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Weiße Nächte und ein Toter in den Schären Es ist Sommer, und Kriminalinspektorin Maya Topelius braucht eine Auszeit. Sie nimmt an einem Yoga-Retreat ihrer Freundin Emely auf einer abgelegenen Schäreninsel teil. Doch schon am ersten Abend kommt es beim Mittsommerfest zu einem Streit, bei dem Maya das Vertrauen in Emely verliert. Am Morgen danach wird ein Mann mit einer tödlichen Stichverletzung im Schilf gefunden. Die Polizei riegelt die Insel ab, und Maya beginnt, verdeckt zu ermitteln. Als ein zweiter Mord passiert, kippt die Stimmung zwischen den Inselbewohnern und den Teilnehmenden des Retreats. Im Zwielicht der weißen Nächte macht Maya eine Entdeckung, die sie zutiefst erschüttert. Eine getriebene Ermittlerin, ihre drei Freundinnen und ein dramatischer Vorfall, der sie seit ihrer gemeinsamen Jugend verfolgt - die einzigartige Schwedenkrimi-Serie von Sandra Åslund: In Band 1 weht ein eiskalter Winter über Nordschweden: Im Herzen so kalt, Erscheinungstermin 26.10.2023 In Band 2 lauert ein gefährlicher Mittsommer in den Schären: Still ist die Nacht, Erscheinungstermin 31.10.2024 In Band 3 zieht ein düsterer Herbst über Öland: Dann ruhest auch du, Erscheinungstermin 30.10.2025
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Still ist die Nacht
Sandra Åslund hat als Maskenbildnerin deutschlandweit an Theatern und Opernhäusern gearbeitet, ehe sie ein Fernstudium an der Textmanufaktur absolvierte. Seither hat die passionierte Frankreich-Reisende zwei Krimireihen veröffentlicht, die in der Provence und an der südfranzösischen Atlantikküste spielen. Zeitweise plante sie, nach Frankreich auszuwandern, doch die Liebe wollte es anders: Mit ihrem schwedischen Mann und der gemeinsamen Tochter zog sie im März 2020 von Berlin nach Südschweden aufs Land und lebt dort nun in einem typischen roten Holzhaus, mit Katze, Hühnern und großem Garten, umgeben von den Wäldern Smålands.
Es sollte der perfekte Ort zum Entspannen sein, doch der Täter ist unter ihnen Es ist Sommer, und Kriminalinspektorin Maya Topelius braucht eine Auszeit. Sie nimmt an einem Yogaretreat ihrer Freundin Emely auf einer abgelegenen Schäreninsel teil. Doch schon am ersten Abend kommt es beim Mittsommerfest zu einem Streit. Am Morgen danach wird ein Mann mit einer tödlichen Stichverletzung im Schilf gefunden. Die Polizei riegelt die Insel ab, und Maya beginnt, verdeckt zu ermitteln. Als ein zweiter Mord passiert, kippt die Stimmung zwischen den Inselbewohnern und den Teilnehmenden des Retreats, denn schon zuvor waren die Gäste unbeliebt. Der Täter muss auf der Insel sein, niemand ist noch sicher. Im Zwielicht der weißen Nächte macht Maya eine Entdeckung, die sie zutiefst erschüttert.»Sandra Åslund ist eine absolute Schwedenkennerin in Sachen Land, Leute und Mord. Unbedingt lesen!« Anne Nørdby
Sandra Åslund
Ein Schweden-Krimi
Ullstein
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E-Book powerded by pepyrusISBN 978-3-8437-3203-1
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Epilog
Glossar
Danksagung
Anmerkungen
Literatur
Rezept Mayas Gravad lax und Emelys Jordgubbstårta
Leseprobe: Im Herzen so kalt
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Willkommen, liebe Leserin, lieber Leser!Ich freue mich, dass Du Dich für dieses Buch entschieden hast. Solltest Du beim Lesen über einen schwedischen Begriff stolpern, findest Du die Bedeutung im Glossar am Ende.
Med vänliga hälsningarSandra Åslund
Für Conny, Peter und Sabine
Ihr habt mir die ersten Gehversuche als Autorin ermöglicht.
Det är synd om människorna.
Es ist schade um die Menschen.
August Strindberg (1902), Ett Drömspel / Ein Traumspiel
Sonntag, 15. April
Zwei Reiher erhoben sich aus dem dichten Schilfgras und segelten mit bedächtigen Flügelschlägen übers Wasser davon. Charatha blieb stehen und sah ihnen nach, wie sie sich allmählich entfernten, am Uferstreifen entlang, in ihrem ganz eigenen Tempo. Frei und ungebunden wie diese Tiere, so hatte sie immer sein wollen. Sofort dachte sie an Amita. Nicht umsonst trug sie diesen Namen: Amita, die Ungebundene, Grenzenlose. Charathas Herz füllte sich mit Wärme. War all das Warten und Hoffen am Ende doch nicht vergeblich gewesen?
Sie schloss die Augen und atmete tief und bewusst ein und aus. Die herrlich klare Meeresluft durchströmte ihre Lungen. Charatha fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und genoss den salzigen Geschmack. Dass sie noch einmal in ihrem Leben auf diese Insel zurückkommen würde – sie hatte nicht damit gerechnet.
Einige Minuten lang richtete sie ihre Aufmerksamkeit nach innen und gab sich einer stillen Meditation hin, dann öffnete sie die Augen wieder und ließ ihren Blick über die einsame Bucht schweifen. An einem massigen Steinquader nahe der Wasserkante blieb er hängen. Glatt geschliffen von den Wellen, lag er dort genau wie ein Vierteljahrhundert zuvor. Als wäre die Zeit spurlos an ihm vorübergegangen. Was war die Dauer eines Menschenlebens, verglichen mit der Beständigkeit von Gestein?
Charatha lief hinüber, verharrte an dem kniehohen Felsen und fuhr bedächtig mit der Hand die Kuhle in der Mitte entlang. Ihre Sitzmulde, so hatte sie sie damals genannt. Sie erinnerte sich, wie sie im Sommer hier gesessen hatte, da war die harte, glatte Oberfläche von der Sonne gewärmt. Zum Glück trug sie ihr langes Strickkleid und einen dicken Wollschal, den sie als Sitzkissen unterlegte, ehe sie sich auf ihrem ehemaligen Lieblingsplatz niederließ.
Nach all den Jahren hatte Charatha vergessen, wie spät der Frühling in Schweden Einzug hielt. Bei ihrer Ankunft hatte sie bitterlich gefroren und am nächsten Tag ihre Reisegarderobe bei einem Bummel in der Stadt um einige warme Teile aufgestockt. Wie sehr sich Stockholm verändert hatte! Unzählige neue Geschäfte, Cafés und Restaurants … Sie hatte kaum etwas wiedererkannt.
Charatha seufzte auf. Vielleicht hätte sie lieber in Indien bleiben und das Stockholm ihrer Kindheit in Erinnerung bewahren sollen. Nun wurden diese Bilder unweigerlich überlagert von den frischen Eindrücken. Aber der Wunsch hatte sie nicht mehr losgelassen: Einmal noch wollte sie ihre Heimat sehen.
Gedankenversunken betrachtete sie ihre Hände, die in ihrem Schoß ruhten. Die blasse Haut spannte über den Knochen wie Pergament. Sie sahen aus wie die einer uralten Frau. Dabei war sie gerade mal Anfang vierzig.
»Regeln Sie Ihre Angelegenheiten, klären Sie, was zu klären ist«, hatte man ihr mit auf den Weg gegeben. Der Nachsatz »bevor es zu spät ist« hatte wie eine Prophezeiung in der Luft geschwebt.
Viel Zeit blieb ihr nicht. Ein paar Monate, meinten die Ärzte, maximal ein halbes Jahr. Wie ein hungriges Raubtier fraß sich der Krebs durch ihren Körper. Vergeblich hatte Charatha versucht, ihre Krankheit nicht als Feind zu betrachten, sondern als Chance, ihr bisheriges Dasein zu überdenken und neu auszurichten. In die innere Heilung zu gehen.
Letztlich hatte sie schlicht und ergreifend ihr Schicksal annehmen und die Tatsache akzeptieren müssen, dass sie in diesem Leben nicht bis ins hohe Alter auf Erden weilen würde.
Es gab noch so vieles zu erledigen, so vieles nachzuholen. Doch versäumte Jahre ließen sich nicht nachholen. Immerhin würde sie Amita bald wiedersehen.
Ein Segen, dass Deshaja eingewilligt hatte. »Aber lass uns uns erst mal allein treffen, nur du und ich.« Dass er ausgerechnet diesen Ort vorgeschlagen hatte – er hatte ihn also nicht vergessen, ihren ehemaligen Rückzugsort, an dem ihre Verbindung begonnen hatte.
Sie waren mit seinem Boot rausgefahren. Ihre Krankheit hatte sie ihm bisher verschwiegen. Sie wollte ihm in Ruhe davon erzählen.
Charatha sah an sich hinunter. Sie war immer schlank gewesen, nun bestand sie aus kaum mehr als Haut und Knochen. Auf den ersten Blick fiel es jedoch nicht auf. Diverse Kleidungsschichten kaschierten, wie abgemagert sie war, und bunte Tücher hatte sie sich bereits früher gern um den Kopf gewickelt. Vor der Krankheit, als sie noch ihre lange Haarpracht hatte.
Wo blieb bloß Deshaja? Er hatte Gläser aus der Hütte holen wollen – anstoßen mit Sekt, wie damals. Überhaupt war er ausgesprochen liebenswürdig und zuvorkommend gewesen. Der Groll von einst, der ihn jahrzehntelang hatte schweigen lassen, schien zu guter Letzt verflogen.
Dabei hatte sie doch den Preis gezahlt. Den Preis, der viel zu hoch gewesen war, das hatte sie schon lange eingesehen. Nun, da sich ihr Leben dem Ende zuneigte, bereute sie, dass sie nicht früher über ihren Schatten gesprungen war. Aber jetzt gab es immerhin eine Chance, wenigstens ein bisschen wiedergutzumachen. Wenn sie morgen nach Stockholm zurückfahren würden, konnte sie endlich …
Schritte knirschten auf dem Kies, Charatha wandte den Kopf. Deshaja kam auf sie zu, er trug eine Kühlbox. Sie lächelte, sicherlich hatte er auch ein kleines Picknick eingepackt. Ganz wie damals, als sie ein Paar gewesen waren. Als die Welt noch bunt und verlockend daherkam, als die Zukunft ein unbeschriebenes Blatt war und alles möglich schien.
Langsam erhob sich Charatha, nahm den Wollschal vom Felsen und breitete ihn auf dem sattgrünen Frühlingsgras aus, so konnten sie nebeneinandersitzen und aufs Meer schauen.
»Förlåt, es hat etwas länger gedauert.« Deshaja stellte die Box neben ihr ab und öffnete den Deckel.
»Das macht nichts.« Charatha kniete sich hin und zupfte den Schal zurecht, dann drehte sie sich lächelnd zu ihm um. Sie erstarrte. Mit plötzlich aufwallendem Entsetzen betrachtete sie den Holzknüppel in seiner Hand. »Was – was hast du vor?«
»Denkst du wirklich, du kannst so einfach zurückkommen und alles auslöschen, was damals geschehen ist?« Verschwunden war jegliche Liebenswürdigkeit, sein Blick war von gnadenloser Härte. Er sah aus wie ein Fremder. Wie ein Feind.
Die pure Angst schoss in Charathas Magen, lähmte sie. »Deshaja, hör zu … Ich habe dir noch nicht alles erzählt, es ist …«
»Spar dir deine ewigen Erklärungen. Dein Bauchgefühl, dem du folgen musstest, um deinen Weg zu gehen. Es ging immer nur um dich.« Er stand direkt vor ihr, ließ den Knüppel leicht in seine linke Handfläche fallen. Sein Gesicht verzog sich zu einer grausigen Grimasse. »Das Einzige, was ich will, ist, dass du verschwindest! Ich lasse nicht zu, dass du noch einmal alles zerstörst!«
Du musst fliehen, wisperte eine Stimme tief in ihr, aber Charatha konnte sich nicht von der Stelle rühren. Jegliche Lebensenergie war aus ihrem geschwächten Körper gewichen. Ihr Mund war staubtrocken. Es war wie ein Albtraum, aus dem sie gleich erwachen würde. Er würde doch nicht wirklich …
Deshaja holte aus. Schützend hob sie die Hände über den Kopf, als der erste Schlag auf sie niedersauste. Er traf ihren Rücken, Charatha fiel bäuchlings auf den Kies, knallte mit dem Gesicht auf die Steine. Ein weiterer Schlag folgte.
»Nicht! Deshaja! Hör auf!«
Er war nicht zu bremsen, ignorierte ihre Schreie, ihr Flehen, ihr Wimmern. Wie von Sinnen schlug er zu, blindlings, immer und immer wieder. Auf ihren Rücken, ihre Beine und Arme, ihren Kopf. Charatha krümmte sich auf dem kalten, harten Boden. Jeder Hieb war wie eine Explosion in ihrem Körper.
Freitag, 22. Juni
In gleichmäßigem Tempo tuckerte die Sjögull zwischen den Schäreninseln dahin, die an der Ostseeküste verstreut lagen, als hätte jemand eine Handvoll Brotkrumen ins Wasser geworfen. Manche waren unbewohnt und bestanden lediglich aus einigen kargen Felsen, auf anderen gab es Anlegestege, und rote, weiße, gelbe Holzhäuser leuchteten um die Wette.
Entspannt glitten Mayas Augen über die Wasseroberfläche, auf der sich das gleißende Licht in hunderttausend schillernde Silberflecken brach. Das Wetter war, wie es sich zu Mittsommer gehörte: strahlender Sonnenschein, der Himmel blank geputzt und leuchtend blau. Über ihnen kreischten die Möwen, und eine sanfte Brise umschmeichelte Maya.
So angenehm, doch zugleich eine Gefahr, die auf leisen Sohlen daherkam und die sie nicht nur einmal unterschätzt hatte. Das Ergebnis war purpurrote brennende und sich schälende Haut gewesen. Vielleicht hätte sie statt des Spaghettiträgertops lieber ein T-Shirt gewählt. Maya kramte in ihrer Umhängetasche nach der Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor fünfzig. Sie schob die Sonnenbrille ins Haar und verteilte die Creme großzügig auf Schultern, Armen, Dekolleté und Gesicht. Mit ihrem hellen Teint musste sie höllisch aufpassen, insbesondere auf dem Wasser.
Sie verstaute die Tube, setzte die Brille wieder auf, lehnte sich auf der Bank zurück und nahm einen tiefen Atemzug der klaren, salzigen Luft. Eine wohltuende Leichtigkeit breitete sich in ihr aus, gepaart mit der Vorfreude auf die kommenden Tage. Die letzten Wochen waren extrem anstrengend gewesen, und es hatte sich ein Haufen Überstunden angesammelt. Als hätten sämtliche Verbrecher in ganz Stockholm vor den Sommerferien beschlossen, noch einmal alle Register zu ziehen. Aber jetzt hatte sie endlich Urlaub!
In einiger Entfernung glitt die Viking Line Cinderella vorbei, eines der riesigen Kreuzfahrtschiffe, die täglich von Stockholm nach Åland oder weiter nach Finnland fuhren. Maya warf einen Blick auf ihr Handy, es war kurz vor elf. Der größte Teil der dreieinhalbstündigen Überfahrt lag schon hinter ihnen. Gegen halb zwölf sollte die Sjögull laut Plan auf Svartlöga anlegen.
Am frühen Morgen war die Waxholm-Fähre in Stockholm gestartet, am Strömkajen zwischen Grand Hotel und Nationalmuseum. Zu Mittsommer verließ jeder die Hauptstadt, der ein Sommerhaus in den Schären besaß oder jemanden mit selbigem kannte. Am Anlegeplatz hatten sich Rucksäcke, Transportkisten, Koffer und prall gefüllte Einkaufstaschen gestapelt. Unterwegs hatten sie mehrere Male haltgemacht, und besonders in Furusund, dem letzten Festlandhafen, war noch mal ein ordentlicher Schwung an Sommergästen dazugekommen.
Träge beobachtete Maya zwei Möwen, die durch die Luft segelten. Gerade passierten sie Norröra, wo in den Sechzigerjahren die Saltkråkan-Filme gedreht worden waren. Nach wie vor konnten Astrid-Lindgren-Fans an Führungen auf der Insel teilnehmen und einige der Drehorte besuchen.
Ihre Augen wanderten weiter und entdeckten einen Vogelschwarm am Himmel, der sehr bestimmt Richtung Festland strebte. Die Tiere waren deutlich kleiner als Möwen, das mussten Singvögel sein. Aber so viele? Sie sahen aus wie eine dunkle Wolke. Mit einem Mal erwachte eine eigenartige Unruhe in Maya, die sie sich nicht erklären konnte.
Sie wandte den Blick vom Wasser ab und ließ ihn stattdessen über das vollbesetzte Deck schweifen. Vom Säugling bis zum Greis waren sämtliche Altersstufen vertreten. Auf der anderen Seite des Gangs hatte es sich eine Gruppe älterer Frauen in einheitlich gefärbtem Blond bequem gemacht. Noch ehe das Boot abgelegt hatte, veranstalteten sie ein üppiges Picknick, das sie aus ihren Rucksäcken hervorgezaubert hatten. Ungefähr die Hälfte von ihnen scrollte nun auf Tablets herum, während die übrigen sich mit ihrem Strickzeug beschäftigten.
Maya überlegte, ob sie in dreißig Jahren genauso mit ihren Freundinnen beisammensitzen würde. Wie würden sie dann wohl aussehen? Sicherlich würde Sanna immer noch edle Labels tragen, Emely indisch anmutende fließende Gewänder samt Ethnoschmuck und Clara ihre geliebten Reithosen. Doch wer wusste schon, was sich bis dahin womöglich alles änderte, was das Leben ihnen an Schicksalsschlägen vor die Füße werfen würde. Dass sie weiterhin so eng befreundet wären wie heutzutage, daran bestand für Maya jedenfalls nicht der geringste Zweifel.
Schräg gegenüber saß eine Familie mit einem kleinen Sohn. Der Junge hockte auf dem Schoß eines älteren Mannes, bestimmt der Opa. Mit seinem gepflegten, kurz geschnittenen grauen Bart, der silbernen runden Nickelbrille, dem gestreiften Hemd und einem Strohhut erinnerte er Maya an Hermann Hesse, den Lieblingsschriftsteller ihres Vaters. Unauffällig richtete sie ihr Handy auf ihn und drückte ab. Das Bild schickte sie per WhatsApp an ihren Vater. Hesse an Bord!, schrieb sie darunter. Er würde seinen Spaß daran haben.
An der Reling standen zwei Paare, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Das eine, mittelalt, sah aus wie aus einem Museum für skurrile Typen entsprungen: Der hochgewachsene, hagere Mann mit dünnen, ausgefransten hellblonden Haarsträhnen trug einen weiß-rot geringelten Schlabberpulli zur roten Stoffhose. Seine deutlich kleinere und stämmige Partnerin, deren dicke hellbraune Mähne locker für beide gereicht hätte, besaß die gleiche Kombination in Blau-Weiß. Eng aneinandergekuschelt, wirkten sie wie frisch verliebte Teenager.
Das andere Paar war höchstens Ende zwanzig und hätte eins zu eins aus einem Modemagazin herauskopiert sein können: blond, schlank, sportlich gekleidet, den Blick aufs Wasser gerichtet. Allerdings machten sie keinen harmonischen Eindruck. Während der junge Mann ihr mal den Arm um die Schulter legte, mal nach ihrer Hand griff, stand seine Freundin nur da und zog ein verkniffenes Gesicht. Die beiden kamen Maya vor, als hätten sie dringend einen Streit beizulegen.
Als Kriminalinspektorin war sie es gewohnt, Menschen innerhalb weniger Minuten einzuordnen, ohne die entsprechenden Kategorien in Stein zu meißeln.
»Halte die Schubladen immer ein gutes Stück offen«, pflegte ihr erfahrener Partner Pär zu sagen. Ihrem Kollegen sah man nicht an, dass er mehr als zwanzig Jahre älter war als sie. »Gute Gene und Marathontraining«, gab er stets als Antwort, wenn er wieder einmal in erstaunte Augen schaute, nachdem man ihn auf maximal Ende vierzig geschätzt hatte.
Aus ihrer Umhängetasche holte Maya die Tageszeitung hervor, die sie heute früh auf dem Weg zur Fähre gekauft hatte. Die erste seit Ewigkeiten, normalerweise scrollte sie sich auf ihrem Handy durch die Nachrichtenseiten. Mal was anderes im Urlaub, hatte sie gedacht, schließlich wollte sie sich im Digital Detox üben. Flüchtig las sie die Schlagzeilen, als ihre Augen an einem kurzen Artikel hängen blieben. Die Polizei suchte eine als vermisst gemeldete Frau und bat die Bevölkerung um Mithilfe. Die Anzeige musste ganz frisch reingekommen sein, Maya wusste noch nichts davon. Sie überflog die Zeilen, es ging um eine Schwedin, die vor Jahren nach Indien gezogen und nun zu Besuch in ihrer Heimat war. Ehemalige Nachbarn hatten ihr eine leer stehende Wohnung zur Verfügung gestellt und erst Monate später gemerkt, dass sie offenbar verschwunden war. Maya betrachtete das herzförmige Gesicht auf dem beigefügten Foto. Obwohl die Frau lächelte, verliehen die Stirnfalten ihr etwas Sorgenvolles. Entschlossen faltete Maya die Zeitung zusammen und packte sie weg. Im Urlaub wollte sie keine Fälle an sich heranlassen, das hatte sie sich geschworen.
Stattdessen griff sie nach dem Notizbuch, das neben ihr auf dem Tisch lag, schlug es auf und senkte den Kopf. Ihr erstes Tagebuch seit gut zwei Jahrzehnten.
Im Winter hatten Pär und sie einen verzwickten Fall in Östersund gelöst, über fünfhundert Kilometer nördlich von Stockholm. Einer von jenen auswärtigen Einsätzen, zu denen ihr Chef Lasse sie als Ermittlungsteam manchmal schickte. Dort hatte Maya Frida kennengelernt, ein neunjähriges Mädchen, das eine wichtige Rolle in dem Fall gespielt hatte. Zu Frida hatte sie eine besondere Verbindung gespürt, und zum Abschied hatte Maya ihr ein Tagebuch geschenkt.
Inzwischen waren Frida und ihre Mutter Annika nach Mönsterås gezogen, keine Stunde von Mayas Elternhaus entfernt. An Ostern hatte Maya die beiden besucht und zu ihrer Freude festgestellt, dass Frida die Sache mit dem Tagebuch ernst nahm.
»Schreibst du auch Tagebuch?«, hatte Frida sie gefragt und ganz enttäuscht ausgesehen, als Maya verneint hatte. »Warum nicht?«
Maya hatte das »Keine Zeit«, das ihr auf der Zunge lag, heruntergeschluckt, denn nur zu gut hatte sie Emelys Worte im Ohr: »Ich habe keine Zeit heißt nichts anderes als ich nehme mir dafür keine Zeit.« Stattdessen hatte sie Frida angelächelt und gesagt: »Du hast recht. Ich sollte wieder damit anfangen.«
In der darauffolgenden Woche hatte Maya sich ein Notizbuch mit einem flaschengrünen Ledereinband gekauft, welches bis heute unbenutzt auf dem weißen Sekretär in ihrem Wohnzimmer gelegen hatte. Kurz bevor Maya ihre kleine Altbauwohnung auf Södermalm verlassen hatte, war ihr Blick auf das Buch mit den jungfräulichen Seiten gefallen. Nach einem minimalen Zögern hatte sie es in ihren Trekkingrucksack gesteckt.
Unentschlossen drehte Maya den Stift hin und her. Schließlich schrieb sie stockend die ersten Worte und hielt sogleich wieder inne. Das war doch albern, was sie da über ihren Tagesablauf zusammenfaselte. Dann dachte sie an Christoffer, der sie vor zwei Wochen besucht hatte. Ein Lächeln überzog ihr Gesicht, und die Sätze begannen förmlich zu fließen. Sie ließ ihr Kennenlernen Anfang des Jahres wieder aufleben, erinnerte sich an die erste Begegnung mit dem Rechtsmediziner im Krankenhaus von Östersund. An ihr Wiedersehen in Stockholm im März, eine ganze Woche hatte Christoffer beruflich in der Hauptstadt zu tun gehabt, sie hatten sich jeden Tag gesehen. Am letzten Abend hatten sie beschlossen, einer Fernbeziehung eine Chance zu geben. Maya tauchte in ihre Erinnerungen ein und geriet nach und nach in einen Schreibflow, den sie lange nicht mehr in solcher Intensität erlebt hatte.
»Hör auf, mich ständig zu kontrollieren! Was soll denn das?«
Erstaunt hob Maya den Kopf und schaute sich nach der aufgeregten Stimme um. Ihr Blick blieb an dem jungen Paar an der Reling hängen.
»Du hast mir versprochen, dass du damit aufhörst!«
»Cecilia, bitte.« In gedämpftem Ton redete ihr Freund beschwichtigend auf sie ein. »So war das doch gar nicht gemeint.« Er war einen halben Kopf größer als sie und neigte sich zu ihr herunter.
»Das sagst du jedes Mal.« Die junge Frau gestikulierte heftig. »Alles nur Ausreden! Du willst nur nicht zugeben, dass du ein Kontrollproblem hast, Henrik.«
»Nein, ich …« Er rang mit den Händen und kämpfte sichtbar damit, nicht die Fassung zu verlieren.
»Diese Woche will ich mich mal nicht rechtfertigen müssen. Ich habe nur zugestimmt, dass …«
»Müssen wir das wirklich hier ausdiskutieren? Vor allen Leuten?«
Cecilia blickte sich um und senkte die Stimme. Trotzdem konnte Maya hören, was sie sagte: »Hör auf, mir hinterherzuspionieren, wenn du weiter mit mir zusammen sein willst.«
»Ich spioniere nicht!« Hart packte Henrik sie an der Schulter.
Augenblicklich riss sich Cecilia von ihm los. »Mach das nicht noch mal!« Wütend funkelte sie ihn an, griff nach ihrem Rucksack und rauschte davon ins Innere der Fähre. Mit versteinertem Gesichtsausdruck verharrte ihr Freund an der Reling.
Nachdenklich betrachtete Maya ihn, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihr Tagebuch. Während sie überflog, was sie zuvor geschrieben hatte, fragte sie sich, welche Konflikte sich bei Christoffer und ihr einschleichen würden, wenn sie erst einmal länger zusammen waren. Soeben hatte sie ein weiteres abschreckendes Beispiel erlebt, wie sich eine Beziehung im Laufe der Zeit verschlechtern konnte.
Frustriert klappte sie das Buch zu. Henrik stand unverändert an der Reling. Jetzt drehte er sich um, und für einen Augenblick trafen sich ihre Augen, ehe er schnell wegschaute. Urplötzlich spürte Maya erneut diese schwirrende Unruhe. Nur dass dieses Mal keine Vogelschwärme à la Hitchcock am Himmel kreisten. Etwas anderes schwelte unter der vermeintlichen Sommeridylle, etwas, das Maya nicht zu greifen bekam.
Prüfend wanderte Emelys Blick durch den großzügig geschnittenen Raum, der ihnen für die Dauer des Yogaretreats als Studio dienen würde. Die Matten lagen ordentlich gerollt in den tiefen, quadratischen Fächern des Holzregals an der Längsseite, wo sich auch Hilfsmittel wie Gurte und Blöcke sowie Meditationskissen und sorgsam gefaltete Wolldecken befanden. An der Fensterfront gegenüber hingen bodenlange, helle Vorhänge, die sich bei Bedarf während des Unterrichts zuziehen ließen. Wobei die Aussicht auf das Meer viel zu kostbar war, um sie zu verhängen, fand Emely. Von einem solchen Panorama konnten sie im Studio in der Stadt nur träumen.
Barfuß lief sie durch den Raum, ging neben einem niedrigen Beistelltisch in die Hocke und prüfte ihre Arbeitsutensilien: der Bluetooth-Lautsprecher, über den sie die Playlists ihres Smartphones abspielte, mehrere Stumpenkerzen auf einem Untersetzer, Klangschalen in unterschiedlichen Größen, einige Halbedelsteine sowie der Block mit ihren Notizen für die verschiedenen Einheiten.
Schon lange bereitete Emely ihre Stunden nicht mehr akribisch vor. Nachdem sie die Schwingungen der Teilnehmer aufgenommen hatte, wusste sie intuitiv, welche Baustellen und Blockaden sie mitschleppten und welche Asanas ihnen heute guttaten. Zu Beginn ihrer Laufbahn als Yogalehrerin hatte sie ihre Unterrichtskonzepte fast minutiös geplant und versucht, sich genauestens daran zu halten. Doch bald spürte sie, dass sie oftmals lieber eine andere Übung machen wollte als die, die auf ihrem Plan stand. Anfangs hatte sie das verunsichert. Ab und zu hatte sie ihrem Impuls nachgegeben und festgestellt, dass dann ein ganz besonderer Flow in der Gruppe entstand.
Liebevoll strich Emely über ihre Tongue Drum, die sie von einer ihrer Reisen in den Fernen Osten mitgebracht hatte. Ihre tibetische Meisterin Tara hatte sie ihr geschenkt. Sie war es gewesen, die ihr geraten hatte, auf ihre Intuition beim Unterrichten zu vertrauen. »Sieh es als eine Gabe an. Es wäre eine Schande, sie nicht zu nutzen. Als würdest du ein Geschenk ablehnen.« Mit einem Augenzwinkern hatte sie ihr die Trommel überreicht. Seither unterrichtete Emely nur noch aus dem Bauch heraus, und ihre Kurse waren immer ausgebucht.
Aus ihrer Korbtasche holte sie eine Schachtel Streichhölzer und wollte sie in die Schublade des Beistelltisches legen. Die Lade klemmte. Emely zog daran, und schließlich gab sie nach. Einige Werbebroschüren lagen darin sowie ein veralteter Plan für die Schärenboote. Zuunterst fand sie eine Fotografie. Interessiert betrachtete Emely sie. Eine Gruppe junger Menschen auf Yogamatten war darauf zu sehen, im Hintergrund erkannte sie das Pensionatet, in dem sie sich gerade befand. Alle blickten fröhlich in die Kamera. Emely drehte das Bild um, doch nirgendwo entdeckte sie ein Datum.
Sie räumte das Foto zusammen mit den Papieren in eines der leeren Fächer im Regal, dann trat sie an die bodentiefen Fenster und schaute über die Wildblumenwiese, die ab und an von Felsblöcken unterbrochen wurde. In wenigen Stunden würde sich hier eine bunte Anzahl an Zelten tummeln. Hinter der Wiese verlief ein gemähter Pfad zum Felsenstrand hinunter. Weiter links erblickte sie den kleinen Hafen, dort lagen ausschließlich Privatboote. Die öffentliche Fähre legte auf der anderen Seite der Insel an.
Sofern das Wetter nicht umschlug, würden sie einen Großteil des Unterrichts draußen abhalten. Besonders die Einheiten am frühen Morgen. Emely war ganz begeistert gewesen, als sie die hölzerne Plattform direkt am Wasser entdeckt hatte. Morgenyoga unter freiem Himmel, mitten in der Natur und mit Aussicht aufs Meer – was gab es Schöneres?
Zunächst stand jedoch das Mittsommerfest an. Einerseits freute sich Emely darauf, andererseits … Ein vages Gefühl von Angst überkam sie. Zu oft hatte auf die Euphorie am Nachmittag ein Vorfall am Abend die Festfreude gedämpft – Betrunkene, die sich nicht mehr unter Kontrolle hatten, Streitereien, die aus dem Ruder liefen und in Prügeleien endeten. Doch vielleicht würde es ja auf dieser kleinen Insel anders sein.
»Na, ist alles bereit?«
Emely wandte sich um. Sarah Wallensteen betrat den Raum und steuerte lächelnd auf sie zu, in der Hand einen DIN-A4-Ordner mit dem Logo der Om-Shakti-Yogaschule, die Emelys Lebensgefährte Leif leitete. »Das sieht ja wundervoll aus – total professionell.« Sie drehte sich einmal um die eigene Achse. »Als wäre es schon immer ein Yogastudio gewesen.«
»Es ist traumhaft hier! Ich bin einfach nur glücklich, dass dein Vater uns das Retreat auf Svartlöga ermöglicht.«
»Na ja, es liegt halt ganz in seinem Interesse, dass seine einzige Tochter so viel berufliche Erfahrung wie möglich sammeln kann.« Sarah zwirbelte eine Strähne ihrer dunklen Haare um einen Finger. »Und dass unser Sommerhaus gleich neben dem Pensionatet liegt, ist natürlich ungemein praktisch.« Die Dreiundzwanzigjährige hatte erst vor Kurzem ihr Diplom als Yogalehrerin gemacht und würde den Unterricht für die Anfänger leiten. »Brauchst du hier noch irgendwas?«
»Eigentlich nicht. Ich werde gleich Wildblumen pflücken, dann können wir den Raum damit etwas dekorieren.«
»Prima Idee. Ich bin wieder vorn bei Sue an unserer Rezeption und nehme die Gäste in Empfang.« Sie wedelte mit dem Ordner. »Hier ist die Liste der Teilnehmer.«
»Du kannst sie in eines der leeren Fächer legen, danke.«
Sarah ging zum Regal hinüber. »Was ist das?« Sie nahm die Fotografie in die Hand, die zuoberst auf den Papieren aus der Schublade lag.
»Hab ich im Beistelltisch gefunden.«
Interessiert musterte Sarah das Bild. »Das ist ja mein Vater.«
»Echt?« Emely trat neben sie. »Welcher von ihnen ist es?«
»Der hier mit dem grünen T-Shirt.« Sarah deutete auf einen hochgewachsenen Mann.
»Krass, mit den langen Haaren habe ich ihn gar nicht erkannt.«
»Ja, das war noch vor meiner Geburt.« Sarah lachte.
»Dein Vater hat damals schon Yoga gemacht?«
»Wusste ich auch nicht.«
»Und ich habe gedacht, wir sind die Ersten, die ein Yogaretreat auf Svartlöga veranstalten.«
»Zu einer Tradition ist es jedenfalls nicht geworden.« Sarah legte das Foto zurück ins Regal. »Das können wir jetzt ändern.«
Als sie hinausgegangen war, holte Emely eine Metalldose aus ihrem Rucksack, aus der sie einen Bund getrockneten Salbei nahm. Sie zündete die Kräuter an, schwenkte sie ein wenig, bis nur noch die Glut übrig blieb, und räucherte damit gründlich von Ecke zu Ecke den ganzen Raum. Anschließend riss sie die Fenster weit auf, die frische Meeresluft flutete herein, während die alten Energien hinausgetragen wurden. In den Duft des Räuchersalbeis mischten sich sanft verschiedene Nuancen der Wildblumen.
Emely schloss die Augen und atmete tief ein und aus, dabei ließ sie selbst alles, was sich in ihr angestaut hatte, über die Füße in den Boden fließen. So verharrte sie einige Minuten, bis sie sich vollkommen leer fühlte. Schließlich öffnete sie die Augen wieder und sah sich um. Jetzt waren sowohl sie als auch der Raum wirklich bereit.
Sie lief zum Regal hinüber und griff nach der Liste. Es gab jeweils eine Gruppe für Anfänger und eine für Fortgeschrittene. In der Anfängergruppe kannte sie niemanden, es schien sich ausschließlich um Neue zu handeln, die bisher nicht bei ihnen trainiert hatten. Emely schickte einen stillen Dank an Sanna, die sie erst kürzlich mit einer Reihe von PR-Tipps versorgt hatte, anhand derer sie Homepage und Flyer überarbeitet hatten. Offenbar trugen die Aktualisierungen bereits Früchte. Einige Anmeldungen kamen sogar aus dem Ausland, sodass sie sich dazu entschlossen hatten, das Retreat auf Englisch zu halten.
Als sie die Namen der zweiten Gruppe überflog, schlich sich ein Lächeln in ihre Mundwinkel. Maya Topelius – Emely freute sich riesig, dass wenigstens einer ihrer drei Herzensmenschen an dem Retreat teilnahm.
Eigentlich feierte Emely das Mittsommerfest immer in ihrer Heimat in Südschweden, zusammen mit ihren besten Freundinnen Maya, Sanna und Clara. In diesem Jahr war alles anders. Als sie ihnen vor ein paar Wochen in betretenem Ton eröffnete, dass sie diesmal nicht dabei sein konnte, weil sie bei einem Yogaretreat auf einer der äußersten Schäreninseln unterrichtete, hatte Maya begeistert in die Hände geklatscht: »Dann kommen wir eben alle zu dir in den Kurs. Mittsommer auf einer Schäreninsel, das ist doch mal was anderes.«
Sanna, die toughe Businessfrau, hatte jedoch abgelehnt: »Nehmt es mir nicht übel, aber ihr werdet auf mich verzichten müssen.« Zu ihrer Überraschung hatte sie ihnen mitgeteilt: »Meine Therapeutin meinte, es sei an der Zeit, dass ich mich endlich meinen Dämonen stelle. Ich denke, sie hat recht. Also – ich werde den Sommer im Krankenhaus in Nacka verbringen. Die psychosomatische Abteilung dort ist spezialisiert auf Menschen mit Traumata wie meinem.«
Clara wiederum blieb wie gewohnt in dem Dorf nahe dem Hafenstädtchen Kalmar, wo die vier Frauen gemeinsam aufgewachsen waren. Wie üblich zerteilte sie sich zwischen ihrem Ponyhof, dem Hofladen ihres Mannes und ihren zwei Kindern. Außerdem würde gleich nach dem Mittsommer-Wochenende das erste ihrer Reitcamps starten, die sie in den Sommerferien anbot. Nach ihrer Morgenmeditation hatte Emely kurz mit Clara telefoniert. Als Einzige von ihnen konnte man sie ohne Bedenken zu früher Morgenstunde anrufen. Die Freundin war bereits beim Ausmisten der Pferdeboxen gewesen und hatte nur zu gern eine Pause eingelegt.
Emely sah auf ihr Handy, bald war es an der Zeit, sich auf den Weg zur nördlichen Anlegestelle zu machen und Maya abzuholen.
Flüchtig glitten ihre Augen über die restlichen Namen. Plötzlich stutzte sie. Du lieber Himmel – war das nicht …? Rasch gab Emely den Namen auf ihrem Smartphone ein. Kein Zweifel. Bestürzt schaute sie auf die Ergebnisse der Suchmaschine. Wie hatte sie das übersehen können – das würde eine Katastrophe geben!
Mit einem Ruck legte das Fährboot auf Svartlöga an. Die Mittagssonne ergoss sich wie Lava auf sie herab, und Maya rückte ihre Baseballcap zurecht. Gemeinsam mit den anderen schwer bepackten Reisenden drängte sie sich auf dem vorderen Teil des Schiffs. Verstohlen beobachtete sie Cecilia und Henrik, die nur wenige Meter von ihr entfernt standen. Er bemühte sich um eine möglichst neutrale Miene, sie hingegen machte keinerlei Anstalten, ihre Verstimmung zu verbergen. Abweisend starrte sie geradeaus und gab lediglich einsilbige Antworten.
Während die Besatzung die Sjögull vertäute, ließ Maya die Landschaft auf sich wirken. Sie kam zum ersten Mal nach Svartlöga und war gespannt auf das einfache Leben hier draußen. Vom Wasser aus sah sie eine flache Insel mit vorgelagerten Felsen, kleine Badebuchten, da und dort dümpelte ein Segelboot an einem Holzsteg vor sich hin.
Sobald die Rampe befestigt war, schoben sich alle in Richtung Land. Maya entdeckte Emely in ihrem bodenlangen türkisfarbenen Kleid sofort. So, wie es aussah, hatte sie es von einer ihrer Indienreisen mitgebracht. Sie stand etwas abseits, einen überdimensionalen Strohhut auf dem Kopf, die üblichen Ketten mit Amuletten und Schutzsteinen um den Hals. Für einen Moment schien es Maya, als sähe sie bedrückt aus, doch da erblickte Emely sie und winkte ihr fröhlich entgegen. Mit ihrer Alabasterhaut musste sie sich ebenfalls vor der Sonne schützen. Immer wieder staunte Maya, dass es tatsächlich Menschen gab, deren helle Haare nicht im Laufe der Zeit nachdunkelten. Emelys Engelslocken waren noch genauso weißblond wie zur Grundschulzeit.
Lachend fielen sich die beiden Freundinnen in die Arme.
»Wie schön, dass du da bist!« Emely strahlte sie an. »Hattest du eine angenehme Überfahrt?«
»Sehr ruhig und entspannt. Nicht mal ein Anflug von Seekrankheit.«
»Perfekt. Je nach Seegang kann das nämlich durchaus eine heftige Überfahrt werden, besonders auf dem letzten Stück, wurde mir gesagt.« Emely steuerte auf einen der Lastenanhänger für Fahrräder zu, die ordentlich aufgereiht vor einem rot-weißen Häuschen parkten. »Die Wallensteens haben zwei davon auf dieser Seite der Insel. Eigentlich drei, aber einer ist wohl seit einer Weile verschwunden. Jedenfalls sind die ziemlich praktisch, da musst du dein Gepäck nicht schleppen.«
Maya lud ihren prallen Trekkingrucksack auf der Ladefläche ab, und gemeinsam zogen sie den Anhänger einen Kiespfad entlang. Zu beiden Seiten wuchsen verschiedenartige Gräser in Hüfthöhe, Farnkraut und Büsche, die sich offenbar selbst ausgesät und nie Bekanntschaft mit einer Heckenschere gemacht hatten.
»Wir haben einen kleinen Spaziergang vor uns.« Emely wirkte tiefenentspannt wie immer. »Einmal komplett über die Insel. Unser Domizil liegt auf der anderen Seite.« Nachdenklich betrachtete sie Mayas nackte Beine, die aus ihren Kakishorts herausragten. »Ich hoffe, du hast Mückenschutz drauf?«
»Am helllichten Tag?«
»Der Weg führt ein Stück durch den Wald, und ich sag dir, die Biester da freuen sich über jegliches frische Blut, das sich ihnen bietet.«
»Halleluja!«
»Willkommen in der Natur.« Emely lachte. »Aber keine Sorge, zur Not wächst hier alle naselang Spitzwegerich.«
»Stimmt, den machst du ja immer auf die Stiche, hatte ich fast vergessen.« Maya erinnerte sich, dass Emely schon als kleines Mädchen die längs gestreiften, schmalen Blätter gepflückt und als Heilmittel gegen Mückenstiche angepriesen hatte.
»Es gibt nichts, was schneller hilft. Funktioniert allerdings am besten bei ganz frischen Stichen.«
»Na, dann kann ja nichts mehr schiefgehen. Auf zu den Blutsaugern!«
Eine Weile liefen sie plaudernd den Pfad entlang, der bald durch den angekündigten Wald führte. Es war ein lichtdurchfluteter Mischwald, in dem viele Birken wuchsen. Für einen Moment dachte Maya an die dichten Nadelwälder Nordschwedens, in denen Pär und sie im vergangenen Winter ermittelt hatten. Größer hätte der Unterschied kaum sein können.
»Autsch!« Mit der freien Hand schlug Maya sich auf den Oberschenkel.
Sogleich blieb Emely stehen, setzte den Anhänger ab und musterte den Wegrand. Sie machte zwei Schritte, ging neben einer kleinen Pflanze in die Hocke und pflückte ein Blatt.
»Schön durchkauen und auf den Stich damit.« Sie kam zu Maya zurück und reichte es ihr.
»Danke, du Gute!« Maya versorgte ihren Mückenstich, und sie liefen weiter.
»Nur noch ein kurzes Stück, dann haben wir den Wald hinter uns. Übrigens gibt es auf der Insel sogar eine Heidelandschaft.«
»Und was hat Svartlöga noch Spannendes zu bieten?«
»Außer Natur und Ruhe nicht viel.« Emely schmunzelte. »Das nächste Lebensmittelgeschäft liegt auf Rödlöga. Mit dem Boot dauert’s eine Viertelstunde dorthin.«
»Deshalb haben die anderen Reisenden ihren halben Hausrat mitgebracht.« Maya dachte an all die Taschen, Tüten und Kisten auf der Fähre. »Und wir sind also in einem Gästehaus untergebracht? Hätte nicht gedacht, dass es hier so was gibt.«
»Gibt es auch nicht. Das Pensionatet hat ein paar Gästezimmer, man kann auch eine Hütte mieten. Die meisten haben aber die günstigste Alternative gewählt und zelten auf der Wiese hinter dem Pensionatet. Und dann ist da noch so ein kleines Häuschen, eigentlich eher ein einziger Raum mit zwei Betten. Dort können wir wohnen. Also vorausgesetzt, du magst dir ein Zimmer mit mir teilen.«
»Ist das ein Scherz? Natürlich! Wie in alten Zeiten.«
»Ich verspreche hoch und heilig, dir nicht schon am frühen Morgen dein Tageshoroskop vorzulesen.« Lachend strich sich Emely ihre Locken zurück.
Maya stimmte in ihr Lachen ein. »Damit hast du damals in Italien Sanna fast in den Wahnsinn getrieben.«
»Apropos: Hast du was von ihr gehört?«
»Ich habe sie vorgestern noch auf einen Kaffee getroffen, ehe sie losgefahren ist. Während ihres Klinikaufenthalts ist sie nur eingeschränkt über ihr Handy zu erreichen.«
»Bewundernswert, wie sie das durchzieht.«
»Ganz Sanna halt. Wenn sie etwas macht, dann zu hundert Prozent.«
Sie erreichten das Ende des lichten Wäldchens und schlenderten zwischen üppigen Wiesen entlang. Hier und da kamen sie an Sommerhäuschen und auch einigen Bauernhöfen vorbei.
»Werden die noch bewirtschaftet?« Interessiert betrachtete Maya eine baufällige Scheune längs des Weges. »Ich sehe jedenfalls nirgendwo Tiere auf den Weiden.«
»Ich habe gehört, die letzte Kuh verschwand 1969 von der Insel.«
»Schade eigentlich, würde hübsch aussehen, so ein paar schwarz oder braun Gefleckte oder eine Schafherde.«
Emely nickte. »Nun ist es nicht mehr weit, hinter der nächsten Kurve liegt das kleine Dorf. Und das Meer.« Sie wies mit dem linken Arm schräg nach vorn. »Wir sind ganz nah am Strand. Wenn wir das Fenster öffnen, hörst du vom Bett aus das Meeresrauschen.«
»Ein Traum.« Maya sog den Duft der Wildrosensträucher ein, an denen sie gerade vorbeiliefen. Sie spürte, wie sich schon jetzt die Entspannung in ihr ausbreitete. Das würden herrliche Tage werden.
»Siehst du die hölzerne Plattform dort am Wasser?« Erneut deutete Emely vor sich. »Dort werden wir die Morgensessions abhalten.«
»Ich kann’s kaum erwarten. Wobei ich nach den letzten Wochen der Abstinenz wohl ziemlich steif bin.«
»Ach was.« Emely machte eine wegwerfende Geste. »Das kommt im Nu zurück. Ich freu mich so, dass du dabei bist, Maya!« Für einen Moment legte sich ein Schatten über ihr Gesicht.
»Stimmt was nicht?«
»Nein, nein.«
Emelys Antwort kam ein wenig zu schnell. Prüfend schaute Maya sie an, doch sie hatte den Blick schon wieder geradeaus gerichtet.
»Da vorn, das ist das Pensionatet, darin haben wir ein Yogastudio eingerichtet.«
Maya betrachtete das schlichte rote Holzhaus mit den zahlreichen Sprossenfenstern und der Veranda, die sich rund um das ebenerdige, rechteckige Gebäude zog. Auf dem Schornstein hatte es sich eine Möwe bequem gemacht. Pensionatet war in eine Holztafel geschnitzt, die über dem Eingang hing. Mayas Augen wanderten zum Haus, das dahinterstand. »Aber hallo!«, entfuhr es ihr. Anders als die Sommerhäuser rundherum leuchtete ihr dieses mit einer blütenweißen Fassade und modernen Fenstern entgegen. Auch von der Größe stach es deutlich hervor. Der mittlere Trakt war zweistöckig und besaß eine geräumige, überdachte Veranda, die nach oben in einen Balkon mündete. Zu beiden Seiten fügte sich ein einstöckiger Nebenflügel an. »Was ist denn das für ein Palast? Der passt aber nicht so richtig hierher.«
»Dort wohnt Carl Wallensteen. Er besitzt hier ziemlich viel Land, unter anderem das Grundstück, auf dem das Pensionatet steht. Unser Gästehäuschen liegt genau zwischen den Häusern.« Emely deutete auf ein winziges rotes Holzhaus mit hübschen blauen Fensterläden und Kästen mit rankenden Geranien auf der Fensterbank. »Carl hat das Haupthaus vor einigen Jahren renovieren und umbauen lassen. Er meinte, im nächsten Schritt wolle er das Gästehäuschen angehen. Danach will er es wohl über Airbnb anbieten.«
»O weh, dann ist es wohl bald vorbei mit dem rustikalen Charme, wenn er dieses süße Häuschen im gleichen Stil modernisiert. Wie seid ihr denn an ihn gekommen?«
»Carl ist mit Leifs Vater bekannt.« Emely erzählte, dass ihr Lebensgefährte schon als Kind auf Svartlöga war. »Leif und Carls Tochter Sarah kennen sich ewig, er ist quasi ihr großer Bruder. Kein Wunder, dass sie auch mit dem Yoga angefangen hat, ich glaube, sie hat ihm nachgeeifert.« Sie wechselte die Hand am Griff des Karrens. »Als er Sarah gegenüber erwähnt hat, dass wir einen Ort am Meer für ein Retreat suchen, hat sie sofort ihren Vater gefragt.«
»Aber sie leben nicht das ganze Jahr hier?«
»Nein, sie sind Sommergäste, so wie fast alle auf Svartlöga. Ich weiß gar nicht, ob heutzutage überhaupt noch jemand permanent auf der Insel wohnt. Die Fähren stellen zumindest ab Anfang Dezember ihren Betrieb ein, dann kommt man hier nur mit einem eigenen Boot hin.« Emely rückte ihren Strohhut zurecht. »Jedenfalls lebt man auf Svartlöga noch sehr urtypisch, du wirst sehen. Back to the Roots: kein Strom, keine Wasserleitungen, dafür eine Wasserpumpe hinter dem Haus.«
»Das heißt, wir grillen unsere Würstchen über dem Lagerfeuer?«
»Das können wir machen. Wir haben aber auch einen Gasherd in der Küche. Der Kühlschrank wird durch Solarstrom betrieben, ebenso die wenigen Steckdosen, an denen wir die Handys laden können. Es gibt Plumpsklos«, zählte Emely weiter auf, »und statt Duschen badet man im Meer. Sehr gesund, übrigens, so ein eiskaltes Morgenbad.«
»Um Himmels willen!«
»Immer noch eine badkruka?«
Maya grinste zurück. »Ich werde wohl mein Leben lang eine Warmduscherin bleiben.«
»Ich gebe nicht auf. Irgendwann wirst du einsehen, wie großartig das Kaltbaden ist.«
Inzwischen hatten sie fast das Pensionatet erreicht. Unvermittelt fragte Emely: »Wie geht’s Christoffer?«
»So weit gut. Er hat über Mittsommer Bereitschaftsdienst.«
»Es läuft gut mit euch, nicht wahr?«
»O ja.« Maya nahm ihren Rucksack vom Lastenanhänger. »Kein Vergleich zu dem Desaster mit Jonas.«
»Zu dem hast du keinen Kontakt mehr, oder?«
»Schon seit Monaten nicht. Und ehrlich, das kann gern so bleiben.« Manchmal ärgerte sich Maya noch über die kostbare Zeit, die sie mit ihrem Ex-Freund vergeudet hatte. Knapp zwei Jahre hatte sie versucht, mit dem Schauspieler so etwas wie eine Beziehung zu führen. Doch selbst wenn ihre Freundinnen und sogar Pär sie immer wieder liebevoll darauf aufmerksam gemacht hatten, dass ihr dieser Mann nicht guttat, hatte sie es nicht geschafft, sich von ihm zu trennen. Da hatte erst ein Rechtsmediziner aus Umeå daherkommen müssen. In diesem Moment fiel ihr Emelys seltsamer Gesichtsausdruck auf. »Ist alles in Ordnung?«
»Ach, ich habe vorhin die Teilnehmerliste gesehen und …« Emelys Blick wich ihrem aus.
»Was denn?«
»Ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll.«
»Spuck’s einfach aus.«
»Also, ich hatte echt keine Ahnung …«
Maya blieb stehen. »Emely, was ist los?«
»Jonas ist dabei.«
»Bei dem Retreat? Nicht wirklich, oder?«
»Tut mir leid.« Emely senkte den Blick. »Das Schicksal will dich wohl herausfordern.«
»Das hat mir gerade noch gefehlt!« Maya raufte sich die Haare. »Nebeneinander beim Sonnengruß, na bravo! Ich wollte hier ausspannen, nicht irgendwelchen alten Beziehungskram aufarbeiten.«
Emely schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. »Willkommen in der Welt des Yoga. Im Übrigen bedeutete das Wort ursprünglich, also im Sanskrit, das Anschirren von Zugtieren vor einen Wagen.«
»Ich lasse mich definitiv nicht vor Jonas’ Wagen spannen!«
»Aber vielleicht solltest du dich doch mal intensiv mit deinen Gefühlen auseinandersetzen.« Ihr Lächeln schwenkte ins Aufmunternde. »Muster erkennen, um gestärkt in deine neue Beziehung zu gehen.«
Statt einer Antwort warf Maya ihr nur einen skeptischen Blick zu.
Zwei Männer kamen ihnen entgegen, beide mit Panamahüten, der eine sportlich, der andere gut genährt. Im Vorbeigehen nickten sie Emely und ihr zu.
»Die sehen auch so aus, als gehörten sie zu diesen Yogafritzen«, hörte Maya den Fülligen sagen.
»Ach, Ulf … vielleicht wird das alles gar nicht so schlimm.«
»Wechsle jetzt bloß nicht die Seiten, nur weil du ein paar hübsche Frauen gesichtet hast. Ich sag’s dir noch mal: Diese New-Age-Typen sind bloß der Anfang vom Ende unserer Inselidylle!«
Maya sah sich nach den beiden um. Nicht allen hier auf der Insel schien ihr Yogaretreat zu gefallen.
Mit einem kräftigen Schlag versenkte Henrik den letzten Hering im Gras. Es tat gut, auf diese Weise einen Teil seines Frusts loszulassen. Ein Yogaevent auf einer Insel ohne Wasser und Strom – was hatte er sich nur dabei gedacht, zu einem solchen Unsinn Ja zu sagen? Wobei – wenn er ehrlich zu sich war, hatte er quasi darauf gedrängt, Cecilia zu begleiten. Aber diesen Gedanken schob er lieber gleich wieder weg.
Unauffällig schielte er zu ihr hinüber, sie stand drei Zelte weiter und knüpfte gerade Kontakt mit einem Typen in abgeschnittenen Jeans. Natürlich! War ja klar, dass es nicht lange dauern würde, bis seine Freundin jemanden zum Rumflirten gefunden hatte. Henrik betrachtete den Mann genauer. Durchtrainiert, volles braunes Haar, das er sich mit einer coolen Geste ständig aus der Stirn strich. Für einen Moment kam er Henrik bekannt vor, doch woher, wusste er nicht. Niemand aus dem Büro, auch nicht aus dem Freundeskreis. Vielleicht war er ihm mal in der Lunchpause in der Stadt über den Weg gelaufen? Bei einer Afterhour oder irgendeiner Party? Egal – dass Cecilia ihn schon wieder links liegen ließ, fuchste ihn.
Seit einer Weile hegte Henrik bereits den Verdacht, dass sie ihn betrog. Angefangen hatte es vor ein paar Monaten, ganz harmlos zunächst mit einer Textnachricht am späten Abend. Anders als gewöhnlich war Cecilias Handy nicht im Stummmodus. Sie hatte erklärt, es sei eine dringende Mitteilung ihres Chefs gewesen wegen eines Meetings am kommenden Tag. Henrik hatte ihr nicht geglaubt. Am nächsten Morgen war er weit vor ihr erwacht. Ihr Telefon hatte wie üblich auf dem Nachttisch gelegen, er hatte nicht widerstehen können.
Es gab keine Nachricht vom gestrigen Abend. Cecilia musste sie gelöscht haben. Ein erster Samen des Misstrauens pflanzte sich in ihm ein und begann zu keimen.
Irgendwann fiel ihm auf, dass sie ihr Handy keine Sekunde mehr aus den Augen ließ. Ausgerechnet Cecilia, die bisher Meisterin darin gewesen war, das Gerät zu verlegen. Mindestens einmal am Tag hatte er sie früher anrufen müssen, damit sie es fand.
Er hatte den Moment abgepasst, als sie nach dem Sport eine lange Dusche nahm. Das Handy hatte im Flur auf der Kommode unter dem Spiegel gelegen. Kurz hatte er mit sich gehadert. Hart hatte sein Herz gegen die Rippen geklopft, alles in ihm hatte sich zusammengezogen. Was, wenn er tatsächlich etwas finden würde, das ihre Untreue bewies?
Das Display forderte ihn auf, einen Zahlencode einzugeben. Wie üblich gab er ihr Geburtsdatum ein. Es funktionierte nicht. Henrik stutzte. Cecilia hatte nie einen anderen Code benutzt. Die Erkenntnis war wie ein Schlag in den Magen gewesen.
Henrik öffnete den Eingang zum Zelt und legte die Isomatten hinein.
»Ich bin mal auf Erkundungstour!« Ein knappes Winken, dann drehte Cecilia sich um und schlenderte mit Mister Cool in Richtung Strand davon.
Ernsthaft jetzt?! Henrik schnaubte. Am liebsten hätte er das Zelt wieder eingepackt und wäre sogleich zurück nach Stockholm gefahren. Aber die Fähren gingen bloß zweimal pro Tag, und er hatte keine Ahnung, wann die nächste fuhr.
»Alles fein?« Die Frau, die gerade ein Igluzelt neben ihnen aufbaute, schaute ihn aufmerksam an. Sie war klein, hatte eine wilde dunkle Lockenmähne, und ihr Englisch färbte ein starker Akzent. Französisch? Mit Sprachen hatte Henrik es noch nie so gehabt.
»So weit ja«, quetschte er zwischen den Zähnen hervor.
Die Frau lächelte und machte ein paar Schritte auf ihn zu. »Salut, ich bin Penelope.« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.
»Henrik.« Er war überrascht über ihren forschen Händedruck.
»Ich weiß immer gern, wer meine Nachbarn sind.«
Henrik wusste nicht, was er darauf sagen sollte, deswegen nickte er nur und schlenkerte den Gummihammer hin und her.
»Ich bin allein hier.« Penelope zog ein Lederetui aus der Gesäßtasche ihrer abgeschnittenen Jeans, hockte sich hin und begann, sich eine Zigarette zu drehen.
Rauchen und Yoga? Verständnislos beobachtete Henrik, wie sie mit geübten Griffen den Tabak zurechtschob.
»Auch eine?«
»Ich rauche nicht.«
»Sehr vernünftig. Ich sollte es auch lassen.« Nach der Leichtigkeit ihres Tons zu schließen, war es Penelope damit nicht wirklich ernst. »Jedenfalls finde ich es sehr beruhigend, einen starken Mann im Nachbarzelt zu wissen. Zu Hause habe ich einen Baseballschläger unterm Bett liegen, aber der hat nicht mehr in den Rucksack gepasst.« Sie ließ ein perlendes Lachen hören.
»Hm.« Henrik überlegte, ob das mit dem Baseballschläger ein Scherz gewesen war. Diesem aufgedrehten Wesen würde er glatt zutrauen, dass es stimmte. Auf jeden Fall standen die Zelte hier für sein Empfinden viel zu nah. Das nächste Mal konnte Cecilia so einen Trip ohne ihn machen! Andererseits hätte er dann nicht mehr im Blick, was sie so trieb. Frustriert starrte Henrik zum Meer hinüber, wo Cecilia und Mister Cool über die Felsen spazierten.
Zum Lunch geräucherter Lachs, eingelegte Heringshappen in unterschiedlichen Variationen und am Nachmittag Erdbeertorte – das gehörte zu einem richtigen Mittsommerfest so wie Geschenke und der klassische julbord mit traditionellem Essen zu Weihnachten. Statt um den geschmückten Weihnachtsbaum tanzte man am längsten Tag des Jahres um die mit Bändern und Blumen dekorierte midsommarstång.
Das Fest war schon in vollem Gang, als Maya und Emely zum Festplatz hinüberliefen. Überall hatten es sich Familien, befreundete Paare und Gruppen von Jugendlichen bequem gemacht. Auf Picknickdecken oder einfach im Gras, Körbe und Strandtaschen um sich herum.
»Da drüben sind die anderen. Sarah und Carl sind auch dabei, wollen wir zu ihnen gehen?«
»Inklusive Jonas«, murmelte Maya.
Ihr Ex hatte sie sofort gesichtet und grüßte breit lächelnd zu ihr herüber. Höflichkeitshalber winkte sie zurück und folgte dann Emely, die bereits auf Sarah in ihrem weiß-blau gestreiften Sommerkleid zusteuerte. Neben ihr stand ihr Vater Carl Wallensteen mit Strohhut und verwaschenen Jeans zum blütenweißen Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte.
Bald darauf saßen sie gemeinsam mit ihnen und einigen Teilnehmern des Retreats auf einer rot karierten Decke, in deren Mitte die mit Erdbeeren und Sahne üppig garnierte Torte thronte. Das Mittagessen hatten sie zuvor an dem langen Tisch auf der Terrasse des Pensionatet eingenommen. Ganz unyogamäßig hatten sie dazu Weißwein getrunken. Jetzt, zu Kaffee und Kuchen, gab es Sekt.
Maya hob ihr Glas. »Ich hatte mir das Essen auf einem Yogaretreat irgendwie anders vorgestellt.«
»Ab morgen gibt es nur noch Yogitee und gesunde vegane Kost.« Lachend stieß Emely mit Maya an.
»Morgen ist irgendwann, und irgendwann ist nie, hat mir mal eine gute Freundin gesagt.« Vielsagend zwinkerte Maya ihr zu.
»Sehr weise, diese Freundin. Wer könnte das wohl gewesen sein?« Emely schmunzelte. »Na ja, ich schränke ein: Hier und da ist eine Ausnahme durchaus legitim. Besonders an Festtagen.«
»Na, dann Skål!« Carl Wallensteen prostete ihnen vom anderen Ende der Decke her zu. »Und keine Sorge: Für die entgiftende und entschlackende Ernährung in den nächsten Tagen ist alles vorbereitet.« Die offene und freundliche Ausstrahlung des sportlich wirkenden Mittfünfzigers sprach Maya sofort an. Seine Tochter wirkte neben ihm beinahe winzig und mädchenhaft.
Maya betrachtete die komplett mit Birkenlaub umwickelte midsommarstång, die verschiedene Attribute vereinte: Kreuz, Pfeil, zwei Kreise. Christliches und Heidnisches, Hinweise auf die Fruchtbarkeit. Sanna hatte erst neulich gemeint, es sei total absurd, all die Feministinnen, die um dieses Phallussymbol tanzen würden.
Um den Mast herum hatte sich eine Band aufgebaut, bestehend aus drei Gitarren, einem Akkordeon, zwei Geigen und einer Oboe, die einen Mittsommerklassiker nach dem anderen spielte. In einem ausladenden Kreis tanzten rundherum die Inselurlauber, groß wie klein. Einige wenige trugen altertümliche Trachten, die meisten hatten moderne Sommerkleidung an, von praktischen und bequemen Shorts-und-T-Shirt-Varianten bis zu edlen Sommerroben nach dem neuesten Chic. Allesamt hielten sie sich an den Händen und sangen die typischen Kinderlieder: Räven raskar över isen, Små grodorna, Björnen sover und Karussellen.
Nachdem sie eine Weile zugeschaut hatte, wandte Maya sich an Emely. »Krass, wie sehr sich die Bräuche ähneln.«
»Was genau meinst du?«
»Na, Räucherlachs und Hering essen wir zu jul auch, und sogar die Lieder sind dieselben wie beim Tanzen um den Weihnachtsbaum.«
»Stimmt. Stört mich aber nicht im Geringsten.« Emely stand auf und wischte sich einige Krümel von ihrem weißen Kleid, das mit Lochstickereien an Saum und Ausschnitt verziert war. »Komm, lass uns mittanzen!« Sie streckte Maya die Hand hin und zog sie hoch.
»Ich schließe mich euch an.« Eine junge Frau mit schwarzbrauner Lockenpracht, um die sie sicher oft beneidet wurde, erhob sich ebenfalls. Sie trug ein dunkelrotes Leinenkleid mit raffinierter Schnürung. Maya erinnerte sich, dass sie aus Frankreich kam. Penelope hieß sie, halb Französin, halb Spanierin. Aus der Provence, kleine Tochter, nahm gerade eine kurze Auszeit vom Familienalltag, überraschend dunkle Stimme – das waren die Stichwörter, die Maya zu ihr abgespeichert hatte.
Zu dritt liefen sie zum Mittsommermast hinüber und reihten sich in den Kreis der Tanzenden ein. Schon nach dem ersten Lied spürte Maya, wie eine fröhliche, fast kindliche Leichtigkeit sie ergriff. Mit einem Mal fühlte sie sich verbunden mit all den wildfremden Menschen – sie mochte diese Tradition. Ausgelassen tanzten sie um den geschmückten Mast herum, die Musiker spielten unermüdlich, und nach einer Weile stand Maya der Schweiß auf der Stirn.
»Ich brauche eine Pause!« Sie ließ Emelys und Penelopes Hand los und trat nach hinten, während die beiden weiterwirbelten. Am Rand des Festplatzes blieb sie stehen und beobachtete die Tanzenden, die sich mal zu Paaren zusammentaten und sich dann wieder als Gemeinschaft im Kreis bewegten.
In diesem Moment entdeckte sie Jonas, der genau gegenüber von ihr eine Blondine an der Hand hielt. War er etwa mit einer neuen Freundin hergekommen? In der nächsten Sekunde erkannte Maya die Frau. Das war doch Cecilia! Na, das würde ihren Henrik vermutlich nicht begeistern.
Maya drehte sich um und lief zu der Decke zurück, auf der Carl Wallensteen zusammen mit einem älteren Mann saß. Er stellte ihn ihr als Tage Brorsson vor, »der Historiker hier auf der Insel. Wenn du irgendeine Frage über die Geschichte von Svartlöga hast, wende dich am besten an ihn.« Carl klopfte Tage kameradschaftlich auf den Rücken.
»Was für Vorschusslorbeeren.« Verlegen winkte Tage ab. »Aber in der Tat, die Vergangenheit dieser Insel zu erforschen, ist mein Hobby, und da gibt es tatsächlich einiges zu entdecken.«
»Tages Frau Solveig ist eine der Musikerinnen.« Carl deutete auf die Band beim Mittsommermast.