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Atmosphärisch und spannend zugleich: Hannah Richter ermittelt in ihrem ersten Fall Die junge Kommissarin Hannah Richter wird im Rahmen eines Austauschprogramms nach Vaison-la-Romaine, in ein idyllisches Touristenstädtchen in der Provence, versetzt. Damit geht ein Traum für sie in Erfüllung, denn hier kann Hannah neben der Arbeit ihrer Leidenschaft für die römische Geschichte nachgehen. Als ein Toter im römischen Theater in Orange gefunden wird, ist ihr Fachwissen gefragt. Allem Anschein nach handelt es sich um einen Selbstmord, doch Hannah entdeckt Hinweise, die auf einen Mord hindeuten. Da ihre ortsansässigen Kollegen, allen voran ihr Vorgesetzter Claude-Jean Bernard, ihre Beobachtungen jedoch als Hirngespinste abtun, beginnt Hannah, auf eigene Faust zu ermitteln. Und macht schon bald eine grausige Entdeckung … Leserstimmen auf Vorablesen: Ein atmosphärisch perfekt inszenierter Krimi, der ganz nebenbei noch Geschichtswissen vermittelt und Lust auf eine Reise in die Provence macht. (jehe) Spannend zu lesen, mit vielen kulturellen Eindrücken und gut beschriebenen Personen. (lealesemaus) Bildreich geschriebener Krimi in toller Umgebung! (r.blume)
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Die AutorinSandra Åslund, geboren 1976, ist am Niederrhein nahe der holländischen Grenze aufgewachsen. Sie studierte zunächst Lehramt (Deutsch, Französisch, Musik), bevor sie sich an der Oper Köln zur Maskenbildnerin ausbilden ließ. Aus Liebe zum Schreiben absolvierte sie zusätzlich ein Fernstudium in Kreativem Schreiben an der Textmanufaktur. Die Autorin veröffentlichte bereits diverse Kurzgeschichten und Erzählungen in Anthologien sowie den Erzählband Vielleicht war es nur der Wind und ist Mitglied im Autorenkreis Würzburg. Von 2007 bis 2011 moderierte und gestaltete sie das Kleinkunstformat LiteraturLounge. Sandra Åslund lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Berlin, wo sie seit September 2014 als Maskenbildnerin am Maxim Gorki Theater arbeitet.
Das BuchAtmosphärisch und spannend zugleich: Hannah Richter ermittelt in ihrem ersten Fall Die junge Kommissarin Hannah Richter wird im Rahmen eines Austauschprogramms nach Vaison-la-Romaine, in ein idyllisches Touristenstädtchen in der Provence, versetzt. Damit geht ein Traum für sie in Erfüllung, denn hier kann Hannah neben der Arbeit ihrer Leidenschaft für die römische Geschichte nachgehen. Als ein Toter im römischen Theater in Orange gefunden wird, ist ihr Fachwissen gefragt. Allem Anschein nach handelt es sich um einen Selbstmord, doch Hannah entdeckt Hinweise, die auf einen Mord hindeuten. Da ihre ortsansässigen Kollegen, allen voran ihr Vorgesetzter Claude-Jean Bernard, ihre Beobachtungen jedoch als Hirngespinste abtun, beginnt Hannah, auf eigene Faust zu ermitteln. Und macht schon bald eine grausige Entdeckung …
Sandra Åslund
Mord in der Provence
Kriminalroman
Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de
Originalausgabe bei Midnight Midnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Oktober 2016 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © privat ISBN 978-3-95819-092-4 Hinweis zu Urheberrechten Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Ich wandte mich um und sahe an
Alle, die Unrecht leiden unter der Sonne;
Und siehe, da waren Tränen derer,
Die Unrecht litten und hatten keinen Tröster;
Und die ihnen Unrecht täten, waren zu mächtig,
Dass sie keinen Tröster haben konnten.
(Brahms, Vier ernste Gesänge, nach Salomo, Kapitel 4)
Das Schlucken fiel ihm schwer. Etwas steckte in seinem Mund, drückte seine Zunge nach unten. Er konnte den Mund nicht öffnen. Arnaud versuchte sich zu bewegen. Es funktionierte nicht. Er lag auf der Seite. Seine Hände waren auf den Rücken gebunden. Seine Schultern, seine Knie, alles tat ihm weh. Die Beine ließen sich nicht strecken, sie waren schmerzhaft weit nach hinten gebogen. Die Füße hinten gefesselt. Harter Boden unter ihm. Dunkelheit um ihn herum.
Ganz allmählich schälten sich Konturen aus der Schwärze. Vor seinen Augen erschien eine Mauer. Alte Steine. Den Kopf konnte er ein wenig bewegen. Wenn er ihn nach oben drehte, konnte er Schemen einer hohen Steindecke ausmachen. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Wie er hierher gekommen war. Er wand sich in den Fesseln, um sie ein Stückchen zu lockern. Umsonst. Die allerkleinste Bewegung der Beine zerrte an seinen Händen. Professionelle Arbeit, keine Frage. Ihm kamen die Augen der Tiere in den Sinn. Tiere, die er betäubt und fixiert hatte.
Ihm war übel. Er kämpfte gegen die Benommenheit. Wo endete die Erinnerung? Er dachte krampfhaft nach. Die Fahrt nach Orange … das Essen im Restaurant …
»Du bist wach.« Eine Stimme aus der Finsternis. »Dann können wir beginnen.«
Arnaud spürte die Kälte, die vom harten Boden in ihn hineinkroch. Beginnen womit? Was wollte man von ihm? Die Luft roch feucht und abgestanden. Hatte man ihn verraten?
»Du fragst dich, warum du hier bist, Arnaud Brunel?«
Für einen Moment hatte er geglaubt, eine Erinnerungsspur gefunden zu haben. Antike Mauern …
»Denk nach, Arnaud Brunel, denk scharf nach.«
Sein Kopf ruckte herum, soweit es ging. Die Stimme schien aus der anderen Ecke des Raumes zu kommen. Er konnte niemanden sehen.
»Ich will, dass du eine Lektion lernst.« Bedächtig sprach die Stimme, nahm sich Zeit. Kostete aus, dass er unterlegen war. Hatte er sie schon einmal irgendwo gehört?
Sein Körper schmerzte, die Fesseln schnitten ihm in die nackten Unterarme. Seine Hände fühlten sich taub an. Er musste einen Fehler gemacht haben, an irgendeiner Stelle … Dabei war er so vorsichtig gewesen. Die Gedanken fielen ins Leere. Spitze Steine stachen in seine Seite, in seinen Kopf. Sein Nacken war ganz steif, die Beine schienen zu reißen. Aus weiter Ferne drangen gedämpfte Töne an sein Ohr. Es klang wie … klassische Musik …
»Lerne deine Lektion, Arnaud Brunel.«
Er wand sich einmal mehr in den Fesseln, stöhnte, versuchte sich irgendwie mitzuteilen. Das Atmen wurde mühsamer, das Luftholen durch die Nase fiel schwer. Mit einem Mal bekam er Angst zu ersticken.
»Keine Sorge, du wirst genug Zeit zum Bereuen haben. Es wird lange dauern. Genau genommen wird es deine längste Nacht werden. Und deine letzte zugleich. Du wirst viel Zeit haben – ehe du stirbst.« Zuversicht, beinahe so etwas wie Heiterkeit lag in der Stimme. Und sie schien sich zu nähern.
Arnauds Herz begann zu rasen. Er gab verzweifelte Laute von sich. Strengte sich noch einmal an, die Fesseln zu lockern.
Die Stimme lachte. »Denkst du etwa, dass du dich retten kannst?« Erneutes Lachen. Höhnisch. Dann sehr ernst: »Hast du Gnade gekannt? Heute werden sich deine Grausamkeiten rächen. Heute Nacht wirst du büßen, Arnaud Brunel.« Jetzt war die Stimme nah an seinem Ohr.
»Mal überlegen, was hättest du wohl verdient … Wie wäre es dir am liebsten? Ach so, du kannst ja nicht antworten, wie dumm von mir. Nun, dann werde ich bestimmen.«
Eine Pause. Arnaud hielt die Luft an. Sekunden verrannen, bis die Stimme wieder einsetzte. Leise und sehr langsam: »Ich will, dass du leidest.«
Etwas Glänzendes erschien in seinem Blickfeld. Er blinzelte, bemühte sich, die Augen scharf zu stellen. Der Schock fuhr ihm in die Knochen, als er eine Nadel ausmachte. Eine Nadel, die an einer Spritze steckte. Mit hektischen Bewegungen versuchte Arnaud, zur Seite auszuweichen.
Die Stimme lachte von neuem. »Wie rührend du dich bemühst! Dabei ist die Entscheidung längst gefallen. Es ist vorbei.«
Trotz der Kälte spürte Arnaud Schweißperlen, die seine Stirn hinunterrannen. In seine Augen liefen. Er atmete in kurzen, schnellen Zügen. Und bekam doch nicht genug Luft. Ihm wurde schwindelig.
»Ich habe gehört, es fühle sich an, als würde man von innen verbrennen. Die Idee gefällt mir. Ein Fegefeuer in deinen Adern. Ein Vorgeschmack, ehe du in die Hölle fährst.«
Er kämpfte gegen einen Würgereiz. Spürte mit einem Mal etwas Warmes, Feuchtes, das seine Beine hinablief. Den Stoff seiner Hose durchnässte.
»Wir haben noch eine ganze Weile zum Plaudern. Das hier drin«, die Spritze bewegte sich hin und her, »wird sich langsam in deinem Körper ausbreiten. Am Anfang wird es dich wärmen. Ein kleines Geschenk von mir. Dann wird es heißer werden, immer heißer, wird dich von innen kochen. Auf kleiner Flamme garen. Ich werde dich derweil unterhalten. Damit dir nicht langweilig wird.«
Die Stimme begann zu summen. Eine Melodie, die vertraut klang, wie aus Kindertagen, wie ein Wiegenlied … Die Spritze tanzte vor seinen Augen. Er starrte auf die feine silberne Nadel. Das hier war echt. Sein Ende. Einfach so …
Das Summen verstummte.
»Und jetzt erfährst du, warum du sterben wirst, Arnaud Brunel.«
Ein Gesicht tauchte über ihm auf.
Schon wieder ein schlechter Kaffee. Hannah Richter strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und rührte gedankenverloren mit dem Löffel in dem Koffeingebräu. Woher stammte bloß der Mythos vom schmackhaften Café au Lait? Gewiss nicht aus der Provence, so viel stand fest. Seit sie vor einer Woche hier angekommen war, hatte Hannah noch nicht einen wirklich guten Kaffee getrunken. Für einen Coffeeholic eine Qual, die an mittelschweren Entzug grenzte. Dabei waren die Maschinen gar nicht mal übel. Wo lag dann das Problem? Menschliches Versagen? Zu heiß gebrüht, zu bitter, zu wenig oder falsch temperierte Milch, zu viel Schaum. Oder diese unsägliche Angewohnheit, haltbare, fettarme Milch zu verwenden, geschmacklich ein völliges No-Go.
»Einen Cappuccino«, hatte sie beim Kellner bestellt und hinzugefügt: »Ohne Schokolade bitte.«
»Aber ohne Schokolade ist es kein Cappuccino. Einen Café Crème also.«
Resigniert hatte Hannah auf eine Diskussion über Kaffeevariationen, Espressobohnen, Röstverfahren und Milch-Schaumanteile verzichtet und lediglich genickt.
Von der Kaffeeproblematik einmal abgesehen, fühlte sie sich eigentlich ganz wohl in ihrem temporären Zuhause. Sie ließ den Blick umherschweifen. Einheimische und Touristen bevölkerten das kleine Café am Ortseingang von Vaison unweit der Pont Romain, der alten Römerbrücke, die über die Ouvèze führte und die mittelalterliche Oberstadt mit der Neustadt verband. Hannah gefiel das Städtchen, dessen voller Name Vaison-la-Romaine lautete. Der mittelalterliche Teil mit seinen engen Gassen schmiegte sich an einen markanten Felsen. Oben auf dem Felsen thronte, weithin als Orientierungspunkt sichtbar, die Ruine eines Châteaus, ein melancholisch anmutendes Überbleibsel einer stürmischen Zeitspanne, in denen sich Herrscher vielfältig abgewechselt hatten. Jenseits des Flusses breitete sich auf sanften Hügeln die Neustadt aus. Sie beherbergte, und dadurch hob sich Vaison von anderen pittoresken Provencedörfern ab, ein weitläufiges Areal mit Ausgrabungen aus dem ersten und zweiten Jahrhundert nach Christus. In der Mitte der Anlage erhob sich als Herzstück ein römisches Antiktheater.
Drei Monate würde Hannah »die provenzalische Polizei mit ihrem kriminologischen Wissen und ihren fundierten Kenntnissen unterstützen, französische Fachtermini lernen und ein Mosaikstein im Rahmen der Angleichung europäischer Ermittlerarbeit sein«. So hatte es zumindest in der Ausschreibung geheißen. Hannah hatte keine Sekunde gezögert, als ihr Chef von dem Austauschprogramm erzählte, das sich eine fortschrittsgesinnte Kommission in Brüssel ausgedacht hatte. Eine durchaus willkommene Ablenkung von ihrem Arbeitsalltag bei der Kripo Köln. Und zugleich eine absolut überfällige räumliche Trennung von Justus.
Während ihres Aufenthalts in der Provence würde sie Polizeistationen unterschiedlicher Größe kennenlernen. Nach Vaison-la-Romaine folgten Arles und Marseille. Hannah war zunächst überrascht gewesen, dass man sie als Erstes in die Gendarmerie eines kleinen Nests steckte. Doch dann hatte sie recherchiert und herausgefunden, wie geschichtsträchtig dieser Ort war. Mit zunehmender Begeisterung hatte sie der ersten Station entgegengesehen. Die Aussicht, sich dort ihrer Leidenschaft, der römischen Geschichte, widmen zu können, hatte sie über den Gendarmerieposten hinwegsehen lassen. Es konnte ja auch ganz angenehm sein, sich endlich einmal nicht mit Mord und Totschlag herumärgern zu müssen. Sie hatte beschlossen, die erste Station als sanften Einstieg zu betrachten, quasi als bezahlten Urlaub. Ohnehin würde sie spätestens in Arles, der zweiten Station, wieder verstärkt mit dem üblichen kriminalistischen Alltag konfrontiert werden. So hatte sie gedacht, als sie eine Woche zuvor in dem malerischen Städtchen angekommen war.
Leider war ihr Arbeitsbeginn von zugleich angespannter und zäher Natur gewesen. Beim Gedanken an Capitaine Claude-Jean Bernard, der die Gendarmerie in Vaison leitete, kräuselte sich ihre Stirn. Deutlich hatte sie bei ihrer ersten Begegnung gespürt, wie dessen kritischer Blick an ihr heruntergewandert war. Ihr aus Jeans, weißem T-Shirt mit anthrazitgrauem Jackett und flachen Lederschuhen bestehendes Outfit schien ihn wenig anzusprechen. Zu allem Überfluss überragte sie ihn um knapp zehn Zentimeter.
»So, so, aus Deutschland? Um das vorneweg einmal klarzustellen, Madame Richter, Sie befinden sich hier bei der Gendarmerie, und wir von der Gendarmerie sind allesamt beim Militär ausgebildet worden. Offiziersschule! Nicht zu vergleichen mit der police municipale, das ist etwas ganz anderes!«
Hannah wusste sogleich, dass es kein Spaß werden würde, mit ihm zusammenzuarbeiten. Doch zwölf Dienstjahre in einem immer noch männerlastigen Metier hatten sie ihren Weg mit derartigen Erschwernissen finden lassen.
Sie nahm den letzten Schluck aus der Tasse und verzog das Gesicht. Nun gut. Sie würde die Hoffnung nicht aufgeben und weiter nach einem Stammcafé für ihren morgendlichen Koffeinschub suchen.
In der Dienststelle der örtlichen Gendarmerie herrschte gemütliche Ruhe. Capitaine Bernard hatte einen auswärtigen Termin, von dem er erst am Nachmittag zurückkehren würde. Hannah war im Begriff, den PC in ihrem Büro hochzufahren, als das Telefon im Vorraum läutete. François Rigaud, ambitionierter Absolvent der Offiziershochschule der nationalen Gendarmerie in Melun und erst seit einem knappen Jahr in Vaison, nahm den Anruf entgegen. Binnen kürzester Zeit schlug seine Stimme einen hektischen Tonfall an und Hannah sah rote Flecken auf seinem Gesicht erscheinen.
»Ein Mann hat sich letzte Nacht im römischen Theater in Orange erhängt«, teilte er Hannah mit, nachdem er aufgelegt hatte. »Ganz spektakulär, direkt vor der Nische mit der hohen Kaiserstatue, mittig über der Bühne. Unbegreiflich, wie er das geschafft hat, in der Höhe. In Orange ist die Hölle los …«
»Und da ruft man ausgerechnet Sie an, Rigaud?« Hannah konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen.
»Na ja …« Der Kollege druckste herum. »Ein Kumpel von mir in der Dienststelle dort …«
Hannah kannte das antike Theater lediglich von Bildern. Die gut erhaltene Bühnenwand war einzigartig in der westlichen Welt und 1981 zum Weltkulturerbe der UNESCO erklärt worden. Nun hatte jemand diese Wand entweiht.
Sie betrachtete ihren Schreibtisch, auf dem nur einige wenige Taschendiebstahlmeldungen ihr Unwesen trieben, und zögerte nicht lang.
»Halten Sie hier die Stellung, Rigaud, ich bin in ein paar Stunden zurück.« Ohne auf die Proteste des jungen Gendarmen einzugehen, verließ sie raschen Schritts die Dienststelle, lief zu ihrem alten Polo und machte sich auf den Weg in das nur 30 Kilometer entfernte Städtchen.
Als Hannah in Orange ankam, war das Gelände um das Theater herum bereits weitläufig abgesperrt. Mit ihrem Dienstausweis gelang es ihr jedoch, ins Innere des Bauwerks vorzudringen. Wie gern hätte sie diesen Ort unter anderen Vorzeichen besichtigt. Hannah durchschritt den Eingangsbereich und bog nach links in einen Gang ab. Am Ende des Ganges gelangte sie wieder ins Freie. Zu ihrer Rechten stiegen die halbkreisförmigen Sitzreihen an. Zu ihrer Linken erhob sich die mächtige Bühnenwand. Was für eine magische Kulisse, wenngleich der Anblick durch die jüngsten Vorkommnisse auf grausame Weise entstellt wurde. Hannah konnte die Augen nicht von dem Leichnam abwenden, der direkt vor der Kaiserstatue hing. Richtiggehend winzig wirkte der Tote im Vergleich zu der überdimensionalen Figur.
Männliche Leiche, mittleres Alter, teurer Anzug, speicherte Hannah sogleich ab. Sie blieb am Rand der orchestra stehen und sah sich um. Die Spezialisten der Spurensicherung aus Carpentras waren schon da und eifrig damit beschäftigt, jedes Detail, auch wenn es noch so unbedeutend schien, festzuhalten. Außerdem war natürlich die Gendarmerie von Orange anwesend sowie ein Gerichtsmediziner.
Ein uniformierter Mann Anfang dreißig, der sichtbar stolz seinen trainierten Körper zur Schau trug, war offenbar der Leiter der Einsatztruppe. Jedenfalls bemühte er sich nicht mit anzupacken, sondern stand mit verschränkten Armen breitbeinig auf der Bühne und erteilte ab und an einen knappen Befehl.
Nun begann man damit, den Leichnam langsam herabzulassen. Hannah trat näher heran und betrachtete eingehend das blasse Gesicht, das von dunklem, leicht schütterem Haar eingerahmt wurde. Dann wanderte ihr Blick zu den Händen. Im selben Moment ertönte hinter ihr eine schneidende Stimme.
»Pardon, Madame, was bitte haben Sie hier verloren?« Der Schönling hatte sie entdeckt und hielt im Stechschritt auf sie zu.
»Hannah Richter, Kriminalpolizei Köln, zurzeit im EU-Austauschprogramm, Dienststelle Vaison-la-Romaine.« Hannah zeigte erneut ihren Ausweis. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
Schon eine einzige Gegenfrage brachte den Herrn Befehlserteiler offenbar so aus dem Konzept, dass er sich prompt vorstellte.
»Capitaine Ricard Point, Spezialeinheit Carpentras.«
Innerlich grinste Hannah, fehlte nur noch das Salutieren und Hackenschlagen. Einmal erlernter Gehorsam ließ sich eben schlecht wieder ablegen, selbst wenn man in der Rangordnung aufgestiegen war. Das führte sie sich stets vor Augen, wenn sie mit Uniformträgern der unangenehmen Sorte konfrontiert wurde. In der Regel fand Hannah eine Möglichkeit, die gründlich eingehämmerte Programmierung dieser Personen, wenngleich nur für einen kurzen Moment, durcheinanderzubringen. Sogar bei Capitaine Point verriet ein winziger Augenblick die unterschwellige Unsicherheit. Dann gewann die einstudierte Militärhaltung wieder die Oberhand.
»Und wer hat Sie herbeordert?«
»Ich war gerade in der Nähe, und da ich bereits zahlreiche Erfahrungen bei der Mordkommission gesammelt habe …«
»Die können Sie in diesem Fall gleich einpacken, Madame. Sie sehen doch, dass die Sachlage eindeutig ist.«
»Was macht Sie ohne Autopsie so sicher?«
»Ich bitte Sie, da gehört nicht viel mehr dazu als gesunder Menschenverstand.« Capitaine Point fuhr sich mit der rechten Hand durch das Haar. »Der Mann hat einen Abgang der ganz besonderen Art geplant, und das ist ihm definitiv gelungen. Er hat sich Zugang zum Backstage Bereich verschafft. Wie das möglich war, ob er hier arbeitete, werden wir selbstverständlich klären. Ich glaube kaum, dass wir hier Ihrer Unterstützung bedürfen.« Er fuhr sich erneut durch die Haare.
»Wenn dem so war, können Sie sicherlich erklären, wieso die Totenflecken einen hellroten Farbton haben?«
»Wollen Sie etwa meine Kompetenz anzweifeln? Natürlich eine Sauerstoffreaktion.« Wieder schoss seine Hand in die Haare.
Diese Geste schien ihm derartig in Fleisch und Blut übergegangen zu sein, dass Hannah beschloss, ihn Capitaine-nervige-Tolle zu nennen. »Aber die sogenannte Reoxygenierung tritt doch lediglich bei Kälte auf. Und außerdem sind in diesen Fällen …«
»Madame, ich habe keine Zeit für Ihre Pseudo-Detektivermittlung. Lassen Sie uns hier unsere Arbeit machen und fahren Sie nach Vaison zurück. Ich bin sicher, es gibt dort ein paar nette Geschichten, um die Sie sich kümmern können.« Er machte auf dem Absatz kehrt und begann sogleich, das übrige Personal herumzukommandieren.
Hannah nutzte die Gelegenheit, um ein weiteres Mal eingehend die Hände des Toten zu studieren, den man inzwischen auf eine Bahre gelegt hatte. Da ertönte ein scharfer Ausruf in ihrem Nacken.
»Madame, ich fordere Sie ausdrücklich auf, unverzüglich das Gelände zu verlassen! Oder muss ich mich bei Ihrem Vorgesetzten über Sie beschweren?«
Hannah verdrehte die Augen. Hier würde sie vorerst nichts mehr erreichen. Doch so leicht wollte sie sich nicht geschlagen geben. Sie würde ihr Glück an einem anderen, für Capitaine-nervige-Tolle nicht einsehbaren Ort versuchen. Ihr Vertrauen in seine Ermittlungskompetenz war nach der kurzen Begegnung auf ein Minimum geschrumpft. Die Zeit in Vaison hatte gerade erst begonnen, und sie hatte es sich bereits mit zwei Brigadeleitern verscherzt. Von beruflicher Seite her schien dieser Auslandsaufenthalt unter keinem guten Stern zu stehen.
Hannah verließ das Theater und beschloss, sich in der näheren Umgebung umzusehen. Der Eingangsbereich sowie mehrere Stellen der alten Fassade waren mit überdimensionalen Plakaten geschmückt, auf denen die Chorégies angekündigt wurden. Das große Opern- und Konzertfestival fand alljährlich im Juli und August im antiken Theater von Orange statt. Zwar hatten die Aufführungen noch nicht begonnen, aber die Vorbereitungen und Proben liefen auf Hochtouren.
Als sie am Bühneneingang vorbeikam, sah Hannah, dass zwei Kollegen aus Capitaine Points Brigade damit beschäftigt waren, den Pförtner zu befragen.
Ein Mann in Arbeitshosen und einem schwarzen T-Shirt mit dem Schriftzug »les Chorégies«passierte die Polizisten und schüttelte kurz den Kopf. Neben Hannah blieb er stehen und zog eine Packung Gauloises aus der Tasche.
»Auch eine?« Er hielt Hannah auffordernd die Packung hin.
»Non, merci.« Hannah betrachtete den Endfünfziger aufmerksam. Seine krausen grauen Haare erinnerten sie an Stahlwolle.
»Seien Sie froh, da haben Sie ein Laster weniger.« Er zündete sich die Zigarette an und machte dann eine Kopfbewegung zu den Polizisten hin. »Vollkommen aussichtslos.«
»Pardon?«
»Ich meine, von dem brauchen die nichts zu erwarten.« Der Mann schob sich näher an Hannah heran. »Sie recherchieren auch in der Sache, n’est-ce pas?«
»Das stimmt. Hannah Richter mein Name.« Sie zeigte ihren Dienstausweis.
»Sehen Sie, ich hatte da gleich so ein Gefühl.« Er nickte wissend. »Martin mein Name. Hervé Martin. Ich bin der Bühnenmeister. Und kann Ihnen aus eigener täglicher Erfahrung sagen, dass die Pförtner allesamt so gesprächig sind wie Kühe.« Er warf dem muskelbepackten Berg hinter dem Schalter einen verächtlichen Blick zu. »Pseudomachtausübung! Weil sie sonst nix erreicht haben im Leben.«
»Haben Sie vielleicht etwas mitbekommen von dem Vorfall hier im Theater?«
»Sie meinen die Leiche? Und ob.« Der Bühnenmeister, der wie die Mehrzahl der Südfranzosen von eher kleiner Statur war, reckte sich. »Ich habe sie schließlich entdeckt. Sozusagen.«
»Oh, na dann … Haben Sie bereits Ihre Angaben gemacht, Monsieur Martin?«
»Bisher nicht.«
Hannah sah seinem Gesicht an, dass er nur darauf wartete, befragt zu werden, und frohlockte innerlich. Das geschah Capitaine-nervige-Tolle recht. »Nun denn, Monsieur Martin, ich bin ganz Ohr.«
Sogleich begann es, aus dem Bühnenmeister herauszusprudeln. »Ich bin wie meistens schon in den frühen Morgenstunden hier gewesen. Sind rare Momente, in denen man nicht unter den neugierigen Blicken der Touristen arbeiten muss. Wissen Sie, ich bin jetzt seit 26 Jahren an diesem Haus, aber immer noch hab ich echten Respekt vor dem alten Gemäuer.« Seine Augen bekamen einen melancholischen Glanz, als streichelte er in Gedanken zärtlich über die kühlen Steine. »Welchen Ereignissen dieser Ort im Laufe der Jahrhunderte schon getrotzt hat, und trotzdem steht er nach wie vor da – ach, das schenkt mir ein unglaubliches Gefühl der Ruhe. Hier wird die Vergänglichkeit in ihre Schranken gewiesen!« Hervé setzte zu einem historischen Abriss über das Theater an, und Hannah entschied, ihn erst einmal reden zu lassen. Zum einen, weil sie die seltenen Gelegenheiten, bei denen sie auf andere Liebhaber der Materie traf, genoss, und zum anderen, weil sich in solchen Redeschwallen oftmals doch so manches kriminologische Detail offenbarte, das sie weiterbrachte.
Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches hätten die Barbaren die Stadt und auch das Theater geplündert und zu großen Teilen zerstört. Die Sarazenen seien gekommen und später die Holländer. Das Theater sei für die unterschiedlichsten Absichten benutzt worden, habe für militärische Zwecke herhalten müssen und dann wieder den Stadtbewohnern im Schutze seiner Mauern Zuflucht geboten.
»Wissen Sie, ich denke oft über all diese Ereignisse nach, wenn ich hier morgens meine Runde mache. Und dann ärgere ich mich über diese sogenannten Künstler, die ihre Bierdosen einfach so fallenlassen, wo sie gehen und stehen. Kein Respekt vor der Antike! Na ja, ich ging also weiter bis zu dem Torbogen, durch den am Morgen immer das Sonnenlicht fällt, ein wunderschöner Anblick, das können Sie mir glauben. Heute kann man sich ja gar nicht mehr vorstellen, dass hier während der Revolution Leute eingesperrt worden sind.« Er trat seine Zigarette aus und fuhr mit seiner Geschichtslektion fort. »Erst im 19. Jahrhundert hat man begonnen, das Bauwerk in das zurückzuverwandeln, was es ursprünglich mal war: ein nach griechischem Vorbild konstruiertes Theater mit erstklassiger Akustik und Platz für bis zu 10.000 Zuschauer! Na ja, ich kam beim Pförtner vorbei und hab wieder mal versucht, ihn zu einer kleinen Konversation zu bewegen, keine Chance, ich sag’s Ihnen. Mundfaul wie sonst noch was. Wortkargheit scheint bei denen Einstellungsvoraussetzung zu sein.«
Was man von Ihnen nicht gerade behaupten kann, lag es Hannah auf der Zunge, doch sie schluckte es herunter.
»Also, dann war da dieses Plakat, Sie wissen schon, die Vorankündigungen, Verdi und Wagner ist dieses Jahr Thema. Ich freu mich schon wie wahnsinnig auf den Maskenball, Anfang August ist es endlich so weit.«
»Das Plakat?« Hannah versuchte, ihn von einem Exkurs in Verdis Opernwelt abzuhalten.
»Ja, richtig, es hatte sich an einer Seite gelöst. Also hab ich es wieder befestigt und meinen Rundgang fortgesetzt. Dabei hab ich über die Chorégies d’Orange nachgedacht. Wussten Sie, dass es das älteste Festival in Frankreich ist?«
»Nein, das …«
»1869! Da ist der Startschuss für die Fêtes Romaines gefallen. Alle großen Stars sind hier aufgetreten. Wenn Sie wüssten, wen ich schon so getroffen habe, Bücher könnte ich füllen, ich sag’s Ihnen.«
»Das ist bestimmt alles sehr spannend, Monsieur Martin, aber wie ist das denn nun mit der Leiche gewesen?«
»Ach ja, genau, die Leiche.« Hervé Martine zog ein kariertes Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn ab. »Also, ich war inzwischen am Bühnenzugang. Früher, also in der Antike, ja, da sind die Hauptakteure durch die valva regia raus. Nur sie durften die mittig angelegte Königstür benutzen. Heute ist das natürlich abgeschafft, deswegen erlaube ich es mir gelegentlich, Sie verstehen?«
Hannah spürte, dass ihre Geduld allmählich zur Neige ging.
»Also, ich betrat die Bühne durch die valva regia, und da waren sie schon.«
»Die Polizisten?«
»Nein, die Touristen. Eine dieser ganz zeitigen Reisegruppen. Stehen um sechs Uhr morgens auf, um …«
»Die Leiche.«
»Ja, genau. Das war es ja. Alle haben wie gebannt auf einen Punkt oberhalb meines Kopfes gestarrt. Und ich denk noch, klar, die Kaiserstatue ist mit ihren drei Meter fünfundfünfzig ganz schön imposant. Wussten Sie eigentlich, dass man ihren Kopf abnehmen kann? Überaus praktischer Einfall, wie ich finde, bei den ganzen Kaiserwechseln damals. Kaiser tot, alter Kopf ab, neuer Kopf drauf.« Er lachte glucksend.
Hannah zog höflich die Mundwinkel nach oben.
»Und?«
»Ja, also, dann sprach mich der Guide an, fragte, zu welchem Stück denn dieses krasse Bühnenbild gehöre. Und ich denk, wieso Bühnenbild? Das steht doch noch gar nicht. Ich schau nach oben, ja, und da war sie, die Leiche. Direkt vor der Statue baumelte sie. Ich hab natürlich gleich die Polizei alarmiert.«
»Waren Sie gestern Abend auch im Theater?«
»Gestern Abend hatten wir Klavierprobe, und da der Kollege verhindert war, musste ich eine Extraschicht einlegen. Manchmal ist das schon sehr …«
»Ist Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen?«
Hervé Martin legte die Stirn in Falten und dachte nach.
»Eigentlich nicht, nein. Also, diesen Mann hab ich jedenfalls nicht gesehen. Gehörte nicht zum Theater. Muss ein Gast gewesen sein.«
»Ist es üblich, dass bei Proben Gäste anwesend sind?«
»Eher weniger.«
»Hätte dann ein Fremder nicht auffallen müssen?«
»Ach, wissen Sie –« Der Bühnenmeister kratzte sich hinterm Ohr und verzog das Gesicht. »Hier ist immer so ein Gewusel, es sind ja sowieso so viele Beteiligte, da verliert man schon mal den Überblick.«
»Mal wild angenommen, dass er nicht alleine gewesen ist …«
»Nicht alleine? Wie meinen Sie das?«
»Nur mal angenommen. Gäbe es Ihrer Meinung nach eine Möglichkeit, das Gelände in der Nacht unbemerkt zu verlassen?«
Wieder nahm sich Hervé Martin Zeit, seine Antwort sorgfältig zu überlegen. »Durch den Hauptausgang auf keinen Fall – außer, er ist im Besitz des Generalschlüssels.«
»Vielleicht hinten herum? Gibt es einen Notausgang oder so etwas?«
»Hm. Das Einzige, was ich mir vorstellen könnte … Aber das ist auch ziemlich abwegig.«
»Egal, wie unwahrscheinlich es Ihnen erscheint, Monsieur Martin, erzählen Sie es mir.«
»Also, links von den Sitzreihen, ganz oben, begrenzt eine Mauer das Gelände. Darüber, als Abschluss, ist ein Zaun, vielleicht anderthalb Meter hoch. Es gibt so eine Art, ich sag mal, Übergangsstelle, wo die Mauer beginnt, da könnte man unter Umständen drüberklettern. Aber ich verstehe nicht so recht …«
»Das macht nichts, Monsieur Martin. Ich verstehe auch noch nichts. Ich sammle lediglich alle Fakten, die ich bekommen kann. Und Sie haben mir auf jeden Fall sehr weitergeholfen.«
»Na, das ist doch selbstverständlich!« Ein zufriedenes Lächeln erhellte das Gesicht des Bühnenmeisters.
»Falls ich noch weitere Fragen haben sollte, Monsieur Martin?«
Er zog sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und durchwühlte es. Dann reichte er Hannah eine zerknickte, leicht fleckige Visitenkarte. »Sie können mich jederzeit anrufen, Madame Richter. Es war richtig nett, mit Ihnen zu plaudern.«
Auf dem Rückweg nach Vaison ließ Hannah nachwirken, was sie gesehen und erfahren hatte. Natürlich hatte sie sich noch jene Stelle oberhalb der in Fels gehauenen Sitzreihen angesehen, von der Hervé Martin gesprochen hatte. Es war tatsächlich vorstellbar, auf diesem Weg das Gelände des Theaters unbehelligt zu verlassen. Ein seltsamer Todesfall. Es nagte an ihrem Ego, dass sie Capitaine Point nicht davon hatte überzeugen können, mit ihr zu kooperieren.
Sie fuhr die Auffahrt der Gendarmerie hinauf und sah Bernards Dienstwagen vor dem Eingang parken. Mit dem Gefühl, dass etwas Unangenehmes sie erwartete, stieg sie aus. Der am Empfang sitzende Rigaud gab sich keine Mühe, seine Schadenfreude zu verbergen.
»Madame Richter, Capitaine Bernard will Sie umgehend in seinem Büro sehen.«
Hannah ersparte sich eine Antwort und ging zunächst in ihr eigenes Büro. Sie legte Jacke und Tasche ab und atmete tief durch, ehe sie an die Tür ihres Chefs klopfte.
»Oui!« Claude-Jean telefonierte gerade, wie es schien mit seiner Frau, und zeigte weder Anstalten, sich kurzzufassen, noch Hannah einen Stuhl anzubieten.
Da Hannah keine Lust auf derartige Machtspielchen verspürte, verließ sie kurzerhand wieder das Zimmer. Sie teilte Rigaud mit, Monsieur Bernard möge doch bitte Bescheid geben, wenn er sein Telefonat beendet und Zeit für sie hätte. Keine zwei Minuten später stand ihr Vorgesetzter mit gerötetem Kopf in ihrem Büro.
»Madame Richter, was fällt Ihnen ein, ohne offizielle Beauftragung meinerseits die Dienststelle zu verlassen und nach Orange zu fahren?«
»Monsieur le Capitaine, wir hatten von Ihnen die Anweisung erhalten, Sie heute Vormittag während Ihrer Abwesenheit unter keinen Umständen zu stören.« Hannah blieb betont ruhig.
»Weswegen Sie mich vertreten sollten, falls etwas passiert.«
»Genau das habe ich ja getan. Es ist etwas passiert und ich habe reagiert.«
Claude-Jeans Gesicht färbte sich dunkelrot und Hannah befürchtete kurz, ihn könne der Schlag treffen.
»Wortverdrehereien! Sparen Sie sich Ihre Unverschämtheiten, Madame Richter! Hier habe noch immer ich das Sagen, und damit das ein für allemal klar ist: Sie haben an einer Selbstmordstelle in Orange, und sei sie noch so sensationell, nichts, aber auch rein gar nichts verloren. Haben Sie mich verstanden?«
»Ich bezweifle, dass es Selbstmord war, Monsieur le Capitaine.«
»Wie bitte?«
»Ich sagte, dass ich große Zweifel an der Selbstmordtheorie hege.« Hannah gab sich Mühe, ihre Stimme zu beherrschen, obwohl sie dem aufgebrachten Bernard am liebsten ins Gesicht gesagt hätte, was sie eigentlich von ihm hielt.
»Na, was soll es denn sonst gewesen sein?«
»Mord.«
Für einen Moment verschlug es dem Capitaine die Sprache. Er holte tief Luft, und Hannah stellte sich bereits auf einen weiteren Wutausbruch ein. Dieser blieb jedoch aus. Claude-Jean atmete einige Male intensiv ein und aus, wobei sich seine Gesichtsfarbe allmählich normalisierte. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust und setzte in leisem, aber umso gefährlicher klingendem Ton erneut an.
»Mord also, interessant. Und wie, bitte schön, soll dies vonstattengegangen sein? Die Strangulationsmerkmale sind eindeutig. Sie können gleich vergessen, dass der Unglückselige zunächst erdrosselt oder erwürgt worden ist.«
Hannah überlegte kurz, wie sie mit den Informationen, die sie in Orange gesammelt hatte, am besten umgehen sollte. Auch wenn ihr Chef sie weder menschlich noch fachlich überzeugte, entschied sie sich dennoch zur Offenheit.
»Ich tippe eher auf vergiftet.«
An Bernards sich versteifender Haltung erkannte sie, dass es ein Fehler gewesen war. Mit zusammengekniffenen Brauen musterte der Capitaine die ihm gegenüberstehende Frau.
»Vergiftet? Und dann aufgehängt?« In seinem Blick las Hannah deutlich seine Zweifel an ihrem Verstand, wahrscheinlich fragte er sich gerade, warum man ihm ausgerechnet so eine Irre aus Deutschland geschickt hatte.
»Ich sage nicht, dass das Gift ihn getötet hat. Vielleicht war er nur bewusstlos. Ich sage lediglich, dass es Indizien gibt, aus denen man schließen kann …«
»Vergiftet! Und Sie meinen das ernst? Moment.« Er wandte sich zur Türöffnung und rief in den Vorraum: »Monsieur Rigaud, wann hatten wir hier in der Vaucluse den letzten Giftmord? Und wenn Sie schon dabei sind zu recherchieren: Schauen Sie gleich mal nach, wie sich die Vergiftungsquote seit der Affäre zu Zeiten Louis XIV entwickelt hat. Ich hab da meine an Sicherheit grenzenden Vermutungen einer stark fallenden Tendenz. Aber wir wollen uns ja nicht vorwerfen lassen, wir würden ungenau vorgehen, n’est-ce pas?«
Er richtete sich wieder an Hannah: »Na, was für ein Glück, dass Sie uns von der EU zugeteilt worden sind. So haben wir nun endlich eine Gelegenheit, unsere Arbeit richtig zu lernen. Damit wir in Zukunft einen Erhängten von einem Vergifteten zu unterscheiden wissen! Ich hoffe sehr, dass Sie Ihre Hirngespinste nicht vor den Kollegen in Orange ausposaunt und damit mich und diese Dienststelle der Lächerlichkeit preisgegeben haben!« Er machte Anstalten, ihr Büro zu verlassen.
»Ich weiß, dass es sich im ersten Augenblick seltsam anhört, aber etwas stimmt mit dieser Leiche nicht.«
»Schluss jetzt! So eine lächerliche Theorie habe ich mir lang nicht mehr anhören müssen! Kümmern Sie sich gefälligst um die Taschendiebstähle und lassen Sie die Finger von Dingen, von denen Sie ganz offensichtlich nichts verstehen!«
Damit rauschte er aus ihrem Zimmer.
Hannah ging zum Fenster und öffnete es weit, doch statt der erfrischenden Brise, die sie jetzt so dringend benötigt hätte, schlug ihr ein Schwall heißer Luft entgegen. Schnell schloss sie das Fenster wieder, setzte sich an ihren Schreibtisch und startete ihren Computer.
»Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens«, murmelte sie. Ihre Augen wanderten das Büro ab. Der Raum war, wie die gesamte Dienststelle, von der für Behördengebäude so typischen Nüchternheit, egal, ob man sich in Deutschland, Frankreich oder sonst wo befand. Ein Statement, ein Zeitzeugnis. Praktisch und günstig hatte alles zu sein. Und bestimmt war der Einfluss, den diese schnöde Sachlichkeit auf die darin tagtäglich arbeitenden Menschen ausübte, nicht zu verachten. Hannah dachte an das antike Gemäuer, in dem sie wenige Stunden zuvor gewesen war. Auch wenn sie es aufgrund der Ermittlungen nicht derart intensiv auf sich hatte wirken lassen können, wie sie es gern getan hätte, so spürte sie doch immer noch die Ausstrahlung der alten Mauern. Welche Kraft, welche Ruhe und Selbstverständlichkeit von ihnen ausgegangen war. Vielleicht würde Bernard nicht sogleich zu einem netteren Menschen und fähigeren Kriminalisten mutieren. Aber Hannah war sicher, etwas würde sich verändern, wenn man größere Umsicht walten ließe beim Bau und bei der Gestaltung der Orte, in denen Menschen einen Großteil ihrer Lebenszeit verbrachten.
Schon wieder dieses Fis-Dur. Serge senkte die Zeitung und warf einen Blick auf die am Nachbartisch sitzende junge Frau, die ein Notebook des PC-Konkurrenten vor sich hatte. Dieser klinisch-akkurate Akkord, ein seltsames Markenzeichen neben dem so prägnanten weißen Apfel, hatte ihn anfangs lediglich stutzig gemacht. Je zahlreicher die Fangemeinde dieser durchaus stylishen Laptops, wie er ehrlich zugeben musste, allerdings wurde, umso öfter begegnete er jenem seit 1999 nicht mehr veränderten Dreiklang, Produkt des Software-Entwicklers Jim Reekes. Serge schätzte Reekes’ Humor und teilte seinen gesunden Zynismus hinsichtlich des Zeitgeistes. Ungeachtet dessen konnte er sich immer noch nicht entscheiden, ob er mit dem Amerikaner sympathisierte oder es als weiteres Symbol für den kulturellen Niedergang der westlichen Welt ansehen sollte, dass ein Mann, der Musiktheorie studiert hatte und eigentlich Musiker werden wollte, letztendlich in das kapitalistische Spiel eingestiegen und weltweit bekannt geworden war für einen einzigen Akkord. Einen Akkord, den er nicht einmal erfunden und für den er einen provozierend billigen Synthesizersound gewählt hatte.
Kritisch hinterfragt hatte Serge gleichermaßen die ihn umgebenen Prozesse, allem voran an seinem Arbeitsplatz an der Sorbonne. Ein täglicher Kampf, den er schlussendlich nicht länger auszufechten bereit gewesen war. Sein spektakulärer Auftritt, der gewiss den Weg ins Legendenbuch der Hochschule finden würde, hatte einen Urlaub von unbestimmter Dauer zur Konsequenz gehabt, und deswegen saß er, Serge Laurent, Professor für Musikwissenschaft, nun in einem Café in der Provence und grübelte über einen Fis-Dur-Akkord.
Um sich abzulenken, richtete er seine Aufmerksamkeit statt auf den kleinen weißen Erzeuger des akustischen Ärgernisses auf dessen Besitzerin. Sicherlich keine Französin, so viel stand für ihn schnell fest. Vom Typ her ein bisschen holländisch. Oder skandinavisch. Lange, schlanke Glieder, glattes, blondes Haar, als Jugendliche war ihre Figur bestimmt knabenhaft und schlaksig gewesen.
Serge beobachtete, wie sie ihr Notebook schloss und mit energischem Griff das Haargummi aus ihrem Zopf zog. Sie strich die herausgelösten Strähnen aus dem Gesicht, fing mit einer raschen Geste die Haare im Nacken zusammen und band sie erneut fest.
Eine Deutsche vielleicht? Zielstrebig und gewiss sehr ehrgeizig. Mit einem herben Charme und sicher meilenweit entfernt von französischer weiblicher Kapriziosität. Zu der er momentan ohnehin lieber Distanz hielt. Um die Sache mit Yvette endgültig zu verarbeiten, würde er wohl noch ziemlich viel Zeit benötigen.
Kurz schaute er der Fremden hinterher, die mittlerweile die von touristischen Geschäften gesäumte Fußgängerzone entlanglief. Sein Blick glitt zu ihrem Tisch hinüber und blieb am Stuhl haften, über dessen Lehne ein weißer Seidenschal hing. Ohne zu zögern, nahm Serge den Schal und eilte der jungen Frau nach.
»Pardon, Madame, ich glaube, Sie haben etwas vergessen.«
»Wie bitte?«
Er hatte richtig gelegen, ein eindeutig deutscher, wenngleich nicht allzu starker Akzent.
»Nicht, dass ich Sie belästigen möchte, aber ich denke, der hier gehört zu Ihnen, n’est-ce pas?« Lächelnd reichte er ihr den Schal.
»Oh ja, stimmt, vielen Dank, wie aufmerksam von Ihnen.« Ihr Französisch machte einen passablen Eindruck.
»Immer gern. Wäre doch schade um das schöne Stück.«
»Da haben Sie recht. Einen angenehmen Tag noch.«
»Dasselbe für Sie, Madame. Au revoir.« Er lüftete einen nicht vorhandenen Hut und entlockte ihrem Gesicht ein Lächeln, das ihre wohlsortierten Züge aufweichte.
Während Serge zum Café zurücklief, überlegte er, wie er den Nachmittag gestalten sollte. Anatole war zu einem Händler in Montpellier gefahren und würde nicht vor dem Abend zurück sein. Was ihm, Serge, eigentlich ganz gut passte.
Er mochte seinen Freund aus Kindertagen und war ihm dankbar, dass er auf unbestimmte Zeit bei ihm wohnen konnte. Doch Anatole und er waren damals schon sehr verschieden gewesen, und die vergangenen Jahrzehnte hatten eher verstärkend als ausgleichend gewirkt. Anatole war ein lustiger Geselle, mit dem man unterhaltsame Stunden verbringen konnte, aber was Serge zurzeit am dringendsten suchte, war die Einsamkeit.
Hannah setzte ihren Weg durch die Fußgängerzone fort. Sie empfand eine angenehme Leichtigkeit. Das lag nicht nur am Sonnenschein und der Tatsache, dass der größte Teil ihres freien Tages noch vor ihr lag. Vielmehr hing es mit der kurzen Begegnung mit diesem charmanten Franzosen zusammen. Für einen Provenzalen, sollte er denn einer sein, war er recht groß. Hannah hatte hier bisher wenige Männer getroffen, die ihr an Körperlänge ebenbürtig waren oder sie sogar übertrafen. Schlank und mit dunklem, welligem Haar, konnte er durchaus, so musste sie sich eingestehen, als attraktiv bezeichnet werden. Jedoch war es nicht in erster Linie sein Aussehen, das etwas in ihr auslöste. Es lag eher an der Art und Weise, wie er sie behandelt hatte. Mit Aufmerksamkeit und diesen gewissen Manieren – welch scharfer Kontrast zu den meisten deutschen Männern. Sie lächelte in sich hinein. Alles in allem schien es doch eine gute Entscheidung gewesen zu sein, ihrer Heimatstadt und dem gewohnten Arbeitsplatz für eine Weile zu entfliehen. Sie spürte, wie ihr der Sommer neue Energie verlieh. Noch ein paar solcher Begegnungen mit französischen Männern, und ihr weibliches Ego würde in völlig neuem Glanz erstrahlen. Und was diesen Bernard betraf, nun, ihm würde sie es auch noch zeigen. Auf jeden Fall würde sie sich nicht so leicht geschlagen geben, dass sie ihren Verdacht bezüglich des Toten vom Theater in Orange sogleich ad acta legte.
Den Nachmittag wollte sie den alten Römern und deren Hinterlassenschaften in dieser Stadt widmen. Schon seit ihrer Ankunft brannte sie darauf, der größten galloromanischen Ausgrabungsstätte Frankreichs einen Besuch abzustatten. Vorher sollte sie sich allerdings dringend eine Flasche Wasser besorgen und vielleicht Obst – an die Hitze hierzulande musste sie sich noch gewöhnen.
Sie war am Ende der Fußgängerzone angelangt und bog nach links ab. Irgendwo in der Nähe hatte sie vor ein paar Tagen einen Biosupermarkt entdeckt. Nicht, dass Hannah eine passionierte Ökoverfechterin wäre – in Köln kaufte sie ihre Lebensmittel aus Zeitmangel immer da ein, wo sie auf dem Heimweg gerade vorbeikam. Doch hier, im Arbeitsurlaub, hatte sie beschlossen, sich öfter mal etwas Gutes zu gönnen.
Kurz darauf betrat Hannah den von außen eher unscheinbar wirkenden Laden, der ein Stück abseits des Zentrums an einer ruhigen Kreuzung lag. Sie bestaunte die reichhaltige Produktpalette, auch Ausgefallenes wie Wasabipulver und Chiasamen waren darunter. Die Preise schwankten zwischen absolut akzeptabel und astronomisch. Hannah legte zwei weiße Nektarinen, eine Handvoll Aprikosen und zwei Bananen in ihren Korb und ging weiter Richtung Kasse. An der Theke mit Frischwaren machte sie halt. Unzählige Käsesorten lagen dort appetitlich angerichtet, daneben in Öl eingelegte Tomaten, Oliven, Auberginen und eine überaus verlockende Auswahl an frischen tartes mit herzhaftem Belag. Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Richtig, außer dem Croissant zum Kaffee hatte sie ihm ja heute noch nichts Anständiges zukommen lassen. Während sie zwischen Tomate mit Thymian-Ziegenkäse und Auberginen-Zucchini-Ragout hin und her überlegte, kam sie nicht umhin, das Gespräch der Kundin vor ihr mit der Bedienung mit anzuhören.
»Sie sind doch am Sonntag beim üblichen Treffen dabei, Mademoiselle Oliva? Übrigens, ganz ungewöhnlich, Sie hier anzutreffen und nicht vorn an der Kasse.« Der lautstarken Stimme folgte ein gurrendes Lachen. Hannah warf einen Blick auf die rundliche Frau um die fünfzig, die links von ihr stand.
»Heute ist einfach einer dieser Tage, Madame Durand, an denen alles drunter und drüber geht – da ist man halt mal spontan und überlässt die Kassenhoheit jemand anderem.« Die um einiges jüngere Verkäuferin, die ihre üppige Lockenpracht mit einem Tuch im Ethnostil zu bändigen versucht hatte, setzte ein professionelles Lächeln auf ihr feingeschnittenes Gesicht.
Die Kundin fuhr eifrig fort: »Was also den Sonntag betrifft, meine Gute, ich denke, es wird sich lohnen. Madame Latour wird einen Vortrag über die Entwicklung der französischen Emanzipation halten. Sind Sie mit von der Partie?«
»Ich schaue mal, wenn ich es einrichten kann …«
»Wir zählen auf Sie, Mademoiselle Oliva, die SIFEMO ist auf junge Mitglieder wie Sie angewiesen. Nur so schaffen wir es, die Arbeit von Groult und Beauvoir fortzusetzen und den Feminismus in diesem Land voranzutreiben.«
Die Verkäuferin sah kurz zu Hannah hinüber und in ihren dunklen Augen blitzte es verräterisch. »Darf es zu den fünf Käsesorten noch etwas sein, Madame Durand? Eine Portion Tomaten in feinstem Olivenöl vielleicht?«
»Nein, nein, um Gottes willen, kein Öl, das schadet meiner Figur. Ich muss ein bisschen vorsichtig sein.« Sie seufzte theatralisch. »Als ich in Ihrem Alter war, da war ich auch rank und schlank. Wie Sie sehen, die Zeit hinterlässt ihre Spuren. Drum sollten Sie Ihre Vorzüge genießen, Mademoiselle Oliva, solange sie währen.«
»Seien Sie versichert, Madame Durand, das tue ich in vollsten Zügen.« Das Lächeln der jungen Französin blieb unverbindlich, als sie den dicken Packen Käse über die Theke reichte. »Lassen Sie es sich schmecken!«
Hannah konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. Die Frau gefiel ihr.
»Was darf es für Sie sein, Madame?«
»Hm, ich liebäugle mit den tartes, kann mich aber noch nicht so richtig entscheiden … Welche Sorte würden Sie mir als Anfängerin empfehlen?«
»Also, mein persönlicher Favorit ist ganz klar die mit Ratatouille.«
»Klingt gut. Ein Stück bitte.«
»Soll ich’s aufwärmen?«
»Gern, merci.« Hannah sah sich nach der anstrengenden Kundin um, die mittlerweile an der Kasse anstand. »Pardon, Madame, ich möchte nicht indiskret sein, aber wer oder was ist denn die SIFEMO? Klingt irgendwie nach einem Geheimbund.«
»So etwas in der Art. Wobei, dann wäre Anabelle Durand das denkbar schlechteste Mitglied.« Die Verkäuferin schenkte Hannah ein perlendes Lachen, das keinerlei Ähnlichkeit mit dem aufwies, das sie im letzten Kundengespräch serviert hatte. »Die Société Internationale des Femmes Modernes – ein Haufen vorwiegend biederer Hausfrauen, die keine Lust mehr haben, nur nach der Pfeife ihrer immer bäuchiger werdenden Machomänner zu tanzen. Seitdem ich einmal den Fehler begangen habe, zu einem der Treffen zu gehen, kleben einige der Mitglieder förmlich an mir. Siehe eben.« Sie schnitt ein Stück von der tarte ab und legte es auf ein kleines Blech. »Dabei gibt es durchaus ein paar interessante Frauen in der Vereinigung. Ich bin nur leider von Haus aus so gar kein Vereinsmensch. Und eine hart gesottene Emanze erst recht nicht.« Sie lachte erneut und schob das Stück tarte in den Ofen.
»Darf’s sonst noch etwas sein?«
»Non, merci, das reicht mir für einen Minilunch.«
»Oh, das ist eine prima Idee.« Sie dachte einen Moment nach. »Ach, wissen Sie was, ich glaube, ich schließe mich Ihnen an. Es wird dringend Zeit für meine Mittagspause. Der Chef in den Jahresurlaub entschwunden, die Kollegin mit Migräne krankgemeldet – seit heut früh war nicht mal Muße für eine schnelle Zigarette. Und überhaupt – allein zu essen hat so was Tristes.« Sie verzog das Gesicht.
»Gern, ich freu mich über ein bisschen Gesellschaft.«
»Bon … Louise?«, rief sie durch die geöffnete Tür in die sich hinten anschließende Backstube. »Du müsstest mich hier mal kurz vertreten.«
Nachdem Hannah gezahlt hatte, setzte sie sich neben die Verkäuferin auf einen Mauervorsprung gegenüber vom Geschäft.
»Mein Name ist Penelope. Ich sag jetzt einfach mal du.« Die dunkelhaarige Frau lächelte sie an.
Hannah stellte sich ebenfalls vor und biss dann in ihre tarte. »Meine Güte, ist das köstlich! Und das ist alles bloß Gemüse?«
»Tja, die werden jeden Tag bei uns frisch zubereitet. Nur die besten Rohwaren aus der Region.«
In diesem Augenblick schoss mit quietschenden Reifen ein schwarzer SUV um die Ecke.
»Oha …« Penelope zog den Kopf ein und begann, in ihrer Umhängetasche zu kramen.
»Alles in Ordnung?«
»Oui … oui …«, kam es dumpf unter dem Lockenberg hervor. Ein paar Momente später tauchte Penelope wieder auf. »Puh, nochmal gut gegangen.« Sie sah Hannah an und grinste verlegen.
»Was war denn los?«
»Ach, dieser Typ in der fetten Angeberkarre … Also, wir verstehen uns nicht so besonders. Luc Aurelien, Immobilienhai, ein widerlicher Kerl, hält sich für unwiderstehlich und kommt überhaupt nicht damit klar, wenn er von einer Frau abgewiesen wird. So einer, für den ein Nein nicht zählt. Na ja, und da hab ich halt mal deutlich werden müssen.«
»Inwiefern?«
»Beim Weinfest letzten Herbst sind mir seine schmierigen Annäherungsversuche einfach zu viel geworden. Ich habe eine Karaffe Rotweinüber seinem Haupt geleert. Spontaner Applaus von den Umsitzenden …«
Hannah musste lachen. »Coole Aktion.«
»Tja, dummerweise hat er hier in Vaison ziemlich viel Einfluss, und seither gehe ich ihm lieber aus dem Weg. Ist überhaupt ein sonderbarer Typ. Man erzählt, er residiere außerhalb der Stadt in einem abgeschotteten Anwesen, das eine detailgetreue Kopie einer alten römischen Villa sei. Soll von innen echt abgefahren sein. Wie eine Zeitreise. Mit allen Details, sogar einem historischen Kellergewölbe.«
»Scheint ein recht unangenehmer Zeitgenosse mit Hang zur Exzentrik zu sein. Wobei, das Haus würde ich mir gern mal ansehen.«
Penelope sah Hannah mit leicht schief gelegtem Kopf an. »Nur zu, lass deine weiblichen Reize spielen, und der Eintritt ist dir garantiert. Seitdem er geschieden ist, kann er seine Affären ja offen ausleben. Mir tut nur die arme Malée leid.«
»Seine Tochter?« Hannah strich sich die Krümel von der Kleidung.
»Adoptivtochter. Aus Thailand. Alle haben damit gerechnet, dass sie nach der Scheidung bei seiner Exfrau bleibt. Doch die ist damals über Nacht verschwunden.« Penelope zog ein cognacfarbenes Lederetui aus ihrer Tasche und begann sich eine Zigarette zu drehen. »Man sieht Malée nicht oft in der Stadt. Sie besucht ein sauteures Internat in Aix-en-Provence und ist bloß in den Ferien hier. Sie ist eine echte Schönheit. Ich denke, sie müsste bald mit der Schule fertig sein. Bestimmt zahlt Daddy ihr dann eine Elitehochschule. Aber wenn der Preis dafür ist, so jemanden zum Vater zu haben – nein danke.« Sie schüttelte sich. »Rauchst du?«
»Nicht mehr. Ich hab’s mir vor Jahren mühsam abgewöhnt.«
»Kompliment. Sollte ich auch tun …« Sie blies genüsslich den Rauch aus und zuckte mit den Schultern. »Ich bin einfach zu schwach. Ich meine, nicht, dass ich das nicht wüsste, mit dem Teint und der Gesundheit und so … Vielleicht, wenn ich auf die 40 zugehe.« Sie nahm einen weiteren tiefen Zug. »Ah … oder auch nicht, mal sehen. Wie lange wirst du in Vaison sein?«
Hannah erzählte ihr von dem Grund ihres Aufenthalts und Penelope zog anerkennend die Augenbrauen hoch.
»Eine waschechte Polizistin, na, Hut ab. Da muss ich mich in deiner Gegenwart wohl zusammenreißen.« Sie lachte laut. »Aber Scherz beiseite. Dann solltest du natürlich ein bisschen was vom Vaisoner Alltag mitkriegen. Also, dieser Vortrag, den Anabelle Durand vorhin erwähnt hat, wird vermutlich ein Knaller werden. Wenn du Sonntag nix vorhast, kann ich dir den sehr empfehlen. Irène Latour ist großartig! Ich hab mal eine Rede von ihr im Museum angehört, die war echt der Hammer.«
»Gehört sie auch zu den SIFEMOS?«
»Ach, das hat sie gar nicht nötig. Die SIFEMO lädt sie regelmäßig zu Gastvorträgen ein. Sie ist die Direktorin des Ausgrabungsgeländes und des dazugehörigen Museums.«
»Wie spannend. Aber wieso hält sie als Altertumsforscherin einen Vortrag über französischen Feminismus?«
»Keine Ahnung. Womöglich ihr Zweitfach? Oder Hobby?«
»Das Ausgrabungsgelände ist übrigens mein Nachmittagsprogramm.«
»Da wünsch ich dir viel Vergnügen beim Eintauchen in die Vergangenheit … Das kann mitunter sehr aufschlussreich sein.« Penelope warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Oh là là. Ich muss wieder rein. Sonst läuft Louise noch Amok.« Sie drückte ihre Zigarette aus und sprang vom Mauersims. »Hat mich gefreut, dich kennenzulernen – man sieht sich bestimmt bald wieder.«
»Vielleicht am Sonntag beim Geheimbund.« Auch Hannah hatte sich erhoben.
»Ja, vielleicht – wenn ich meine Vereinsphobie unterdrücken kann.«
Hannah sah ihr nach, wie sie im Supermarkt verschwand.
Wenig später schlenderte sie mit einem Lageplan in der Hand und dem Audioguide um den Hals über die Ausgrabungsstätte. Erstaunliche Funde hatte man hier gemacht, die ersten bereits im 16. Jahrhundert.
»Bis ungefähr 1870 wurde das archäologische Material in Privatsammlungen außerhalb der Stadt untergebracht, stellen Sie sich das einmal vor. Keine Gelegenheit für das einfache Volk, einen Einblick in die Römerzeit zu bekommen.«
Als Hannah den Audioguide geholt hatte, war zufälligerweise die Direktorin der Ausgrabungsstätte, von der Penelope so geschwärmt hatte, aus dem Museum gekommen. Hannah hatte Madame Latour eine Frage zu dem Zeitfenster, aus dem die Fundstücke des Museums stammten, gestellt. Schnell hatte sich eine angeregte Konversation zwischen den beiden Frauen entwickelt. Die Endvierzigerin schien hoch erfreut zu sein, auf eine Touristin mit überdurchschnittlichen Kenntnissen in römischer Geschichte zu treffen.
»Sie haben recht. Da können wir uns wirklich glücklich schätzen. Heutzutage ist es ja im Grunde jedem möglich, sich Wissen über die nahe und ferne Vergangenheit der eigenen Kultur und der anderer Völker anzueignen.« Hannah betrachtete aufmerksam das dezent, aber sorgfältig geschminkte Gesicht der eleganten Frau. Die Direktorin trug ein dunkelblaues Kostüm und bis auf eine Halskette mit einem goldenen Amulett keinerlei Schmuck.
Madame Latour erzählte Hannah von der Entwicklung der Ausgrabungen, die maßgeblich das Werk eines Studenten waren, einem jungen abbé namens Joseph Sautel. Er hatte Anfang des 20. Jahrhunderts Vaison als Studienthema erkoren.
»Ohne Sautel wäre Vaison heute vermutlich nur eines von vielen anmutigen Dörfern. Manchmal frage ich mich, ob den Einwohnern überhaupt bewusst ist, dass sie größtenteils ihm ihre berufliche Existenz verdanken.« Sie zog die rechte Augenbraue leicht nach oben. »Anscheinend nicht, sonst würden sie unsere Arbeit, die ja eine Fortsetzung seiner darstellt, stärker würdigen.« Ihr klares Französisch ließ auf ein wohlsituiertes Elternhaus und eine gehobene Ausbildung schließen.
»Wahrscheinlich ist man in der eigenen Stadt bloß immer zu nah dran. Starten Sie mal in meiner Heimatstadt Köln eine Umfrage, wie viele der Bewohner jemals auf den Dom gestiegen sind. Sie würden zweifelsohne katastrophale Ergebnisse bekommen.« Hannah überlegte. »Vielleicht sollte man zu Hause einfach ab und zu mal selbst Tourist spielen. Aber was Sautel und seine Nachfolger anbelangt, so bin ich ihnen sehr dankbar. Ich bin unglaublich gespannt auf das antike Geschäftsviertel und die Villen. Und das Theater natürlich.«
»Sie müssen sich unbedingt nach dem Rundgang den Film zum Maison au Dauphin anschauen, unser aktuelles Vorzeigestück in 3D-Technik.« Der Stolz über das Produkt schwang unverkennbar in der Stimme der Direktorin mit. Die Frau war mit Herzblut bei der Sache, stellte Hannah fest, und sie spürte einen Anflug von Wehmut.
»Das werde ich auf jeden Fall tun. 3D-Technik klingt vielversprechend. Erfreulich, dass der Stadt Ihre Arbeit so viel wert ist.«
»Nun ja.« Die Direktorin räusperte sich. »Ein solches Projekt ist, wie vieles hier, nur dank großzügiger Sponsoren möglich. Zum Glück haben wir verschiedene Unterstützer. Vielleicht haben Sie schon von Lucien Aurelien gehört?«
Hannah dachte an Penelopes Schimpftirade und die Weinaktion. »Getroffen habe ich ihn bisher noch nicht.«
»Er ist ein Kenner der Materie. Sehr bewandert in der römischen Antike. Einen nicht unerheblichen Teil seines Vermögens lässt er in die Ausgrabungsstätte fließen.«
»Das ist in der Tat lobenswert. Wie schön, dass mal nicht die Gier überwiegt.«
Irène Latour räusperte sich erneut und sah auf die Uhr.
»Ich habe jetzt gleich einen Termin. Aber sollten Sie nach Ihrem Aufenthalt auf unserem Gelände noch Fragen oder Anregungen haben, lassen Sie es mich bitte wissen. Ich würde mich freuen, das Gespräch mit Ihnen bei Gelegenheit fortzusetzen.«
Hannah beobachtete, wie Madame Latour auf ihren eleganten Pumps mit sicherem Gang den Kiesweg Richtung Ausgang entlangschritt. Sie fragte sich, ob sie selbst wohl ein bisschen mehr wie die Direktorin wäre, hätte sie sich damals statt für die Polizeilaufbahn doch für ein Studium in antiker Geschichte entschieden.
Hannah besichtigte zunächst das Maison à l’Apollon lauré, die Überreste einer 2000 Quadratmeter fassenden Villa, deren Name auf eine Apollobüste aus weißem Marmor zurückging. Danach schlenderte sie durch die Ruinen der Rue des Boutiques. Auf der einen Seite rahmten Säulen, von denen manche noch recht gut erhalten waren, die mit großen Steinplatten ausgelegte Straße. Neben einem schmalen, zur Zeit der Römer überdachten Trottoir schlossen sich die Läden der Kaufleute an. Hannah stellte sich vor, wie die wohlhabenden Römerinnen dazumal ihre Einkäufe getätigt hatten, im Säulengang geschützt vor Sonne oder Regen.
In gelöster Stimmung schritt Hannah die antike Einkaufsstraße zurück Richtung Museumsgebäude. Hier fühlte sie sich in ihrem Element. Fast 2000 Jahre alte Steine zu betrachten, zu berühren und sich dabei vorzustellen, was diese wohl schon alles gesehen und erlebt hatten. Und immer noch standen sie einfach da, trotzten dem Wetter, den Jahreszeiten, den Jahrhunderten. Dass es nach wie vor unzählige Verbindungen zu einer Epoche gab, die so weit zurücklag und die den Alltag des modernen Menschen mehr geprägt hatte, als es den meisten bewusst war, übte auf Hannah eine gewaltige Faszination aus.
Den Besuch des Museums hob sie sich für einen anderen Tag auf. Stattdessen machte sie sich auf den Weg zur Hauptattraktion des Geländes, dem römischen Theater. Der Audioguide lehrte sie, dass in dem unter Claudius erbauten Antiktheater der ehemaligen römischen Gemeinde Vasio Vocontiorum damals bis zu 7000 Zuschauer Platz gefunden hatten.Heutzutage wurde es im Sommer wieder bespielt. Die Konzerte und besonders die zahlreichen Tanzveranstaltungen waren begehrt und die gefragten Tickets bereits lange vor Beginn der Saison ausverkauft.
Über einige Stufen gelangte sie auf einen rechteckigen kiesgestreuten Platz, der ringsum von türkisblauen Holzbänken gesäumt war. Auf einer dieser Bänke saß ein Mann Mitte vierzig mit welligen Haaren und einem Dreitagebart. Hannah stutzte kurz. Sie hatte nicht erwartet, ihm so bald ein zweites Mal über den Weg zu laufen. Eindeutig ein Vorteil von Kleinstädten, dachte sie und ging auf die Bank zu.
»So schnell sieht man sich wieder.«
Er sah sie an und ein Lächeln trat auf sein Gesicht. »Ah, jetzt weiß ich, warum Sie es vorhin so eilig hatten, dass Sie sogar Ihren Schal vergessen haben – der Ruf der alten Steine.«
»Der in dieser Stadt besonders laut tönt.«
»Da gebe ich Ihnen recht. Ich bin übrigens Serge.« Er streckte ihr die Hand entgegen.
Hannah schüttelte sie mit festem Druck. »Ich heiße Hannah.« Und ganz spontan fuhr sie fort. »Haben Sie Lust, mich zum alten Theater zu begleiten?«
»Ach ja, das Theater. Es war niemals das, was es war.«
»Claudius!« Hannah schmunzelte. Sie hatte das Zitat aus der alten Serie sogleich erkannt. »Habe ich geliebt! Ich sehe, wir verstehen uns.«
»Na, dann lassen Sie uns gemeinsam auf römischen Spuren wandeln.«
Am heutigen Abend hatte Serge dem ewigen Drängen seines Freundes Anatole nachgegeben und ihn zum Marktplatz begleitet.
»So geht das nicht weiter, Serge, du musst unter Leute! Jeden Abend vergräbst du dich mit einer Flasche Wein im Wohnzimmer und spielst wieder und wieder die alten Schallplatten meiner Eltern ab.«
Serge kannte diese Predigt bereits. Es erschien ihm jedoch müßig, seinem ältesten Kumpel, so patent er auch war, zu erklären, welche Ruhe und Berührung es ihm bescherte, jenen Platten zu lauschen, die einer Zeit entstammten, als eine gute Aufnahme etwas Besonderes darstellte und nicht durch digitale Technik beliebig ersetzt werden konnte. Als den Dingen noch eine Ehrlichkeit und Authentizität anhaftete, die in dieser Form heute einfach nicht mehr existierte.
Anatoles Eltern hatten eine beeindruckende Sammlung zusammengetragen, ohne jemals große Kenner klassischer Musik gewesen zu sein. Auf Empfehlungen hin hatten sie Schallplatten gekauft, die alsbald in ihrer Bibliothek verstaubten und deswegen immer noch über einen so wunderbaren, unbezahlbaren Klang verfügten.
Serges momentaner Favorit war eine Aufnahme von Beethovens Klavierkonzert Nr. 3 in c-Moll Op. 37, gespielt von Clara Haskil. Serge verband frühe Erinnerungen mit diesem Werk. Als gerade mal Zwölfjähriger hatte er die Platte bei seinen Eltern entdeckt. Sie symbolisierte seinen ganz persönlichen, sehnsuchtsvollen Zugang zur klassischen Musik. Einen Zugang, den er lange Zeit vergeblich versucht hatte wiederzufinden. Jahre war es her, dass er jener Komposition gelauscht hatte, umso mehr erfüllte ihn nun bei den einst so vertrauten Klängen ein stilles, unschuldiges Glücksgefühl.
Vor seiner Abreise aus Paris hatte ihn ein an Abscheu grenzender Widerwille gegenüber der heutigen Musikbranche erfüllt, und in der ersten Zeit bei Anatole hatte er es vorgezogen, überhaupt keine Musik zu hören. Erst nach einer Weile hatte er, ganz zaghaft zunächst, die eine oder andere Platte aus ihrer Hülle gezogen, andächtig betrachtet und wieder beiseitegelegt. Schließlich hatte er mit den Klassikern seiner jungen Tage einen Neuanfang gewagt und mit wachsender Freude festgestellt, dass das Empfinden von einst tatsächlich neu in ihm aufstieg.
Doch an diesem Abend hatte Serge beschlossen, Haskil und dem Plattenspieler eine Pause zu gönnen, und war Anatole in die touristische Atmosphäre auf den Marktplatz gefolgt. Dort saßen sie nun im Montfort Café vis-à-vis bei ihrem zweiten Bier. Auf der Mitte des Platzes hatte sich eine Band aufgebaut und lieferte den trinkfreudigen Gästen der zahlreichen aneinandergereihten Bars, Restaurants, Cafés und Brasserien einen Jazzstandard nach dem anderen.
»Nicht schlecht, wenn du das Original nicht kennst«, war Serges erstes Urteil. Bald wurde es jedoch ersetzt durch ein genervtes: »Zu viel! Sie machen einfach zu viel! Hör dir den Schlagzeuger an, viel zu viel! Das geht nicht in einer Zeit, wo das Original nur zwei Mausklicks entfernt liegt!«
»Entspann dich, es ist nur ein bisschen Jazz, und den Touristen gefällt es.«
»Ja, weil sie keine Ahnung haben!«
Die Band setzte zu einem weiteren Stück an, die ersten Takte von »How Insensitive« erklangen. Serge stöhnte auf. »Oh nein, so ein schönes Lied! Bitte zerstört es nicht!«
»Mince alors! Schluss jetzt!« Anatole stellte mit Schwung sein leeres Bierglas auf den Tisch. »Kein Wort mehr über Musik heute Abend, sonst musst du dir leider einen anderen Schlafplatz suchen! Themenwechsel. Du weißt, ich liebe dich wie einen Bruder, und du kannst bei mir wohnen, solange es dir gefällt, und wenn es bis ins Rentenalter ist, kein Problem. Ich denke trotzdem, dass dir eine Frauenbekanntschaft guttun würde.«
Serge verdrehte genervt die Augen gen Himmel. Von wegen Themenwechsel. Das war das nächste Thema, dem er sich fast täglich ausgesetzt sah. Anatole war der festen Überzeugung, dass es für Serges Psyche ungeheuer wichtig, ja von therapeutischer Wirkkraft wäre, wenn er sich ein wenig ablenken würde, auf zwischenmenschlicher Ebene quasi. Eine kleine Liebschaft, bloß nichts Ernstes, was unweigerlich zu Komplikationen führen würde. Vielmehr eine leichte Sommerromanze. Ebenso vergeblich, wie mit seinem Freund über Musik zu diskutieren, war es, ihm begreiflich zu machen, dass das Letzte, wonach er momentan strebte, eine amouröse Begegnung war. Um ihn dennoch zufrieden zu stellen, erzählte er von seiner Bekanntschaft mit der deutschen Touristin.
Anatoles Miene hellte sich schlagartig auf. »Eine Blondine, wie wunderbar! Geht doch, Serge! Wobei, muss es wirklich eine Deutsche sein? Die sollen eher spröde im Bett sein. Hab ich zumindest gehört.«
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