Mörderische Aussichten: Thriller & Krimi bei Droemer Knaur #8 - A. K. Turner - kostenlos E-Book

Mörderische Aussichten: Thriller & Krimi bei Droemer Knaur #8 E-Book

A. K. Turner

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Beschreibung

Verschwörungen, Nervenkitzel, Psychoterror, knifflige Mordfälle und dunkle Geheimnisse – all das erwartet Sie in dieser Leseproben-Sammlung. Wenn die Toten sprechen, ist sie zur Stelle: Cassie Raven, Assistentin der Gerichtsmedizin. Begleiten Sie die toughe Londonerin bei einem persönlichen Fall. Als die Frau, ohne die sie vermutlich als Junkie auf der Straße gelandet wäre, tot aufgefunden wird, will außer Cassie niemand an einen Mord glauben. »Tote schweigen nie« von A. K. Turner ist der Auftakt einer außergewöhnlichen Forensik-Thriller-Reihe. Gehen Sie in »Kill Club« von Wendy Heard gemeinsam mit Schlagzeugerin Jazz einen mörderischen Deal ein. Um ihren kleinen Bruder aus den Fängen seiner verbrecherischen Adoptivmutter zu befreien, wendet sich Jazz an den Kill Club. Einen Club, der verspricht: Ein Unbekannter tötet deine Feinde – wenn du dafür einen völlig Fremden tötest. Oder tauchen Sie mit »Das Labor« von Alec Martens ein in einen aktuellen Katastrophen-Thriller rund um ein ehrgeiziges Pharma-Unternehmen und verbotene Experimente mit manipulierten Viren: Während Paul Gerlach sich mit der Anti-Pharma-Aktivistin Katia Wozniak zusammenschließt, um den vermeintlichen Unfall seiner Frau, einer PR-Managerin der aufstrebenden Pharmafirma CureTech, aufzudecken, läuft unbemerkt vom Rest der Welt ein tödliches Ultimatum ab … Diese und weitere Geschichten von Autor*innen wie Ben Creed, Deborah O'Donoghue, Karen Rose und Vanessa Savage finden Sie in den Mörderischen Aussichten von Droemer Knaur. Nervenkitzel und beste Unterhaltung garantiert! Das kostenlose eBook enthält Leseproben zu: - A. K. Turner, »Tote schweigen nie« - Ben Creed, »Der kalte Glanz der Newa« - Wendy Heard, »Kill Club« - Deborah O'Donoghue, »Das Strandhaus« - Karen Rose, »Tränennacht« - Alec Martens, »Das Labor« - Alex Reeve, »Das Haus in der Half Moon Street« - Marc Hofmann, »Horvath und die verschwundenen Schüler« - Hope Adams, »Niemandsmeer«

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Mörderische Aussichten:Thriller & Krimi bei Droemer Knaur

Ausgewählte Leseproben von A.K. Turner, Ben Creed, Wendy Heard, Deborah O’Donoghue u.v.m.

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Über dieses Buch

Verschwörungen, Nervenkitzel, Psychoterror, knifflige Mordfälle und dunkle Geheimnisse – all das erwartet Sie in dieser Leseproben-Sammlung.

Wenn die Toten sprechen, ist sie zur Stelle: Cassie Raven, Assistentin der Gerichtsmedizin. Begleiten Sie die toughe Londonerin bei einem persönlichen Fall. Als die Frau, ohne die sie vermutlich als Junkie auf der Straße gelandet wäre, tot aufgefunden wird, will außer Cassie niemand an einen Mord glauben. »Tote schweigen nie« von A. K. Turner ist der Auftakt einer außergewöhnlichen Forensik-Thriller-Reihe.

Gehen Sie in »Kill Club« von Wendy Heard gemeinsam mit Schlagzeugerin Jazz einen mörderischen Deal ein. Um ihren kleinen Bruder aus den Fängen seiner verbrecherischen Adoptivmutter zu befreien, wendet sich Jazz an den Kill Club. Einen Club, der verspricht: Ein Unbekannter tötet deine Feinde – wenn du dafür einen völlig Fremden tötest.

Oder tauchen Sie mit »Das Labor« von Alec Martens ein in einen aktuellen Katastrophen-Thriller rund um ein ehrgeiziges Pharma-Unternehmen und verbotene Experimente mit manipulierten Viren: Während Paul Gerlach sich mit der Anti-Pharma-Aktivistin Katia Wozniak zusammenschließt, um den vermeintlichen Unfall seiner Frau, einer PR-Managerin der aufstrebenden Pharmafirma CureTech, aufzudecken, läuft unbemerkt vom Rest der Welt ein tödliches Ultimatum ab …

Diese und weitere Geschichten von Autor*innen wie Ben Creed, Deborah O'Donoghue, Karen Rose und Vanessa Savage finden Sie in den Vorab-Leseproben zu den Spannungs-Titeln von Droemer Knaur, die im Herbst und Winter 2021 erscheinen. Nervenkitzel und beste Unterhaltung garantiert!

Das kostenlose eBook enthält Leseproben zu:

- A. K. Turner, »Tote schweigen nie«

- Ben Creed, »Der kalte Glanz der Newa«

- Wendy Heard, »Kill Club«

- Deborah O'Donoghue, »Das Strandhaus«

- Karen Rose, »Tränennacht«

- Vanessa Savage, »Der Wald der toten Mädchen«

- Alec Martens, »Das Labor«

- Alex Reeve, »Das Haus in der Half Moon Street«

- Marc Hofmann, »Horvath und die verschwundenen Schüler«

- Hope Adams, »Niemandsmeer«

Inhaltsübersicht

VorwortA. K. Turner - Tote schweigen nieBen Creed – Der kalte Glanz der NewaWendy Heard – Kill ClubDeborah O’Donoghue – Das StrandhausKaren Rose – TränennachtVanessa Savage – Der Wald der toten MädchenAlec Martens – Das LaborAlex Reeve – Das Haus in der Half Moon StreetMarc Hofmann – Horvath und die verschwundenen SchülerHope Adams – Niemandsmeer
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Liebe Leser*innen,

wenn Sie das Schaudern und Zittern, das Bangen und Hoffen, die Abgründe der menschlichen Fantasie hautnah erleben wollen, dann lassen Sie sich von unserem Herbstprogramm 2021 in die Welt der Hochspannung entführen.

Wagen Sie einen Blick in unsere Top-Krimi- und -Thriller-Neuheiten, die wir Ihnen in einer Auswahl an Vorab-Leseproben präsentieren.

Viel Spaß beim Lesen und Miträtseln!

Ihr Team von Droemer Knaur

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A.K. Turner

Tote schweigen nie

Aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger

Als Assistentin der Rechtsmedizin ist Cassie Raven schräge Blicke gewöhnt. Möglicherweise ist auch ihr Gothic-Look mit zahlreichen Piercings und Tattoos nicht ganz unschuldig daran – ebenso wie ihre Überzeugung, dass die Toten mit uns sprechen, wenn wir nur ganz genau hinhören. Obwohl Cassie schon unzählige Körper seziert hat, war noch nie jemand darunter, den sie kannte oder der ihr gar etwas bedeutet hätte. Bis eines Tages ihre geliebte Mentorin auf dem Seziertisch landet. Cassies Chef behauptet, deren Tod in der Badewanne sei ein Unfall gewesen. Doch der Körper der Toten erzählt eine andere Geschichte …

1. Kapitel

Der Reißverschluss des Leichensacks öffnete sich und gab den Blick auf Cassies ersten Fall dieses Tages frei. Die halb offenen Augen der Frau, von verblüffend leuchtendem Blau, starrten blicklos zu ihr empor.

»Hallo, Mrs Connery.« Ihre Stimme wurde sanfter, als wenn sie mit Lebenden sprach. »Ich bin Cassie Raven, und ich kümmere mich um Sie, solange Sie bei uns sind.« Cassie zweifelte nicht daran, dass die Tote sie hören konnte – und hoffte, dass ihre Worte ihr ein kleiner Trost waren.

Am Vorabend war Kate Connery in ihrem Badezimmer zusammengebrochen und gestorben, als sie sich hatte bettfertig machen wollen, eine Woche vor ihrem fünfzigsten Geburtstag. Lachfältchen durchzogen ihr offenherziges Gesicht unter einem Haarschopf, der zu einheitlich brünett war, um natürlich zu sein.

Cassie schaute kurz zur Uhr hinauf und fluchte. Heute kam ein neuer Pathologe, um die Autopsien durchzuführen, und da Carl, der weniger erfahrene Sektionsassistent, krank war und sie drei Leichen auf dem Tisch hatten, würde sie alle Hände voll zu tun haben.

Trotzdem ließ sie sich Zeit dabei, Mrs Connery das Nachthemd über den Kopf zu ziehen. Ein schwacher Ammoniakgeruch von Schweiß oder Urin stieg ihr in die Nase, als sie es zusammenfaltete und sorgfältig in einer Plastiktüte verstaute. Die Sachen, die jemand angehabt hatte, als er gestorben war, bedeuteten ihren Lieben viel, manchmal mehr als der Leichnam selbst, zu dem die trauernden Hinterbliebenen manchmal nur schwer eine Verbindung fanden. Ein Leichnam konnte einem wie ein leerer Koffer erscheinen.

»Wir müssen rauskriegen, was mit Ihnen passiert ist, Mrs C«, erklärte Cassie ihr. »Damit wir Antworten für Declan und Ihre Jungs finden können.« Seit ihrem ersten Tag in der Pathologie vor fünf Jahren fand sie es vollkommen normal, mit den Leichen in ihrer Obhut zu sprechen, sie zu behandeln, als seien sie noch am Leben – als seien sie immer noch Menschen. Manchmal antworteten sie sogar.

Es war nicht so, als spräche jemand Lebendiges – zum Beispiel bewegten sich die Lippen der Toten nicht –, und es ging immer so schnell, dass es fast Einbildung gewesen sein könnte. Fast. Normalerweise sagten sie so etwas wie »Wo bin ich?« oder »Was ist passiert?« – schlichte Verwirrung angesichts des unbekannten Ortes, an dem sie sich wiederfanden –, aber hin und wieder war Cassie überzeugt, dass ihre Worte einen Hinweis darauf enthielten, wie sie ums Leben gekommen waren.

Cassie hatte nie einer Menschenseele von diesen »Gesprächen« erzählt; die Leute fanden sie ohnehin schon merkwürdig genug. Aber die wussten eben nicht, wovon sie ganz tief in ihrem Innern überzeugt war: Die Toten konnten sprechen – wenn man sich nur darauf verstand, ihnen zuzuhören.

Das einzige äußerliche Zeichen dafür, dass irgendetwas mit Mrs Connery nicht stimmte, waren ein paar rote Flecken auf ihren Wangen und ihrer Stirn sowie ein faustgroßer blauer Fleck auf ihrem Brustbein, wo entweder ihr Mann oder ein Rettungshelfer verzweifelt versucht hatte, sie zu reanimieren. Cassie sah ihre Akte durch. Nach einem Abend im Pub, wo er sich ein Fußballspiel angesehen hatte, war Declan Connery nach Hause gekommen und hatte seine Frau bewusstlos auf dem Boden ihres Badezimmers vorgefunden. Ein Notarztwagen hatte sie eilends ins Krankenhaus gebracht, doch als sie dort ankam, war sie tot gewesen.

Da Kate Connery unerwartet verstorben war – anscheinend hatte sie sich bester Gesundheit erfreut und war seit Monaten nicht beim Arzt gewesen –, war eine einfache Autopsie erforderlich, auch »Routineautopsie« genannt, um die Todesursache zu ermitteln.

Cassie legte Mrs Connery die Hand auf den kühlschrankkalten Unterarm und wartete, bis ihre eigene Körperwärme die Kälte vertrieb. »Können Sie mir sagen, was passiert ist?«, fragte sie halblaut.

Ein paar Sekunden lang geschah gar nichts. Dann spürte sie jenes vertraute Schlingergefühl, gefolgt von zerstreuter Verträumtheit. Gleichzeitig waren alle ihre Sinne plötzlich extrem geschärft – das Summen des Leichenkühlschranks wuchs zum Brüllen eines Düsenflugzeugs an, die Deckenbeleuchtung war auf einmal schmerzhaft grell.

In der Luft über Mrs Connerys Leichnam schien der letzte Funken jener Energie zu knistern, die sie fünf Jahrzehnte lang belebt hatte. Und aus diesem Rauschen hörte Cassie ein leises, heiseres Flüstern heraus.

»Ich kriege keine Luft!«

2. Kapitel

Wie immer war es sofort wieder vorbei. Das Ganze erinnerte Cassie an das Erwachen aus einem sehr lebhaften Traum, wenn der Verstand sich mühte, Details festzuhalten – nur um zu merken, wie sie ihm entglitten, wie Wasser durch offene Finger rinnt.

Jedenfalls waren Mrs Connerys Worte nicht besonders hilfreich. In der Akte stand nichts von Asthma oder einem Emphysem. Sie überlegte noch, ob sie irgendetwas damit anfangen konnte – und wenn ja, was –, als sie hörte, wie die Tür aufging. Es war Doug, der Verwaltungschef der Pathologie, gefolgt von einem hochgewachsenen jüngeren Mann mit Ponyfransen, den er als Dr. Archie Cuff vorstellte, den neuen Pathologen.

Cassie streifte den Handschuh ab und streckte ihm die Hand hin.

»Cassie Raven ist unsere erfahrenste Sektionsassistentin«, verkündete Doug strahlend. »Sie sorgt dafür, dass hier alles läuft wie am Schnürchen.«

Obwohl er Manschettenknöpfe und Krawatte trug (Manschettenknöpfe?!), konnte Cuff höchstens dreißig sein, kaum fünf Jahre älter als Cassie. Ein einziger Blick verriet ihr, dass seine Wachsjacke wirklich von Barbour war und kein Imitat – auf dem Metallplättchen am Reißverschluss war der Firmenname eingraviert. Und nach seiner Krawatte zu urteilen – dunkelblaue Seide mit dicken weißen Schrägstreifen –, war er auf die Harrow School gegangen. Solche Dinge fielen Cassie auf, schon immer.

»Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen, Cathy.« Er hatte diesen unechten, semi-umgangssprachlichen Akzent drauf, den die jungen Mitglieder der königlichen Familie so gern benutzten, sein Lächeln war so oberflächlich wie das eines Ministers, und daran, wie sein Blick über sie hinwegglitt, erkannte Cassie, dass er sie bereits in einer Schublade mit dem Etikett »Lakai« abgelegt hatte.

Es passierte nicht oft, dass Cassie jemanden vom ersten Moment an nicht leiden konnte, aber bei Archie Cuff machte sie eine Ausnahme.

»Ich mich auch«, antwortete sie. »Vor allem, wenn Sie das mit meinem Namen noch richtig hinkriegen.«

Röte stieg aus Cuffs gestreiftem Hemdkragen bis zu den rötlich blonden Koteletten empor, aber wenigstens sah er sie diesmal richtig an. Und nach dem kurzen Aufflackern des Abscheus zu schließen, das über seine Züge huschte, gefiel ihm nicht besonders, was er sah – auch wenn es schwer zu sagen war, ob es an den schwarz gefärbten Haaren mit dem hoch rasierten Undercut oder ihren Gesichtspiercings lag oder einfach nur an der Art und Weise, wie sie seinem Blick standhielt. Sie musste gegen den pubertären Impuls ankämpfen, ihren Kasack anzuheben und ihm ihre Tattoos zu zeigen.

Dougs Blick huschte zwischen ihnen hin und her wie der eines unerfahrenen Schiedsrichters bei einem Käfigkampf, sein Lächeln geriet ins Wanken. »Na schön, dann lass ich euch mal machen.« Cassie war klar, dass er sie wahrscheinlich später an seine goldene Regel erinnern würde: »Denken Sie immer daran, der Pathologe kann Ihnen Ihren Job versüßen – oder zu einem Albtraum machen.«

 

Nachdem Cuff Mrs Connery kurz untersucht hatte, wobei sie außer dem Notwendigsten kaum etwas miteinander gesprochen hatten, überließ Cuff es Cassie, den Leichnam auszuräumen.

Sie setzte ihr Messer direkt unterhalb von Mrs Connerys Hals an. Dies war der Moment, wo sie aufhören musste, Kate Connery als Menschen zu sehen, und anfangen musste, sie als ein Rätsel zu betrachten, das gelöst werden musste, als unkartiertes Terrain. Wer könnte ohne diesen Perspektivwechsel einen seiner Mitmenschen aufschneiden?

Nach dem ersten Einschnitt ließ ein entschlossener Zug mit dem Messer das Brustbein hinunter das Gewebe so leicht aufklaffen wie einen alten Seidenvorhang. Sie hielt nicht inne, als sie die Weichteile des Bauches erreichte, nahm jedoch den Druck weg, um die Organe darunter nicht zu verletzen, und beendete den Einschnitt direkt oberhalb des Schambeins.

Binnen fünf Minuten hatte die Knochenschere Mrs Connerys Brustkorb eröffnet, sodass Herz und Lunge freilagen, und Cassie löste die Organe geschickt aus. Nachdem das erledigt war, hob sie mit beiden Händen sämtliche Eingeweide, von der Zunge bis zur Harnröhre, auf einmal heraus – sie waren verblüffend schwer – und legte sie behutsam in eine bereitstehende Plastikwanne. Dies war ein feierlicher Moment, sie kam sich dabei immer vor wie eine Hebamme des Todes.

Nun zum Gehirn. Cassie trat hinter den Kopf der Toten, rückte den Holzblock zurecht, der ihren Nacken stützte, und machte sich daran, die Kopfhaut zu durchtrennen. Der Schnitt wurde von Ohr zu Ohr geführt, quer über den Scheitel, damit die Naht später von Mrs Connerys Haar verdeckt werden konnte – das war besonders wichtig, weil die Connerys eine Trauerfeier mit offenem Sarg geplant hatten. Als sie das dicke dunkle Haar scheitelte und einen Teil über die Stirn nach vorn kämmte, entdeckte sie einen glänzenden roten Fleck auf der Kopfhaut. Ein Ekzem? Wenn ja, dann war das in der Krankenakte nicht erwähnt worden, aber Ekzeme brachten einen ja auch nicht um.

Nachdem sie die aufgeschnittene Kopfhaut nach vorne und hinten auseinandergeklappt hatte, griff Cassie zur oszillierenden Knochensäge. Kurz darauf hatte sie vorsichtig die Schädeldecke abgehoben und löste das Gehirn aus. Während sie es einen Moment lang in den beiden Händen hielt, stellte sie sich vor, wie Kate Connery als lebendiger Mensch gewesen sein mochte – eine bodenständige, fröhliche Matriarchin, umgeben von Freunden und Familie bei einer Kneipentour in Camden Town.

Als Archie Cuff in OP-Kleidung zurückkehrte, blieb die Atmosphäre zwischen ihnen frostig: In den gut vierzig Minuten, die er brauchte, um Mrs Connerys Organe zu sezieren, richtete er nur ein einziges Mal das Wort an Cassie – um sich zu beschweren, dass sein Skalpell stumpf sei. Das bestätigte ihren ersten Eindruck von ihm: Nur ein weiterer in der langen Reihe vornehmer Jüngelchen, für die Sektionsassistenten knapp über Schlachthausgehilfen rangierten. Ein erfahrenerer Pathologe hätte sie nach ihrer Einschätzung hinsichtlich der Todesursache gefragt, und das nicht nur aus Höflichkeit: Sektionsassistenten verbrachten sehr viel mehr Zeit mit den Leichen und bemerkten manchmal Hinweise, die sonst leicht übersehen werden konnten.

Während Cuff zum Waschbecken ging, um sich die blutigen Handschuhe abzuspülen, machte Cassie sich daran, Mrs Connerys Organe in einen Plastikbeutel zu packen, bereit, wieder mit ihrem Körper vereint zu werden.

»Und, wie lautet die Diagnose?«, fragte sie ihn.

»Da gibt’s keine schlüssige Todesursache«, antwortete er achselzuckend. »Wir müssen abwarten, ob das Labor was Brauchbares findet.« Mrs Connerys Köperflüssigkeiten würden histopathologisch auf Drogen und Proben ihrer Organe auf Krankheitsanzeichen untersucht werden.

»Haben Sie in der Lunge Petechien gefunden?«, erkundigte sich Cassie beiläufig.

Cuff drehte sich zu ihr um. »Wieso?« Also hatte er welche gefunden.

Sie hob eine Schulter. »Ich fand nur, dass ihr Gesicht ziemlich verkrampft aussah.«

Ich kriege keine Luft.

Petechien – winzige geplatzte Blutgefäße – konnten ein Zeichen von Sauerstoffmangel sein.

Cuff wirkte plötzlich nervös. »Sie lag auf dem Bauch, als sie gefunden wurde. Nach dem neuesten Forschungsstand kann eine Bauchlage post mortem durchaus zu petechialen Einblutungen führen.« Er brachte ein herablassendes Lächeln zustande. »Falls Sie scharf auf einen schönen Mord sind, haben Sie Pech, fürchte ich. Es gibt keinerlei Anzeichen für Strangulation oder gewaltsam herbeigeführtes Ersticken.«

Cassie wusste genau wie er, dass Ersticken durchaus auch eine medizinische Ursache haben konnte, doch sie verkniff sich eine Erwiderung. Als sie ein kleines Stück Niere für das Labor in ein Gefäß mit Formaldehyd fallen ließ, sah sie Mrs Connerys Leichnam auf dem Autopsietisch liegen, den Brustkorb aufgespreizt wie ein offenes Buch, finstere Leere dort, wo ihre Organe gewesen waren. Über dem geschändeten Körper wirkte ihr glänzendes brünettes Haar fehl am Platze.

Das Licht der Deckenbeleuchtung flackerte grell und zwang Cassie, die Augen zu schließen. Der allgegenwärtige Formaldehydgestank war plötzlich stark genug, um hinten im Rachen zu brennen. Hinter ihren Augenlidern flackerten Bilder: Mrs Connerys rotfleckiges Gesicht, dieser schuppige Fleck auf ihrer Kopfhaut. Ihr wurde es eng um die Kehle wie aus Mitgefühl – und jäh fiel jedes Puzzleteil an seinen Platz.

»Ich geh nur mal schnell aufs Klo«, sagte sie zu Cuff, ehe sie in den Flur hinausschlüpfte und dort ihr Handy zückte.

»Mr Connery? … Hier ist Cassie Raven, von der Pathologie.«

 

Zehn Minuten später war sie zurück. »Entschuldigung, dass es so lange gedauert hat«, sagte sie zu Cuff. »Aber ich hatte gerade ein sehr interessantes Gespräch mit Mrs Connerys Mann.«

»Ihrem Mann …?« Er klang verwirrt. Die Vorstellung, dass ein Leichnam einen Ehepartner haben könnte, schien ihm fremd zu sein.

»Ja. Bevor er gestern Abend weggegangen ist, hatte sie ihm gesagt, dass sie sich die Haare färben wollte.«

»Ich verstehe nicht, was …«

»Er sagt, sie hätte schon zwei Mal allergisch auf ihr Haarfärbemittel reagiert. Nichts allzu Ernstes. Aber es sieht aus, als hätte es diesmal einen tödlichen anaphylaktischen Schock ausgelöst.«

3. Kapitel

»Ich bin’s nur, Babcia!« Cassie hatte auf die harte Tour gelernt, dass es besser war, ihre Ankunft laut zu verkünden, wenn sie die Wohnung ihrer Großmutter betrat, die nach dem frühen Tod ihrer Eltern das Zuhause ihrer Kindheit geworden war. Einmal, mit siebzehn, hätte sie beinahe ein Nudelholz über den Schädel gekriegt, als sie um drei Uhr morgens hereingepoltert war, zugedröhnt mit Ecstasy.

Als kleines Mädchen hatte sie diesen Moment immer toll gefunden, wenn sie von dem windgepeitschten Beton-Laufgang in die mollig warme, nach Zimt duftende Wohnung trat – als wäre die Wohnungstür eine Art Zaubertor in eine andere Welt.

»Cassandra, tygrysek!« Ihre Großmutter wandte sich vom Herd ab, um sie zu begrüßen. Sie reichte Cassie nur knapp bis zur Nase, doch ihre Umarmung war kräftig genug, um einem die Rippen zu brechen. »Du hast abgenommen«, bemerkte sie vorwurfsvoll.

»Na, an dir liegt das nicht.« Cassie schnupperte. »Pilze und Sauerrahm. Mit … Klößchen. Und Mohnkuchen zum Nachtisch?«

Mit zusammengekniffenen Augen schaute ihre Großmutter zu ihr auf. »Die Pilze, die kannst du natürlich riechen. Aber wie kommst du auf die Klößchen?«

Cassie strich mit dem Finger über den Rand der Arbeitsfläche und zeigte ihrer Großmutter die weißen Spuren auf ihrer Fingerspitze. »Du hast entweder Kopytka gemacht oder Brot gebacken – und ich rieche keine Hefe.«

»Und der Mohnkuchen?«

»Im Flur liegt eine neue Ausgabe von der Zeitschrift, die du so gern magst. Das heißt, du warst in dem polnischen Laden in Islington – und da gehst du nie hin, ohne Makowiec zu kaufen.«

»Geh rein und setz dich hin, Schlaumeier.« Unfähig, sich ein Lächeln zu verbeißen, scheuchte ihre Großmutter sie aus der Küche.

Im Wohnzimmer sank Cassie in einen Sessel und spürte, wie sich die Wärme wie eine Daunendecke über sie legte; das einzige Geräusch war das tröstliche Pop-Pop der Gasflamme im Kamin. Schwer zu glauben, dass die Wohnung für sie als Teenager wie eine überheizte Gefängniszelle gewesen war, mit ihrer Großmutter als scharfäugiger Oberwärterin. Im Alter von sechzehn Jahren hatte Cassie sich bereits die Zunge piercen lassen, sich eine türkisblaue Strähne ins Haar gefärbt und zum ersten Mal Skunk geraucht, hammerstarkes Marihuana. Was die Schule anging … »Cassie zieht es vor, ihre Lehrer infrage zu stellen, anstatt von ihnen zu lernen«, lautete ein typischer Zeugniseintrag. Damals war es ihr vorgekommen, als hätte sich die gesamte Erwachsenenwelt mit einem einzigen Ziel gegen sie verbündet: ihr Recht auf Selbstentfaltung zunichtezumachen.

Aus der Küche hörte sie »Ich hab was für dich«, gefolgt vom Geräusch der zufallenden Gefrierschranktür.

Babcia kam mit den Händen auf dem Rücken herein und hielt ihr ein langes, starres, in Plastik gewickeltes Päckchen hin. »Dreimal darfst du raten.«

In dem Päckchen fand Cassie ein steif gefrorenes Eichhörnchen. Sie legte es mit dem Bauch nach oben auf ihren Schoß und untersuchte es ebenso behutsam, wie sie mit einem ihrer menschlichen Schützlinge umgehen würde. Dabei stellte sie es sich bereits vor, wie es ausgestopft wieder zu einer Art Leben erwachen würde. Taxidermie war ihr neues Hobby.

Die meisten Leute würden ein totes Eichhörnchen für ein sehr abwegiges Geschenk halten, doch die wussten auch nicht, was Babcia wusste – dass Cassie sich von klein auf zu toten Lebewesen hingezogen gefühlt hatte. Sie erinnerte sich immer noch an das erste Mal, als sie einen totgefahrenen Fuchs am Straßenrand gesehen hatte. Sie hatte sich gebückt, um das borstige rote Fell des armen Viehs zu streicheln, und ihn dabei ganz kurz verwandelt vor sich gesehen, wieder als herumtollenden Welpen.

»Du bist aber schön.« Sie strich dem Eichhörnchen über den unversehrten Pelz – zu vollkommen, als dass es überfahren worden sein konnte. »Wo hast du’s her?«

»Vom Müllmann. Der schuldete mir noch was.«

Cassie fragte lieber nicht, was das zu bedeuten hatte: Ihre Großmutter führte in ihrem Wohnblock einen Ein-Frau-Krieg gegen Graffiti, wildes Müllabladen und anderes asoziales Verhalten. Vor ein paar Wochen hatte sie sich sogar mit einem Drogendealer angelegt, der im Treppenhaus Schulkindern Gras verkauft hatte. Doch immer, wenn Cassie versuchte, ihr solche riskanten Unterfangen auszureden, hob die alte Dame nur das Kinn und antwortete, sie sei nicht in ein freies Land ausgewandert, um in Angst zu leben. Genau wie Cassie war auch Weronika Janek in ihrer Jugend eine Rebellin gewesen – mit dem Unterschied, dass ihre Beteiligung an den Protesten gegen das kommunistische Regime Polens in den Fünfzigerjahren ihr sechs Monate Gefängnis eingetragen hatte.

Als das Abendessen fertig war, klappte sie den alten, mit grünem Filz bezogenen Kartentisch aus, den ihre Großmutter als Esstisch benutzte. Beim Essen erwähnte sie den neuen Pathologen.

»Und du magst ihn nicht.« Weronikas Blick war durchdringend.

»Meine Meinung ist irrelevant. Ich bin ja nur eine von den Untergebenen.«

Nur hatte die Untergebene heute einen kleinen Sieg eingefahren.

Sie erzählte die Geschichte, wobei sie wegließ, dass Mrs Connery gesagt hatte, sie kriege keine Luft: Ihre Gespräche mit den Toten waren zu … sakrosankt, um sie mit irgendjemandem zu teilen, nicht einmal mit ihrer Großmutter. Und außerdem, jedes Mal, wenn sie diese Momente ganz rational betrachtete, musste sie zugeben, dass da möglicherweise einfach ihr Unterbewusstsein zwei und zwei zusammenzählte. Hatte sie zum Beispiel die Flecken auf Mrs Connerys Gesicht nicht bemerkt, bevor sie sie gehört hatte?

»Ihr Mann hat mir erzählt, dass sie nach dem Haarefärben schon öfter Ausschlag bekommen hatte.«

»Aber sie hat trotzdem weiter dieselbe Farbe benutzt?«

»Wahrscheinlich hat sie gedacht, ein paar Hautreizungen wäre das Ganze wert.« Die schuppige, rote Stelle auf Mrs Connerys Kopfhaut, die Cassie entdeckt hatte, war kein Ekzem gewesen, sondern eine letzte Spur von Urtikaria, einem allergiebedingten Hautausschlag. »Ihr Hausarzt hat sie nicht vor dem Risiko gewarnt, dass ihr Immunsystem jedes Mal mehr sensibilisiert wird, wenn sie sich die Haare färbt. Gestern ist es dann durchgedreht. Ihre Luftröhre ist so zugeschwollen, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes keine Luft mehr bekommen hat.«

»Die Arme.« Weronika bekreuzigte sich. »Und warum ist dieser neunmalkluge Doktor nicht darauf gekommen?«

Wieder sah Cassie Archie Cuffs verdatterte Miene vor sich, als ihm klar geworden war, dass eine niedere Sektionsassistentin möglicherweise auf die Ursache von Mrs Connerys Tod gestoßen sein könnte. Ein paar Minuten später hatte er ihr ein unterschriebenes Formular in die Hand gedrückt, das die spezielle Blutuntersuchung anordnete, die nötig war, um die Theorie zu bestätigen – alles, ohne auch nur ein Wort zu sagen.

Arsch.

»Fairerweise muss man sagen, dass die für eine Routineautopsie auch nur dreißig bis vierzig Minuten Zeit kriegen, und Anaphylaxie ist nach dem Tod auch echt schwer zu diagnostizieren.«

»Aber du hast doch was gemerkt. Dir fallen Kleinigkeiten auf, die andere Leute übersehen – das war schon immer so, sogar als du klein warst.« Sie zeigte mit ihrer Gabel auf Cassie. »Du solltest einer von diesen Leichendoktoren sein, den Grips dafür hast du jedenfalls!«

Cassie zuckte skeptisch die Achseln – dies war ein ziemlich abgedroschenes Streitthema zwischen ihnen. Sie wusste, dass sie eine gute Sektionsassistentin war, doch die Vorstellung, Pathologin zu werden? Das war doch lächerlich – als würde man fünf gegen fünf im Park herumkicken und dann für Arsenal auflaufen. Ein Medizinstudium, das war nichts für junge Frauen wie sie – halbgebildet und in einer Sozialsiedlung aufgewachsen. Das war etwas für Leute wie Archie Cuff – männlich und wohlhabend, die eingehüllt in eine Blase aus unerschütterlichem Selbstvertrauen durchs Leben zu schweben schienen.

»Und was ist mit dem Abitur, das du in der Abendschule gemacht hast?« Ihre Großmutter zählte die Fächer an den Fingern auf. »Eine Eins in Biologie und Chemie, eine Zwei in Physik. Und eine Eins Plus in Englisch.«

»… die ungefähr so nützlich ist wie Makramee, Gran.«

Nachdem sie nach der zehnten Klasse von der Schule abgegangen war, hatte Cassie einfach nur weggewollt. Sie liebte ihre Großmutter, doch der Altersunterschied von fast fünfundfünfzig Jahren zwischen ihnen war ihr wie eine unüberbrückbare Kluft erschienen. Sie hatte davon geträumt, ins Ausland zu gehen, in irgendeiner coolen Stadt zu leben, wie Berlin. Doch als Mazz, ihr damaliger Freund, ihr von einem Zimmer erzählt hatte, das in einem von Hausbesetzern bewohnten ungenutzten Bürogebäude in Chalk Farm leer stand, hatte sie das besser gefunden als gar nichts.

Am Tag nach ihrem siebzehnten Geburtstag, gebeugt unter der Last eines randvoll gestopften Rucksacks, hatte Cassie ihre Großmutter auf der Türschwelle zum Abschied umarmt, beide den Tränen nahe. Doch auf der Straße angekommen, waren Cassies Tränen bereits einem wachsenden Gefühl freudiger Erregung gewichen: Endlich war sie frei und begann ein richtiges Erwachsenenleben, niemandem mehr Rechenschaft schuldig.

Nachdem die Beziehung mit Mazz sich schon drei Monate später aufgelöst hatte, blieb Cassie bei den Hausbesetzern und zog mit ihnen nach jeder unvermeidlichen Räumung immer wieder in das nächste Gebäude. Ein bequemes Leben konnte man das nicht nennen – sie waren ständig pleite und oft ohne Strom und Wasser, doch ihre wechselnden Mitbewohner waren eine tolle Mischung aus Verrückten und Kreativen. Loyal bis zum Äußersten, teilten sie alles miteinander, was sie hatten, von Lebensmitteln bis zu Drogen, und sie hatte die Freiheit am Rande der Gesellschaft genossen – zumindest eine Zeit lang.

Nach ungefähr anderthalb Jahren dieses Vagabundenlebens stand Cassie eines Tages auf der Straße und verkaufte die Obdachlosenzeitung, als sie eine Begegnung hatte, die alles verändern sollte. Eine modisch gekleidete Frau Mitte vierzig blieb stehen, um eine Zeitung zu kaufen, und kam mit ihr ins Gespräch. Sie war Lehrerin für Naturwissenschaften an der Einrichtung für Erwachsenenbildung hier im Viertel. Schon bald kam sie regelmäßig vorbei und brachte immer ein Sandwich oder einen Becher Kaffee mit.

Sie unterhielten sich über wahnsinnig viele verschiedene Themen, von der Frage, wie das Auge Farben wahrnimmt, über die Entdeckung von Wasser auf dem Mars bis hin zu der Erkenntnis, dass Europäer fünf Prozent Neandertaler-DNA aufweisen. Diese Begegnungen ließen Cassies Gehirn in alle Richtungen sprühen wie ein Feuerrad. Ein paar Wochen später schrieb sie sich an der Abendschule für Naturwissenschaften bei Mrs Edwards ein – oder vielmehr bei Mrs E, wie ihre Schüler sie nannten. Nach einem schwierigen Start hatte Cassie Wissen inhaliert wie ein Apnoe-Taucher Luft nach einem Tauchgang.

»Also, eins weiß ich«, sagte Weronika gerade. »Deine Mama, Gott gebe ihrer Seele Frieden, wäre ja so stolz auf dich.«

Cassie folgte ihrem Blick mit den Augen zu einem Foto auf dem Kaminsims, auf dem ein hübsches Mädchen Ende zwanzig in einer Rüschenbluse zu sehen war, mit einem schüchternen Lächeln unter braunem Haar. Ihre Mum war gerade fünfundzwanzig gewesen, ihr Vater ein paar Jahre älter, als sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, Opfer eines minderjährigen Fahrers in einem gestohlenen Porsche. Cassie war erst vier Jahre alt gewesen und erinnerte sich, abgesehen von einer Handvoll Eindrücke, kaum an ihre Mutter – eine weiche Wange zur Schlafenszeit, der süße Wassermelonenduft ihres Parfums, ein Kleid mit riesigen orangeroten Mohnblüten drauf. Aus irgendeinem Grund waren ihre Erinnerungen an ihren Dad deutlicher. Auf seinen Schultern durch einen Wald getragen zu werden, die Hände fest in seine dunklen Locken geklammert. Die lustigen Grimassen, die er schnitt, wenn er mit einer Gabel voll Essen, das sie nicht mochte, Flugzeug spielte – dasselbe Gesicht, das sich plötzlich und sehr überzeugend zur Fratze eines Monsters verzerren konnte.

»Babcia … Wie alt war ich, als ich angefangen habe, tote Tiere mit nach Hause zu bringen?«

Weronika blickte verblüfft auf: Ihre Enkelin war eigentlich nicht der Typ für Selbstbetrachtungen. »Oh, ungefähr vier, vielleicht auch fünf. Unser erster Hausgast war eine tote Elster, die hast du draußen auf dem Laufgang gefunden.«

»Das weiß ich noch. Sie hatte so ein schönes Gefieder. Ich konnte gar nicht fassen, dass etwas so Schönes nie wieder fliegen würde.«

»Es war verflixt schwer, dich dazu zu bringen, dass du dich von ihr trennst«, schmunzelte Weronika. »Ich hab dir gesagt, der Körper wäre nur eine Verpackung – wie eine leere Bonbontüte –, und ihre Seele wäre schon davongeflogen. Pfouff!« Sie warf die geöffneten Hände in die Luft, als ließe sie einen Vogel fliegen. »Am Schluss habe ich dich überzeugt, dass die Seele und der Körper im Himmel wieder vereint sein würden, wenn wir das arme Ding anständig begraben. Ich habe einen Schuhkarton hervorgesucht, als Sarg, und ein bisschen was von meinem Potpourri um die Leiche gestreut.« Sie lachte laut auf. »Wir haben sie im Kanal davonschwimmen lassen wie einen toten Wikinger. Das hat dich zwar nicht davon abgehalten, weiter tote Viecher anzuschleppen, aber wenigstens sind die nicht auf Dauer bei uns eingezogen.«

»Hast du je daran gedacht, mit mir zum Psychiater zu gehen?« Cassie trank einen Schluck Wasser und wich dem durchdringenden Blick ihrer Großmutter aus.

»Wieso?« Babcias Stimme klang plötzlich reserviert.

»Na, ich weiß nicht, ein kleines Kind, das tote Tiere nach Hause bringt … Die meisten Vierjährigen stehen doch nicht auf so was, oder?«

Nicht zum ersten Mal in ihrem Leben spürte Cassie eine deutliche Veränderung in der Atmosphäre. Irgendetwas Unausgesprochenes hing in der Luft – als verschweige ihre Großmutter ihr etwas.

»Du brauchtest keinen Kopfdoktor.« Ihre Großmutter streckte die Hand aus und umschloss die ihre mit ihrem warmen, ledrigen Griff. »Ich hab das doch verstanden. Du warst ein kleines Mädchen, das seine Mama verloren hatte.«

 

Cassie schloss die Tür zu ihrer eigenen Wohnung im neunten Stock eines verfallenen Wohnblocks nördlich des Kanals auf. Ein Drittel der Wohnungen in dem Gebäude waren inzwischen mit Brettern vernagelt, doch sie hatte Glück gehabt, ihre zu bekommen – auf der Warteliste nach oben zu rutschen, war einer der Vorteile daran, für den Gesundheitsdienst zu arbeiten.

In der Wohnung ließ eine geschmeidige Bewegung in der Finsternis sie zusammenfahren.

»Macavity! Lass das!« Als der Kater sich zwischen ihren Beinen hindurchwand, stellte sie sich vor, wie er lautlos in sich hineinlachte.

Sie strich ihm über den seidigen Kopf und verspürte einen schmerzhaften Stich: In letzter Zeit war er der Einzige, der sie begrüßte. Es war vier Monate her, dass sie sich von Rachel getrennt hatte – ungefähr genauso lange, wie sie zusammengewohnt hatten –, doch jetzt, wo der Winter allmählich anfing, Ernst zu machen, fiel es ihr schwerer, in eine kalte, leere Wohnung heimzukehren.

Sie drehte die Heizung auf und dachte daran, was ihre Großmutter angedeutet hatte: dass ihre kindliche Begeisterung für tote Tiere eine Möglichkeit gewesen war, mit dem Verlust ihrer Eltern in so jungen Jahren fertigzuwerden. Rachel – die mit ihrer Ausbildung zur Psychotherapeutin gerade zur Hälfte fertig war – hätte dem zugestimmt; sie hatte mehr als einmal versucht, Cassie davon zu überzeugen, dass sie möglicherweise an etwas litt, das man »unbewältigte Trauer« nannte. Rachel zufolge tat Cassie sich schwer mit Beziehungen, weil sie den Tod ihrer Eltern nie richtig verarbeitet hatte.

Psycho-Gelaber.

Für Cassie war ihre Verbindung zu den Toten eine Berufung, eine Gabe, die sie zu ihrem Glück schon früh im Leben entdeckt hatte. Und wenn sie Schwierigkeiten hatte, jemanden zu finden, der sie verstand, nun, das war ja wohl nicht gerade ungewöhnlich, oder?

Aus einem Impuls heraus tat sie etwas, was sie sich seit Monaten verwehrt hatte, und öffnete Rachels Facebook-Seite. Ärgerlicherweise zog sich beim Anblick des lachenden, sommersprossigen Gesichts in ihrem Bauch noch immer alles zusammen. Dann sah sie die drei Worte.

In einer Beziehung.

Sofort schloss sie das Fenster. Na ja, irgendwann hatte das ja passieren müssen. Sie bereute die Trennung nicht, sagte sie sich: Es war der richtige Zeitpunkt gewesen, um sich zu lösen. Ein verräterischer Gedanke brodelte in ihr empor: Du löst dich andauernd aus irgendwas. Cassie ging auf, dass sie in ein paar Wochen sechsundzwanzig sein würde und dass ihre längste Beziehung bisher nicht einmal die Sechs-Monate-Marke geknackt hatte.

Manchmal zogen mitten in der Nacht ihre ehemaligen Partner, männliche wie weibliche, durch ihre Gedanken und wiederholten ihre Klagen. Ich komm nicht an dich ran, Cassie … Ich weiß nie, was du denkst … Es ist, als wärst du hinter Plexiglas. Alles Variationen eines einzigen Themas. Seit Kurzem hatte sich noch die Erinnerung an das dazugesellt, was Rachel gesagt hatte, an dem Tag, bevor sie ausgezogen war. Mir ist jetzt klar, dass du mich nie reinlassen wirst. Ihre Worte klangen endgültig, aber ihre Miene hatte Cassie verraten, dass sie auf Widerspruch wartete, darauf, dass Cassie um sie kämpfte, dass sie Änderung versprach.

Vielleicht haben sie ja recht, dachte sie. Vielleicht bin ich einfach nicht für Beziehungen mit Lebenden gemacht.

Sie hob den Kater hoch und vergrub das Gesicht in seinem Fell. Als er sich wehrte, die Beine steif gegen ihre Brust stemmte, setzte sie ihn wieder ab. Einen Moment lang starrte er zu ihr hoch, ehe er wegschaute. Seine Rückenmuskeln zogen sich in einem einzigen, sparsamen Protestzucken zusammen, woraufhin sie lächeln musste.

»Du und ich, wir sind uns ganz schön ähnlich, was, Macavity? Wir sind allein besser dran.«

4. Kapitel

Es gab doch keine bessere Methode, die eigenen miesen kleinen Probleme richtig einzuordnen, als trauernde Angehörige zu betreuen. Dieser Gedanke schoss Cassie am nächsten Morgen durch den Kopf, als sie Mr und Mrs Middleton zum Leichnam ihres neunzehnjährigen Sohns Jake führte.

Jake Middleton war gestern Nachmittag beim Rugbytraining kollabiert. Er war mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen worden, eine Stunde später jedoch trotz aller Reanimationsversuche an Herzversagen gestorben. Seine Mum und sein Dad waren im Urlaub in Barcelona gewesen und heute früh direkt vom Flughafen gekommen, um ihren Sohn zu sehen.

Mrs Middletons geschwollene Augen und ihr völlig zerstörtes Gesicht zeugten von einer Nacht unvorstellbaren Kummers, während ihr Mann in seinem teuren Anzug so starr vor unterdrückten Emotionen war, dass er aussah, als könne er bei der kleinsten Berührung in tausend Stücke zerspringen.

So hat mein Vater mich auch mal geliebt, dachte Cassie aus heiterem Himmel und sah sein anfeuerndes Lächeln vor sich, als er sie auf einem Tretroller schob. Sie war hin- und hergerissen – wollte diese neue Erinnerung festhalten und war zugleich verstört, weil sie in so einem unpassenden Moment auftauchte.

Sie geleitete die Middletons in das Besichtigungszimmer, schloss die Tür und nutzte den Augenblick, um sich zu sammeln. »Also, wenn ich den Vorhang aufziehe, werden Sie Jake in einem Bett liegen sehen. Er ist mit einer Bettdecke zugedeckt und hat ein Kissen unter dem Kopf.« Die Leute darauf vorzubereiten, was sie gleich erblicken würden, half, den Schock zu mildern – ein bisschen. Und sie hatte sich Zeit genommen, um Jake zurechtzumachen, hatte ihm das Haar gekämmt und den Schlamm aus dem Gesicht gewaschen und auch daran gedacht, ihm ein zusammengerolltes Handtuch unter den Nacken zu legen – das kippte den Kopf nach hinten und verhinderte, dass der Unterkiefer herunterklappte.

»Sagen Sie einfach Bescheid, wenn Sie so weit sind«, sagte sie.

Mr Middleton nickte ungeduldig. Die Schwester aus der Notaufnahme hatte gesagt, er sei irgendetwas Hochgestochenes in der City, doch als sie den angetrockneten Rasierschaum unter dem einen Ohr bemerkte, wallte Mitleid in Cassie auf: Für jemanden, der so daran gewöhnt war, alles unter Kontrolle zu haben, musste es schlimm sein, sich einem Problem gegenüberzusehen, das nicht gelöst werden konnte.

Sie zog an der Schnur, die den Vorhang öffnete.

Als sie das klar gezeichnete Profil ihres Sohnes erblickte, sackte Jakes Mum in sich zusammen und wäre ohne Cassies stützende Hand unter ihrem Ellbogen gefallen. Die Augen des Vaters blieben trocken, sein Gesicht so regungslos wie eine aus Holz geschnitzte Maske. Er war derjenige, den sie im Auge behalten musste, er konnte ohne Vorwarnung jederzeit in die Luft gehen.

»Darf ich … ihn anfassen?« Es war schwer, in Mrs Middletons von Tränen verheertes Gesicht zu blicken, doch Cassie wich ihrem Blick nicht aus.

»Selbstverständlich.« Sie öffnete ihr die Glastür.

Nach nur wenigen Minuten allein mit seinem Sohn kam Jakes Dad allein heraus, ein merkwürdiges Beinahe-Lächeln im Gesicht.

Jetzt kommt’s, dachte Cassie.

»Der Arzt hat etwas von einer … Autopsie gesagt.«

»Ja, Mr Middleton. Der Rechtsmediziner hat darum gebeten – um herauszufinden, was Jakes Tod verursacht hat.«

Er beugte sich zu ihr vor. »Jetzt hören Sie mir mal zu.« Seine Stimme war ein leises Grollen. »Sagen Sie dem Rechtsmediziner, wenn irgendwer diesen Jungen da drin – meinen Sohn – auch nur anrührt, dann finde ich den Kerl und bringe ihn um.«

Cassie hielt seinem Blick stand. »Mir würde es genauso gehen, wenn er mein Sohn wäre. Er ist so ein wunderschöner Junge, nicht wahr?«

Einen Moment lang machte Mr Middleton ein verwirrtes Gesicht, ehe er wortlos nickte und die lange zurückgehaltenen Tränen über seine Wangen strömten.

Als Cassie die beiden zur Tür brachte, über eine Stunde später, stieß Mr Middleton keine Morddrohungen mehr gegen jeden aus, der seinen Sohn anrührte – er hatte sogar eingesehen, dass es vielleicht helfen würde, zu erfahren, was ihnen Jake genommen hatte.

In der Toilette brachte Cassie ihren Nasenring und den Augenbrauenstecker wieder an ihren Platz und schlang den oberen Teil ihres Haares von Neuem zu dem üblichen Knoten oben auf dem Kopf, sodass die rasierte Fläche über ihrem rechten Ohr zu sehen war. Wenn Angehörige kamen, um einen Toten zu sehen, fuhr sie ihren Look immer ein wenig herunter, weil sie wusste, dass manche Leute Anstoß daran nahmen, vor allem die ältere Generation. Das machte schon ein bisschen Mühe, doch es störte sie nicht: dass sich die Hinterbliebenen so wohl wie möglich fühlten, war wichtiger als alles andere.

Vielleicht war über die Jahre sogar noch mehr daraus geworden, dachte sie, ein Ritual, das die Grenze zwischen ihrer Arbeit mit den Lebenden und den Toten markierte.

Es war eine Erleichterung, in den Sektionssaal zurückzukehren, wo eine Gestalt in einem Leichensack auf ihrem Tisch auf sie wartete. Carl, der jüngere Sektionsassistent, der gestern krankgeschrieben gewesen war, hatte netterweise ihren Anwärter für die Mittags-Autopsie schon aus der Kühlung geholt.

»War’s schlimm?« Carl, der gerade saubere Probengefäße bereitstellte, schaute auf.

»Ist es doch immer.«

Carl nickte. Obwohl er erst zweiundzwanzig und noch relativ neu in diesem Beruf war, wusste er, was Sache war: Das Schwerste an ihrem Job war nicht der Umgang mit den Toten, sondern sich um die trauernden Angehörigen zu kümmern.

Dickes Plastik knisterte, als Cassie den Reißverschluss aufzog. Doch sie kam nur bis zum Schlüsselbein, ehe sie zurückfuhr und es ihr den Atem verschlug.

Bestimmt hatte sie irgendein Geräusch von sich gegeben, denn gleich darauf war Carl neben ihr und fasste sie am Ellbogen, so wie sie vorhin Mrs Middleton.

»Cassie? Was ist denn los?«

»Es … die Frau da.« Sie zeigte auf den Zettel an dem Leichensack, erstaunt, wie ruhig ihre Stimme klang. »Geraldine Edwards. Ich kenne sie.«

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Tote schweigen nie erscheint am 01.09.2021.

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Ben Creed

Der kalte Glanz der Newa

Thriller
Aus dem Englischen von Peter Hammans

Leningrad im eisigen Winter 1951: Wie auf Notenlinien wurden fünf grausam verstümmelte Leichen zwischen drei Bahngleisen arrangiert – ein Anblick, der selbst die hartgesottenen Militärpolizisten um Leutnant Revol Rossel zutiefst erschüttert. Könnte Stalins gefürchtetes Ministerium für Staatssicherheit dahinterstecken? Leutnant Rossel glaubt, dass er seit dem Krieg und einem Zusammenstoß mit der Geheimpolizei nichts mehr zu verlieren hat – doch als er während der Ermittlungen mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert wird, muss er erkennen, wie viel für ihn noch immer auf dem Spiel steht.

F
(Erster Akt)Samstag, 13. Oktober 1951
1

Gerade wie ein Baugerüst lagen sie da, starr im grellen Licht der Zugscheinwerfer. Ein Quintett von Körpern auf den zugeschneiten Gleisen, akkurat und parallel zueinander. Die Füße nebeneinander, die Arme ausgestreckt, die Köpfe feinsinnig alle in dieselbe Richtung gewandt. Als hätte der Tod sie gebeten, sich ordentlich in die Schlange zu stellen, dachte er, und aus Gründen, die nur ihnen selbst bekannt waren, hatte jede dieser verdammten Seelen fügsam seiner Bitte entsprochen.

Etwa dreißig Meter von den Schienen entfernt zog Revol Rossel, Leutnant der Leningrader Miliz, an seiner Papirossa, blies einen aschgrauen Ring und beobachtete den Tatort mit routinierter Teilnahmslosigkeit. Dieser Gesichtsausdruck war ihm zur Gewohnheit geworden. Eine Miene, die ihm bislang, obwohl er erst vierunddreißig Jahre alt war, den Gulag erspart hatte. »Jeder Mensch muss ein Gesicht für die Welt da draußen und eines für sich selbst haben, Revol«, hatte sein Vater einmal stoisch und augenzwinkernd zu ihm gesagt. Damals hatten weder Rossels Vater noch er selbst richtig verstanden, was für ein solider Rat dies war, die Art von Rat, die hilfreich dabei war, als Sowjetbürger etwas länger zu leben. Besonders wenn man in Leningrad lebte, einer Stadt, von der bekannt war, dass Stalin Vorbehalte gegen sie hegte.

Während er die Szene vom Beifahrersitz seines Moskwitsch aus taxierte, konnte er die Motorhaube des Wagens noch immer ticken hören. Zur Linken, hinter einem ausgedehnten Schneefeld, schnaufte eine schwarze Dampflok und blieb stehen. Hinter der Lok und ihrer Fracht waren die Schienen kilometerlang von Bäumen gesäumt, aber hier an dieser Stelle wurden sie von einem anderen Schienenstrang gekreuzt, sodass eine kleine Lichtung entstanden war.

»Also los, meine Herren. Zeit, unsere Aufwartung zu machen.«

Die Wagentüren schlugen zu und erinnerten an die Trommelschläge bei einer Parade, während Rossel und seine Milizionäre aus den Autos stiegen. Sie gingen zusammen, mussten die Beine stark anheben, um in den tiefen Schneewehen voranzukommen. Unter ihren Dienstmänteln, an denen die Rangabzeichen ihres jeweiligen Dienstgrads in der Miliz angebracht waren, trugen sie eine Vielzahl von Pullovern, Hosen und dicke Unterwäsche. Mit der Standarduniform allein war in einer Winternacht nicht viel auszurichten. Vor ein paar Stunden hatten sie im Radio minus 27 Grad verkündet. »Kalt genug, um gute, warme russische Pisse in Eiszapfen zu verwandeln«, wie Unteroffizier Gratschew sich das letzte Mal ausgedrückt hatte, als er ihnen wieder mal eine Geschichte darüber aufgetischt hatte, wie er damals auf dem Weg nach Berlin Angehörige der 33. SS-Waffen-Grenadier-Division abgeschlachtet habe.

Neben der Dampflok standen, verfroren und verloren, zwei Männer. Rossel sah nach rechts in Richtung des zweiten Gleises. Es traf in einem 45-Grad-Winkel auf die Hauptlinie, bog dann ab und verlief ein paar Dutzend Meter parallel zu dieser, ging an einer Weiche in die Hauptlinie über, um kurz darauf wieder in die Kiefern hinein abzuschwenken.

Einer der beiden Männer neben der Lok bewegte sich auf sie zu, um sie zu begrüßen – der Lokführer, vermutete Rossel. Er trug einen dicken Steppmantel über dem Overall und eine große Fellmütze, die den im Verhältnis dazu kleinen Kopf fast zu verschlingen schien, und er roch nach verbrannter Kohle.

»Was hat euch aufgehalten?«, grummelte er.

Rossel ignorierte die Frage und sah an ihm vorbei zu dem anderen Mann hinüber, der der örtlichen Miliz angehörte. Er musste der Anrufer gewesen sein. Er war klein und dünn und sah aus wie ein verängstigtes Tier – Anfang zwanzig, praktisch noch ein Junge. Der Halbstarke und der Lokführer blickten übellaunig drein. Zweifellos hatten sie sich gestritten. Rossel nahm an, dass der Lokführer die Leichen einfach hatte beiseiteschieben wollen, zum Teufel damit, um seinen Weg fortzusetzen. Das Milchgesicht war jedoch viel zu entsetzt, um irgendetwas auch nur anzurühren – ein Polizist wie aus der Dienstvorschrift, der sich nicht in der Lage sah, etwas zu unternehmen, bevor nicht jemand anderer das Kommando übernahm.

»Was hat euch aufgehalten, hä?«, fragte der Lokführer noch einmal.

Rossel sah ihn an und schoss zurück. »Nachts um vier fünfzig Kilometer zu fahren, in einem Schneesturm, der selbst einen Polarfuchs hätte erblinden lassen, ja, das könnte schon sein, dass es damit etwas zu tun hat«, entgegnete er.

Drei Tage lang hatte es geschneit, und es war gerade mal Oktober. Seit dem Winter 42 hatte es das, Überlebenden der Belagerung von Leningrad zufolge, nicht mehr gegeben. Sobald sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, war es eher wie Skifahren statt Autofahren.

Rossels Leute schwärmten aus, um den Tatort genauer in Augenschein zu nehmen. Eine Leiche nach der anderen, jedoch ohne sie anzufassen.