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Ein neuer Fall für Kommissarin Hannah Richter Endlich Urlaub! Kommissarin Hannah Richter reist in die Provence, um ihre Freundin Penelope zu besuchen. Doch die Idylle trügt. Als Penelopes Nachbar tot in seinem Haus gefunden wird, übernimmt Hannahs ehemalige Kollegin die Ermittlungen. Sie bittet Hannah, Augen und Ohren in der Nachbarschaft offen zu halten. Penelope erinnert sich indes, dass der Tote vor seinem Ableben Andeutungen über ein düsteres Geheimnis in seiner Vergangenheit gemacht hatte. Hannahs Neugier ist geweckt und sie verfolgt die Spur ihrer Freundin. Dabei ahnt die junge Kommissarin nicht, dass der Täter ihr bereits auf den Fersen ist … Von Sandra Åslund sind bei Midnight by Ullstein erschienen: Mord in der Provence (Hannah Richter 1) Tödliche Provence (Hannah Richter 2)
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Sandra Åslund, geboren 1976, ist am Niederrhein nahe der holländischen Grenze aufgewachsen. Sie studierte zunächst Lehramt, bevor sie sich zur Maskenbildnerin an der Oper Köln ausbilden ließ. Aus Liebe zum Schreiben absolvierte sie zusätzlich ein Fernstudium in Kreativem Schreiben an der Textmanufaktur. Die Autorin veröffentlichte unter ihrem Mädchennamen Sandra Maus bereits diverse Kurzgeschichten und Erzählungen in Anthologien sowie den Erzählband »Vielleicht war es nur der Wind«. Sie ist Mitglied im Autorenkreis Würzburg und bei den Mörderischen Schwestern. Von 2007 bis 2011 moderierte und gestaltete sie das Kleinkunstformat LiteraturLounge. Mit ihrem Roman »Mord in der Provence« startete die Autorin ihre Krimireihe um die Kölner Kommissarin Hannah Richter. Sandra Åslund lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Berlin.
Ein neuer Fall für Kommissarin Hannah RichterEndlich Urlaub! Kommissarin Hannah Richter reist in die Provence, um ihre Freundin Penelope zu besuchen. Doch die Idylle trügt. Als Penelopes Nachbar tot in seinem Haus gefunden wird, übernimmt Hannahs ehemalige Kollegin die Ermittlungen. Sie bittet Hannah, Augen und Ohren in der Nachbarschaft offen zu halten. Penelope erinnert sich indes, dass der Tote vor seinem Ableben Andeutungen über ein düsteres Geheimnis in seiner Vergangenheit gemacht hatte. Hannahs Neugier ist geweckt und sie verfolgt die Spur ihrer Freundin. Dabei ahnt die junge Kommissarin nicht, dass der Täter ihr bereits auf den Fersen ist … Von Sandra Åslund sind bei Midnight by Ullstein erschienen:Mord in der Provence (Hannah Richter 1)Tödliche Provence (Hannah Richter 2)
Sandra Åslund
Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de
Originalausgabe bei MidnightMidnight ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinMai 2018 (1)
? Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Umschlaggestaltung:zero-media.net, M?nchenTitelabbildung: ? FinePic?Autorenfoto: ? Sascha Nau
ISBN 978-3-95819-126-6
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Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Freitag, 05. Januar 1962
Kapitel 1
Donnerstag, 18. September 2014
Kapitel 2
Kapitel 3
Freitag, 19. September 2014
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Samstag, 20. September 2014
Kapitel 7
Sonntag, 21. September 2014
Kapitel 8
Montag, 22. September 2014
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Dienstag, 23. September 2014
Kapitel 12
Kapitel 13
Mittwoch, 24. September 2014
Kapitel 14
Donnerstag, 25. September 2014
Kapitel 15
Freitag, 26. September 2014
Kapitel 16
Samstag, 27. September 2014
Kapitel 17
Sonntag, 28. September 2014
Kapitel 18
Kapitel 19
Montag, 29. September 2014
Kapitel 20
Dienstag, 30. September 2014
Kapitel 21
Mittwoch, 1. Oktober 2014
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Donnerstag, 2. Oktober 2014
Kapitel 27
Freitag, 10. Oktober 2014
Epilog
Sonntag, 9. November 2014
Danksagung
Glossar
Stammbaum
Playlist
Serges Reisekit
Rezept f?r Penelopes Badepralinen
Leseprobe: Mord in der Provence
Empfehlungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Jeder Mensch ist ein Abgrund;es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.
Georg Büchner, Woyzeck
»Du bist raus.« Die Kunstdrucke an der Wand gegenüber verschwammen vor seinen Augen zu einem grellen Farbenbrei. Wie sollte es weitergehen? »Du bist raus und hast ab sofort nichts mehr mit uns zu tun. Die Papiere erhältst du mit der Post.«
Er fühlte einen Kloß im Hals und schluckte. Seit Jahren hatte er nicht geweint. Wann hatte er das letzte Mal seine Tränen auf den Wangen gespürt? Jetzt war er kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Reiß dich zusammen, reiß dich zusammen! Es half nichts. Die Worte, die er eben vernommen hatte, hallten in seinen Ohren wider, füllten seinen Kopf aus, wanderten in seinen Körper und schwollen dort an, bis für nichts anderes Platz war. »Du bist raus und allein für diese Dinge verantwortlich. Falls du dir überlegen solltest, etwas zu unternehmen, irgendwelche Maßnahmen einzuleiten – denk daran, du hast nichts gegen uns in der Hand.«
Er wusste, dass es stimmte. Auch wenn er sich anfänglich gesträubt hatte, stand nun überall seine Unterschrift. Nur seine Unterschrift. Er war gefangen in einem Netz, das er nie hatte spinnen wollen. Die Warnzeichen hatte er gesehen, hatte noch versucht, einen Ausweg zu finden, erst vor wenigen Tagen. Zu spät. Die Katastrophe war eingetreten. Sie hatten einen Judas Iskariot aus ihm gemacht.
Langsam stieg er die Treppe zum Dachboden hinauf. Bleischwere Gewichte an seinen Beinen zogen ihn bei jeder Stufe wieder hinunter. Je näher er dem Ende der Treppe kam, desto stockender wurden seine Schritte. Aus dem Abgrund, in den er geblickt hatte, gab es kein Entkommen. Dennoch weigerte sich sein Verstand, diese Tatsache zu akzeptieren. Welch ein Segen, dass er gerade allein war. Oder vielleicht nicht? Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn jemand bei ihm gewesen wäre, in dieser nachtschwarzen Stunde? Wie hätte er dann reagiert?
Er war oben angelangt und sperrte die Tür auf, sie quietschte in den Angeln. Bis zu dem alten, massiven Schrank war es nicht weit. Und doch kam es ihm vor, als würde es eine Ewigkeit dauern, diese letzten Meter hinter sich zu bringen. Bei jedem Schritt dieselben Fragen: Gab es noch einen Ausweg? Hatte er etwas übersehen? Etwas, das eine andere Lösung offenbarte?
Dann geschah das Wunderliche: Als er den Schrank erreichte und die Schubladen mit den rostigen Griffen vor sich sah, verschwanden mit einem Mal alle Fragen und Zweifel. Lösten sich vor seinem inneren Auge auf wie die Rauchschwaden der Pfeife, die er vorhin genossen hatte. In einem anderen Leben. Ehe der Anruf kam.
Zurück blieb nichts als eine mechanische Klarheit. Er zog die unterste Schublade heraus. Räumte die Schachteln, die obenauf gestapelt waren, beiseite. Bis das schwarze Etui im schwachen Licht glänzte. Er nahm es an sich wie einen Schatz. Kostbar und bedrohlich zugleich. Hielt es für einen Moment in den Händen, ehe er es öffnete. Da lag sie, in roten Samt eingeschlagen. Hatte auf ihn gewartet. All die Jahre. Auf diesen Tag.
»Matthieu ist verschwunden!« Der Ruf von Alice Joselet riss Hannah aus dem Rhythmus ihres Laufs.
Auch im Urlaub versuchte die Kommissarin ihr morgendliches Training zu absolvieren. Vor fünf Tagen war sie in der Provence angekommen, und bisher hatte sie eisern durchgehalten.
Im vergangenen Sommer hatte Hannah im Rahmen eines EU-Austauschprogramms drei Monate bei der provenzalischen Polizei verbracht. Ihre erste Station hatte sie nach Vaison-la-Romaine geführt, jene kleine Touristenstadt im Vaucluse, die sich rühmte, Frankreichs größtes galloromanisches Ausgrabungsgelände zu beherbergen. Da Hannahs Leidenschaft die römische Geschichte war, hatte es neben der Arbeit viel für sie zu entdecken gegeben. Einige der Menschen, die sie während ihres Aufenthalts getroffen hatte, waren inzwischen enge Freunde geworden, und so hatte sie beschlossen, in diesem Jahr ihren Urlaub hier zu verbringen.
»Mademoiselle Hannah!« Die alte Frau winkte sie zu sich heran. Wie üblich trug sie ihre weißen Haare in der Mitte gescheitelt und zu einem ordentlichen Nackenknoten gebunden. »Haben Sie einen Moment Zeit für mich?«
Ihrem Gesichtsausdruck nach war etwas Ernstes geschehen, und so joggte Hannah näher und öffnete die niedrige Gartenpforte. »Bonjour, Madame Joselet, was ist passiert?«
»Ach, kommen Sie doch auf einen Tee herein.«
Hannah folgte der schmalen Frau, die trotz ihrer mehr als siebzig Jahre kein bisschen gebrechlich wirkte, ins Innere des kleinen, hell verputzten Hauses.
Bald darauf saß sie auf einer Holzbank auf der Terrasse, einen Becher schwarzen Tee vor sich, und sah Alice Joselet erwartungsvoll an. »Was haben Sie denn auf dem Herzen?«
»Matthieu ist vorgestern Abend nicht nach Hause gekommen.« Bekümmert umklammerte die betagte Frau mit den Händen ihre Tasse. »Das ist an sich keine große Geschichte, er bleibt öfter über Nacht weg – alt genug ist er ja.« Sie lächelte matt. »Aber er hat sich gestern den ganzen Tag nicht blicken lassen, und das ist ziemlich ungewöhnlich. Er weiß genau, dass er mein Ein und Alles ist, und …« Sie zögerte kurz, dann schaute sie Hannah direkt an. »Ich bin sicher, dass ihm etwas passiert ist! Sie sind Polizistin, ich habe gedacht …«
»Nun ja, Madame Joselet, ich bin im Urlaub. Sie wissen ja, dass ich in Köln, also in Deutschland, lebe. Haben Sie schon die örtliche Polizei alarmiert?«
Alice Joselet stöhnte auf. »Die von der police municipale sind doch allesamt unfähig! Und diesen Bernard konnte ich von Anfang an nicht leiden.«
Hannah verkniff sich ein Grinsen. Auch sie hatte während ihrer Zeit bei der Gendarmerie von Vaison ihre Schwierigkeiten mit Capitaine Claude-Jean Bernard gehabt. Zu guter Letzt hatten sie eine versöhnliche Ebene gefunden. Allerdings war der Weg dahin steinig und von einigen heftigen Auseinandersetzungen gezeichnet gewesen.
Hannah nippte an ihrem Tee und versuchte sich die wenigen, kurzen Gespräche ins Gedächtnis zu rufen, die sie mit Alice Joselet geführt hatte. War da schon einmal der Name Matthieu gefallen? Madame war seit einigen Jahren Witwe. Einen neuen Lebensgefährten hatte sie nicht erwähnt, ihr einziger Sohn lebte in Aix-en-Provence und besuchte sie nur gelegentlich.
»Wie … sieht er denn aus?«, begann Hannah vorsichtig.
»Na, recht groß ist er, ein bisschen übergewichtig … er ist halt faul geworden in der letzten Zeit. Früher, da war er so agil.«
»Haarfarbe?«
»Rot … aber …«
»Und die Augen?«
»Grün.«
»Und der Name war … Matthieu?«
»Genau.«
»Und wie weiter?«
»Weiter?« Die alte Frau sah Hannah verständnislos an.
»Na, der Nachname.«
»Ach so. Hat er nicht. Nur Matthieu.«
»Hm. Wie lange kennen Sie diesen Matthieu schon?«
»Kennen? Na, quasi seit seiner Geburt.«
»Wie alt ist Matthieu?«
»Im Februar ist er sechzehn geworden.«
Ein Teenager also. Da würde sie wohl doch Bernard informieren müssen.
»Ein stolzes Alter für einen Stromer wie ihn«, fügte Alice Joselet hinzu.
Hannah versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie keine Ahnung hatte, wovon ihr Gegenüber sprach. »Also, ich fasse mal kurz zusammen: Der verschwundene Junge ist groß und ein bisschen übergewichtig, hat rote Haare und grüne Augen und ist sechzehn Jahre alt.«
»Was meinen Sie mit ›Junge‹?«
»Na, sprechen wir etwa nicht von einem Jungen?«
»Non.« Alice Joselet sah sie ernst, beinahe entrüstet an. »Matthieu ist doch kein Junge! Matthieu ist mein Kater!«
»Ach so!« Hannah unterdrückte ein Lachen.
»Werden Sie sich um die Angelegenheit kümmern?« Der flehentlich-bittende Gesichtsausdruck war auf das Gesicht der alten Frau zurückgekehrt.
»Madame Joselet, ich …« Hannah zögerte. Sie dachte an ihre Großmutter, die als junge Frau der Liebe wegen ihre Heimatstadt Dijon verlassen hatte und in die Pfalz gezogen war. Frankreich hatte sie ihr Leben lang vermisst. Als Hannahs Opa gestorben war, hatte sich grand-mère ihr Schoßhündchen Poupette zugelegt. Das kleine braune Wollknäuel war in den letzten Jahren ihres Lebens ihr einziger Lichtblick gewesen. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Ich danke Ihnen!« Mit beiden Händen umklammerte Alice Joselet Hannahs Rechte. »Wissen Sie, als Marc-Henry damals verschwand …« Sie ließ Hannahs Hand wieder los. »Ich habe solche Angst, dass mein kleiner Liebling nicht zurückkommt.«
»War das auch eine Katze von Ihnen?«
»Marc-Henry? Oh nein! Er war ein Cousin von mir. Eine tragische Geschichte. Aber das ist schon so lange her. Ich weiß nicht, warum es mir ausgerechnet jetzt einfällt. Ich erzähle es Ihnen beim nächsten Mal.«
»Machen Sie das, Madame Joselet. Ich laufe mal weiter. Vielleicht begegne ich Ihrem Matthieu ja auf meiner Runde.«
»Dann müssen Sie ihn einfangen, s’il vous plaît! Er ist ganz brav und zutraulich, zeigt fast nie seine Krallen.«
Hannah hatte ihre Vorbehalte fremden Katzen gegenüber, doch das sagte sie Alice Joselet lieber nicht. Sie verabschiedete sich und setzte ihre Laufrunde fort.
Wenig später kehrte sie zu dem winzigen Natursteinhaus zurück, das ihre Freundin Penelope ihr für die Dauer des Urlaubs überlassen hatte. Es lag abseits der Stadt mitten im Grünen, umgeben von einem herrlichen Garten. Penelope, die im Biosupermarkt von Vaison arbeitete, hatte das Häuschen in erster Linie wegen des Gartens gemietet. Sie hatte ihn mit viel Liebe gestaltet und baute ihr eigenes Gemüse an. Die nächsten Nachbarn waren ein ganzes Stück entfernt, und Hannah hatte gewusst, hier würde sie sich so richtig entspannen können.
Im Briefkasten am Zaun steckte eine bunt bedruckte Zeitschrift. Kurzerhand zog Hannah sie heraus. Es handelte sich um eines dieser Gratisexemplare, die Penelope hasste. Bei Gelegenheit würde sie der Freundin einen Aufkleber pas de circulaires besorgen. Hannah spähte in den Briefkasten. Der Postbote war schon da gewesen. Sie angelte nach den beiden Umschlägen im Kasten. Der eine war von Crédit Agricole, der andere jedoch sah besonders aus. Eingehend betrachtete sie den cremefarbenen Briefumschlag. Jemand hatte ihn in altmodisch verschnörkelter Schrift an »Mademoiselle Penelope« adressiert. Auf dem edlen Papier war kein Absender vermerkt.
Hannah durchquerte den Vorgarten und schloss die dunkelrot gestrichene Haustür auf. Der enge Flur führte in eine geräumige Wohnküche, deren hinteren Teil Penelope mit einem transparenten Vorhang als Lesezimmer abgetrennt hatte. Überhaupt bestand das Haus nur aus zwei großen Räumen. Neben dem Wohnbereich im Erdgeschoss gab es ein Schlafzimmer im ersten Stock, zu dem man über eine Holzstiege gelangte. Dicke, dunkelbraune Holzbalken durchzogen die Dachschrägen, unter denen ein breites, niedriges Bett stand. Hannah, die einen schlichten Stil bevorzugte, fühlte sich inmitten der zahllosen samtenen Kissen, Seidendecken und Kerzen in ornamentverzierten Leuchtern in einen Film aus Tausendundeiner Nacht versetzt. Sie verstand gut, warum Penelope und ihr Freund Anatole sich fürs Erste darauf geeinigt hatten, nicht zusammenzuziehen.
Dass die beiden ein Paar geworden waren, überraschte Hannah nach wie vor. Niemand hätte damit gerechnet, dass sich die quirlige Halbspanierin für den humorvollen, aber leicht verschrobenen Weinbauer entscheiden würde. Hannah konnte sich noch gut erinnern, dass sie am Anfang befürchtet hatte, Penelope und Serge würden ernsthaft zueinanderfinden.
Auch wenn sie es sich damals zunächst nicht hatte eingestehen wollen, so hatte Hannah sich doch vom ersten Moment an zu dem Pariser Musikwissenschaftler hingezogen gefühlt. Attraktiv und charmant, das war ihr erster Eindruck gewesen, nachdem er ihr hinterhergelaufen war, als sie in einem Straßencafé ihren Schal liegen gelassen hatte.
Mittlerweile bedeutete Serge ihr so viel mehr. Ihr Kontakt war immer intensiver geworden, und das auf allen Ebenen. Hannah spürte eine warme Zuneigung in sich aufwallen, wenn sie an Serge dachte. Sie sehnte sich nach ihm. Trotzdem scheute sie davor zurück, ihre Verbindung als Beziehung zu bezeichnen. Keiner von ihnen hatte bisher versucht, das, was zwischen ihnen war, zu definieren. Beide hatten sie ihre Vergangenheit, die bewältigt werden wollte. Hannahs Trennung von Justus, ihrem langjährigen Lebensgefährten, hatte noch nicht lang zurückgelegen. Und auch Serge hatte in einer schwierigen Lebensphase gesteckt. Sie hatten sich gegenseitig Zeit geben, nichts überstürzen wollen.
Inzwischen gehörte er so selbstverständlich zu Hannahs Alltag, dass es beinahe überflüssig wirkte, dem Kind einen Namen zu geben. Und doch blieb eine Art Unverbindlichkeit, die Hannah manchmal beunruhigte. Sie sollten endlich einmal über ihre Beziehung sprechen.
Hannah legte Penelopes Post auf den rustikalen Esstisch, stieg in das Obergeschoss und nahm eine Dusche in dem kleinen Bad unter der Dachschräge. Dann kehrte sie in die Wohnküche zurück. Es wurde Zeit für ihren Morgenkaffee. Sie füllte ihre Cafetiere mit Wasser und dachte an Serges Worte: »Diesmal wirst du wohl dein Kaffee-Survival-Kit direkt mitnehmen, n’est-ce pas? Nach all den grässlichen Koffeinerlebnissen letztes Jahr …«
Es stimmte leider. Vergeblich hatte sie damals in Vaison nach einem Café gesucht, das ihren Ansprüchen gerecht wurde. Letztlich hatte sie aufgegeben und sich von ihrer Kölner Nachbarin ihre Kaffeemühle, den Milchaufschäumer mit den zwei Geschwindigkeitsstufen und die Cafetiere aus Edelstahl sowie anständige Kaffeebohnen schicken lassen.
Während sich der Kaffeeduft allmählich in dem gemütlich eingerichteten Wohnraum ausbreitete, goss Hannah sich ein Glas Orangensaft ein und nahm einen Becher Joghurt aus dem Kühlschrank.
Sie hatte ihr Glück nicht fassen können, dass ihr Urlaubsantrag über vier Wochen bewilligt worden war. Als Kinderlose musste Hannah ihren Urlaub in die ferienfreie Zeit legen, was ihr im Grunde recht war. In diesem Jahr hatte sie eine Menge Überstunden nehmen können, die durch den Auslandsaufenthalt im vergangenen Sommer entstanden waren. So hatte sie im Frühling bereits eine Reise mit Serge nach Italien unternommen. Sie waren in Rom gestartet und hatten dort seinen sechsundvierzigsten Geburtstag gefeiert. Danach hatten sie Neapel besucht, Pompeji natürlich nicht ausgelassen und zuletzt ein paar Tage auf Capri verbracht. Es war eine entspannte Zeit gewesen, in der sie sich noch besser kennengelernt hatten. Alles hatte sich ganz zwanglos ergeben. Kein einziges Mal hatten sie über die Tagesgestaltung diskutieren müssen. Nach zwei herrlichen Wochen war sie schweren Herzens in ihren Kölner Polizeialltag zurückgekehrt. Mit regelmäßigen Skypegesprächen und Wochenendbesuchen schafften sie es zwar, die räumliche Distanz zu überbrücken. Doch Hannah war froh, dass sie bald endlich wieder eine längere Zeit zusammen sein würden.
Sie wärmte die Milch auf und blieb dabei am Herd stehen. An die Geschwindigkeit von Penelopes altem Gasherd musste sie sich gewöhnen. Als der erste feine Dampf aus der Cafetiere strömte, schaltete sie die Herdplatte aus und griff nach dem Milchaufschäumer.
Mit dem Kaffeebecher ging sie zum Tisch hinüber. Ehe sie sich setzte, nahm sie den gediegenen Briefumschlag mit der verschnörkelten Schrift in die Hand. Kurz entschlossen rief sie Penelope an.
Die Freundin ließ sich Zeit, erst, als Hannah bereits auflegen wollte, hörte sie ein verschlafenes »Oui?«.
»Oh, pardon, habe ich dich geweckt?«
»Hannah?«
»Oui.«
»Pas de problème. Ich muss sowieso langsam mal aufstehen. Anatole und ich haben gestern bis spät in die Nacht über Plänen gesessen für … ach, das muss ich dir in Ruhe erzählen. Was gibt‘s denn?«
»Deine Post – du hast einen besonders aussehenden Brief bekommen, ohne Absender. Als Adresse steht lediglich ›Mademoiselle Penelope‹ darauf.«
»Ein cremefarbener Umschlag?«
»Genau. Teures Papier.«
»Ah, der ist von Louis Prinderre. Er wohnt in der Nähe. Ein feiner alter Mann. Im Frühling ist er achtzig geworden. Seit seine Frau vor einigen Jahren gestorben ist, besuche ich ihn ab und an. Das heißt, vielmehr lädt er mich formvollendet auf postalischem Wege ein.« Ihr perlendes Lachen schallte durch den Hörer. »Ein Kavalier der alten Schule, wie du ihn dir gelungener nicht vorstellen kannst. Meist schreibt er etwas wie: ›Werte Mademoiselle Penelope, hätten Sie die Güte, mich am Freitag, wenn der Tag sich verabschiedet, auf ein Glas Wein zu beehren? Hochachtungsvoll, Ihr Louis Prinderre.‹« Sie lachte erneut. »Und dann sitzen wir zwei, drei Stunden auf seiner Terrasse, trinken Rotwein, und er erzählt Episoden aus seinem langen Leben. Schwelgt in alten Erinnerungen. Er ist ein brillanter Geschichtenerzähler. Ich schätze ihn sehr. – Ach, weißt du was, lies mir doch den Brief vor, s‘il te plaît.«
Hannah holte ein Messer aus der Besteckschublade und schlitzte den Umschlag auf. Darin steckte ein zweimal gefalteter Bogen desselben Papiers. Auf dem Blatt stand in der altmodischen Schrift:
Verehrte Mademoiselle Penelope, ich würde mich sehr glücklich schätzen, falls Sie am morgigen Donnerstagnachmittag, wenn die Glocken fünfmal geschlagen haben, bei mir vorbeikommen könnten.
Très cordialement,
Ihr Louis Prinderre
Hannah las Penelope die kurze Mitteilung vor.
»Oh, heute schaff ich es beim besten Willen nicht. Ich hab Spätschicht, da komm ich vor zwanzig Uhr nicht aus dem Laden.« Die Freundin machte eine kurze Pause, als würde sie überlegen. »Magst du nicht für mich bei ihm vorbeigehen?«
»Ich? Nun ja …«
»Er würde sich bestimmt freuen, dich kennenzulernen. Und umgekehrt auch – ich bin mir sicher, dass ihr euch gut versteht!«
Das war Penelope, wie sie sie im letzten Jahr kennengelernt hatte – spontan und impulsiv. Aber was sprach eigentlich dagegen? Hannah hatte noch keine Pläne für den weiteren Tagesverlauf. Mit einem alteingesessenen Vaisoner Wein zu trinken und spannenden Geschichten zu lauschen, klang durchaus interessant. »D‘accord. Wo genau wohnt er denn?«
»Du bist ein Schatz! Ich bin sicher, du wirst es nicht bereuen. Es ist gar nicht weit. Wenn du aus dem Haus kommst und dich links hältst, musst du bis zum Ende der Straße gehen. Dort gibt‘s doch diesen Feldweg, das ist eine Abkürzung. An dessen Ende biegst du wieder links ab, und dann ist es das Haus auf der rechten Seite. Gleich vor dem kleinen Friedhof.«
»Alles klar.«
»Ach, und kannst du etwas für ihn mitnehmen? Ich wollte ihm einen Tee geben, eine Eigenkreation zum besseren Einschlafen. Steht bei den anderen Teesorten, ein braunes Glas, ich hab’s beschriftet. Lavendel, Melisse, Hopfen und Fenchel.«
»Warte mal«, Hannah lief zum Küchenschrank hinüber. »Hab’s gefunden. Sonst noch was?«
»Das war’s schon. Er ist immer bestens vorbereitet. Es macht ihm Freude, andere zu bewirten. Bestell ihm einen ganz lieben Gruß von mir, und sag ihm, dass ich heute leider keine Zeit habe und dich als meine Stellvertreterin schicke.«
Nach dem Frühstück verzog sich Hannah mit einem Buch über die Ausgrabungen in Pompeij, das Serge ihr am Ende ihrer Reise als Erinnerung geschenkt hatte, in Penelopes Garten. Die zahlreichen Blumen und Kräuter sowie die gepflegten Gemüsebeete hatte sie bereits am Morgen vor ihrer Joggingrunde gründlich gewässert.
Als Penelope ihr während eines Skypegesprächs vorgeschlagen hatte, den September in der Provence zu verbringen, hatte Hannah nicht lange gezögert.
»Du kannst mein Häuschen haben. Ich wohne in der Zeit bei Anatole. Ein guter Test, ob wir’s wirklich miteinander aushalten.« Penelope hatte gelacht.
Serge war noch in Paris beschäftigt, würde aber in anderthalb Wochen nachkommen. So hatte sie die erste Hälfte ihres Urlaubs für sich, konnte nach Herzenslust in den Tag hineinleben, sich mit Penelope treffen oder Emma in Nîmes besuchen. Den Kontakt zu der patenten und bodenständigen Kollegin bei der dort ansässigen Gendarmerie hatte sie von Köln aus weitergeführt. Sie freute sich schon, Emma bald wiederzusehen. Emmanuelle Moreau, so ihr voller Name, hatte Hannah im vergangenen Sommer bei den Recherchen enorm unterstützt, und Hannah war ihr noch den einen oder anderen Wein schuldig.
Bei Nicolas Furaille, dem ehemaligen Gendarmeriechef von Vaison, der seit seiner Pensionierung eine Crêperie betrieb und ihr damals ebenfalls viel geholfen hatte, war sie gleich nach ihrer Ankunft vorbeigegangen. Es war ein herzliches Wiedersehen gewesen.
»Quelle surprise – Hannah! Du bist wieder da?« Nicolas‘ Bass hatte das kleine Lokal erfüllt, als er sie zur Tür hatte hereinkommen sehen. Mit ausgebreiteten Armen hatte er sie empfangen und sie sogleich dazu verdonnert, erst einmal ordentlich zu essen und zu trinken. Als er gehört hatte, dass Serge in Kürze auch nach Vaison kommen würde, war das Lächeln auf seinem Gesicht noch breiter geworden. »Hab ich‘s doch gewusst!« Vergnügt hatte er an seinem Schnurrbart gezwirbelt, ehe er in die Küche geeilt war, um Hannah ein Drei-Gänge-Menü zu kredenzen.
Wenn sie an Nicolas‘ Reaktion zurückdachte, musste Hannah schmunzeln. Tatsächlich hatte er als einer der Ersten erkannt, dass es zwischen ihr und Serge gefunkt hatte. Erneut versenkte sie sich in ihr Buch und tauchte in die Zeit vor dem Untergang der antiken Stadt ab. Sie kehrte erst wieder in die Gegenwart zurück, als sich die Sonnenstrahlen unangenehm auf ihren Schultern bemerkbar machten.
Gegen Viertel vor fünf brach Hannah zum Haus von Louis Prinderre auf. Sie hatte eine ausgiebige Siesta im Schatten des Sonnenschirms genossen. Obwohl es kein Hochsommer mehr war, erreichten die Temperaturen tagsüber spielend die Dreißig-Grad-Marke.
Hannah band sich ihre Haare im Nacken zusammen, lieh sich einen von Penelopes Strohhüten und lief mit der Wegbeschreibung der Freundin im Kopf gut gelaunt los. Nach wenigen Minuten war sie an dem Feldweg angelangt, der sich zwischen Rebstöcken hindurchschlängelte.
Im September begann allmählich die Weinlese. Hannah betrachtete die purpur glänzenden Trauben. Bald würde es auch auf diesem Feld so weit sein. Sie sah sich um, dann pflückte sie mit einer raschen Bewegung eine Traube und steckte sie in den Mund. Die pralle Frucht platzte auf, und Hannah genoss den zuckersüßen Saft, in dem sich die Wärme und Kraft eines langen Sommers gesammelt hatten.
Am Ende des Weges stieß sie wie angekündigt auf eine Landstraße. Sie folgte ihr nach links, und schon nach kurzer Zeit sah sie rechter Hand das Haus, bei dem es sich um das von Louis Prinderre handeln musste. Die Größe des Anwesens überraschte Hannah. Sie hatte damit gerechnet, dass der alte Mann, ähnlich wie Alice Joselet, in einem bescheidenen Haus leben würde. Doch auf dem weitläufigen Grundstück mit sorgsam geschnittenen Hecken und Obstbäumen thronte ein imposantes, zweistöckiges Natursteinhaus, flankiert von zwei niedrigen Nebengebäuden. Die hellblauen Holzläden der Fenster waren geöffnet. Mittig über dem Eingang zierte ein breiter schmiedeeiserner Balkon die Fassade. Die Balkontür stand weit offen.
Hannah schob den Riegel des weißen Gartentors auf und lief über den schmalen Kiesweg zur Haustür. »Prinderre« las sie auf einem Holzschild oberhalb der Klingel. Ein melodischer Glockenklang ertönte, als sie auf den Knopf drückte. Niemand öffnete. Sie klingelte erneut. Drinnen regte sich nichts. Hannah sah auf ihre Armbanduhr. Es war fünf nach fünf.
Nach kurzem Warten wandte sie sich dem rechten Nebengebäude zu, offensichtlich eine Garage, und schaute durch das Sprossenfenster des doppelflügeligen Tores. Dort parkte ein rostroter Wagen älteren Baujahrs, der noch recht gut in Schuss war.
Sie drehte sich um und blickte zum gegenüberliegenden Grundstück. Ein lavendelfarben gestrichenes Häuschen inmitten eines ebenfalls gepflegten, wenngleich sichtbar kleineren Gartens. Die Fensterläden waren geschlossen. Vermutlich handelte es sich um eine Sommerresidenz. Also keine Chance, einen Nachbarn nach Louis Prinderre zu fragen.
Hannah lief um die Garage herum in den rückwärtigen Garten. Auf einer geräumigen Terrasse aus Terrakottafliesen standen ein runder Tisch und mehrere weiß lackierte Stühle. Ein hölzerner Sonnenstuhl mit dickem, rotweiß gestreiftem Polster lud zum Verweilen ein. Doch auch hier war der alte Mann nicht. Etwas in Hannah schlug leise Alarm. Ihr Bauchgefühl riet ihr, ins Haus zu gehen und nach dem Rentner zu sehen. Womöglich war er gestürzt und konnte sich nicht bemerkbar machen? Vielleicht sah sie aber auch Gespenster, und er war nur gerade im Bad.
Eine der beiden Terrassentüren stand einen Spalt offen. Hannah zögerte einen Moment, dann ging sie über die Terrasse zur Tür hinüber und spähte nach drinnen in ein aufgeräumtes Wohnzimmer. »Monsieur Prinderre?«, rief sie von der Türschwelle ins Haus hinein.
Alles blieb still. Kurz entschlossen trat sie ein. Mit flüchtigem Blick erfasste Hannah eine elegante, stilsichere Einrichtung in dem ordentlichen Zimmer. »Hallo?« Sie blieb stehen und lauschte. Kein Laut war zu hören.
Durch eine Verbindungstür gelangte Hannah in die angrenzende, geräumige Küche. Auch hier herrschte eine angenehme Grundordnung. Offenbar kam der alte Mann noch gut allein zurecht.
»Monsieur Prinderre?«, rief Hannah erneut. Doch wieder bekam sie keine Antwort. Bis auf ein – Hannah lauschte aufmerksam. Ein Winseln. Ein gedämpftes, hohes Stimmchen. Überrascht sah sie sich um. Links von ihr in der Ecke entdeckte sie eine kleine Tür, die lediglich angelehnt war, vermutlich führte sie zu einer Speisekammer. »Hallo?«
Das Winseln kam eindeutig von dort. Mit wenigen Schritten erreichte Hannah die Tür und öffnete sie. Zwischen Regalen voller Vorräte kauerte in einem leeren Fach auf Bodenhöhe ein schwarzes Fellbündel.
»He, wer bist du denn?« Hannah hockte sich hin und streckte die rechte Hand aus. Das Fellbündel rührte sich nicht, blickte sie nur aus großen dunklen Augen verängstigt an. Ein Labrador Collie. Angesichts der grauen Schnauze und den feinen weißen Haaren im schwarzen Fell schon ein älteres Semester.
»Na, wo steckt dein Herrchen?«
Der Hund winselte erneut, kroch aber zögernd aus dem Fach heraus. Hannah streckte noch einmal die Hand aus. Wie in Zeitlupe näherte sich das Tier und schnupperte vorsichtig an ihren Fingern. Auf einmal drehte es sich um und lief aus der Küche.
»Willst du mir etwas zeigen?« Hannah ging ihm nach und betrat einen T-förmigen Flur. Ein paar Meter weiter rechts befand sich eine Tür ins Wohnzimmer. Das lange Ende führte nach links in den vorderen Teil des Hauses. Der Labrador Collie war bereits in diese Richtung verschwunden, kehrte nun jedoch zurück und sah Hannah auffordernd an. Als sie ihm mit raschen Schritten folgte, lief er sogleich wieder los und begann herzerweichend zu jaulen. Mit schlimmsten Vorahnungen bog Hannah um die Ecke.
Der Flur endete an der Eingangstür, neben der eine Holztreppe in das obere Stockwerk führte. Am Fuß der Treppe saß der jaulende Hund. Dicht bei ihm lag bäuchlings, den Kopf von ihr weggedreht, ein Mann mit grauem Haar.
Hannah hastete zu der reglosen Gestalt – das musste Louis Prinderre sein. Sein linker Arm war in einem seltsamen Winkel nach oben verdreht. Sie bückte sich zu ihm hinunter und suchte am Hals nach seinem Puls. Endlose Sekunden vergingen. Sie tastete noch einmal. Nichts. Hannah zog ihre Hand weg und betrachtete den leblosen Mann. Ein Rinnsal Blut schlängelte sich an der rechten Schläfe entlang über seine Wange. Es stammte von einer länglichen Wunde im Haaransatz.
Sie sah sich das faltige Antlitz genauer an. In der unteren Gesichtshälfte konnte sie erste, dunkelrote Totenflecken erkennen. Die türkisblauen Augen hatten früher sicherlich eine beeindruckende Wirkung gehabt. Jetzt blickten sie starr ins Leere. Der Mund war leicht geöffnet.
Außer der Kopfwunde wies der alte Mann keine äußerlichen Verletzungen auf. Bekleidet war er mit einer hellgrau karierten Stoffhose und einem hellblauen, kurzärmeligen Hemd. Die Kleidungsstücke waren sauber und, soweit Hannah es sehen konnte, nicht zerrissen. Sie schaute die steile Treppe hinauf. Es sah so aus, als sei Louis Prinderre gestürzt und unglücklich mit dem Kopf aufgeschlagen.
Betroffen sah Hannah ihn erneut an, ehe sie ihr Handy aus der Tasche zog und den Notruf wählte. Eine junge Frau mit glockenheller Stimme, die so gar nicht zu den tragischen Umständen passen wollte, nahm das Gespräch entgegen. Rasch gab Hannah die nötigen Informationen und ihre Angaben durch, wobei die exakte Adresse das größte Problem darstellte. Sie konnte lediglich die Lage des Hauses beschreiben und als Orientierungshilfe den benachbarten Friedhof nennen. Die junge Frau versicherte ihr, dass sie schnellstmöglich Hilfe schicken würde.
Hannah legte auf und verharrte einen Moment unschlüssig. Im Laufe ihres Berufslebens hatte sie schon viele Tote gesehen. Üble Fälle waren darunter gewesen – zerstückelte Leichen, Massaker mit gewaltigen Blutlachen. Am schlimmsten war es, wenn es sich bei den Opfern um Kinder handelte. Zu Beginn ihrer Laufbahn hatten die Bilder von Tatorten sie wochenlang in Albträumen verfolgt. Mit der Zeit war sie zwar etwas abgestumpft, daran gewöhnen würde sie sich jedoch nie.
Jetzt war sie nicht im Dienst. Völlig unvorbereitet war sie in diese Situation geraten, hatte bloß Penelope einen Gefallen tun wollen. Wäre sie bereits gegen Mittag hergekommen, würde Louis Prinderre womöglich noch leben. Die Gedanken kreisten wirr in ihrem Kopf.
Kurz entschlossen rief sie Penelope an. Die Französin ging schon nach dem zweiten Klingeln an ihr Telefon. Sie klang deutlich wacher als am Vormittag.
»Wo bist du gerade?«, fragte Hannah ihre Freundin. Es war klar, dass zwischen Penelope und dem alten Mann eine besondere Art der Freundschaft bestanden hatte. Deshalb wollte Hannah ihr die Nachricht von seinem Tod möglichst schonend beibringen.
»Im Lager. So ein Typ hat uns soeben den kompletten Vorrat an Kichererbsen leer gekauft. Was er wohl mit fünfzehn Dosen will?« Sie kicherte.
»Ich bin bei Louis Prinderre …«
»Ah, wie schön! Wie geht es ihm? Habt ihr euch schon ein bisschen angefreundet?«
»Penelope, ich muss dir etwas sagen.« Wie immer in solchen Situationen verlieh Hannah ihrer Stimme einen beruhigenden Klang.
»Ist er krank? Brauchst du Hilfe? Soll ich vorbeikommen? Es ist hoffentlich nichts Ernstes?«
»Leider doch. Es ist etwas passiert, und ich fürchte, es sieht nicht gut aus.« Hannah wählte ihre Worte mit Bedacht. »Es scheint, als sei er die Treppe heruntergefallen. Ich habe ihn dort gefunden. Es war zu spät.«
Am anderen Ende der Leitung blieb es still.
»Penelope, es tut mir so leid …«
»Non! Non, non, non – das … kann nicht sein … darf einfach nicht sein!« Penelopes Stimme überschlug sich. »Ich komme sofort!«
Ehe Hannah noch etwas sagen konnte, hatte die Freundin aufgelegt.
Bis die Polizei eintraf, wollte Hannah vor dem Haus warten. Doch sobald sie sich von der Leiche weg in Richtung Tür bewegte, begann der Hund, der bis eben regungslos neben seinem toten Herrchen gesessen hatte, zu winseln. Es klang fast wie menschliches Weinen. Hannah ging zu ihm hinüber und kraulte seinen Kopf. Der Labrador Collie verstummte und sah sie traurig aus seinen glänzenden Augen an. Dann drehte er sich um und sprang die Treppe hinauf. Bellend ließ er sich auf halber Höhe auf den Stufen nieder.
»Was ist denn los?«
Der Hund bellte weiter und schaute sie erwartungsvoll an.
»Na los, komm wieder runter.« Sie versuchte ihn zu sich zu winken, aber das Tier reagierte nicht. Wollte es sie mit seinem Bellen zu sich rufen? Leise seufzend richtete sie sich auf. Vorsichtig ging sie um die Leiche herum und folgte ihm. Der Hund setzte sich sogleich in Bewegung und verschwand im Obergeschoss.
Hannah erreichte den oberen Treppenabsatz. Vor ihr lag ein weiterer langer Flur, von dem rechts und links mehrere Türen abzweigten. Sie sah in alle Räume. Es gab zwei kleine Gästezimmer, vermutlich ehemalige Kinderzimmer, sowie zwei Badezimmer. Auf beiden Seiten lag mittig jeweils ein geräumiges Balkonzimmer. Das Zimmer, das nach hinten zum Garten wies, war offenbar Prinderres Schlafzimmer gewesen. Das Ehebett war gemacht, einige Kleidungsstücke hingen ordentlich auf einem stummen Diener neben der Balkontür. Hinter dem Bett trennte eine dünne Wand eine Nische mit einem mehrtürigen Kleiderschrank ab. Vom Hund war keine Spur mehr.
Als Hannah das zur Straße ausgerichtete Balkonzimmer betreten wollte, blieb sie überrascht stehen. Wie anders es in diesem Raum aussah. Offenbar hatte der alte Mann ihn als Büro genutzt. Doch von der Ordnung, die im restlichen Haus herrschte, war hier nichts zu erkennen. Unter den unzähligen am Boden verstreuten Büchern, Ordnern, Notizblöcken und beschriebenen losen Blättern schimmerten nur stellenweise orientalische Teppiche hindurch. Den leeren Reihen in den hohen Bücherregalen an der rechten Wand nach zu urteilen, stammten die Bücher von dort. Aus dem massiven Schreibtisch vor dem Fenster waren alle Schubladen herausgerissen worden.
Hier fand Hannah auch den Hund wieder. Er hatte sich neben der Balkontür auf den Boden gelegt. Als er sie sah, kam er winselnd zu ihr herüber.
»Wenn du bloß reden könntest.« Hannah tätschelte ihm den Kopf, während sie ihren Blick durch das verwüstete Büro gleiten ließ.
Jemand hatte hier etwas gesucht. Die Frage war nur, ob es Louis Prinderre selbst gewesen war oder eine andere Person. Möglicherweise war irgendetwas vorgefallen, das den alten Mann dazu getrieben hatte, in völliger Verzweiflung das Zimmer zu durchwühlen. Und in dieser Verfassung war er vielleicht auf der Treppe gestolpert. In jedem Fall musste hier etwas extrem Wichtiges aufbewahrt worden sein, und Hannah fragte sich, ob es sich noch im Zimmer befand.
Nur schwer widerstand sie dem Verlangen, den Raum zu betreten. Die Ermittlerin in ihr wollte sich umgehend darin umsehen. Aber sie musste das Eintreffen der Polizei abwarten, um keine Spuren zu zerstören. So versuchte sie, sich von ihrem Standpunkt neben der Tür aus alles genau einzuprägen.
Die Wand links neben der Tür zierten Familienbilder. Szenen von Familienfesten, Einzelporträts von Kleinkindern, Jugendlichen und Erwachsenen, Urlaubsimpressionen. Lächelnde, sich umarmende Menschen. Glückliche Momente. Hannahs Augen wanderten zum Schreibtisch hinüber.
Dieser war so ausgerichtet, dass man in der Ferne die Silhouette von Vaison erkennen konnte. Erstaunlicherweise herrschte auf dem Tisch wiederum eine penible Ordnung. Eine schwarze Olivetti älteren Modells stand darauf, schreibfertig mit eingezogenem Papier, mehrere edle Füller und silberne Drehbleistifte lagen fein säuberlich in einer rechteckigen Schale daneben. Links von der Schreibmaschine hielt ein Bastkorb unbeschriebene Blätter parat. Louis Prinderre schien sich im Computerzeitalter eine analoge Oase bewahrt zu haben. Alles wirkte vorbereitet, so dass er jederzeit hätte losschreiben können. Ein totaler Kontrast zum Chaos im Rest des Zimmers.
Was war hier geschehen? Kurz entschlossen machte Hannah mit ihrem Handy einige Fotos. Sie ließ ihren Blick ein weiteres Mal umherschweifen. Etwas in diesem Raum passte nicht – und das war nicht nur der aufgeräumte Schreibtisch. Hannah versuchte zu ergründen, was es war, aber sie kam nicht darauf. Vom Schnitt her glich das Zimmer dem gegenüberliegenden Schlafzimmer. Dennoch …
»Na komm, lass uns wieder nach unten gehen.«
Sofort setzte sich der Hund in Bewegung und lief zur Treppe zurück. Hannah folgte ihm die Stufen hinunter und umrundete behutsam die Leiche des alten Mannes. Sie schaute aus dem Fenster neben der Haustür. Von der Polizei war noch nichts zu sehen.
»Was meinst du?« Sie wandte sich an ihren vierbeinigen Begleiter. »Nehmen wir den gleichen Weg zurück, den wir gekommen sind?«
Stets darauf bedacht, keine Spuren zu zerstören, drehte sie eine weitere Runde durch das Erdgeschoss. Der Labrador Collie begleitete sie auf Schritt und Tritt. Außer den Zimmern, die sie schon kannte, gab es eine Gästetoilette, in der es nach Zitrusreiniger roch, eine Abstellkammer und ein Esszimmer. Speisesalon passte eigentlich besser für diesen Raum, der aussah, als würde er lediglich zu ganz besonderen Gelegenheiten benutzt.
Die Küche bot keinerlei Überraschungen. Im Abtropfgestell neben der Spüle trockneten zwei Tassen, ein Teller und eine kleine Schale. Auf einer Anrichte gegenüber der Spüle sah Hannah ein dickes Holzbrett voller Krümel und ein Brotmesser. Daneben stand ein halbvolles Glas Orangensaft. Zwei Tablettenpackungen lagen in einem Körbchen auf dem mittig im Raum stehenden runden Tisch.
Auch im Wohnzimmer fiel ihr nichts Ungewöhnliches auf. Ein Couchtisch aus Massivholz stand vor einem Sofa mit gestreiftem Bezug, rechts und links vom Tisch gab es zwei dazupassende Sessel. Schwere, antike Möbel aus dunklem Holz waren geschickt im Zimmer verteilt, ohne es zu überfrachten. Einen Fernseher sah Hannah nicht, dafür ein altes Klavier mit silbernen Leuchtern darauf und mehrere Bücherregale. An den Wänden hingen Schwarz-Weiß-Fotografien von orientalischen Marktszenen. Ein aufgeschlagenes Kreuzworträtselheft lag auf dem Couchtisch, Notenhefte mit Stücken von Bach und Mozart entdeckte Hannah auf einem Beistelltisch neben dem Klavier.
Gefolgt von dem Hund, trat sie auf die Terrasse. Allmählich könnte die Polizei eintreffen! Sie begann sich auch hier gründlich umzusehen. Auf einem Hocker neben dem Sonnenstuhl lag ein Buch mit dem Titel Crime. Automatisch fühlte sich Hannah ein bisschen mit dem Rentner verbunden. Die Geschichten von Ferdinand von Schirach hatte sie ebenfalls gelesen und mochte den Stil des Autors. Kurz fragte sie sich, welchen Beruf Louis Prinderre ausgeübt hatte. Neben dem Buch stand eine Tasse, die bis zur Hälfte mit einer klaren, hellbraunen Flüssigkeit gefüllt war. Hannah schnupperte daran. Eindeutig Tee, darüber hinaus fiel ihr keine ungewöhnliche Geruchsnuance auf.
Während sie damit beschäftigt war, hörte sie, wie sich ein Wagen näherte. Mit zügigen Schritten umrundete sie die Garage.
Als sie vorn ankam, hielt gerade ein Dienstwagen der Gendarmerie vor dem Grundstück. Ein junger Mann und eine Frau um die vierzig stiegen aus. Die Frau schaute zu ihr hinüber, und Hannah traute ihren Augen kaum.
»Emma? Du hier?«
»Sacrebleu – Hannah!«
Am Gartentor trafen sie aufeinander.
»Was für eine Überraschung!« Emmanuelle Moreau, genannt Emma, umarmte Hannah, die sich freute, ihre ehemalige Kollegin zu treffen. Zugleich wunderte sie sich, da Emma doch eigentlich in Nîmes arbeitete. Aber danach würde sie sich später erkundigen.
»François Rigaud kennst du ja noch vom letzten Jahr.« Emma deutete auf ihren Begleiter.
»Bien sûr. Salut, Sous-Lieutenant Rigaud.« Hannah begrüßte den jungen Gendarmen mit Handschlag.
»Bonjour, Madame Richter. Schön, Sie wiederzusehen.« Seine distanzierte Miene strafte seine Worte Lügen.
Schon während ihrer Zeit in der Gendarmerie von Vaison hatte Hannah den Kontakt zu ihm auf das Minimum beschränkt. In ihren Augen bestand Rigauds primäres Ziel darin, die Karriereleiter zu erklimmen, indem er sich bemühte, es dem Chef in allem recht zu machen. Kollegen schienen für ihn ein nebensächliches Übel zu sein. Deswegen kümmerte sie sich nun auch nicht weiter um ihn, sondern wandte sich an Emma. »Ich bin vor ein paar Tagen angekommen und wollte dich eigentlich bald in Nîmes besuchen.«
»Tja, und stattdessen begegnen wir uns unter diesen tragischen Umständen.«
Ihre Blicke trafen sich, und Hannahs Wiedersehensfreude verblasste. »Vertrittst du neuerdings Bernard?«
»So ähnlich. Ist eine längere Geschichte.« Emma hob vielsagend die Brauen.
»Die Weiber schwatzen – die Leiche wartet! Ich denke, ihr solltet den Tratsch auf später verschieben.« Rigaud, der inzwischen den Kiesweg entlanggelaufen war, stand in abwartender Haltung breitbeinig neben der Haustür, die Hände in den Taschen seiner Uniformjacke.
»Hat er jetzt das Kommando?«, raunte Hannah Emma zu.
Diese verdrehte die Augen. »Er versucht hartnäckig, es zu übernehmen. Und mausert sich immer stärker zu Chefs Liebling.«
»Na, da scheinen die Samen, die er letztes Jahr gesät hat, gekeimt zu haben.«
»Solche wie ihn trifft man leider überall.« Emma lächelte Hannah an. »Vas-y. Gehen wir an die Arbeit. Ein alter Mann, der die Treppe runtergefallen ist?«
»So sieht es zumindest aus. Er liegt direkt hinter dem Eingang am Fuß der Treppe. Ich bin mir aber nicht sicher, ob nicht mehr dahintersteckt. Du musst dir das Obergeschoss ansehen. Das Arbeitszimmer ist total verwüstet. Ach übrigens, das Kerlchen hier«, Hannah zeigte auf den Labrador Collie, der eifrig an Emmas Hosenbeinen schnupperte, »war wohl sein treuer Begleiter.«
»Wie kommt es überhaupt, dass du ihn gefunden hast, diesen …« Emma beugte sich vor, um einen Blick auf das Klingelschild zu werfen. »Monsieur Prinderre?«
Während Hannah die beiden Polizisten zur Rückseite des Hauses führte, berichtete sie von Penelopes Freundschaft mit dem alten Mann und seiner Einladung für den heutigen Tag.
Ehe sie das Haus betraten, zogen Emma und Rigaud sich dünne Gummihandschuhe über. Dabei ließ der junge Gendarm seine Knöchel knacken. Emma reichte Hannah ebenfalls ein Paar Handschuhe.
Begleitet vom Hund, führte Hannah die beiden Polizisten zur Leiche von Louis Prinderre. »Was ist mit dem Arzt?«, fragte sie Emma.
»Müsste jeden Moment eintreffen.«
Vorsichtig öffnete François Rigaud mit der behandschuhten Rechten die Haustür. Noch war kein weiteres Auto in Sicht.
Wie Hannah es bereits zuvor getan hatte, hockte sich Emma neben das Gesicht des alten Mannes, ohne dabei den Leichnam zu berühren.
»Alors,auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei er die Treppe heruntergefallen.« François Rigaud blickte die steile Holztreppe hoch.
Emma stand wieder auf. »Nicht ohne, das Ding, in seinem Alter. Warten wir ab, was der Arzt sagt. Wenn er denn irgendwann mal kommt.« Sie wandte sich an ihren jungen Kollegen.
»Rigaud, sehen Sie sich im Garten und im Haus um.«
»D’accord, Lieutenant Moreau.« Dem widerwilligen Ton nach zu urteilen war er mit Emmas Vorschlag nicht einverstanden. Doch sie reagierte nicht darauf, und so verschwand François Rigaud durch den Flur nach hinten.
Emma betrachtete wieder den Toten. »Allzu lange scheint er noch nicht tot zu sein. Allerhöchstens ein paar Stunden, würde ich tippen.«
»Ist auch meine Einschätzung.« Hannah stellte sich neben sie.
In diesem Augenblick ertönte draußen eine helle Männerstimme. »Bonjour, bin ich hier richtig?« Im Türrahmen erschien ein hoch aufgeschossener, schmaler Mann. Sein schütteres sandfarbenes Haar machte einen ungekämmten Eindruck, die grobporige, vernarbte Haut an den Wangen ließ auf eine schwere Akne in der Jugend schließen. »Docteur Blanc mein Name«. Er wippte auf den Fußballen vor und zurück und schwenkte eine lederne Tasche in der rechten Hand. »Ich bin … ich komme … wegen des Toten.«
Überrascht sahen beide auf. Hannah schaute an ihm vorbei nach draußen. Sie hatte gar keinen Wagen gehört. Am Zaun sah sie ein Fahrrad lehnen.
Emma trat auf den Mann zu, um ihm die Hand zu reichen. Der Labrador Collie überholte sie jedoch und bellte den Neuankömmling zur Begrüßung an. Docteur Blanc machte einige hektische Schritte rückwärts. Wie zum Schutz hielt er die Tasche vor seinen Oberkörper. »Ist das Ihrer? Würden Sie ihn bitte an die Leine nehmen? Oder wegsperren? Ich habe es nicht so mit Vierbeinern.«
»Ruhig, Kleiner, komm mal her.« Hannah hockte sich hin, und tatsächlich hörte der Hund auf sie. »Er gehörte dem Toten und ist ganz durcheinander. Ich bringe ihn in die Küche.«
»Merci.« Der Arzt straffte die Schultern und näherte sich der Leiche.
»Sie, äh, Sie haben also den alten Mann hier entdeckt?«
Hannah kam aus der Küche zurück. »Genau. Hannah Richter mein Name.« Sie streckte dem Mediziner ihre Hand entgegen.
»Madame Richter ist eine Kollegin aus Deutschland«, erklärte Emma. »Sie hat im vergangenen Sommer eine Zeit lang bei der Gendarmerie von Vaison gearbeitet.«
»Ah, ich verstehe.« Docteur Blanc sah aus, als würde er gar nichts verstehen. »Bon.« Er stellte seine Tasche auf den Boden, öffnete sie und streifte sich ein Paar Einweghandschuhe über. »Dann wollen wir mal.« Zaghaft beugte er sich über den Toten.
Hannah warf Emma über seinen Rücken hinweg einen Blick zu. Die Kollegin schien dasselbe zu denken wie sie. Docteur Blanc wirkte nicht sonderlich routiniert im Umgang mit Leichen.
»Sie arbeiten als Gerichtsmediziner in … Avignon?«, begann Emma vorsichtig.
»Oh nein.« Der Arzt richtete sich wieder auf und sah sie an. »Ich habe eine Praxis als Allgemeinmediziner. Im Nachbardorf.« Er rieb sich die Stirn. »In Saint-Marcellin-lès-Vaison. Ich … äh … bin benachrichtigt worden – wegen des Totenscheins.« Erneut schaute er auf den Leichnam hinunter. »Also gestürzt ist der arme Mann.«
Hannah wollte gerade widersprechen, als Schritte von draußen erklangen und alle drei die Köpfe wandten. Es klang, als käme jemand den Kiesweg entlanggerannt. Wenige Sekunden später platzte Penelope herein, die schwarze Lockenmähne zerzaust, die Wangen gerötet.
»Wo ist er? Oh, mon Dieu!«Wie angewurzelt blieb sie stehen und starrte auf die Gestalt am Fuße der Treppe. »So hast du ihn dort gefunden, Hannah?« Statt einer Begrüßung sah die Freundin sie an, die dunklen Augen weit aufgerissen.
Ehe Hannah antworten konnte, fuhr Penelope fort. »Das mit dem Unfall könnt ihr vergessen!« Mit entschlossenem Gesichtsausdruck stellte sie sich zwischen Emma und den Arzt.
»Pardon, wer sind Sie?« Der Arzt warf einen abschätzigen Blick auf Penelope, die über ihrem kurzen Sommerkleid eine Schürze mit dem Emblem des Biosupermarkts trug.
»Penelope Oliva. Ich bin … war … eine Nachbarin und … gute Bekannte von Louis Prinderre.«
»Und Sie besitzen medizinische Kompetenzen?«
»Das nicht.« Penelope richtete sich kerzengerade auf. »Aber ich weiß genau, dass Louis Prinderre, wäre er die Treppe heruntergefallen, nie im Leben auf dem Bauch gelandet wäre.«
»Ach, und wieso nicht?«
Penelope strich sich die Locken aus der Stirn. »Er war immer darauf bedacht, Stürze zu vermeiden. Weswegen er es sich angewöhnt hatte, die Treppe rückwärts hinunterzusteigen. Rückwärts! Wäre er also gestolpert und gestürzt, so wäre er auf dem Rücken gelandet.«
Hannah, Emma und der Arzt sahen sich schweigend an. Penelopes Einwand warf ein völlig neues Licht auf die Szenerie.
»Vielleicht hatte er es besonders eilig, weil beispielsweise das Telefon läutete oder der Postbote klingelte«, mutmaßte Emma.
Penelope schüttelte heftig den Kopf. »Auf keinen Fall. Monsieur Prinderre war …« Ihre Stimme brach. Für einen Moment schloss sie die Augen, schluckte kurz und öffnete sie wieder. »Er war kein hektischer Mensch. Er … ruhte in sich, handelte besonnen. Einmal war ich hier – wir haben auf dem Balkon gesessen, unten hat das Telefon geklingelt. Er ist ganz entspannt die Treppe hinabgestiegen, hat sich dabei am Geländer festgehalten und zu mir gesagt: ›Wissen Sie, Mademoiselle Penelope, kein Gespräch der Welt kann so wichtig sein, dass ich dafür meine Knochen riskiere.‹« Eindringlich sah sie von einem zum anderen. »Verstehen Sie? Nie und nimmer wäre er auf dem Bauch gelandet.«
Serge Laurent tigerte durch seine Wohnung, in der Hand einige eng beschriebene Blätter. Auch wenn er ein Freund davon war, Reden zu halten, das hier war etwas vollkommen anderes. Eine Show im Radio. Live! Ein einstündiges Programm, das er gestalten und moderieren durfte. Vielmehr musste, denn er hatte verbindlich zugesagt.
Nun feilte er bereits eine gefühlte Ewigkeit an seinem Skript, hatte es diverse Male in sein Aufnahmegerät eingelesen und war immer noch nicht zufrieden. Anlässlich ihres 250. Todestages hatte Serge ein Programm um Leben und Werk der beiden Komponisten Jean-Marie Leclair und Jean-Philippe Rameau erstellt. Die Sendung sollte den Auftakt für ein regelmäßig stattfindendes Format darstellen.
Von der Anfrage des Senders, die ihm sein bester Freund Marcel vermittelt hatte, war Serge sofort angetan gewesen. Damit würde er ein drittes Standbein aufbauen können, neben seinen Artikeln für Diapason, einem Magazin für klassische Musik, und seiner Lehrtätigkeit als Gastprofessor an der Sorbonne.
Im vergangenen Jahr hatte Serge bei Anatole in der Provence eine Auszeit von seinem Pariser Alltag genommen. Der Tod seiner Frau Yvette einerseits sowie eine massive Unzufriedenheit mit seinem Dasein als Musikwissenschaftler in den Fängen des Universitätsbetriebes andererseits hatten eine Neuorientierung in seinem Leben erfordert. Da war ihm der Aufenthalt auf dem Weingut seines Freundes aus Kindertagen gerade recht erschienen. Dass in dieser Zeit eine deutsche Kriminalpolizistin in sein Leben treten würde, darauf war er nicht vorbereitet gewesen.
Er dachte an Hannah, die rationale Ermittlerin, als die er sie kennengelernt hatte. So viele Facetten hatte er inzwischen an ihr entdeckt. Ihre Leidenschaft und Emotionalität hatte sie zu Beginn stark kontrolliert, aber im Laufe der Zeit war es ihm gelungen, mehr und mehr davon an die Oberfläche zu holen. Und doch unterschied sie sich gänzlich von den Frauen, mit denen er sich früher eingelassen hatte. Das galt auch für die Tatsache, dass ihre Beziehung immer noch mehr oder weniger ungeklärt vor sich hin dümpelte.
An manchen Tagen passte ihm dieser Schwebezustand sehr gut. Nicht, dass es andere Frauen geben würde. Er scheute sich nach Yvettes Tod davor, den Schritt in eine neue, ernsthafte Verbindung zu wagen. Dabei hatten sie ihn de facto längst vollzogen. Zumindest verhielten Hannah und er sich längst wie ein Paar. Solange sie es jedoch nicht konkret benannten, schien es irgendwie leichter zu sein. Das Unausgesprochene barg natürlich zugleich eine Unsicherheit, und manchmal fragte sich Serge, ob Hannah es genauso sah wie er und wie es ihr damit ging.
Auch beruflich hatte er sein Leben komplett umgestellt. Nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt hatte Serge ein ausführliches Gespräch mit dem Dekan seiner Fakultät geführt. In gegenseitigem Einverständnis hatten sie Serges Vollzeitanstellung in eine Gastprofessur umgewandelt. Einmal im Quartal hielt er nun ein Wochenendseminar. Schnell hatte sich die Qualität seiner Kurse bei den Studenten herumgesprochen, weswegen die Seminare lange im Voraus ausgebucht waren und der Dekan ihn vor Kurzem wegen Zusatzterminen angesprochen hatte. Bisher war Serge ihm eine Antwort schuldig geblieben. Er wollte sich nicht wieder zu stark an diese Institution binden. Außerdem hatte er Gefallen an seiner Freiberuflichkeit gefunden, und bis jetzt war sie immerhin recht gut angelaufen.
Serge warf einen Blick auf die Wanduhr über der Wohnzimmertür. Zeit, den Computer zu starten. Hannah und er hatten sich zu einem Skypegespräch verabredet. Ihr letztes Treffen lag ein paar Wochen zurück. Er vermisste sie und sah ihrem Wiedersehen in der Provence ungeduldig entgegen. Am Tag nach der Radioshow würde er sich in den TGV setzen und in den Süden fahren.
Hannah war bereits online. Sofort merkte er, dass etwas geschehen sein musste. Halb im Scherz riet er: »Und, hat dich ein neuer Fall eingefangen?«
Sie verschränkte die Hände und stützte ihr Kinn darauf. Ihre Miene blieb ernst – keinerlei Anzeichen, dass sie auf seinen scherzhaften Ton ansprang.
Serge begriff, dass er unbeabsichtigt ins Schwarze getroffen hatte. »Wie machst du das nur – kaum bist du vor Ort, da passieren im verschlafenen Vaison Kriminalgeschichten.«
»Heute Morgen war es bloß eine verschwundene Katze, die ich wiederfinden sollte.« Hannah lachte bitter auf. »Jetzt ist noch ein Toter dazugekommen.« Ausführlich berichtete sie, was am Nachmittag vorgefallen war. Serge hörte ihr aufmerksam zu, wie es seine Art war, wenn Hannah von ihrer Arbeit sprach. Er wusste, dass sie allein durch den Prozess des Erzählens ihre Gedanken neu sortierte und überprüfte. Als sie geendet hatte, ließ er sich das eben Gehörte durch den Kopf gehen. Hannah wartete ab. Vermutlich präsentierte er ihr gerade sein Denkergesicht. So hatte sie es oft bezeichnet und ihm während ihrer Italienreise einmal einen Spiegel vorgehalten. Er hatte lachen müssen und endlich verstanden, warum ihn seine Kollegen und auch die Studenten manchmal so komisch ansahen. Sein Denkergesicht konnte auf die, die ihn nicht so gut kannten, ganz schön einschüchternd wirken.
»Euer Doctor Blanc scheint nicht der hellste Kriminologe zu sein«, begann er nun.
»Nee, der wirkte ziemlich erleichtert, als er seine Handschuhe abstreifen und das Haus verlassen konnte. Er ist in seiner beruflichen Laufbahn offenbar noch nicht so vielen Leichen begegnet. Am Ende haben Emma und ich ihm quasi diktiert, wie er den Totenschein auszufüllen hat.« Hannah stützte ihren Kopf mit der linken Hand und strich sich mit der rechten die blonden Haare hinters Ohr. »Na ja, ich kann es ihm gar nicht mal verübeln. Er ist ein einfacher Landarzt, hat keine Routine mit der Gerichtsmedizin. Immerhin konnten wir gemeinsam die Todeszeit auf heute Mittag zwischen zwölf und zwei eingrenzen.«
»Ich dachte, es sei immer ein Gerichtsmediziner dabei?«
»Nicht unbedingt. Einen Totenschein kann eigentlich jeder Arzt ausstellen. Und bei dem alten Mann sah es ja zunächst nach einer klaren Sache aus.«
»Ehe Penelope dazwischengefunkt hat.« Serge konnte sich lebhaft vorstellen, wie die energische Halbspanierin interveniert hatte.
»Vergiss nicht das Chaos in seinem Büro. Und das Haus war offen. Jeder hätte reinspazieren und ihn überraschen können. Von daher war es nur richtig, ›Todesart ungeklärt‹ anzugeben. Damit kommt jetzt automatisch die Gerichtsmedizin ins Spiel.«
»Was sagt dein Instinkt?«
»Ich weiß nicht.« Hannah sah Serge nachdenklich an. »Es gibt zu viele Dinge, die nicht zusammenpassen. Dass er auf dem Bauch lag, das durchwühlte Arbeitszimmer … Je länger ich mir die Sache durch den Kopf gehen lasse, desto überzeugter bin ich, dass es gewaltig nach einem Verbrechen aussieht.«
»Du solltest auf deinen Instinkt hören.«
Hannah lächelte ihn an. »Vergisst du gerade, dass ich privat hier bin? Mit den Ermittlungen werde ich wohl kaum beauftragt werden.«
»Abwarten. Immerhin bist du gut mit Emma befreundet, und ihr zwei habt schließlich im vergangenen Jahr bereits kooperiert.«
»Wir werden sehen.« Hannah lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Ehrlich gesagt, habe ich auch nichts gegen ein bisschen Erholung einzuwenden.«
»Noch mal zu dem alten Mann – wer kümmert sich jetzt um seinen Hund?«
»Penelope hat ihn erst mal mitgenommen. Sie hatte schon früher mit ihm zu tun. Er hat gleich angefangen zu bellen, als er ihre Stimme gehört hat. Und dann einen wahren Freudentanz um sie herum aufgeführt.«
»Er wird sich auf Anatoles Hof wohlfühlen.« Serge schmunzelte. »Außerdem wird Anatole die tägliche Bewegung guttun – er hat’s ja sonst nicht so mit Sport.«
»Und was hast du in den letzten Tagen gemacht?« Hannah sah ihn interessiert an.
Serge wedelte mit seinem Skript. »Ich habe die ursprüngliche Fassung einmal komplett gegen den Strich gebürstet. Der erste Entwurf war zu langweilig. Das ist das Schlimmste, was man seinem Publikum antun kann. Auf gar keinen Fall darf man es langweilen! Aber auch die neue Version ist noch nicht richtig ausgegoren. Ich muss das Ganze mehr aufpeppen. Ist schließlich keine Vorlesung. Das Leben der beiden Komponisten, ihre Werke, das Barock als Epoche – all die Fakten wollen in eine geschmeidige, unterhaltsame Form gebracht werden. Ach, ich weiß auch nicht, vielleicht eigne ich mich nicht als Moderator.«
»Hey, du wirst doch nicht aufgeben, ehe du begonnen hast. Du wirst es großartig machen! Alle werden dich lieben. Wenn du magst, bin ich gern dein Testpublikum.«
»Das ist keine schlechte Idee.« Serge dachte nach. »Lass mir noch ein paar Tage Zeit, bis alles sitzt, und dann halte ich vor dir meine Generalprobe.«
»Abgemacht. Ich werde eine strenge …«
An dieser Stelle verschwand das Bild. Die Verbindung war unterbrochen. Wieder einmal. Serge seufzte. Vergeblich versuchte er mehrmals, Hannah erneut anzurufen.
»Verdammte Technik!« Hannah klickte auf den Button mit dem Telefonhörer. Keine Chance. Sie kam nicht durch. Missmutig lehnte sie sich im Sessel zurück. In diesem Moment meldete ihr Handy den Eingang einer SMS.
»Ich muss bald los – désolé. Bin bei Marcel und Caroline zum Abendessen eingeladen. Melde mich morgen. Je t’embrasse, ma chère.«
Schnaubend klappte Hannah ihr Notebook zu. Sie konnte es nicht leiden, wenn ihre Skypegespräche mit Serge so abrupt endeten. Unentschlossen nahm sie das Telefon in die Hand, dann legte sie es weg, stand auf und öffnete die Terrassentür. Noch waren die Tage bis in den Abend hinein angenehm warm, aber allmählich kündigten sich die ersten Herbstnächte an. Barfuß lief Hannah eine Runde durch den Garten. Anders als sonst hatte sie diesmal jedoch keinen Blick für die Blumenpracht und Penelopes Gemüse. Mit ihren Gedanken war sie bei Serge und ihrem abgebrochenen Gespräch. So toll diese Videotelefonie auch war, die moderne Technik hatte nach wie vor ihre Tücken. Und selbst wenn das Gespräch nicht unterbrochen wurde, es blieb trotzdem oft ein nagendes Gefühl zurück. Eine echte Berührung ließ sich eben durch nichts ersetzen.