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Sie ist die Fürsprecherin der Toten: Im Forensik-Thriller »Tote klagen an« löst Cassie Raven, die toughe Pathologie-Assistentin mit einer Vorliebe für Piercings und Tattoos, ihren 3. Fall. Cassie Raven steckt in einer tiefen Krise: Schon seit Monaten hat die junge Assistentin der Rechtsmedizin keinen jener besonderen Momente mehr erlebt, in denen die Toten zu ihr »sprechen«. Hat sie ihre Gabe verloren – und falls ja, welchen Sinn hat es dann, sich täglich mit so viel Tod zu umgeben? Als eines Tages eine Leiche gegen den Rumpf ihres Hausbootes stößt, geht der Fall Cassie ungewöhnlich nahe. Der junge Mann kann nicht identifiziert werden, und niemand scheint ihn zu vermissen. Zwar kommt der Tote DS Phyllida Flyte vage bekannt vor, doch einen nützlichen Hinweis auf seine Identität hat auch sie nicht. Dann stellt Cassie fest, dass der Leichnam schneller verwest, als er sollte, und ihr kommt ein Verdacht, der sich leider nur auf illegale Weise bestätigen lässt … Gothic-Style, exzellentes Fachwissen und eine besondere Verbindung zu den Toten: Cassie Raven rockt die Rechtsmedizin! Die packende Thriller-Reihe aus England von A. K. Turner ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Tote schweigen nie - Wer mit den Toten spricht - Tote klagen an
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Seitenzahl: 435
A. K. Turner
Ein Fall für die Rechtsmedizin.Cassie Raven ermittelt
Aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger
Knaur eBooks
Cassie Raven steckt in einer tiefen Krise: Schon seit Monaten hat die junge Assistentin der Rechtsmedizin keinen jener besonderen Momente mehr erlebt, in denen die Toten zu ihr »sprechen«. Hat sie ihre Gabe verloren – und falls ja, welchen Sinn hat es dann, sich täglich mit so viel Tod zu umgeben? Als eines Tages eine Leiche gegen den Rumpf ihres Hausbootes stößt, geht der Fall Cassie ungewöhnlich nahe. Der junge Mann kann nicht identifiziert werden, und niemand scheint ihn zu vermissen. Lediglich DS Phyllida Flyte kommt der Tote vage bekannt vor. Dann stellt Cassie fest, dass der Leichnam schneller verwest, als er sollte, und ihr kommt ein Verdacht, der sich leider nur auf illegale Weise bestätigen lässt …
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Widmung
1. Kapitel
2. Kapitel
Flyte
3. Kapitel
Flyte
4. Kapitel
5. Kapitel
Flyte
6. Kapitel
Flyte
7. Kapitel
Flyte
8. Kapitel
9. Kapitel
Flyte
10. Kapitel
Flyte
11. Kapitel
12. Kapitel
Flyte
13. Kapitel
Flyte
14. Kapitel
15. Kapitel
Flyte
16. Kapitel
Flyte
Flyte
17. Kapitel
Flyte
18. Kapitel
19. Kapitel
Flyte
20. Kapitel
Flyte
21. Kapitel
Flyte
22. Kapitel
Flyte
23. Kapitel
Flyte
24. Kapitel
25. Kapitel
Flyte
Flyte
26. Kapitel
Flyte
27. Kapitel
Flyte
28. Kapitel
Flyte
29. Kapitel
Flyte
30. Kapitel
31. Kapitel
Flyte
32. Kapitel
Flyte
33. Kapitel
Flyte
34. Kapitel
Flyte
35. Kapitel
Flyte
36. Kapitel
37. Kapitel
Flyte
Flyte
Flyte
38. Kapitel
Flyte
39. Kapitel
Flyte
40. Kapitel
41. Kapitel
Danksagung
Für Margaret, meine liebe Mum
Beim Aufwachen hörte Cassie das rhythmische Schwappen des Wassers am hölzernen Rumpf. Ein tröstliches Geräusch, das, zusammen mit dem sanften Schaukeln, während der letzten Monate sowohl ihr Wiegenlied als auch ihr morgendlicher Weckruf gewesen war. Heute jedoch wurde das gemächliche Klatschen des Wassers an der Wand des Kanalbootes von unregelmäßigen Klopfgeräuschen begleitet – fast so, als poche jemand direkt neben ihrem Kopf zögernd mit den Fingerknöcheln gegen den Rumpf.
Während sie langsam ins Wachsein emportrieb, mühte sich ihr Gehirn ab, das Geräusch zu identifizieren. Es hörte sich nicht an wie das übliche Treibgut, das über Nacht den Weg in den Kanal fand – Müllsäcke, weggeworfene Sneakers, einmal sogar eine Kühlbox aus Plastik, die gegen die Rumpfplanken ihres Bootes gehämmert hatte. Nach dem Licht zu urteilen, war es noch vor sechs Uhr morgens – drei Stunden bevor Cassies Dienst in der Leichenhalle begann –, also rollte sie sich herum und versuchte, weiterzuschlafen und das belanglose Geräusch aus ihrem Kopf zu verdrängen. Doch nachdem sie zehn Minuten dagelegen und nur auf das nächste Klopf … Klopf-Klopf … gewartet hatte, setzte sie sich fluchend in der Koje auf und zerrte ein Kapuzensweatshirt über ihren Schlafanzug. In ihrer Wohnung hatte sie immer nackt geschlafen, doch da der Sommer jetzt, nach fünf Monaten auf dem Boot, zu Ende ging und die Nachtfeuchte allmählich auch durch ihre dicke Daunendecke drang, hatte sie nachgegeben und sich Marks & Spencer’s heißesten Flanellpyjama nebst Bettsocken bestellt.
Als sie in das winzige Cockpit am Heck trat (sie hatte gelernt, nicht »am hinteren Ende« zu sagen), traf sie die Kälte eines frühen Septembermorgens wie der Schlag einer eisigen flachen Hand. Eigentlich hatte sie den Kanal im Herbst immer besonders schön gefunden, doch als sie jetzt zitternd durch die Nebeldecke auf das schwarzgrüne Wasser starrte, verspürte sie jäh nostalgische Sehnsucht nach dem Sommer – auch wenn die Touristen und Ausflügler von Camden ihr Boot damals als eine Art Besucherattraktion betrachtet hatten.
Sie hob den Bootshaken vom Deck auf und ging nach vorn zum Bug des zehn Meter langen schmalen Holzbootes.
Dort angekommen, kniete sie sich auf der dem Kanal zugewandten Seite hin und spähte, eine Hand fest um die Reling gelegt, durch den wabernden Nebel, der die Wasseroberfläche verhüllte. In diesem Moment klaffte eine Lücke in dem Dunst auf, und eine kleine Welle spülte etwas Rundes, Dunkles und Glattes gegen den Rumpf. Gleich darauf wurde es wieder vom Dunst verborgen, doch sie brauchte es kein zweites Mal zu sehen, um zu wissen, was da angeklopft hatte.
Es war kein weggeschmissener Turnschuh gewesen, sondern der triefnasse Kopf eines Mannes, der mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb.
Cassie Raven mochte erst sechsundzwanzig sein, doch da sie die letzten sechs Jahre als leitende Sektionsassistentin in der Leichenhalle von Camden gearbeitet hatte, hatte sie schon Tausende Leichen von Nahem gesehen. Sie hatte ihre Haut durchtrennt, ihre Rippen aufgebogen und ihre Organe zur Untersuchung entnommen. Sie hatte Proben von ihren Körperflüssigkeiten genommen und konnte den eindeutigen Gestank eines verwesten Leichnams auf zwanzig Schritte Entfernung identifizieren. Doch da unten jetzt einen Toten treiben zu sehen, dessen Kopf nur Zentimeter von der Stelle entfernt war, wo eben noch ihrer gelegen hatte – Cheek to Cheek –, war gruselig. Eine Leiche hier, in der richtigen Welt, das war einfach so … aus dem Kontext gerissen.
Sie beugte sich vor, um den Bootshaken aufzuheben, den sie vor Schreck fallen gelassen hatte, und fühlte, wie ihr Herz schneller schlug und sauerstoffreiches Blut zu den großen Muskeln pumpte, bereit für Flucht oder Kampf. Nach ein paar beruhigenden Atemzügen schob sie die Spitze des Bootshakens behutsam unter den Kragen der Daunenjacke des Toten. Dabei ließ sie sich Zeit, ihr war klar, dass eine achtlose Post-mortem-Verletzung es dem Pathologen schwerer machen könnte, die Todesursache zu ermitteln.
Eine Hand an der Reling, machte sie sich daran, den Leichnam zum Heck zu ziehen. Der Kanal war heute völlig still, es herrschte so gut wie keine Strömung, und der Tote folgte ihr leicht durchs Wasser, als sei er bemüht, zu helfen. Sie manövrierte ihn um das Heck herum und in die Lücke zwischen Heck und Ufermauer. Selbst wenn er versank, hier war das Wasser nicht mal einen Meter tief, und der Steuerbordfender würde verhindern, dass er an den schwarzen Ziegelsteinen der Mauer zerquetscht wurde.
Als sie den Haken aus seiner Jacke löste, geriet der Leichnam des Mannes ins Rollen. Träge drehte er sich im Wasser auf den Rücken, als wolle er es sich im Bett bequemer machen, und sein Gesicht brach durch die Oberfläche. Grob geschätzt war er Ende zwanzig, hatte breite Schultern und sah gut aus, trotz der Akne auf den Wangen. Seine Augen – von auffälligem Goldgrün – schienen fragend zum Himmel aufzublicken.
Cassie hockte sich hin und beugte sich über ihn. »Wie bist du im Kanal gelandet?«, fragte sie leise. Dann hielt sie den Atem an und hoffte auf das, was sie manchmal von den Leichen empfing, die sie bei der Arbeit betreute – einen Hinweis auf ihre letzten Gedanken, darauf, was ihnen zugestoßen war. Doch tief im Innern wusste sie, dass es sinnlos war.
Grünauge blieb stumm wie ein Stein. Eine weitere Bestätigung dafür, dass die ganz besondere Verbindung, die sie in all den Jahren des Umgangs mit Toten gespürt hatte – jene heilige Berufung, die ihrem Leben einen Sinn gegeben hatte –, nicht mehr da war.
Nachdem Cassie ihren frühmorgendlichen Besucher dem Polizeirevier von Camden gemeldet hatte, erschien zuerst eine junge Streifenpolizistin, der später zwei Taucher in Trockenanzügen folgten. Sie brachten Bergungsausrüstung mit, duckten sich unter dem quer über den Treidelpfad gespannten Polizeiabsperrband hindurch und blickten auf den Leichnam hinunter.
Der Ältere der beiden, ein bärtiger Mann von etwa fünfzig Jahren, musterte Cassie kurz mit jenem Gesichtsausdruck, an den sie von älteren Männern bis zum Abwinken gewöhnt war. In Worte gefasst würde er in etwa Folgendes sagen: Wenn du nicht diese schräge Punkfrisur und die Gesichtspiercings hättest, hätte ich dir vielleicht die Ehre erwiesen, dich scharf zu finden. Sie hielt seinem Blick stand und öffnete ganz kurz die Augen ein wenig weiter. Schickte ihm ihrerseits eine Nachricht: Träum weiter, Sackgesicht.
Die beiden Taucher gaben sich gar nicht erst mit ihren Atemgeräten ab, sondern stiegen einfach rückwärts von der Ufermauer in das knapp einen Meter tiefe Wasser. Binnen weniger Minuten hatten sie den Leichnam auf eine aufblasbare Bahre geschnallt und wuchteten diese auf den Treidelpfad. Cassie hockte sich hin, um einen letzten Blick auf Grünauge zu werfen, bevor sie ihn zudeckten.
Schaumiges Wasser quoll dem Toten jetzt aus Mund und Nase, und die Schultern seiner Jacke waren voller Entengrütze. Sie konnte keinerlei offenkundige äußere Verletzungen sehen, und angesichts des fehlenden Verwesungsgeruchs schloss sie, dass er wahrscheinlich gestern ins Wasser gefallen war. Höchstwahrscheinlich ein Unfalltod durch Ertrinken.
Sie stand auf und stellte fest, dass der ältere Taucher sie anglotzte. »Leichen machen Ihnen wohl nichts aus, wie?« Er nahm es ihr eindeutig übel, dass sie nicht in Ohnmacht gesunken war und mit Riechsalz wiederbelebt werden musste.
Sie zuckte die Achseln. »Eigentlich nicht. Davon sehe ich so zwanzig oder dreißig die Woche.« Einen Moment lang freute sie sich an seiner verdatterten Miene, dann fügte sie hinzu: »Ich bin Sektionsassistentin in der Leichenhalle. Wahrscheinlich kriege ich den da nachher zum Ausweiden auf den Tisch.« Als sie sich umdrehte, um wieder auf das Boot zu steigen, hörte sie, wie er seinem Kollegen zuflüsterte: »Komische Tussi.«
Nun, dem konnte sie nicht widersprechen.
Später, nicht lange nachdem die Polizisten gegangen waren, machte Cassie sich gerade endlich fertig für ihren Dienst, als sie ein forsches Klopfen auf den Decksplanken hörte, gefolgt von einer vertrauten Stimme. »Erlaubnis, an Bord zu kommen, Käpt’n?«
Es war ihr Dad Callum, mit zwei Kaffeebechern in den Händen. Sie begrüßte ihn mit einem Kuss und registrierte wieder einmal die widerstreitenden Emotionen, die er in ihr auslöste. Liebe und Zuneigung, ja, aber auch Gereiztheit und sogar … Zorn. Heute zum Beispiel hatte er offensichtlich vergessen, dass sie um neun – in einer halben Stunde – bei der Arbeit sein musste, also würde sie diesen Kaffee unangenehm schnell hinunterstürzen müssen. Dabei zeichnete sich auf seinem Gesicht nur schlichte, unkomplizierte Freude darüber ab, sie zu sehen. Warum also empfand sie so?
Okay, sie hatten nicht gerade eine typische Vater-Tochter-Beziehung gehabt. Seit ihrem vierten Lebensjahr war Cassie von ihrer Großmutter in dem Glauben aufgezogen worden, ihre Eltern seien bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Erst vor Kurzem hatte sie die Wahrheit erfahren – dass ihr Vater noch lebte, aber wegen des Mordes an ihrer Mutter Kath siebzehn Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Inzwischen war klar, das Callum zu Unrecht verurteilt worden war, und seine offizielle Rehabilitierung nahm gerade den langen Weg durch die Mühlen der Justiz.
Sie tranken ihren Kaffee im Cockpit. Die Sonne war hervorgekommen und brannte den Nebel über dem Kanal weg.
»Du hättest dir was zum Frühstück mitbringen sollen«, bemerkte sie und betrachtete ihn. Er sah gut aus – Marke »alternder Rockstar« –, war aber für seine Größe und seinen Körperbau viel zu dünn. »Weißt du, in deinem Alter untergewichtig zu sein, das ist nicht gut.« Callum war erst neunundvierzig, doch nach der langen Haft, die er zu einem großen Teil in einer Zelle mit einem schweren Raucher verbracht hatte, war er vorzeitig gealtert und litt unter einem Emphysem.
Sie reichte ihm eine Papiertüte, die sie aus der Kajüte mitgebracht hatte.
»Noch mehr Pillen?«, fragte er mit Leichenbittermiene.
»Nur ein bisschen Zink für dein Immunsystem. Nimmst du die anderen?« Sie hörte den nörgeligen Unterton in ihrer Stimme, aber Callums Ernährungsweise war der nackte Horror – er aß fast ausschließlich gebackene Bohnen auf Toast, und ab und zu Junkfood.
Er salutierte spöttisch und bedachte sie mit seinem schiefen Grinsen. »Jawoll, Käpt’n. Gestern hab ich sogar einen Apfel gegessen.«
Sie sahen zu, wie eine Teichhuhn-Mutter vorbeigepaddelt kam, deren Küken hektisch in ihrem Kielwasser piepsten. Da sie ahnte, dass er gleich von ihrer Mum anfangen würde, lenkte Cassie ab: »Wie läuft’s in dem Hostel? Haben die schon Arbeit für dich gefunden?« Callum war aus der Heimatstadt seiner Familie in Nordirland nach London gezogen, um in der Nähe seiner Tochter ein neues Leben zu beginnen.
»Ach, du weißt ja, das Übliche. Irgend so ein börsennotiertes Unternehmen sucht einen Geschäftsführer, Arsenal braucht einen Stürmer, aber ich glaube, ich tendiere eher zu dem Plattenvertrag mit Sony …« Er lachte und zeigte dabei eine Lücke, wo ein vorderer Backenzahn hätte sein sollen. Im Stillen nahm Cassie sich vor, ihm einen Zahnarzt zu suchen.
»Ich find’s immer noch nicht gut, dass du hier ganz allein wohnst«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Weißt du, dass es letzte Woche oben an der Schleuse eine Messerstecherei gegeben hat? Ich meine, hier könnte nachts doch jeder einfach an Bord kommen.«
Cassie war froh, dass sie ihm nicht von ihrem im Wasser treibenden Besucher erzählt hatte. »Hör zu, ich hatte echt Glück, das hier zu kriegen«, erwiderte sie. »Die Durchschnittsmiete in Camden liegt bei zweitausend im Monat. Und alles, was sie mir beim Amt anbieten konnten, war irgendetwas in Enfield.« Gerade als ihr Sozialsiedlungsblock der Abrissbirne der Sanierer zum Opfer hatte fallen sollen, war ein alter Freund aus Hausbesetzertagen bis auf Weiteres nach Goa gereist und hatte ihr leihweise sein Kanalboot Dreamcatcher überlassen.
»Camden war mal was für ganz gewöhnliche Leute«, brummte Callum kopfschüttelnd. »Aber jetzt … diese Touristen! Und alle möglichen Coffeeshops und Nobelimbisse. Neulich hätte ich mir fast aus Versehen ’nen veganen Kebab bestellt!« Er sah aufrichtig schockiert aus, dass dergleichen existieren konnte.
Aus dem Augenwinkel betrachtete sie seine gebeugte Gestalt und sein angegrautes Haar, das früher fast schwarz gewesen war, so wie ihres. Es fiel ihr noch immer schwer, den großen, starken Daddy aus ihren frühen Kindheitserinnerungen gegen die Realität einzutauschen. Vielleicht war man mit sechsundzwanzig ja zu alt, um sich einen ungeplanten Elternteil zuzulegen – ein Gedanke, bei dem sich ihr vor lauter schlechtem Gewissen im Bauch alles zusammenzog.
Sie streckte den Arm aus, ergriff seine knochige Hand und fühlte, wie er dankbar ihre Finger drückte. Was stimmte nicht mit ihr? Warum konnte sie sich nicht einfach darüber freuen, dass sie wieder einen Vater hatte, nachdem sie zwei Jahrzehnte lang geglaubt hatte, Waise zu sein?
Die unscharfe Schwarz-Weiß-Aufnahme einer Überwachungskamera auf dem Bildschirm im Konferenzraum zeigte einen jungen Mann, der mit der übertriebenen Vorsicht des Sturzbetrunkenen nachts eine verlassene Gasse hinuntertappte. Das regennasse Kopfsteinpflaster, von den Straßenlaternen beleuchtet, verriet Detective Sergeant Phyllida Flyte, dass der Mann sich in dem Gassenlabyrinth rund um die Schleuse befand, das die Hipster-Bars und Musikclubs des Viertels beherbergte. Der Junge blieb stehen und drehte sich auf unsicheren Beinen um, als ein älterer Mann, groß und stämmig, ins Bild kam. Er hielt anscheinend eine Zigarette in der Hand und bat eindeutig um Feuer. Die beiden schienen sich freundlich zu unterhalten, während der Betrunkene in seinen Taschen nach einem Feuerzeug wühlte und es dann dem Größeren reichte.
Dann ein jähes, verschwommenes Gewirr menschlicher Leiber. Als das Bild wieder scharf war, hatte der große Mann den Betrunkenen im Schwitzkasten und hob ihn halb vom Boden hoch. Der Mund des Opfers stand offen, war von hier aus lediglich ein schwarzes Loch. Er machte ein paar klägliche Versuche, auf den Arm einzuschlagen, der ihn hielt, doch nach dreißig Sekunden knickten seine Knie ein, und der Angreifer ließ ihn zu Boden sinken. Der große Kerl schaute nach links und rechts die Straße hinunter, ehe er sich bückte, um die Taschen des anderen zu durchwühlen. Sekunden später schlenderte er davon, ohne auch nur einen Blick auf sein Opfer zu werfen, das auf dem Kopfsteinpflaster liegen blieb wie ein Haufen schmutziger Wäsche.
DCI Mike Steadman streckte die Hand nach seinem Laptop aus und spulte die Aufnahme bis zum Augenblick des Angriffs zurück.
»Dieser junge Mann, Harry Poppleton, hatte Pech«, erläuterte er den Mitarbeitern der Major Crime Unit, der Abteilung für Schwerverbrechen in Camden. »Der Druck auf seinen Hals hat ernsthaften Schaden angerichtet. Er wurde erst zehn Minuten später gefunden und liegt schon die ganze Woche im Camden General Hospital im Koma. Dean, wie ist der Stand der Dinge?«
DS Dean Willets ergriff das Wort. »Ja, Boss, dem MRT nach ist bei dem Würgegriff ein Knochen in seinem Hals gebrochen … das, äh …«
»Zungenbein.« Flyte war nicht klar, dass sie das laut gesagt hatte, bis sie sich einen giftigen Blick von Willets einfing. Ihre Wangen liefen dunkelrot an, und im Geist hörte sie die tadelnde Stimme ihrer Mutter. »Ich denke, von dir haben wir jetzt genug gehört, Miss Neunmalklug.« Als Neue im Team musste sie sich vorsehen.
»Wie ich gerade sagen wollte«, fuhr Willets fort, »das Zungenbein. Laut den Ärzten hat die Fraktur zu einer Schwellung geführt, die die Luftröhre blockiert hat, sodass er nicht genug Sauerstoff bekommen hat. Seine EEGs zeigen kaum Hirnaktivität, und man hat den Angehörigen gesagt, sie sollen sich keine Hoffnungen machen, dass er wieder wird. Es ist also jetzt schon versuchter Mord, und wenn die ihm erst mal …« – er kippte einen imaginären Schalter nach oben – »… dann ist es vorsätzlicher Mord.«
Flyte widerstand dem Drang, die Augen zu verdrehen: Dean Willets schaute sich zu viele amerikanische Polizeifilme an.
»Danke, Dean.« Steadman schickte einen suchenden Blick in die Runde, sah jedem direkt in die Augen. »Dieser ›Schwitzkasten-Räuber‹, wie die Presse ihn natürlich nennt, ist eine Bedrohung. Hat er diese Taktik schon einmal angewendet? Auf den Aufnahmen sieht man sein Gesicht nur zum Teil, aber er scheint ungefähr so groß zu sein wie ich.« Mit schiefem Lächeln schaute Steadman an sich hinunter. Er war gut über eins achtzig groß und breit, ohne fett zu sein. »Dean, kommen Sie doch mal kurz her. Wie groß sind Sie, eins fünfundsiebzig?«
»Eins siebenundsiebzig, Boss«, antwortete Willets in gespielt beleidigtem Tonfall und trat zu ihm.
»Zwei Zentimeter mehr machen voll den Unterschied«, bemerkte DC Nathan Cassidy, Willets’ treuester Gefolgsmann, unter allgemeinem Gekicher.
»Okay, das reicht.« Mit finsterer Miene erhob sich Steadman. »Jedenfalls sind Sie mehr oder weniger genauso groß wie das Opfer.«
Willets drehte Steadman den Rücken zu und ließ es zu, dass der seinen massigen Arm um seinen Hals hakte und so tat, als hebe er ihn vom Boden hoch. »Der Kerl, nach dem wir suchen, ist also ungefähr so groß wie ich, eins achtundachtzig«, stellte Steadman fest und ließ Willets los. Mit dem Kopf deutete er auf den Bildschirm. »Sein Körperbau ist ziemlich auffällig. Phyllida, könnten Sie die Pressearbeit für diesen Fall übernehmen? Geben Sie der Gazette das beste Bild, das wir von dem Kerl haben, mal sehen, ob die irgendwelche Zeugen mobilisieren können.«
Willets wurde zum Ermittlungsleiter des Falls ernannt, der offiziell »Operation Palmerston« getauft wurde – Steadman benannte Einsätze gern nach früheren Premierministern.
Als alle aufstanden, um an ihre Schreibtische zurückzukehren, fing Steadman Flyte im Türrahmen ab.
»Phyllida, es tut mir leid, dass ich in letzter Zeit so viel um die Ohren hatte. Ich wollte Sie schon lange fragen, wie Sie sich eingelebt haben?« Er hielt ihr die Tür zum Flur auf – eine altmodische Geste, über die manche Frauen sich aufgeregt hätten, mit der sie jedoch durchaus einverstanden war.
»Oh, sehr gut, vielen Dank«, beteuerte sie. Diese Antwort war ihrer Ansicht nach diplomatischer als die Wahrheit. Sie war die einzige Polizistin in einem Team, das aus vier weiteren Detective Sergeants und drei Detective Constables bestand. Die einzige andere Frau war eine zivile Polizeiangestellte. Während ihrer ersten Wochen hier hatte größtenteils eine Atmosphäre des höflichen Misstrauens geherrscht, mit einem Schuss grenzwertiger Feindseligkeit.
Er bedachte sie mit einem wissenden Blick. »Ist bestimmt nicht einfach, zu einem Team zu stoßen, das schon so lange zusammenarbeitet wie diese Jungs hier. Wissen Sie, was sehr dafür gesprochen hat, Sie einzustellen? Ich wollte die Boyband aufbrechen … nicht, dass Sie nicht trotzdem außerordentlich qualifiziert gewesen wären. Beim CID zwei Mordfälle in weniger als einem Jahr zu lösen!« Er sah sie bewundernd an. »Das ist eine ganz schöne Leistung.«
»Vielen Dank, Boss.« Sie fühlte, wie ihr bei dem Lob die Wärme in die Wangen stieg. Steadman war Mitte fünfzig, doch anders als manche anderen männlichen Cops in diesem Alter schaffte er es, freundlich zu sein, ohne je unprofessionell zu werden. Nie hatte er gefragt, ob sie einen Freund hätte, oder sich darüber ausgelassen, dass sie »heute ganz reizend aussähe«, oder ihr während eines Gesprächs auf den Busen geglotzt.
Vor der Tür des Großraumbüros blieb er stehen und senkte die Stimme. »Hören Sie, Phyllida, mir ist durchaus klar, dass die Jungs ein etwas … ungehobelter Haufen sein können, aber das ist zu fünfundneunzig Prozent Aufschneiderei. Sie werden bald sehen, das sind alles gute Cops.« Er hielt kurz inne. »Übrigens, Sie müssen mal in die Leichenhalle von Camden rüberflitzen und einen Blick auf eine unidentifizierte Wasserleiche werfen, die heute Morgen aus dem Kanal gezogen worden ist. Ihr ehemaliger Boss von der CID hat mich angerufen. Seit Sie weg sind, fehlen ihm zwei Detectives, er hatte also niemanden, den er zum Fundort schicken konnte. Verdächtige Umstände gibt’s keine – wahrscheinlich ein Besoffener, der Pech hatte und reingefallen ist –, aber ich habe gesagt, wir helfen, damit er sagen kann, es war ein Detective vor Ort.«
»Selbstverständlich.« Sie setzte ein »Wird erledigt«-Lächeln auf, um ihren Verdruss zu überspielen: Sie war nicht zur Major Crimes Unit gegangen, um der CID bei einem unverdächtigen Routine-Todesfall unter die Arme zu greifen.
»Dauert nur eine halbe Stunde, und danach können Sie’s ihnen gleich wieder übergeben«, meinte er freundlich und wandte sich dann zum Gehen. »Kein Angst, Sie kriegen noch früh genug Ihren eigenen Mordfall.«
Flyte wurde klar, dass sie wahrscheinlich Cassie Raven begegnen würde, zum ersten Mal seit Monaten. Und in ihrem neuen Job würden sich ohne Zweifel viele Gelegenheiten ergeben, die Leichenhalle aufzusuchen. Der Gedanke löste ein Gefühlsdurcheinander aus. Und obgleich Flyte jegliches Durcheinander verhasst war, musste sie zugeben, dass sie sich darauf freute, die tätowierte junge Sektionsassistentin wiederzusehen.
Nachdem sie sich umgezogen hatte, ging Cassie in den Sektionssaal, wo ihr Kollege Jason bereits einen der Gäste auf der Autopsieliste präparierte. Das bedeutete, dass der Pathologe den Leichnam bereits äußerlich untersucht hatte und jetzt wahrscheinlich auf der sauberen Seite seine E-Mails checkte. Hatte Archie heute Dienst? Jason konnte sie nicht danach fragen – seit ein paar Monaten waren sie und Archie Cuff Gelegenheitslover/ein Liebespaar/Friends with benefits …? Sie wusste nicht genau, als was sie es bezeichnen sollte, doch sie waren übereingekommen, ihre Affäre vor ihren Kollegen geheim zu halten.
Als sie an Jasons Sektionstisch trat, erblickte sie den Leichnam einer Frau mittleren Alters, der bereits von der Drosselgrube unten am Hals bis zum Schambein geöffnet worden war. Der Brustkorb war aufgespreizt, um Herz und Lunge freizulegen. Nach dem zentralen Venenkatheter zu urteilen, der immer noch mit einem Pflasterstreifen unter dem rechten Schlüsselbein fixiert war – sämtliche venösen Zugänge verblieben für die Autopsie in situ –, war sie eindeutig im Krankenhaus gestorben, mit dem die Leichenhalle durch einen unterirdischen Gang verbunden war.
»So oft kriegt man so was ja nicht aufn Tisch«, bemerkte Jason mit verschlagenem Grinsen und wies mit dem Kinn auf den Sektionstisch.
Was er meinte, war nicht misszuverstehen: Zu beiden Seiten des Längsschnitts entlang der Körpermitte standen die Brüste der Frau unnatürlich aufrecht, wie umgestürzte Blumentöpfe. Cassie konnte die verräterischen, schon etliche Jahre alten silbrigen Narben unter beiden Brüsten sehen, wo sie sich Silikonimplantate hatte einsetzen lassen. Als leitende Sektionsassistentin könnte sie Jason den Marsch blasen und ihn an die Pflicht erinnern, ihre Gäste respektvoll zu behandeln. Doch er war einundfünfzig, und sie wusste, leicht war es bestimmt nicht für ihn, Anweisungen von jemandem zu bekommen, der halb so alt war wie er.
Und seit Cassies besondere Verbindung mit den Toten nicht länger bestand, musste sie auch zugeben, dass sie emotional nicht mehr so viel in ihre Arbeit investierte. Ihre ehemalige Überzeugung, dass sie die letzten Gedanken ihrer »Gäste« hatte auffangen können, die wie nicht entladene Elektrizität in der Luft hingen, kam ihr mittlerweile vor wie ein Kindermärchen. Jetzt war ihr klar, dass ihre gelegentlichen Erkenntnisse, woran jemand gestorben war, einfach nur durch Hinweise entstanden waren, die sie entweder an den Leichen oder im Umgang mit den Hinterbliebenen gefunden hatte.
Sie sah zu, wie Jason eine neue Klinge in sein Skalpell einsetzte und dabei einen kitschigen Song im Radio mitpfiff. Er hatte seinen und ihren Job einmal mit drei brutalen Worten zusammengefasst: »aufschneiden und zumachen«. Vielleicht würde sie auch einmal zu so einem zynischen alten Knochen werden und mit den Leichen umgehen wie mit Autos auf einem Fließband.
»Hast du den kosmetischen Eingriff vermerkt?«, fragte sie. Obgleich die Wahrscheinlichkeit, dass die Brust-OP der Frau zu ihrem Tod beigetragen hatte, verschwindend gering war, sollte sie doch dokumentiert werden.
Mit dem Kopf deutete Jason auf die Leichenkarte, die auf seinem Tisch lag. Dort waren zwei grobe Umrisse eines menschlichen Körpers aufgedruckt – von vorn und von hinten gesehen –, auf denen die Sektionsassistenten alles Ungewöhnliche für die Pathologen vermerkten. Normalerweise wären die Implantate durch zwei einfache Kreuze im Brustbereich symbolisiert worden, doch Jason hatte stattdessen zwei übergroße Comic-Brüste gemalt.
Arsch.
»Leg eine neue Karte an, Jason. Ohne witzige Kunstmalerei«, fauchte sie und konnte ihren Ärger diesmal nicht verbergen. »Also, was war mit dieser Lady?«
»Ist mit schlimmen Kopfschmerzen in die Notaufnahme gekommen und hat ein paar Stunden später den Löffel abgegeben.«
Achselzuckend lehnte er sich gegen die Leiche und machte sich daran, den Hals zu sezieren. Blut schäumte aus der durchtrennten Halsvene. »Ich setze ’n Zehner auf einen Schlaganfall.«
Obwohl es Cassie nicht mehr so viel Freude machte wie früher, sich um die Toten zu kümmern, sah sie sich den Hinterbliebenen gegenüber immer noch in der Pflicht, Antworten zu finden. »Kann ich mal ihre Krankenakte sehen?«, fragte sie.
Jason wuchtete die ausgelösten Organe in eine bereitstehende Wanne. »Mach, was du willst, ich geh eine rauchen.«
In der Krankenakte stand, dass die siebenundvierzigjährige Becka Bennett gestern Abend um halb zwölf von ihrem Mann Dan mit starken Kopfschmerzen in die Notaufnahme gebracht worden war. Sie hatte die Schmerzen auf der Eins-bis-zehn-Skala bei neun verortet. Das Hauptalarmzeichen war eine Muskelschwäche auf der ganzen linken Körperseite gewesen – ein klassisches Schlaganfall-Symptom. Man hatte Becka ein Kontrastmittel injiziert, um ein Schädel-MRT zu machen, doch noch bevor man sie ins MRT hatte schieben können, hatte ihr Herz versagt. Ohne feststellbaren Rhythmus hatte es keinen Sinn gehabt, sie zu defibrillieren, und auch wiederholte 1-ml-Dosen Adrenalin hatten sie nicht zurückholen können. Zehn Minuten später war Becka Bennett für tot erklärt worden. Da sie vorher bei guter Gesundheit gewesen und ihr Tod ungeklärt war, hatte der Rechtsmediziner eine Routineautopsie angeordnet – also keine forensische Untersuchung.
Beckas Tod machte Dan Bennett zum Witwer und ihre beiden halbwüchsigen Töchter zu Halbwaisen. Wie musste es sich anfühlen, seine Frau mit schlimmen Kopfschmerzen ins Krankenhaus zu bringen und eine halbe Stunde später mitanzusehen, wie sie trotz der verzweifelten Bemühungen eines medizinischen Teams an Herzversagen starb?
Der kleine tanzende Delfin, der auf die linke Hüfte der Toten tätowiert war, fiel Cassie ins Auge. »Hi, Becka«, sagte sie halblaut. »Ich mache Sie jetzt für den Arzt bereit, damit wir herausfinden können, was mit Ihnen passiert ist.«
Mit den Gästen zu reden, war in letzter Zeit nur noch Gewohnheit, ein Reflex. Es war Monate her, dass sie jenes Abgleiten in einen traumartigen Zustand gespürt hatte, die Steigerung sämtlicher Sinneswahrnehmungen, das statische Knistern in der Luft, das den Augenblicken der Kommunikation mit den Toten vorausgegangen war.
Cassie legte die Hand auf Beckas kühlschrankkalten Arm, schloss die Augen und mühte sich ab, etwas zu spüren.
Nada.
Sie wandte sich ab. Nach jeder gescheiterten Kontaktaufnahme fühlte sie sich innerlich ein kleines bisschen leerer.
Lautes Klopfen ließ sie zusammenfahren, jäh musste sie an das Poltern von Grünauges Kopf gegen den Rumpf ihres Kanalbootes denken. Als sie hochschaute, sah sie durch das Sicherheitsglas in der Tür die hohen Wangenknochen von DS Phyllida Flyte, die auf der sauberen Seite stand. Wie üblich drückte die Miene der Polizistin latente Ungeduld aus.
Na toll. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.
Die beiden begrüßten sich, ohne sich dabei in die Augen zu sehen. Sie hatten im Zuge zweier Mordermittlungen viel Zeit miteinander verbracht. Darunter war auch der zwei Jahrzehnte alte Mord an Cassies Mum gewesen, bei der der wahre Täter gefunden und ihr Vater entlastet worden war. Trotzdem war da immer diese unbehagliche Spannung zwischen ihnen, das Gefühl von etwas … Ungelöstem.
»Wie läuft es mit dem Berufungsverfahren Ihres Vaters?«, erkundigte sich Flyte. Cassie vergaß immer wieder, wie außergewöhnlich ihre Augen waren: eisblau, mit einem dunkleren Ring um die Iris. Wie bei einem Polarfuchs. Sie hatte ihren üblichen blassrosa Lippenstift gegen einen matten Nude-Ton eingetauscht. Die Farbe betonte ihren skandinavisch-blassen Teint und ihr weizenblondes Haar, das sie jetzt als fransigen Bob trug.
»Bis zur Anhörung sollte es nicht mehr lange dauern.« Cassie brachte ein Lächeln zustande. »Der Anwalt sagt, das ist reine Formsache – das Urteil wird aufgehoben.«
»Das freut mich für Sie.« Wieder eine Pause, dann schlug Flyte wieder ihren üblichen forschen, sachlichen Ton an. »Okay, ich bin wegen des nicht identifizierten männlichen Toten hier, der aus dem Kanal geborgen wurde, um ein paar Fotos für die Lokalzeitung und die Vermissten-Datenbank zu machen. Ich habe gehört, Sie haben ihn gefunden?«
»Ja. Als hätte ich bei der Arbeit nicht genug Tote um mich.«
Cassie ging voran zu den Kühlfächern und kämpfte mit den Gefühlen, die Flyte in ihr auszulösen vermochte. Die verklemmte Polizistin war das diametrale Gegenteil von ihr, doch jedes Mal, wenn sie sich begegneten, verspürte Cassie das Kribbeln von etwas Faszinierendem – etwas Unergründlichem –, das die Polizistin umgab, und sie musste zugeben, dass sie das reizvoll fand. Und hin und wieder hatte sie während ihrer Begegnungen gespürt, dass diese Anziehung – wenngleich unausgesprochen – vielleicht auf Gegenseitigkeit beruhen konnte.
Wie dem auch sei, das war alles graue Theorie. Cassie konnte sich nicht vorstellen, etwas mit einem Cop anzufangen, und Phyllida Flyte war von einem Coming-out eindeutig so weit entfernt wie Mordor vom Auenland.
Cassie öffnete die Luke Nummer 6 des riesigen Kühlschranks, der eine ganze Wand des Raums einnahm, und zog die Mulde heraus. Es ging schwerer, als es sollte, das Ding klemmte ein wenig. Aber die ganze Kühleinheit war auch schon ziemlich in die Jahre gekommen. Der Manager Doug wusste davon, doch seine Anträge auf eine neue Kühlanlage waren zweimal abgeschmettert worden. Budgetkürzungen.
Auf dem Namensschild an der Seite des weißen Leichensacks standen lediglich »Unbekannt, männlich«, ein Aktenzeichen sowie das Funddatum und der Regent’s Canal als Fundort.
Cassie zog den Reißverschluss bis zur Brust des Toten herunter, und Flyte zog ihr Handy hervor. »Die Kollegen am Fundort haben keinerlei Verletzungen gemeldet, aber es hieß, er hatte weder eine Brieftasche noch ein Telefon bei sich?«, fragte sie, während sie eine Nahaufnahme vom Gesicht des Toten machte.
»Liegt wahrscheinlich beides auf dem Grund des Kanals.« Cassie zuckte die Schultern. »Seine Hose war ein Stück offen, also hat er wahrscheinlich ordentlich gebechert, wollte in den Kanal pinkeln und hat das Gleichgewicht verloren. So etwas kriegen wir ein paarmal im Jahr rein. Das Wasser ist nachts echt kalt, und wenn er betrunken war …«
Sie schwiegen einen Moment lang. Das letzte Mal hatten sie im letzten Winter über einem aus dem Kanal geborgenen Leichnam gestanden – und das Opfer war der Mensch gewesen, der für Cassie einem besten Freund am nächsten gekommen war. Es waren nie belastbare Beweise für ein Verbrechen gefunden worden, doch Cassie wusste, dass er umgebracht worden war, weil er ihr bei ihren Nachforschungen zum Tod ihrer Mutter geholfen hatte. Nach seiner Beerdigung hatte sie die ganze Episode innerlich in einem mit Blei ausgeschlagenen Kasten begraben, daher war sie erleichtert, dass Flyte das alles nicht wieder aufs Tapet brachte.
»Was hatte er denn an?«, wollte Flyte wissen. »Das könnte dabei helfen, ihn zu identifizieren.«
Cassie las vor: »Eine Daunenjacke von Massimo Dutti, ein Top von Reiss, Diesel-Jeans und Nike-Air-Sneaker.«
Flyte zog die Augenbrauen hoch. »Markenware.«
Wieder zuckte Cassie die Achseln. »Da haben Sie wohl recht.«
Flyte betrachtete eingehend das Gesicht des Toten. »Welche Farbe haben seine Augen? Für die Beschreibung.«
Cassie sah den perplexen, starren Blick des Mannes vor sich, nachdem er aus dem Kanal geborgen worden war. »So eine Art Goldgrün.«
»Irgendwelche Tätowierungen oder Leberflecke?«
»Nein.« Rasch schaute Cassie auf die Uhr, für so etwas hatte sie keine Zeit. »Hören Sie, sind wir hier fertig? Ich habe nebenan noch zwei Kunden, die ich ausweiden muss.«
Flyte beachtete sie nicht, sie starrte noch immer das Gesicht des Mannes an. »Was glauben Sie, wie lange er schon tot ist?«
»Ich weiß es nicht!«, blaffte Cassie. »Ich bin keine Pathologin.«
Flyte funkelte sie zornig an. »Haben Sie denn gar kein Interesse daran, herauszufinden, wer dieser arme Kerl war? Damit wir so schnell wie möglich seine Angehörigen verständigen können?«
Cassie verspürte einen Stich des schlechten Gewissens. »Doch, natürlich«, erwiderte sie schroff. »Aber ich habe heute mein Hexenbrett nicht dabei. Wenn Sie das so sehr interessiert, dann schlage ich vor, Sie kommen am Montag zur Autopsie.« Dabei wusste sie genau, dass ein Detective nur selten – wenn überhaupt – bei der Obduktion eines Menschen dabei sein würde, der nicht unter verdächtigen Umständen ums Leben gekommen war.
»Vielleicht tue ich das ja auch«, gab Flyte heftig zurück.
Flyte wusste nicht, was sie von dem Zusammentreffen mit Cassie Raven heute Morgen halten sollte.
Als sie sich vor ungefähr einem Jahr zum ersten Mal begegnet waren, hatte Flyte sofort eine tiefe Abneigung gegen die junge Frau verspürt. Wie sie inzwischen begriffen hatte, war das größtenteils eine Reaktion auf ihr provokantes Äußeres gewesen – obgleich das im »alternativen« Camden Town durchaus nicht ungewöhnlich war. Noch immer konnte sie nicht verstehen, warum sich eine so hübsche Frau solche Mühe gab, so unweiblich auszusehen. Dieses halb wegrasierte schwarz gefärbte Haar, die Tattoos, die brutalen Stecker und Ringe, die die weiche Haut ihrer Lippe und Braue durchbohrten. Das alles ergänzt mit dem typischen schwarzen Nagellack und den Schnürstiefeln … und der dazugehörigen pampigen Art.
Doch als sie sie näher kennengelernt hatte, war Flyte klar geworden, dass hinter der »Du kannst mich mal«-Fassade jemand steckte, der nicht nur eine außergewöhnlich scharfe Beobachtungsgabe besaß, sondern die Toten auch mit enormer Hingabe und Respekt umsorgte, fast so, als wären sie noch am Leben. Ihre reflexartige Bewertung hatte sich schließlich in Luft aufgelöst, als sie herausfand, dass Cassie einmal neben einem toten Kind auf dem Boden der Leichenhalle geschlafen hatte, weil die Mutter des Kleinen gesagt hatte, dass er Angst vor der Dunkelheit hätte.
Das hatte einen wunden Punkt getroffen, denn drei Jahre zuvor hatte Flyte selber einen ähnlichen Verlust erlitten, als ihre Tochter tot zur Welt gekommen war. Ursache war ein seltenes Syndrom gewesen, bei dem die Nabelschnur während Flytes einziger Schwangerschaft nicht richtig an der Plazenta angewachsen war. Die Blutgefäße der Nabelschur waren während der Wehen gerissen, und Poppy, wie sie die Kleine inoffiziell getauft hatte, war binnen Minuten verblutet.
Als Flyte endlich imstande gewesen war, den Bericht des Krankenhauses zu lesen, war es Cassie gewesen, die ihr geholfen hatte, das Fachchinesisch zu verstehen, und die ihr erklärt hatte, warum das Problem bei den Ultraschalluntersuchungen nicht entdeckt worden war. Dann hätte ein Kaiserschnitt vorgenommen und die Tragödie vielleicht verhindert werden können. Diese Erklärung hatte ihr geholfen, zu akzeptieren, dass niemand an Poppys Tod schuld war – auch nicht sie selbst.
Ab und zu hatte sie überlegt, ob sie und Cassie vielleicht Freundinnen werden könnten. Oder mehr … Ein abwegiger Gedanke, den sie rasch im Keim erstickte.
Daher war es ein Schock gewesen, sie wiederzusehen. Flyte hatte Cassie stets für eine geschundene Seele gehalten, die zu viel trank und Cannabis – und ohne Zweifel noch Schlimmeres – rauchte. Doch sie hatte erwartet, dass sie jetzt, da ihr Vater wieder in ihrem Leben aufgetaucht war, fröhlicher sein würde, dass sie mehr Ruhe gefunden hätte. Die Cassie von damals hätte sich viel mehr für den Mann eingesetzt, der aus dem Kanal gefischt worden war, und hätte unbedingt herausfinden wollen, wer er war. Heute hatte sie unbeteiligt und ungeduldig gewirkt.
Sie sah das Gesicht des Toten vor sich, mit diesen herzzerreißenden Pickeln, und stellte sich seine Eltern vor, seine Freundin … Bestimmt machte sich doch jemand allmählich Sorgen, weil er oder sie ihn nicht erreichen konnte?
Flyte hatte sich durch den Fußgängerstau auf der Camden High Street gewunden, jetzt jedoch schob sie sich aus dem Gedränge heraus in einen Ladeneingang. Dort holte sie ihr Handy hervor und klickte auf die Fotos, die sie von dem Toten gemacht hatte. Irgendetwas an seinem Gesicht machte ihr zu schaffen – beinahe so, als käme er ihr bekannt vor. Doch nachdem sie durch sämtliche Bilder gescrollt hatte, gab sie es auf. Sie konnte nicht sagen, an wen er sie erinnerte.
Wer immer er auch war, bei dem Gedanken, ihn wieder dem CID zu überlassen, hatte sie ein schlechtes Gewissen. Doch sie tröstete sich: Es konnte doch nur eine Frage der Zeit sein, bis jemand die Polizei anrief und ihn als vermisst meldete.
Als Cassie in den Sektionssaal zurückkehrte, sah sie Archie am Sektionstisch stehen; er zog gerade seine Latexhandschuhe an. Es war ein gutes Zeichen, dass der Anblick seines breiten Rückens und seiner Rugbyspieler-Schultern bei ihr noch immer ein Kribbeln auslösten. Sein rötliches Haar lockte sich bis über den Kragen seines OP-Kittels, stellte sie fest. Zeit, da ein bisschen sanften Druck zu machen. So etwas nahm er nicht übel.
Jason war wieder an seinem Arbeitsplatz und hatte gerade die elektrische Säge eingeschaltet, um Becka Bennetts Calvarium zu entfernen, den oberen Teil ihrer Schädeldecke.
»Morgen, Cassie«, sagte Archie mit einem beiläufigen Blick über die Schulter.
Sie wollte schon den nächsten Gast aus dem Kühlschrank holen, doch irgendetwas veranlasste sie dazu, zu seinem Tisch zu gehen, wo er sich gerade anschickte, den Kehlkopf von der Luftröhre abzutrennen, um Beckas Herz und ihre Lunge zu sezieren.
»Halt«, sagte sie, doch Archie hörte sie wegen des nervtötenden Jaulens von Jasons Säge nicht.
»Halt!«
Archie hielt inne, das Skalpell in der Luft.
»Hör zu«, sagte sie jetzt leiser, weil Jason die Säge ausgemacht hatte und ihr vollkommen klar war, dass er möglicherweise lauschte, »wahrscheinlich ist es gar nichts weiter, aber vielleicht solltest du eine Luftembolie in Betracht ziehen.«
Er zog eine fragende Braue hoch.
»Ich mein’s ernst.« Sie zeigte ihm Beckas Krankenakte. »Schau mal, die haben ihr vor dem MRT einen zentralen Zugang gelegt, um Kontrastmittel zu injizieren. Wenn beim Legen irgendwas schiefgegangen ist, kann da nicht Luft in die Vene geraten?« Sie erinnerte sich, vor ein paar Jahren von so einem Fall gehört zu haben.
Mit gerunzelter Stirn las Archie über ihre Schulter hinweg mit. »Das MRT hat gar nicht stattgefunden.«
Cassie deutete auf die Zeitangaben, die das Ärzteteam notiert hatte. »Weil sie gleich nachdem sie ihr den Zugang gelegt haben, einen Herzstillstand hatte.«
»Eine tödliche Luftembolie ist ziemlich selten«, meinte Archie nachdenklich. »Aber bis dahin sah ihr Herzrhythmus ja ganz normal aus.«
Wäre eine hinlänglich große Luftblase in Beckas Vene eingedrungen, das wussten sie beide, so hätte diese innerhalb einer halben Sekunde ihr Herz erreicht. Die Herzmuskeln wären nicht in der Lage gewesen, den daraus resultierenden Schaum aus Blut und Luft weiterzupumpen, was zum Herzstillstand geführt hätte.
»Idealerweise würde ich ja einen Herz-Scan anfordern«, sagte Archie.
»Viel Glück dabei, die Rechtsmedizin dazu zu bringen, dafür zu blechen«, bemerkte Cassie. Hätte Professor Arculus eine außergewöhnliche Untersuchung verlangt, dann vielleicht, aber Archie war vergleichsweise immer noch ein Anfänger.
»Stimmt«, erwiderte er. »Na schön, dann müssen wir eben auf alte Schule machen.« In freudiger Erwartung rieb er sich die Hände. »Bring mir doch mal deine größte Schüssel, ja?«
Mit dem Schlauch an seinem Tisch füllte Archie die Schüssel zur Hälfte mit Wasser. Danach tauchte er das Herz und die Lunge, beides noch intakt, vollkommen unter und öffnete dann mit einer Schere vorsichtig den dünnen weißen Herzbeutel, sodass die glatte rote Wölbung des Herzens sichtbar wurde. Cassie war fasziniert: Sie hatte in Autopsie-Anleitungen von so etwas gelesen, gesehen jedoch hatte sie es noch nie.
Mit einer großen Magier-Geste schnappte Archie sich ein Skalpell. »Dann wollen wir mal!«
Mit der linken Hand hielt er das Herz unter Wasser fest und setzte mit der rechten einen Schnitt in das Gewebe über dem rechten Ventrikel. Silberne Luftblasen stiegen an die Oberfläche. Luft, die nicht in dem Herz hätte sein dürfen.
»Geronimo!«, rief er und drückte Cassie einen raschen Kuss auf die Stirn.
Jason hatte gerade das Gehirn in einer Plastikschüssel herbeigeschleppt und knallte sie auf Archies Tisch. Sein Blick zuckte zwischen ihnen beiden hin und her. Dann begegnete er Cassies, und seine feixend hochgezogenen Augenbrauen verrieten ihr, dass er begriffen hatte, dass sie und Archie mehr als Arbeitskollegen waren.
Mist.
»Irgendwann musste das doch mal passieren.« Mit unbekümmerter Miene schöpfte Archie einen Löffel voller Nudeln und duftender Brühe aus seiner Pho-Schale. Sie hatten sich zum Mittagessen in einem kleinen Lokal getroffen, das ein wenig abseits lag, nachdem sie die Leichenhalle im Abstand von fünf Minuten verlassen hatten.
»Ich weiß. Es ist bloß … peinlich. Es kotzt ihn sowieso schon an, eine Sechsundzwanzigjährige als Boss zu haben, und jetzt kommt er mir bestimmt ständig mit seinem ›Sexgesicht‹.« Sie mimte ein lüsternes Feixen.
»Aber das war toll vorhin.« Er strahlte sie an. »Wenn ich das Herz ganz normal seziert hätte, dann wäre die Luft einfach entwichen, und wir hätten keinen Beweis für die Embolie. Schade, dass wir das nicht gefilmt haben.«
»Wie, um es auf TikTok einzustellen?«
»Auf was?« Archie sah aufrichtig verwirrt aus. »Ich meine, das hätte ich später verwenden können, wenn ich mal Vorlesungen halte.« Da sein Medizinstudium erst ein paar Jahre zurücklag, würde dies erst in zehn Jahren oder mehr der Fall sein, doch er wirkte so ungeniert zufrieden mit sich, dass es unmöglich war, ihn nicht gernzuhaben. Wo nahmen die oberen Zehntausend nur ihr Selbstvertrauen her?, fragte sich Cassie. Bekamen sie das im Nobelinternat morgens zusammen mit ihrem Porridge serviert? In ihrer Schule hatte so etwas definitiv nicht auf der Speisekarte gestanden, sonst hätte sie sich vielleicht mehr angestrengt und vielleicht selbst ein Medizinstudium angestrebt.
»Ein Glück, dass Curzon heute Vormittag keinen Dienst hatte«, bemerkte sie. »Der hätte mich abgebügelt oder sich bei Doug beschwert, dass die dreiste Untergebene schon wieder aufmuckt.« Es war noch nicht lange her, dass Cassie nur knapp einem Disziplinarverfahren entgangen war, weil sie es gewagt hatte, ohne Dr. Curzons ausdrückliche Erlaubnis in einer Leiche nach einer tiefen Venenthrombose zu suchen.
Archies Handy gab einen Signalton von sich, und er schaute mit gefurchter Stirn auf das Display. »Aha! Die von der Radiologie haben sich gemeldet und bestätigen, dass Becka Bennett sich plötzlich aufgesetzt hat und dass ihr schlecht geworden ist, als der Arzt den Zugang gelegt hat.« Er aß noch einen Löffel Suppe. »Wenn der Patient sitzt, geht der Venendruck runter, deswegen bringt man uns bei, den Zugang in Rückenlage zu legen.«
»Wenn der Druck in der Vene niedriger ist als der Außendruck, wird um die Nadel herum Luft in die Vene gesaugt?«
Er nickte.
Cassie schob ihre Suppenschale weg. Becka hätte noch vierzig oder fünfzig Jahre leben können, doch die Gesetze der Physik hatten ihr Schicksal in weniger als einer Sekunde besiegelt. In letzter Zeit fragte sie sich manchmal, was das Leben für einen Sinn hatte, wenn es so beliebig enden konnte.
»Alls okay?«, fragte Archie mit besorgtem Blick.
»Alles gut.« Sie setzte ein falsches Lächeln auf. »Kriegt der Arzt jetzt Ärger?«
»Ich bezweifele es«, antwortete er. »An dem Abend war in der Notaufnahme eine Menge los, und anscheinend war er neu da. Die Rechtsmedizin wird das Ganze wahrscheinlich als tragischen Unglücksfall bezeichnen, an dem niemand schuld ist.«
Als Beckas Todesursache würde eine Luftembolie eingetragen werden, doch was die Symptome ausgelöst hatte, wegen derer sie ins Krankenhaus gekommen war – die heftigen Kopfschmerzen und die Muskelschwäche –, würde wahrscheinlich ein Geheimnis bleiben. Archie hatte in ihrem Gehirngewebe keinerlei Hinweise auf einen Schlaganfall gefunden, und auch der Rest ihrer Organe hatte gesund ausgesehen. Cassie malte sich aus, wie es wohl für ihren Mann sein würde, zu erfahren, dass der Tod seiner Frau durch eine Fehldiagnose und einen schrecklichen Unglücksfall verursacht worden war.
Iatrogener Tod. Iatro – von dem altgriechischen Wort für »Arzt«. Tod durch ärztliche Behandlung.
Vielleicht wäre es besser gewesen, Beckas Angehörige im Ungewissen darüber zu lassen, woran sie gestorben war.
»Wie bist du überhaupt auf eine Luftembolie gekommen?« Archie bedachte sie mit einem frechen Blick. »Sollte ich deinen sechsten Sinn in meinem Autopsiebericht erwähnen?«
»Ich habe bloß ein bisschen Schaum aus einer gekappten Vene kommen sehen«, wehrte sie kopfschüttelnd ab. »Da war keine Hellseherei im Spiel.« Die Befriedigung darüber, dass ihr Verdacht richtig gewesen war, hatte nicht lange gewährt. Das schaumige Blut, das sie gesehen hatte, als Jason Beckas Organe entnommen hatte, war nur ein weiterer Beweis dafür, dass ihre gelegentlichen Erkenntnisse nicht von irgendeiner »besonderen Verbindung« mit den Toten herrührten, sondern das Ergebnis ganz normaler Beobachtungen waren.
Als sie zusah, wie Archie sich die restlichen Nudeln einverleibte und dann die Schale ansetzte, um den letzten Rest Suppe zu schlürfen, empfand Cassie ein Aufwallen von Zuneigung. Archie war einer von den Guten. Er war unkompliziert, witzig – und der Sex klappte auch gut. Warum konnte sie sich dann nicht vorstellen, dass sie den nächsten Schritt machen – will sagen, zusammenziehen – könnten? Andererseits, warum musste das denn unvermeidlich der nächste Schritt sein? Der einzige Mensch, mit dem sie je zusammengelebt hatte, war Rachel gewesen, eine Psychologiestudentin, die nach fünf Monaten ihre Sachen und ihre Zimmerpalme in ein Taxi gepackt und verkündet hatte, dass Cassies Unfähigkeit, sich »emotional auszudrücken«, an der Trennung schuld sei. Wenigstens bekam sie von Archie nie solche Sprüche zu hören.
Unkompliziert. Was konnte daran verkehrt sein?
Als an diesem Nachmittag gerade diejenigen, die keinen Spätdienst hatten, ihre Sachen zusammenpackten, schaute DCI Steadman im Großraumbüro vorbei. Er war bereits im Mantel und wollte sich von Dean Willets ein Update zu dem Vorgang geben lassen, den alle »den Schwitzkasten-Fall« nannten.
Willets sprang auf und imitierte Steadmans breitbeinige Körperhaltung. »Wir stellen gerade eine Akte aller Raubüberfälle in letzter Zeit zusammen, so, wie Sie es vorgeschlagen haben, um zu sehen, ob schon einmal jemand diese Taktik angewandt hat, und gleichen die Täterbeschreibungen mit unserem Tatverdächtigen ab.« Wie er sich bei Steadman einschleimte – Flyte hätte am liebsten gewürgt. Anscheinend hatten die beiden jahrelang zusammengearbeitet, und Willets war seinem früheren Vorgesetzten zur Abteilung für Schwerverbrechen gefolgt. Wie dem auch sei, wenigstens spielte Steadman fair und gab sich stets Mühe, alle Detective Sergeants gleichzubehandeln.
Nachdem er Steadman auf den neuesten Stand gebracht hatte, meinte Willets: »Ein paar von uns gehen nachher noch was trinken. Hätten Sie Lust, mitzukommen, Boss? Wir könnten auf Ihre Beförderung anstoßen.«
Steadman machte ein verlegenes Gesicht. »Also, ich bin doch bloß Stellvertreter, solange die DCI-Stelle nicht besetzt ist.« Der offizielle Detective Chief Inspector der Major Crimes Unit machte einen Lehrgang bei der National Crimes Agency, und Steadman war zu seinem Stellvertreter ernannt worden, um die Einheit während seiner Abwesenheit zu leiten. Er sah auf die Uhr. »Na, vielleicht ein schnelles Bierchen.« Dann lächelte er Flyte zu. »Wollen Sie sich dieser verkommenen Bande auch anschließen?«
Willets warf ihr einen raschen, etwas beklommenen Blick zu. Vorhin hatte sie mitbekommen, wie er sich mit seiner kleinen Gang zum Trinken verabredet hatte, sie jedoch war nicht eingeladen worden.
Flyte zögerte und wollte Willets bereits decken. Doch Steadman hatte augenblicklich begriffen – so etwas merkte er sofort. Sein Blick kehrte zu Flyte zurück. »Sie kommen doch mit?«
Obwohl sie keine große Lust hatte, war sie für seine Mühe dankbar. »Klar«, antwortete sie. »Auf ein kleines Gläschen.«
Der Pub, eine alte Nebenstraßen-Pinte, die zu einer Craft-Beer-Kneipe umgebaut worden war, entsprach in etwa Flytes Vorstellung von der Hölle auf Erden. Ein Fußballkommentator dröhnte von einem riesigen Bildschirm herüber, der immer wieder ihren unwilligen Blick auf sich zog. Obgleich Tische frei waren, hatten Willets und Co. beschlossen, stehen zu bleiben, und während sie sich an einem Glas sehr mäßigem Sauvignon festhielt – die einzige akzeptable Option auf der kümmerlichen Weinkarte –, spürte sie, wie ihr Blutdruck jedes Mal in die Höhe schnellte, wenn sich jemand an ihr vorbei zur Bar drängte.
»Vielen Dank, Sebastian«, sagte sie mit einem Lächeln zu DS Coles, der ihr gerade den Wein ausgegeben hatte. Er war der freundlichste ihrer Kollegen, wahrscheinlich ein paar Jahre jünger als sie, also Anfang dreißig. Mit etwa fünfundvierzig war Dean Willets abgesehen von Steadman der Älteste der Gruppe, was vielleicht erklärte, warum die anderen sich nach ihm zu richten schienen. Er stand ganz in der Nähe mit dem Boss und ein paar anderen zusammen, und nach dem, was sie bei dem Lärm hören konnte, ging es die ganze Zeit um Arsenal dies und West Ham das.
»Gern geschehen, aber sagen Sie lieber Seb zu mir.« Er kniff die Augen zusammen. »Die Einzige, die mich ›Sebastian‹ nennt, ist meine Mum, wenn sie mir die Leviten liest.« Sein Blick verweilte auf ihr, und sie fragte sich, ob er nur nett sein wollte oder noch mehr im Sinn hatte. Nachdem sie diesen Job seit fünfzehn Jahren machte, war sie es gewohnt, von männlichen Kollegen entweder als sexuelle Herausforderung oder als jemand betrachtet zu werden, dem man aufgrund ihres Geschlechts nicht trauen durfte – oder beides. Trotzdem, gut sah er schon aus.
Ihr Blick fiel auf Dean Willets, der mitten in der Gruppe neben ihr stand und eine Geschichte zum Besten gab, obgleich ganz klar war, dass Steadman der einzige Zuhörer war, auf den es ihm ankam.
»Wie lange haben Dean und der Boss zusammengearbeitet?«, erkundigte sie sich.
»Über zehn Jahre«, antwortete Sebastian … Seb. »Dean lässt sich andauernd über die guten alten Zeiten im Revier von Hackney aus, als er noch im Streifenwagen mitgefahren ist und der Boss Sergeant bei der Streife war. Das war damals in der Kreidezeit.«
Flyte begriff, dass er einen Scherz gemacht hatte, und lächelte höflich.
»Ich hab gehört, Dean hat ihn sogar ein paarmal zum Schießen mitgeschleppt«, fuhr Seb fort.
»Zum Schießen?!«
Seb lachte über ihren Gesichtsausdruck. »Alles ganz legal. Dean fährt am Wochenende gern nach Essex raus, um Karnickel zu schießen – Schädlingskontrolle für die Bauern. Ständig nervt er mich, dass ich mitkommen soll.«
»Und, sind Sie mitgefahren? Zum Schießen?« Mit großen Augen sah sie ihn an.
Er schüttelte den Kopf. »Um ehrlich zu sein, unschuldige Wildtiere abzumurksen, ist nicht so mein Ding.« Er beugte sich vor, und sie bekam einen säuerlichen Schwall seiner Bierfahne ab. »Ich habe gehört, Dean macht dabei immer ein bisschen einen auf Rambo, so mit Tarnjacke und so weiter.«
»Aber Steadman fährt da nicht mehr mit?«
»Nein, schon seit Jahren nicht mehr. Seit er DI ist, hat er sich außerhalb der Arbeit nicht mehr groß mit den Kollegen zusammengetan – nur hin und wieder bei so was wie dem hier.« Er zeigte mit seiner Bierflasche auf die Gruppe neben ihnen. »Anscheinend hätte er vor sechs Jahren mit vollen Bezügen in Pension gehen können, aber er ist geblieben.«
»Warum denn das?« Für jemanden Mitte fünfzig wie Steadham war der größte Vorteil des Jobs, dass er sich nach dreißig Dienstjahren bei vollen Bezügen zur Ruhe setzen konnte.
»Seine Tochter will studieren.« Seb rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, um anzudeuten, wie viel das kosten würde. »Und außerdem glaube ich, er macht diesen Job wirklich gern.«
Steadman kam mit seinem Mantel in der Hand auf sie zu. »Ich muss los. Meine Tochter Emily war heute in Cambridge, um sich ihr Zimmer anzusehen, und meine Frau kocht etwas ganz Besonderes.« Er lachte leise. »Da zu spät zu kommen, wäre lebensgefährlich.«
»Was studiert Ihre Tochter denn?«, erkundigte sich Flyte.
»Anthropologie, am Trinity College. Mit anderen Worten, nichts, womit sie mal einen richtigen Job kriegt.« Steadman verdrehte die Augen und scheiterte auf der ganzen Linie bei dem Versuch, den Stolz zu verbergen, der sich auf seinem Gesicht abzeichnete. »Wie war’s denn heute in der Leichenhalle, Phyllida?«
»Oh, gut, Boss. Ich habe den Papierkrieg erledigt und ein paar Fotos gemacht.«
»Tut mir leid, Ihnen die Arbeit vom CID aufzubürden. Aber jetzt können Sie das wieder bei denen abladen.« Er sah auf die Uhr. »Dann überlasse ich das Feld mal euch jungen Hüpfern. Viel Spaß noch.«
Flyte hatte erwogen, ebenfalls zu gehen, doch ihr war klar, dass sie dem Protokoll nach noch eine Runde ausgeben musste. Diesmal bestellte sie sich ein Mineralwasser. Seb hatte sich zu den anderen gesellt, und sie kam gerade rechtzeitig, um zu hören, wie Dean Willets eine Anekdote zu Ende brachte, bei der es offenbar um zwei Schwule ging, die er dabei ertappt hatte, wie sie in der Öffentlichkeit Sex hatten. »… Also hab ich zu ihm gesagt: ›Hat deine Mutter dir denn nicht beigebracht, dass man nicht mit vollem Mund redet?‹«
Grundgütiger!