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Ein Garten ist der ideale Ort für einen Mord, denn hinter hohen Hecken bleibt so manches verborgen, und beim jährlichen Auflockern des Erdreichs kann der eine dem anderen ganz nebenbei noch eine Grube graben. Wachsen außerdem zwischen duftenden Blumen giftige Pflanzen, wird aus der Tea Time schnell ein Leichenschmaus. Wenn der Garten zum Tatort wird, gibt es keine bessere Ermittlerin als die passionierte Hobby-Gärtnerin Miss Marple, die keinen Fußabdruck in ihren akkuraten Blumenbeeten duldet – außer er führt sie zum Täter. Aber auch Hercule Poirots graue Zellen erfreuen sich am Grün, wenn sich der Rasen rot färbt.
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Seitenzahl: 154
Agatha Christie
Mörderisches Grün
Miss Marple und Poirot ermitteln im Garten
Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann und Michael Mundhenk
Atlantik
Hercule Poirot stapelte seine Briefe ordentlich vor sich auf. Dann nahm er den obersten, studierte einen Moment lang den Absender, schlitzte den Umschlag penibel mit einem kleinen Brieföffner auf, den er zu genau diesem Zweck auf dem Frühstückstisch liegen hatte, und zog den Inhalt heraus. Es handelte sich um einen zweiten, sorgfältig mit dunkelrotem Wachs versiegelten Umschlag, der mit der Aufschrift »Privat und vertraulich« versehen war.
Die Augenbrauen an Hercule Poirots eiförmigem Kopf wanderten leicht in die Höhe. »Patience! Nous allons arriver!«, murmelte er und brachte den kleinen Brieföffner erneut zum Einsatz. Diesmal kam tatsächlich ein Brief zum Vorschein, geschrieben in einer recht zittrigen und steilen Handschrift. Mehrere Wörter waren dick unterstrichen.
Hercule Poirot faltete ihn komplett auf und begann zu lesen. Er war noch einmal mit »Privat und vertraulich« überschrieben. Rechts standen der Absender – Rosebank, Charman’s Green, Bucks – sowie das Datum: 21. März.
Sehr geehrter Monsieur Poirot,
Sie wurden mir von einem alten, geschätzten Freund empfohlen, der weiß, was für Kummer und Sorgen ich in letzter Zeit habe. Nicht, dass jener Freund die konkreten Umstände kennen würde – die habe ich gänzlich für mich behalten, da es sich um eine reine Privatangelegenheit handelt. Mein Freund versichert mir, Sie seien die Diskretion in Person und ich bräuchte nicht zu befürchten, in eine polizeiliche Untersuchung hineingezogen zu werden, was ich, sollte sich mein Verdacht als begründet erweisen, überhaupt nicht gern sähe. Es ist natürlich möglich, dass ich völlig falschliege. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich momentan – wo ich an Schlaflosigkeit leide sowie an den Folgen einer schweren Krankheit im letzten Winter – klar genug denken kann, um selbst Nachforschungen anzustellen. Ich habe weder die Möglichkeit noch die Fähigkeit dazu. Andererseits muss ich noch einmal wiederholen, dass dies eine äußerst delikate Familienangelegenheit ist, die ich aus verschiedenen Gründen unter Umständen werde vertuschen wollen. Bin ich erst einmal mit den Fakten vertraut, kann ich die Angelegenheit durchaus selbst in die Hand nehmen und würde eine solche Vorgehensweise auch vorziehen. Ich hoffe, ich habe mich in diesem Punkt klar genug ausgedrückt. Sollten Sie bereit sein, diese Ermittlungen zu übernehmen, würde ich mich freuen, wenn Sie mir unter obiger Adresse Bescheid geben könnten.
Hochachtungsvoll,
Amelia Barrowby
Poirot las den Brief ein zweites Mal. Erneut wanderten seine Augenbrauen in die Höhe. Dann legte er ihn beiseite und griff nach dem nächsten Brief auf dem Stapel.
Punkt 10 Uhr betrat er den Raum, in dem Miss Lemon, seine Privatsekretärin, bereits auf ihre Anweisungen für den Tag wartete. Miss Lemon war achtundvierzig und von wenig ansprechender Erscheinung. Der allgemeine Eindruck, den sie machte, war der eines aufs Geratewohl zusammengewürfelten Haufens von Knochen. Ihre leidenschaftliche Ordnungsliebe war fast so groß wie die von Poirot; und obwohl sie selbstständig zu denken in der Lage war, tat sie es lediglich, wenn sie dazu aufgefordert wurde.
Poirot reichte ihr die morgendliche Post.
»Wenn Sie die Güte hätten, Mademoiselle, sämtliche Schreiben mit einer korrekt formulierten Absage zu beantworten.«
Miss Lemon überflog die Briefe und kritzelte auf jeden irgendwelche Hieroglyphen. Diese privaten Chiffren – »Süßholz«, »Ohrfeige«, »schnurr, schnurr«, »knapp« und so weiter – konnte nur sie entziffern und verstehen. Als sie fertig war, nickte sie und blickte, weitere Anweisungen erwartend, auf.
Poirot reichte ihr Amelia Barrowbys Brief. Sie zog ihn aus dem doppelten Umschlag heraus, las ihn und sah ihren Chef fragend an.
»Ja, Monsieur Poirot?«
Ihr Bleistift schwebte einsatzbereit über ihrem Stenogrammblock.
»Was halten Sie von diesem Brief, Miss Lemon?«
Mit einem leichten Stirnrunzeln legte Miss Lemon den Bleistift beiseite und las den Brief ein zweites Mal.
Der Inhalt eines Briefes war Miss Lemon vollkommen einerlei, sie betrachtete ihn lediglich unter dem Aspekt der adäquaten Formulierung einer Antwort. Hin und wieder appellierte ihr Arbeitgeber allerdings nicht an ihre beruflichen, sondern an ihre menschlichen Fähigkeiten. Es irritierte Miss Lemon jedes Mal ein wenig; sie war nahezu die perfekte Maschine und zeigte für alle menschlichen Belange ein völliges und geradezu glorioses Desinteresse. Die wahre Leidenschaft in ihrem Leben galt der Perfektionierung eines Ablagesystems, neben dem sämtliche anderen Ablagesysteme der Vergessenheit anheimfallen würden. Des Nachts träumte sie von einem derartigen System. Dessen ungeachtet war Miss Lemon jedoch, wie Hercule Poirot sehr genau wusste, durchaus dazu in der Lage, auch in menschlichen Belangen ihre Intelligenz zu beweisen.
»Nun?«, fragte er.
»Alte Dame«, sagte Miss Lemon. »Hat ziemliches Fracksausen.«
»Aha. Sie glauben, sie rennt in einem Frack herum?«
Miss Lemon, die der Ansicht war, Poirot sei mittlerweile lange genug im Land, um umgangssprachliche Redewendungen zu verstehen, gab keine Antwort. Sie warf einen kurzen Blick auf den doppelten Umschlag.
»Streng vertraulich«, sagte sie. »Und dabei vertraut sie einem überhaupt nichts an.«
»Ja«, erwiderte Hercule Poirot. »Das ist mir auch aufgefallen.«
Wieder schwebte Miss Lemons Hand voller Hoffnung über dem Stenogrammblock. Diesmal ging Hercule Poirot darauf ein.
»Sagen Sie ihr, es sei mir eine Ehre, sie zu jedem ihr genehmen Zeitpunkt aufzusuchen, es sei denn, sie zöge es vor, mich hier zu konsultieren. Aber tippen Sie den Brief nicht – schreiben Sie ihn mit der Hand.«
»Jawohl, Monsieur Poirot.«
Poirot überreichte ihr weitere eingegangene Schreiben.
»Das sind Rechnungen.«
Miss Lemons kompetente Hände hatten sie schnell sortiert.
»Bis auf diese beiden begleiche ich alle.«
»Und warum nicht diese beiden? Sie enthalten keinerlei Fehler.«
»Das sind Firmen, mit denen Sie erst seit Kurzem geschäftlich verkehren. Es macht einen schlechten Eindruck, als neuer Kunde prompt zu zahlen – das erweckt den Anschein, als hätte man es darauf abgesehen, später einen Kredit zu bekommen.«
»Aha«, murmelte Poirot. »Ich verneige mich vor Ihrer umfassenden Kenntnis der britischen Geschäftswelt.«
»Es gibt kaum etwas, was ich nicht darüber weiß«, sagte Miss Lemon mit grimmiger Miene.
Der Brief an Miss Amelia Barrowby wurde ordnungsgemäß geschrieben und aufgegeben, doch die Antwort blieb aus. Vielleicht, dachte Hercule Poirot, hatte die alte Dame das Geheimnis selbst gelöst. Dennoch war er ein klein wenig überrascht, dass sie in diesem Fall nicht die Höflichkeit besessen hatte, ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass seine Dienste nicht mehr benötigt würden.
Fünf Tage später sagte Miss Lemon, nachdem sie ihre morgendlichen Anweisungen erhalten hatte:
»Diese Miss Barrowby, der wir geschrieben haben – kein Wunder, dass sie nicht antwortet. Sie ist tot.«
»Ach, tot«, erwiderte Hercule Poirot leise. Es klang eher wie eine Antwort als wie eine Frage.
Miss Lemon öffnete ihre Handtasche und zog einen Zeitungsausschnitt hervor.
»Ich habe es in der U-Bahn gesehen und herausgerissen.«
Anerkennend registrierte Poirot, dass Miss Lemon zwar das Wort »herausgerissen« benutzt, die Meldung jedoch säuberlich mit der Schere ausgeschnitten hatte, und studierte die Anzeige aus der Rubrik »Geburten, Todesfälle und Eheschließungen« der Morning Post:
Am 26. März verstarb völlig unerwartet im Alter von 72 Jahren Amelia Jan Barrowby in Rosebank, Charman’s Green. Wir bitten, von Blumen abzusehen.
Poirot las es ein zweites Mal.
»Völlig unerwartet«, murmelte er in seinen Bart. Dann sagte er mit energischer Stimme: »Wenn Sie so freundlich wären, einen Brief aufzunehmen, Miss Lemon.«
Der Bleistift schwebte. Miss Lemon, deren Gedanken bei den Feinheiten ihres Ablagesystems weilten, nahm schnell und korrekt folgendes Stenogramm auf:
Sehr geehrte Miss Barrowby,
obwohl ich noch keine Antwort von Ihnen erhalten habe, werde ich Sie, da ich am Freitag in der Nähe von Charman’s Green weile, an diesem Tag aufsuchen, um die in Ihrem Brief erwähnte Angelegenheit näher zu besprechen.
Hochachtungsvoll usw.
»Diesen Brief tippen Sie bitte; wenn er umgehend aufgegeben wird, müsste er noch heute Abend in Charman’s Green sein.«
Am folgenden Morgen traf mit der zweiten Post ein schwarz umrandeter Brief ein:
Sehr geehrter Mr Poirot,
in Beantwortung Ihres Schreibens an meine Tante, Miss Barrowby, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass sie am 26. verstorben ist, womit sich die von Ihnen erwähnte Angelegenheit erledigt hat.
Hochachtungsvoll,
Mary Delafontaine
Poirot lächelte in sich hinein.
»Erledigt hat … Na, das werden wir erst noch sehen. En avant – auf nach Charman’s Green.«
Rosebank machte den Eindruck, als würde es seinem Namen alle Ehre machen, was mehr ist, als sich von den meisten Häusern dieser Art und dieses Formats behaupten lässt.
Auf dem Weg zur Eingangstür hielt Hercule Poirot inne und blickte anerkennend auf die sauber angelegten Beete zu beiden Seiten: Rosenstöcke, die in einigen Monaten eine reiche Blüte versprachen, bereits blühende Osterglocken, frühe Tulpen, blaue Hyazinthen, deren Beet zum Teil von Muschelschalen eingefasst war.
»Wie geht er noch mal, dieser englische Reim, den die Kinder immer singen?«, murmelte Poirot vor sich hin.
»Mistress Mary, du Widerborst,
was wächst in deinem Garten?
Silberglöckchen und Muschelschalen
und hübsche Mädchen aller Arten.«
Vielleicht nicht aller Arten, dachte er, aber zumindest ein hübsches Mädchen sorgt ja jetzt doch dafür, dass sich der kleine Vers bewahrheitet.
Die Haustür hatte sich geöffnet, und ein adrettes kleines Dienstmädchen in Schürze und Häubchen beobachtete ein wenig skeptisch das Schauspiel, das ein auffallend schnurrbärtiger, laute Selbstgespräche führender fremdländischer Gentleman im Vorgarten ablieferte. Sie selbst war, wie Poirot bemerkt hatte, ein sehr hübsches Mädchen mit runden blauen Augen und rosigen Wangen.
Höflich lüftete Poirot den Hut.
»Pardon«, sagte er, »aber wohnt hier eine gewisse Miss Amelia Barrowby?«
Dem Mädchen stockte der Atem, und seine Augen wurden noch runder.
»Oh, Sir, wissen Sie es denn nicht? Sie ist tot. Ganz plötzlich ist es passiert. Dienstagabend.«
Sie zögerte, hin- und hergerissen zwischen zwei starken Empfindungen: einerseits dem Misstrauen gegenüber einem Ausländer, andererseits dem genüsslichen Vergnügen, das es ihrer Schicht bereitet, sich mit dem Thema Krankheit und Tod zu beschäftigen.
»Sie versetzen mich in Erstaunen«, erwiderte Hercule Poirot, was nicht unbedingt der Wahrheit entsprach. »Ich hatte heute eine Verabredung mit der Dame. Vielleicht könnte ich dann mit der anderen Dame sprechen, die hier wohnt?«
Das Mädchen schien ein klein wenig unsicher.
»Mit der Hausherrin? Nun, Sie könnten vielleicht schon mit ihr sprechen, aber ich weiß nicht, ob die Herrin irgendjemanden empfängt oder nicht.«
»Sie wird mich empfangen«, sagte Poirot und reichte ihr seine Visitenkarte.
Die Autorität in seiner Stimme zeigte Wirkung. Das rotwangige Mädchen wich zurück und geleitete Poirot in den rechts von der Eingangshalle gelegenen Salon. Dann ging sie, seine Karte in der Hand, die Hausherrin holen.
Hercule Poirot blickte sich um. Er befand sich in einem traditionell eingerichteten Salon: hellbeige Tapeten mit einem Zierstreifen als Abschluss, auf den Sesseln farblich undefinierbare Cretonnebezüge, rosafarbene Kissen und Vorhänge, Unmengen von Porzellanfiguren und Nippes. Nichts in dem Raum stach hervor, nichts deutete auf eine ausgeprägte Persönlichkeit der Hausherrin hin.
Plötzlich spürte Poirot, der sehr feinfühlig war, dass ihn jemand beobachtete. Er wirbelte herum. In der Terrassentür stand ein Mädchen, ein kleines, bleiches Mädchen mit pechschwarzen Haaren und misstrauischen Augen.
Sie kam herein, und als sich Poirot leicht verbeugte, platzte es schroff aus ihr heraus:
»Warum sind Sie hier?«
Poirot antwortete nicht. Er hob lediglich die Augenbrauen.
»Sie sind kein Anwalt, nein?« Ihr Englisch war zwar gut, aber für eine Engländerin hätte man sie trotzdem keine Sekunde lang gehalten.
»Warum sollte ich ein Anwalt sein, Mademoiselle?«
Das Mädchen starrte ihn missmutig an.
»Ich dachte, Sie wären vielleicht einer. Ich dachte, Sie wären womöglich hergekommen, um mir zu erklären, dass sie nicht wusste, was sie tat. Von so was habe ich nämlich schon gehört – die unzulässige Beeinflussung. So nennt man das, nein? Aber das stimmt nicht. Sie wollte, dass ich das Geld bekomme, und ich werde es bekommen. Wenn es notwendig ist, nehme ich mir selbst einen Anwalt. Das Geld gehört mir. So hat sie es aufgeschrieben, und so soll es auch sein.«
Mit ihrem vorgestreckten Kinn und den funkelnden Augen sah sie jetzt regelrecht hässlich aus.
Die Tür ging auf, eine große Frau trat ein und sagte: »Katrina.«
Das Mädchen fuhr zusammen, errötete, murmelte etwas und ging durch die Terrassentür nach draußen.
Poirot wandte sich der Frau zu, die die Situation mit einem einzigen Wort wieder ins Lot gebracht hatte. In ihrer Stimme hatte Autorität gelegen sowie Verachtung und eine Spur vornehme Ironie. Ihm war sofort klar, dass er die Dame des Hauses vor sich hatte, Mary Delafontaine.
»Monsieur Poirot? Ich hatte Ihnen geschrieben. Sie scheinen meinen Brief nicht erhalten zu haben.«
»Leider nein, ich war kurzzeitig nicht in London.«
»Aha, das erklärt es. Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Delafontaine. Das ist mein Mann. Miss Barrowby war meine Tante.«
Mr Delafontaine war so leise hereingekommen, dass Poirot es überhaupt nicht bemerkt hatte. Er war ein großer, grauhaariger Mann mit einem undefinierbaren Gebaren, der die Angewohnheit hatte, sich nervös am Kinn herumzufingern. Oft blickte er zu seiner Frau hinüber; es war unverkennbar, dass er von ihr erwartete, in Gesprächen die Initiative zu ergreifen.
»Ich bedaure sehr, Sie in Ihrer Trauer zu stören«, sagte Hercule Poirot.
»Mir ist klar, dass Sie keine Schuld daran trifft«, erwiderte Mrs Delafontaine. »Meine Tante starb am Dienstagabend, und zwar völlig unerwartet.«
»Absolut unerwartet«, sagte Mr Delafontaine. »Schwerer Schlag.«
Sein Blick war auf die Terrassentür gerichtet, durch die das Mädchen verschwunden war.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Hercule Poirot. »Ich werde mich zurückziehen.«
Er machte einen Schritt auf die Tür zu.
»Einen Moment«, sagte Mr Delafontaine. »Sie, äh, hatten einen Termin mit Tante Amelia, sagten Sie?«
»Parfaitement.«
»Vielleicht können Sie uns erklären, worum es gehen sollte«, sagte seine Frau. »Wenn wir Ihnen irgendwie behilflich …«
»Es war eine Privatangelegenheit«, fiel Poirot ihr ins Wort. »Ich bin Detektiv«, fügte er knapp hinzu.
Mr Delafontaine stieß die kleine Porzellanfigur um, mit der er gespielt hatte. Seine Frau wirkte verwirrt.
»Detektiv? Und Sie hatten einen Termin mit Tantchen? Wie merkwürdig!« Sie starrte ihn an. »Können Sie uns nicht ein bisschen mehr erzählen, Monsieur Poirot? Es, es klingt einfach ungeheuerlich.«
Poirot schwieg einen Augenblick. Er wählte seine Worte mit Bedacht.
»Es fällt mir nicht leicht, Madame, mich zu entscheiden, was ich tun soll.«
»Hören Sie«, sagte Mr Delafontaine. »Sie hat nicht etwa irgendwelche Russen erwähnt, oder?«
»Russen?«
»Ja, Sie wissen schon – Bolschewisten, Rote und dergleichen.«
»Sei nicht albern, Henry«, sagte seine Frau.
Mr Delafontaine gab sofort klein bei:
»Tut mir leid, tut mir leid – ich war nur neugierig.«
Mary Delafontaine sah Poirot offen an. Ihre Augen waren leuchtend blau – blau wie Vergissmeinnicht.
»Wenn Sie uns irgendetwas sagen können, Monsieur Poirot, dann wäre ich Ihnen sehr verbunden. Ich versichere Ihnen, ich habe einen, einen Grund für meine Bitte.«
Mr Delafontaine wirkte beunruhigt.
»Sei vorsichtig, altes Mädchen – du weißt, da ist vielleicht überhaupt nichts dran.«
Diesmal brachte seine Frau ihn mit einem Blick zum Schweigen.
»Also, Monsieur Poirot?«
Langsam und ernst schüttelte Hercule Poirot den Kopf. Er schüttelte ihn mit sichtlichem Bedauern, aber er schüttelte ihn.
»Ich fürchte, Madame«, sagte er, »zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann ich Ihnen nichts sagen.«
Er verneigte sich, nahm seinen Hut und ging in Richtung Tür. Mary Delafontaine begleitete ihn in die Eingangshalle. Vor der Haustür hielt er inne und sah sie an.
»Sie lieben Ihren Garten, nicht wahr, Madame?«
»Ich? Ja, ich arbeite viel im Garten.«
»Je vous fais mes compliments.«
Erneut verneigte er sich und schritt zum Tor. Als er das Anwesen verlassen und sich nach rechts gewandt hatte, warf er einen Blick zurück und registrierte zwei Dinge: ein bleiches Gesicht, das ihn von einem Fenster im ersten Stock beobachtete, und einen Mann, der in aufrechter, soldatischer Haltung auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf und ab ging.
Hercule Poirot nickte.
»Definitivement«, sagte er bei sich. »In diesem Loch steckt eine Maus! Welchen Zug macht jetzt wohl die Katze?«
Er entschied sich, zur nächsten Post zu gehen. Dort führte er mehrere Telefonate. Das Ergebnis schien ihn zufriedenzustellen. Er lenkte seine Schritte zum Polizeirevier von Charman’s Green, wo er nach Inspector Sims fragte.
Inspector Sims war ein großer, kräftiger, jovialer Mann.
»Monsieur Poirot?«, fragte er. »Das dachte ich mir schon. Gerade hat mich der Chief Constable Ihretwegen angerufen. Er meinte, Sie würden vorbeischauen. Kommen Sie mit in mein Büro.«
Er schloss die Tür, bot Poirot einen Sessel an, setzte sich ebenfalls und musterte seinen Besucher scharf.
»Sie lassen aber wirklich nichts anbrennen, Monsieur Poirot. Sind wegen dieses Rosebank-Falls hier, noch ehe uns richtig bewusst ist, dass wir es überhaupt mit einem Fall zu tun haben. Was hat Sie denn darauf gebracht?«
Poirot holte den Brief hervor, den er erhalten hatte, und reichte ihn dem Inspector, der ihn mit einigem Interesse durchlas.
»Interessant«, sagte er. »Das Problem ist, dass das alles und nichts heißen kann. Schade, dass sie sich nicht ein bisschen deutlicher ausgedrückt hat. Das würde uns jetzt sehr helfen.«
»Oder aber es wäre gar keine Hilfe nötig.«
»Wie meinen Sie das?«
»Vielleicht wäre sie noch am Leben.«
»So weit gehen Sie also, ja? Hm, damit mögen Sie nicht einmal unrecht haben.«
»Ich bitte Sie, Inspector, schildern Sie mir den Sachverhalt. Ich weiß überhaupt nichts.«
»Das ist schnell getan. Dienstag nach dem Abendessen wurde der alten Dame übel. Höchst beunruhigend. Schüttelkrämpfe, Spasmen und Ähnliches. Der Arzt wurde gerufen. Als er eintraf, war sie bereits tot. Es hieß, sie sei an einer Art Anfall gestorben. Ihm gefiel die Sache allerdings nicht. Er druckste herum und schmierte den Angehörigen ein bisschen Honig ums Maul, machte ihnen jedoch klar, dass er keinen Totenschein ausstellen könne. Was die Familie angeht, ist das der Stand der Dinge. Sie warten jetzt auf das Obduktionsergebnis. Wir sind bereits ein Stückchen weiter. Der Arzt hat uns sofort informiert – er und der Rechtsmediziner haben die Obduktion gemeinsam durchgeführt, und das Ergebnis lässt keinen Zweifel zu: Die alte Dame starb an einer hohen Dosis Strychnin.«
»Aha!«
»Genau. Äußerst üble Sache. Die Frage ist, wer hat es ihr gegeben? Es muss ihr ganz kurz vor ihrem Tod verabreicht worden sein. Zuerst dachte man, es müsse in ihrem Abendessen gewesen sein – aber das scheint, ehrlich gesagt, eine Luftnummer zu sein. Es gab Artischockensuppe aus einer Terrine, Fischauflauf und Apfeltorte.«
»Und wer war beim Essen alles dabei?«
»Miss Barrowby, Mr Delafontaine und Mrs Delafontaine. Miss Barrowby hatte eine Art Pflegerin, die zur Hälfte Russin ist, aber sie hat nicht mit der Familie zusammen gegessen. Sie aß immer die Reste, die aus dem Speisezimmer kamen. Es gibt noch ein Dienstmädchen, das aber an dem Abend frei hatte. Sie ließ die Suppe auf dem Herd und den Fischauflauf im Ofen, und die Apfeltorte war fertig. Alle drei aßen das Gleiche – und außerdem glaube ich nicht, dass man jemandem auf diese Art Strychnin verabreichen kann. Das Zeug ist bitter wie Galle. Der Arzt meinte, man könne es selbst in einer Verdünnung von eins zu tausend oder irgend so was noch herausschmecken.«
»Kaffee?«
»Kaffee ginge schon eher, aber die alte Dame trank keinen Kaffee.«
»Verstehe. Ja, eine scheinbar unüberwindliche Schwierigkeit. Was hat sie zum Essen getrunken?«
»Wasser.«
»Das wird ja immer schlimmer.«
»Eine ganz schön harte Nuss, was?«
»Hatte die alte Dame Geld?«