihrem Magen meldete sich die Ente, es fühlte sich an, als wolle sie an die Luft zurück.

»Wer hat den Toten gefunden?«, fragte sie.

»Ein Nachbar. Er ist Arzt. Na ja, da kann er wenigstens den Anblick verkraften. Er sitzt draußen im Einsatzwagen und gibt seine Aussage zu Protokoll. Ihm zufolge lief der Motor des Rovers nicht, der Zündschlüssel steckte, und die Fahrertür stand offen. Es ist noch nicht klar, ob Gabriel Otto gerade angekommen war oder wegfahren wollte.« Ben schob die Hände in die Taschen seiner Jeans. »Ich weiß nicht, wie es dir geht, mich erinnert diese Szenerie an eine Hinrichtung.«

Doro nickte. Der Gedanke war auch ihr gekommen. »Ist die Kugel gefunden worden?«

»Ja, auf der anderen Seite des Wagens, einige Meter entfernt. Großkaliber, vermutlich mit Schalldämpfer.«

Doro schaute sich nach Kameras um.

Offenbar erriet Ben ihre Gedanken. »Leider nein«, meinte er. »Die Garage ist nicht videoüberwacht.«

Wäre auch zu schön gewesen, dachte Doro. »Ich möchte mit den anderen Hausbewohnern sprechen. Ist die KT schon in der Wohnung des Toten?«

»Ja. Er hatte den Schlüssel bei sich, drei Männer sind hoch. Gabriel Otto bewohnte das Penthouse. Bestimmt keine ärmliche Bude.«

»Wie man sieht, macht Geld nicht unbedingt glücklich«, erwiderte Doro.

Ben zuckte mit den Schultern und deutete auf die offen stehende Brandschutztür, die ins Treppenhaus führte. »Normalerweise kommt man da nur mit einem Schlüssel durch. Wenn der Täter den nicht hatte, muss er dort zur Ausfahrt raus geflüchtet sein.«

Durch eine Bewegung von Bens Arm wehte Doro aus dem Rover ein Hauch von Leder und einem holzigen Aftershave an, darüber legte sich der Geruch von Blut. Übelkeit pulste auf, Doro drehte sich weg.

»Lass uns hoch«, sagte sie zu Ben und steuerte die Brandschutztür an.

Gleichzeitig klingelte ihr Handy. Sie nahm es aus der Jackentasche. Constantin war dran.

»Hallo, mein Schatz«, begrüßte sie ihn und wusste im selben Augenblick, dass sich ihr Sohn darüber ärgerte. In seinen Augen war er ein Mann, in ihren ein Junge. Nicht nur das war zurzeit ein Problem.

»Hi«, sagte er kurz angebunden. »Ich bin heut bei Papa.«

»Ach, Constantin, lass uns doch heute Abend gemeinsam …«

»Okay, tschüs dann«, unterbrach er mit rauer Stimme und legte auf.

Das Telefon lag plötzlich schwer in Doros Hand. Auch nach Jahren dachte sie noch oft an die Trennung von Alexander. Doch das war nichts im Vergleich zu dem Gefühl, das sie hatte, wenn ihr Sohn sich von ihr abwandte.

Sie stieg die Treppenstufen aus grauem Granit hinauf.

»Wird schon«, sagte Ben neben ihr. »Ich war auch nicht einfach für meine Eltern.«

»Hm.« Doro steckte ihr Handy weg. Ben war in Ordnung, eigentlich mochte sie ihn.

Sie versuchte, die Beklemmung, die sich um ihr Herz gelegt hatte, abzuschütteln. Gerade erforderte ihr Job ihre ganze Aufmerksamkeit.

Im Treppenhaus roch es nach Neubau, alles wirkte sauber und gepflegt, die Wände waren makellos weiß. Doro kannte die Mietpreise in diesem Viertel, Gabriel Ottos Restaurant musste gut gelaufen sein.

»Versuchen wir’s im Stockwerk unterhalb der Wohnung des Toten«, schlug sie vor. »Vielleicht ist jemand zu Hause.«

»Okay.«

Wenig später erreichten sie den mit Halogenstrahlern ausgeleuchteten Flur der vierten Etage. Doro drückte ihren Finger auf den Klingelschalter neben der ersten Wohnungstür. Ein melodischer Dreiklang ertönte, die Ermittler warteten. Es tat sich nichts.

Doro läutete nochmals und wieder. Als alles still blieb, schlurfte Ben zu der anderen der beiden Türen und klingelte.

In der nächsten Sekunde wurde sie aufgerissen.

»Oh, hast du …« Eine helle Stimme verstummte abrupt.

Ben stand einer halb nackten Frau gegenüber. Um ihre Brust war ein rotes Handtuch geschlungen, das gerade so bis zu den Oberschenkeln reichte. Das nasse Haar hing tropfend über die Schultern.

Ungerührt musterte Ben die Frau und zückte seinen Dienstausweis. »Kripo Hamburg. Können wir kurz mit Ihnen sprechen?«

»Kripo?« Erschrecken lief über das feucht glänzende Gesicht. »Was ist passiert? Ist etwas mit Gerald?«

»Eher mit Gabriel«, erwiderte Ben trocken. »Dürfen wir reinkommen, Frau …?«

»Weiland. Charlotte Weiland. Sicher, natürlich.« Die Frau machte eine verhalten einladende Handbewegung. »Bitte.«

Doro und Ben betraten eine schmale Diele und dahinter einen offenen Wohnbereich mit großen Fenstern. Die Einrichtung hatte eine Homestory in einem hochpreisigen Lifestylemagazin verdient, jedes Detail passte.

Ein Zitat aus einem ihrer Psychologieseminare kam Doro in den Sinn. »Perfektion schafft Aggression.«

Die letzte fremde Wohnung, die sie dienstlich betreten hatte, war ein heruntergekommenes Loch im Osten der Stadt gewesen. Es hatte nach Kippen und Unglück gerochen, die Aggression hatte dort keine Umwege genommen.

»Meinen Sie Gabriel Otto?«, fragte Charlotte Weiland unsicher. Sie zog das Handtuch fester um ihren Oberkörper.

»Ja«, antwortete Ben. »Er wurde erschossen. Kopfschuss.«

Das war noch so etwas, das Doro an Ben schätzte. Er redete nicht lange um die Dinge herum.

Charlotte Weilands hübsch geformter Mund klappte auf, das schwarze Loch in ihrem Gesicht torpedierte seine Schönheit.

»Das ist … unmöglich.« Sie ließ sich keuchend auf einen der hellen Lederstühle fallen, die an einem großen Esstisch standen. Das ohnehin knappe Handtuch rutschte hoch.

Etwas von dem Tisch entfernt lag ein kleiner Kleiderhaufen auf dem Boden, ein hellgrauer Rock, eine blaue Bluse, ein BH.

»Warum unmöglich?«, fragte Doro.

»Weil … weil … Das ist entsetzlich.«

»Frau Weiland, möchten Sie sich etwas anziehen?« Doros Stimme war sanft.

»Oh … Ja. Ich bin gleich zurück.« Sichtlich verstört stand Charlotte Weiland auf und verschwand auf blanken Sohlen aus dem Raum.

»Was hat sie so zum Schwitzen gebracht, dass sie aus ihren Kleidern steigen und duschen musste?«, raunte Ben. Er bückte sich, griff flink nach Rock und Bluse, besah sich die Teile und ließ sie wieder fallen. »Kein Blut«, stellte er fest.

»Oder erst die Kleider runter, dann schwitzen und anschließend duschen?«, fragte Doro.

»Du meinst …?«

Doro hob die Schultern.

In Jeans und T-Shirt kam Charlotte Weiland zurück. Dicht an Ben vorbei steuerte sie ihre auf dem Boden liegende Kleidung an und raffte sie zusammen. Sie verfrachtete das Bündel auf die Tischplatte, wo es sich noch deplatzierter ausnahm.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie hohl. »Wenn mein Mann nicht da ist, bin ich manchmal etwas nachlässig.«

»Das sind wir doch alle mal«, erwiderte Ben kumpelhaft. »Kannten Sie Gabriel Otto?«

Ein Augenlid der Frau zuckte, sie sank wieder auf den Stuhl am Esstisch. »Wir waren Nachbarn. Ein, zwei Mal waren Gerald und ich auch in Gabriels Restaurant essen. Mein Mann schätzt allerdings mehr die traditionelle Hausmannskost.«

Doro beobachtete Charlotte Weiland. Sie war eine dieser Naturschönheiten, wie sie auf den schwedischen Schäreninseln mit Blumenkranz im Haar den Mittsommer feierten.

Hausmannskost?, überlegte sie. »Kannten Sie Herrn Otto näher?«

»Näher?«

»Persönlich. Privat.«

»Wir haben uns gegrüßt, wenn wir uns sahen, ein paar Worte geplaudert. So was halt.« Charlotte Weiland knibbelte an ihren rosa lackierten Fingernägeln. »Wo ist es passiert?«, fragte sie.

»Unten in der Tiefgarage.« Ben zog die Nase hoch. »Ist Ihnen heute etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Oder haben Sie in letzter Zeit Fremde im Haus bemerkt?«

Charlotte Weiland schüttelte den Kopf. »Nein, nichts dergleichen. Alles war wie immer. Mir ist nichts aufgefallen.«

»Wen haben Sie eben erwartet, Frau Weiland?«

»Ich? Erwartet? Niemand.«

»Hatten Sie ein Verhältnis mit Gabriel Otto?« Doro stellte die direkte Frage. Erfahrungsgemäß war nicht die Antwort entscheidend, sondern die Art, wie sie gegeben wurde.

»Wie bitte?« Empörung trat in das schöne Gesicht. »Das ist absurd. Ich bin glücklich verheiratet.«

Als wäre das ein Hinderungsgrund, dachte Doro. »Wo ist Ihr Mann?«

»Im Büro. Also, in der Bank. Rothner Privatbank. Er hat dort die Geschäftsleitung inne.«

»Und Sie? Sind Sie immer um diese Zeit zu Hause?«

»Nein, nein. Meist bin ich beim Sport. Oder ich habe andere Termine.« Charlotte Weiland wedelte mit einer Hand. »Was man eben so hat.«

Ist klar, dachte Doro, sie nickte Ben zu. »Gut, Frau Weiland, wir melden uns bei Ihnen, wenn wir weitere Fragen haben.«

»Wiedersehn«, nuschelte Ben und wandte sich zum Gehen.

Doro verließ hinter ihm die Wohnung, den Blick auf sein wuscheliges Haar und die abgestoßene Lederjacke gerichtet.

»Muss ein echt komisches Gefühl sein, gerade mit jemandem geschlafen zu haben, der dann tot ist«, sagte er auf der Treppe nach oben zum Penthouse. »Wobei, ist das nicht bei diesen antiken Tragödien meistens so mit Eros und Tod und …«

»Dass Charlotte Weiland mit Gabriel Otto im Bett war, ist nur eine Vermutung.« Doro nahm die letzten beiden Stufen mit einem Schritt.

Rechts von ihr stand der Aufzug offen, die Kriminaltechniker hatten ihn blockiert. Der kleine Innenraum war verspiegelt. Im Vorbeigehen sah Doro Ben und sich darin – einen groß gewachsenen jungen Mann und eine Frau Mitte vierzig, die am Morgen etwas Make-up hätte auflegen sollen.

Schräg gegenüber dem Fahrstuhl befand sich der Eingang zu Gabriel Ottos Wohnung. Sie traten durch die Tür.

Das Erste, was Doro hörte, war Michaels tiefe, warme Stimme. »Den Laptop und diese Ordner da.«

Die Ermittler gelangten in einen riesigen Raum. Die beiden Glasfronten geradeaus und links gaben ihm zusätzliche Weite, der Ausblick auf Hamburg und die glitzernde Elbe war spektakulär.

Gabriel Ottos Wohnung war spärlich, aber edel möbliert. Das Zentrum des Wohnraums bildete ein großer frei stehender Gasherd, eingefasst in helle Granitplatten. Über ihm hing ein monumentaler chromglänzender Dunstabzug. Für einen Moment hatte Doro den Eindruck, als könne dieser metallene Trichter alles ansaugen, was sich unter ihm befand. Allerdings standen die Ablageflächen der Kücheninsel voller Flaschen, Gefäße und Gewürze. An einer Seite waren Kräutertöpfe aufgereiht, davor lagen Avocados, Auberginen und irgendwelches Blattgrün.

»Hallo, Frau Anders.« Michael kam lächelnd auf Doro zu, Ben wurde mit einem freundlichen Kopfnicken bedacht. »Hallo, Herr Fleck. Haben Sie schon erste Erkenntnisse im Fall Gabriel Otto?«

»Den Täter haben wir leider noch nicht«, gab Doro zurück und verrutschte dabei im Ton. Das Gesieze in der Öffentlichkeit ging ihr seit einer Weile auf die Nerven.

Michael musterte sie amüsiert, demonstrativ verschränkte sie die Arme vor der Brust.

»Mit Ihrer Hilfe, Herr Faller, wird uns das sicher bald gelingen.« Ben zwinkerte Michael jovial zu.

»Gabriel Otto war übrigens kein Unbekannter für uns«, sagte der. »Meine Sekretärin hat mich eben informiert.«

Die gute Irene, dachte Doro. Eine Frau mit Sensoren wie eine Protonenwaage. Wahrscheinlich wusste sie alles.

»Vor etwas über zwei Jahren hat die Staatsanwaltschaft wegen Insolvenzverschleppung gegen Gabriel Otto ermittelt. Er hat mit seinem damaligen Restaurant ›Sirius‹, das er längere Zeit hier in Hamburg betrieben hatte, Pleite gemacht.«

»Und?«, fragte Doro. »Wie ging die Sache aus?«

»Die vorläufige Beurteilung des Insolvenzverwalters hatte zu den Ermittlungen geführt. Dann wurde das Verfahren allerdings eingestellt. Zum einen hat Otto seine Gläubiger bedient. Zum anderen wurde die strafrechtliche Relevanz von einem extern bestellten Gutachter neu beurteilt.«

Ben legte die Stirn in Falten. »Sie meinen, es sind Kapitalgeber eingetreten?«

»Nach Aktenlage gab es einen Immobilienverkauf durch Ottos Mutter. Mit diesem Geld wurden die offenen Forderungen beglichen. Die Mutter ist ein halbes Jahr später verstorben.«

»Ach«, machte Ben. »Und mit der Erbschaft ist der Maestro neu durchgestartet?«

»Möglich.« Michael wandte sich dem Schreibtisch an der einen Seite des Raumes zu. »Ich beschlagnahme persönliche Unterlagen, den PC, das übliche Programm. Haben Sie Gabriel Ottos Handy?«

»Ja, das trug er bei sich, es wurde sichergestellt«, antwortete Ben.

»Drüben im Schlafzimmer war ich noch nicht.« Michael räusperte sich. »Kann sein, dass da auch noch was ist.«

»Da war bestimmt was«, meinte Ben platt.

Wortlos ging Doro ein paar Schritte nach rechts. Dort führte ein Durchgang ins Schlafzimmer, sie trat ein.

Die Jalousien waren halb heruntergelassen. Doros Blick fiel auf ein breites Bett und einen Kleiderschrank, dessen Front zur Hälfte aus Spiegeln bestand. Die graue Bettwäsche schimmerte seidig, sie war zerwühlt, das Laken knitterig. Der Duft eines holzigen Herrenparfums lag in der Luft, darüber der von menschlicher Haut – der dichte Geruch nach Körperlichkeit.

Doro ging zum Bett. Langsam schob sie ihre Hand unter die dünne Daunendecke. Es war noch ein wenig warm darunter. Die Wärme eines Mannes, der sechs Etagen tiefer keine mehr abgibt, dachte sie. Dabei stieg eine altbekannte Beklommenheit in ihr auf. Sie empfand sie oft bei der unmittelbaren Erfahrung von Vergänglichkeit. Abrupt zog sie die Hand zurück.

Vom Schlafzimmer aus gelangte man ins Bad. Es gab auch hier einen breiten Durchgang, aber keine Tür. Die ganze Wohnung schien in ihrer Offenheit keine Rückzugsorte zu bieten.

Doro begab sich in den mit grauen und schwarzen Fliesen ausgelegten Raum. An Edelstahlhaltern hingen reinweiße Handtücher, teure Parfumflakons und Pflegeprodukte reihten sich auf einem gläsernen Sideboard. In der großen quadratischen Dusche perlten noch Wassertropfen an den Glaswänden.

Vorsichtig öffnete Doro den Spiegelschrank über dem Waschbecken. Das Innenleben war ordentlich sortiert, Toilettenartikel, Kondome und einige Tablettenpackungen. Auf einer Schachtel stand »Zur Kurzzeitbehandlung von Schlafstörungen« unter dem Handelsnamen, daneben »verschreibungspflichtig«.

»Was gefunden?«

Sie schnellte herum. Ben war hinter ihr und lugte zum Spiegelschrank.

»Der Job hat womöglich seinen Tribut gefordert.« Sie deutete auf die Schlaftabletten. »Wir sollten mit Gabriel Ottos Angestellten sprechen. Wo es richtig stressig ist, herrscht selten Harmonie.«

»Wie bei der Kripo«, erwiderte Ben.

Gemeinsam gingen sie durch das Schlafzimmer zurück in den loftartigen Wohnraum.

»Hast du die Anschrift von diesem ›Mercurio‹?«, fragte Doro Ben.

»Es liegt nur ein paar Straßen von hier entfernt.« Eine sonore Stimme hatte ihr geantwortet.

Doro blinzelte. »Ach, waren Sie schon mal da, Herr Faller?«

»Nein, ich bevorzuge den Asiaten um die Ecke.«

Eine kleine verräterische Röte kroch in Doros Wangen. Derweil tippte Ben auf seinem Handy herum und nannte die Adresse.

»Lass uns los«, sagte Doro rasch. »Herr Faller, wir hören voneinander.«

»Das will ich hoffen.«

Doro drehte sich um. Kurz darauf lief sie mit Ben das Treppenhaus runter, die Sohlen seiner riesigen Turnschuhe quietschten auf dem Granitstein.

»Ich finde euer Getue echt lustig«, sagte er unvermittelt.

»Was?« Doros Stimme war zu hoch.

»Du und der Faller. Das sieht doch ein Blinder, dass da was ist. Der kriegt immer so ein Lächeln ins Gesicht, und du wirst zur Drahtbürste.«

Doro kniff die Lippen zusammen.

»Entspann dich.« Grinsend legte ihr Ben seine Hand auf die Schulter. »Ich kann schweigen wie der Tote in der Tiefgarage.«

4

»Ich glaub, ich kotz im Strahl.« Ben gab ein angewidertes Geräusch von sich.

Manchmal ist er doch noch ziemlich jung, dachte Doro. Sie drückte den Zeigefinger zum wiederholten Mal auf den quadratischen Klingelschalter.

»Hast du gesehen, was der auf der Karte hat?«, fuhr Ben fort. »Innereien mit Lakritz, Hirn und so was. Mag ja sein, dass seine Gäste das nötig haben, aber …«

Hinter der gläsernen Restauranttür war jemand herangekommen. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, einen Augenblick später stand eine junge dunkelhaarige Frau mit unwirschem Ausdruck vor Doro und Ben.

»Wir öffnen erst um achtzehn Uhr dreißig.« Die Haut ihres Gesichts war fahl, die weiße Küchenjacke hatte Flecken. »Das steht auch da.« Die Frau wies auf eine kleine Tafel im Glaseinsatz der Tür.

»Wir möchten nichts essen.« Doro zeigte ihren Dienstausweis. »Kripo Hamburg. Es geht um Ihren Chef. Dürfen wir reinkommen?«

»Um Gallo?«, fragte die Frau erstaunt.

»Gabriel Otto. Nennen Sie ihn Gallo?«

»Das ist sozusagen sein Künstlername.« Eine schmale, gerötete Hand strich eine Haarsträhne zurück, die sich aus dem hochgebundenen Knoten gelöst hatte. »Kommen Sie rein. Was ist mit Gallo?«

Sie betraten den Gastraum. Unwillkürlich fühlte sich Doro an ein Klassenzimmer erinnert. Schlichte quadratische Tische standen in drei Reihen, die Wände waren fast kahl, es gab nur einige Farbakzente in Grün- und Blautönen.

Ben sah die Köchin an. »Frau … äh …?«

»Zöller. Janine Zöller.«

»Frau Zöller, Ihr Chef ist tot. Er wurde erschossen.«

»Scheiße.« Die restliche Farbe wich aus dem Gesicht der Frau. »Verdammte Scheiße.«

»Sind noch Kollegen von Ihnen in der Küche?«, fragte Ben.

»Ja, wir sind zu dritt dabei, für den Abend vorzubereiten. Kai, Dario und ich. Gallo war heute Vormittag schon da. Er ist dann zur Zimmerstunde weg, wahrscheinlich nach Hause.«

»Zur was?« Doro konnte mit dem Begriff nichts anfangen.

»Eigentlich ist es bei uns keine richtige, weil wir ja keinen Mittagsservice haben, nur Abendbetrieb. In der Gastronomie nennt man die Zeit zwischen vierzehn und siebzehn Uhr so, wenn man ausruhen, was essen, sich auf sein Zimmer zurückziehen kann. Gallo brauchte ein paar Stunden für sich, bevor am frühen Abend der ganze Wahnsinn wieder losging. Er ist kurz vor eins weg.«

Doro kam eher eine Schäferstunde in den Sinn. »Wir möchten auch mit Ihren beiden Kollegen sprechen.«

Janine Zöller nickte und setzte sich mit matten Schritten in Bewegung. Sie war schlank, fast mager, und wirkte trotz ihrer Jugend ausgezehrt. Vor ihr öffnete sich eine holzverkleidete Schiebetür automatisch, dahinter lag die Küche.

Schon der Gastraum war nicht sonderlich anheimelnd gewesen, die Küche erinnerte Doro an ein Schlachthaus. Geflieste Wände und jede Menge Edelstahl transportierten Kälte, obwohl es heiß im Raum war. Der Geruch von Gebratenem umfing sie wie ein penetranter Dunst, der über die Atemwege in den Körper drang. Als würde man vom Riechen satt, dachte sie.

Zwei junge Männer in weißen Kochjacken arbeiteten an einer Anrichte. Als Doro und Ben herankamen, sahen sie mit erstaunten Mienen auf.

»Kripo«, sagte Janine Zöller. »Gallo ist tot.«

»Fuck!« Einer der Männer warf sein Messer hin, mit einem metallischen Klirren flog es auf den Edelstahl. »Elender Dreck.«

»Dario, reiß dich zusammen!«, zischte Janine Zöller.

»Ach was«, blaffte Dario, zerrte seine Kopfbedeckung herunter und schmiss sie von sich.

»Sie sind ziemlich ungehalten«, meinte Doro.

»Scheiße, wir waren so nah dran.« Er hielt Daumen und Zeigefinger in wenigen Zentimetern Abstand voneinander. »Jetzt war die ganze Plackerei umsonst.«

»Ich verstehe nicht ganz. Nah dran?«

»Am Stern.« Der andere Mann sah betroffen auf die Rote Bete vor ihm. Er trug Latexhandschuhe, die von dem Gemüse violett gefärbt waren.

»Tatsächlich?«, fragte Ben ungläubig. »Mit Hirn kann man einen Stern bekommen?«

»Gallos Philosophie war die kompromisslose Nachhaltigkeit«, erklärte Janine Zöller. »Er hat experimentiert, alles vom Tier verwertet. Und er konnte sich vermarkten. Er hat Gerichte wie ›Luft und Liebe‹ entwickelt, delikate Kalbslunge mit Rosenblüten und Macis. Oder ›Herzklopfen‹, ein mit Dörrpflaumen gefülltes Rinderherz, mit Zimt, Gewürznelken und Lorbeer abgeschmeckt.«

»Nicht zu vergessen die geräucherte Zunge«, ergänzte Dario in sarkastischem Ton. »Die hieß bei Gallo ›Wahrheitsliebe‹.«

Ob sich Michael mit seiner Frau hier wohlgefühlt hätte?, fragte sich Doro.

»Wahrscheinlich war gestern Abend ein Kritiker vom Guide da«, fuhr Janine Zöller fort. »Gallo hat mit ihm gesprochen, danach war er euphorisch.«

Einige Sekunden lang lag Schweigen im Raum.

Der Koch mit den Handschuhen streifte diese herunter. »Was machen wir nun?«

»Ich weiß es nicht, Kai.« Janine Zöller stand mit hängenden Schultern neben ihren Kollegen.

»Jedenfalls nicht mehr den Kram da.« In einer zornigen Bewegung fegte Dario eine Kunststoffschüssel von der Anrichte, gestiftete Karotten verteilten sich auf dem Küchenboden.

»Hör auf!«, rief Janine Zöller. »Du bist wie er.«

Doro registrierte, wie die anfängliche Gefasstheit der Frau in Emotion umschlug. Dieser Wandel war nicht ungewöhnlich bei der Überbringung von Todesnachrichten. Dennoch nahm sie bislang keine Trauer um Gabriel Ottos Person wahr.

Darios grüne Augen funkelten. »Wieso ist Gallo tot?«

»Kopfschuss«, antwortete Ben.

»Diese Bitch«, platzte Dario heraus. »Dieses Miststück. Die hat uns alles kaputtgemacht. Nur weil sie nicht mehr dabei war.«

»Halt die Klappe«, fuhr Janine Zöller ihn an.

Doro horchte auf. »Von wem sprechen Sie?«

»Von Carolin. Carolin Freitag«, antwortete Dario. »Die ist gestern Abend rausgeflogen.«

»Warum?«

»Weil sie sich den halben Finger abgesäbelt hat.«

»Deshalb fliegt man raus?«, fragte Doro erstaunt.

»Dario, hör auf, Carolin reinzureiten.« Janine Zöllers Stimme überschlug sich. »Du kannst nicht einfach solche Verdächtigungen aussprechen.«

»Ach nein?« In Darios kantigen Zügen lag Hass. »Hast du nicht gehört, was sie gesagt hat, bevor sie ging? ›Denk an Marcel‹, hat sie gesagt. Und heute ist Gallo tot.«

»Wer ist Marcel?«, fragte Ben. Das ist keine Küche, sondern ein Haifischbecken, bedeutete sein Blick.

»Marcel Ruhland, ein Bekannter von Gallo. Der hatte einen Stern«, antwortete Dario. »Er ist auch tot.«

»Er hatte einen Herzinfarkt«, erklärte Janine Zöller. »Mit achtunddreißig. Das kommt bei dem Stress in der Spitzengastronomie vor. In Gallos Sphären wird die Luft verdammt dünn. Man verausgabt sich jeden Tag bis zur Erschöpfung, der Druck ist enorm. Klar reagiert der Körper irgendwann. Den Job machen auch nur Jüngere. Die älteren Spitzenköche ziehen sich zurück oder eröffnen ein kleines Bistro auf dem Land.«

Doro musterte Kai, der mit gesenktem Kopf vor sich hin stierte. »Was sagen Sie dazu?«, fragte sie.

Er zuckte mit den Achseln. »Ich möchte gehen. Was soll ich noch hier?«

»Antworten zum Beispiel.«

»Ich habe einfach meinen Job gemacht. In andere Sachen mische ich mich nicht ein.«

Spöttisch lachte Dario auf. »Du hättest den Job nie im Leben bekommen, lahm, wie du bist. Nur weil dein Vater irgendwas mit Gallo zu tun hatte, bist du reingekommen.«

Kai kniff die Lippen zusammen. Die Sommersprossen in seinem ovalen Gesicht erinnerten Doro an Soßenflecken. Das Haar hatte die Farbe eines Messingkessels.

»Wann kamen Sie heute her?«, fragte Ben an die drei Köche gewandt.

»Um elf«, antwortete Janine Zöller.

»Seitdem waren Sie alle die ganze Zeit über da?«

»Ja.«

»Das stimmt doch nicht!«, rief Dario. »Direkt nachdem Gallo gegangen war, ist Kai auch weg. Mindestens eine Dreiviertelstunde.« Er stach mit dem Zeigefinger in die Richtung seines Kollegen. »Der hat hier Narrenfreiheit. Weiß der Geier, wieso.«

»Wo waren Sie?« Doros Blick rutschte von dem rotblonden Mann zu einem Kochtopf hinter ihm. Ein riesiges Rippenstück ragte heraus, die Knochen standen nebeneinander wie kleine Soldaten.

»Frische Luft schnappen. Mir war nicht gut.«

»Memme«, zischte Dario giftig.

»Ich bin rumgelaufen«, fügte Kai an. »Am Wasser entlang.«

»Kann das jemand bezeugen?«, fragte Doro.

»Bezeugen?« Kai legte den Kopf schräg. »Ich habe niemand getroffen, den ich kenne.«

»Was ist mit den restlichen Mitarbeitern?« Misstrauisch beäugte Ben eine hellrote Masse in einer Kunststoffschüssel. »Wann treffen die ein?«

»Die meisten kommen um sechzehn Uhr, der Service etwas später«, sagte Janine Zöller.

»Wir brauchen die Personalien von Ihnen allen. Ihre Kollegen werden ebenfalls befragt«, erklärte Doro. »Wo finden wir die entlassene Mitarbeiterin, Carolin Freitag? Kennen Sie ihre Adresse?«

»Karl-Arnold-Ring 18«, sagte Janine Zöller. »Nicht die beste Gegend.«

Weiß ich, dachte Doro. Umso schlimmer, dass die Frau ihren Job verloren hat.

5

Er war nicht im eigentlichen Sinne schön. Die Augen standen zu weit auseinander, besonders groß war er auch nicht, und der graue Bürstenschnitt saß auf seinem Kopf wie eine Haube. Seine Brust war ihr zu weich, kaum Muskeln, zwischen den Warzen wuchs ein struppiger Pelz. Sie war schön. Er nicht.

Es hatte eine Weile gedauert, ehe sie begriffen hatte, dass man für Schönheit mehr bekam als Blumen, Applaus und einen Titel, der nichts wert war. Fränkische Weinkönigin gewesen zu sein, brachte einen nicht voran.

Man musste es anders anfangen. Nur so erlangte man durch Schönheit einen Lebensstil. Dabei war es wichtig, sich nicht aussuchen zu lassen. Man musste es selbst tun. Mit charmanten Verlierern, Schaumschlägern und armen Poeten hatte sie Lehrgeld bezahlt. Ihr Mann hatte endlich Wohlstand und Sicherheit in ihr Leben gebracht.

Langeweile und Gleichgültigkeit.

Niedertracht und Gemeinheit.

Von Anfang an hatte Gabriel gewusst, dass sie verheiratet war. Sie hatte Nein zu ihm gesagt, er hatte nicht lockergelassen, war nachmittags zu ihrem Haus gekommen und hatte sie zu einem Picknick an der Elbe abgeholt. Es gab Scampispieße, Mimosa-Eier, frisches Brot und Erdbeeren mit Schokoladenpfeffer. Gabriel war geistreich und selbstsicher, spritzig wie der Champagner, den er ihr immer wieder nachgoss. Irgendwann hatte er sie an sich gezogen und sie geküsst. Er schmeckte salzig, nach Fisch und Algen.

»Ich koche für dich«, hatte er gesagt. »Sonntagabend, da hat das Restaurant geschlossen.«

Tatsächlich war sie hingegangen.

Seine Hände waren gut gewesen, feinfühlig tastend, so als erspüre er die Konsistenzen ihres Körpers. Er hob sie in der Restaurantküche auf einen Stahltisch und stellte sich direkt vor sie. »Probier das hier.« Seine Finger tauchten in eine olivgrüne Masse und danach in ihren Mund.

Alle vier Geschmäcker waren gleichzeitig auf ihre Zunge getreten, süß, sauer, salzig und bitter. Dazu schmeckte sie das Fleisch seiner Finger, warm und weich. Als er sie wieder herauszog, rieb er eine Spur über ihre Wange. Seine Zunge kam und leckte sie ab.

Schauer des Verbotenen waren ihr über den Rücken gelaufen. Während er mit ihr geschlafen hatte, war ihr der gleichgültige Ausdruck ihres Mannes vor Augen getreten.

Damit hatte alles begonnen. Jahrelang hatte Gabriel nicht von ihr abgelassen.

»Mami, Ludwig ärgert mich!«

Sie schreckte auf und fuhr herum. Ihre kleine Tochter war lautlos ins Zimmer gekommen.

»Sag ihm, er soll damit aufhören.« Rafaelas Fuß stampfte auf den Boden, über ihrem Näschen kerbte sich eine Zornesfalte ein. Links und rechts daneben verengten sich die fuchsbraunen Augen.

»Natürlich, mein Schatz«, sagte sie. »Ich gehe zu ihm.«

6

Carolin Freitag wohnte ebenfalls im fünften Stock, doch die Wohnung war in keiner Weise mit der von Gabriel Otto vergleichbar. Sie befand sich in einem schäbig aussehenden Hochhaus, in der Straße reihte sich ein Betonblock an den nächsten. Triste Wohntürme, die aus Verbundsteinen und dürrem Rasen in den Himmel ragten. Zwischen ihnen lag Sperrmüll.

Auf einer alten Ledercouch saß Carolin Freitag Doro und Ben gegenüber. Sie hatte die Knie hochgezogen und die Arme um ihre Unterschenkel geschlungen, an der linken Hand prangte ein dicker Verband. Das schwarze Top entblößte trainierte Bizepse, auf dem rechten Oberarm waren mehrere römische Ziffern tätowiert. Doros Schulwissen zu diesem Zahlensystem lag zu lange zurück.

»Jeden Abend hat der verbal die Küche vollgeschissen, und alle haben die Klappe gehalten. Jeder wollte dabei sein, wenn Gallo den Stern kriegt. Danach hätte sich die Hälfte der Mannschaft wegbeworben.« Carolin Freitag löste ihre Beine, setzte sich aufrecht hin und griff mit der unverletzten Hand nach einem Sofakissen.

Die Einrichtung des Raumes war zusammengewürfelt und hatte Patina angesetzt. Möbelhäuser etikettierten den Stil als vintage oder shabby – Doro gruselte es, wenn etwas so bezeichnet wurde, das in ihrer Kindheit aktuell gewesen war.

Der niedrige Couchtisch sah aus wie der, an dem sie als Sechsjährige bei ihrer Oma gesessen hatte. Der Fuß aus braunem Metall hatte in der Querstrebe einen Hohlraum gehabt. Dahinein hatte sie regelmäßig heimlich den Speckrand ihres Schinkenbrots verschwinden lassen.

»In der Branche ist bekannt, dass aus Gallos Stall nur Leute kommen, die was können und ein dickes Fell haben«, sagte Carolin Freitag. »Wenn wir den Stern geschafft hätten, hätte ich überall einen guten Job gefunden.«

»Jetzt nicht mehr?«, fragte Ben.

Doro registrierte so etwas wie wohlwollendes Interesse in seinem Ausdruck. Während ihrer gemeinsamen Arbeit kam das selten genug vor.

»Ich habe auch vorher in guten Häusern gearbeitet. Ich kann was.« Carolin Freitag schürzte die vollen Lippen. »Gallo war ein Tyrann und ein Egomane. Ich wäre sowieso gegangen.«

»Aber erst nach dem Stern«, ergänzte Doro.

»Den kann ich bei einer anderen Mannschaft bekommen.«

Kein Mangel an Selbstbewusstsein, dachte Doro.

»Da müssen Sie wahrscheinlich auch nicht so komische Organe kochen«, hörte sie gleichzeitig Ben sagen. Seine Stimme war ungewohnt freundlich.

Carolin Freitag hob die Schultern. »Wenn man das Tier als Produkt sieht, ist es im Prinzip egal, welchen Teil man zubereitet. Hauptsache, man macht es gut. Mein Vater ist Jäger, ich habe schon als Kind Wild ausgenommen.« Sie lächelte, ihre Eckzähne waren spitz. »Ich fand das eher spannend als eklig.«

Waffen in der Familie, dachte Doro. Spätestens damit erschien es ihr an der Zeit für die Frage nach dem Alibi. »Wo waren Sie heute zwischen dreizehn und vierzehn Uhr?«

»Hier zu Hause. Allein.«

Ben nickte verständnisvoll, Doros Verwunderung wuchs. Sie warf ihm einen Seitenblick zu.

»Wenn es Ihnen hilft, ich habe gegen Viertel nach eins mit einer Freundin telefoniert«, sagte Carolin Freitag. »Gefacetimt, um genau zu sein.«

»Es hilft allenfalls Ihnen. Geben Sie uns bitte Name und Telefonnummer dieser Freundin?«

»Yvonne Lange. Sie lebt und arbeitet zurzeit in Melbourne.«

Weiter weg ging’s nicht mehr?, dachte Doro. Währenddessen zog Carolin Freitag ihr Handy aus der Hosentasche, ließ den Zeigefinger über das Display gleiten und hielt Doro das Telefon hin.

Die registrierte einen ausgehenden Anruf um dreizehn Uhr zwölf. »Sie haben doch nichts dagegen, dass ich auf die Wahlwiederholung drücke?«

In Carolin Freitags Gesicht trat ein missbilligender Ausdruck. »In Melbourne ist es neun Stunden vor unserer Zeit, Yvonne wird schlafen. Sie muss am Morgen früh raus.«

»Wenn sie eine Freundin ist, wird Ihr Alibi ihr sicher eine Schlafunterbrechung wert sein«, konterte Doro und wählte.

Ein Rufton nach dem anderen erklang, das Gespräch wurde nicht angenommen.

Doro notierte die Telefonnummer, tippte auf das rote Hörersymbol und gab Carolin Freitag das Handy zurück.

Die legte es neben sich auf die Couch. »Dass Yvonne nicht rangegangen ist, heißt jetzt aber nichts, oder?«