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In ihrem vierten Fall ermittelt das ostfriesische Kulttrio auch auf den Inseln Norderney, Wangerooge und Spiekeroog. Sommer in Neuharlingersiel. Die Vorbereitungen zum Hafenfest laufen auf Hochtouren. Mittenmang lauter Autoren, die sich bei ihrem Treffen ordentlich in die Wolle kriegen. Und dann fällt auch noch der erste tot um. Ausgerechnet beim Klönen mit Rosa! Als ein zweiter auf Norderney zusammenbricht, wird Rosa hellhörig. Aber Dorfpolizist Rudi will von Mord nichts wissen. Die Kripo in Wittmund schon gar nicht. Von Postbote Henner ist auch keine Hilfe zu erwarten. Der kurt seelenruhig auf Norderney. Als es eine weitere Tote gibt, erwacht Rosas Jagdinstinkt. Bei Mord versteht sie keinen Spaß. Und als bei allen dreien die gleiche Todesursache festgestellt wird, ist das Trio in Alarm …
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Christiane Franke • Cornelia Kuhnert
Mörderjagd mit Inselblick
Ein Ostfriesen-Krimi
In seinem vierten Fall ermittelt das ostfriesische Kulttrio auch auf den Inseln Norderney, Wangerooge und Spiekeroog.
Sommer in Neuharlingersiel. Die Vorbereitungen zum Hafenfest laufen auf Hochtouren. Mittenmang lauter Autoren, die sich bei ihrem Treffen ordentlich in die Wolle kriegen. Und dann fällt auch noch der erste tot um. Ausgerechnet beim Klönen mit Rosa! Als ein zweiter auf Norderney zusammenbricht, wird Rosa hellhörig. Aber Dorfpolizist Rudi will von Mord nichts wissen. Die Kripo in Wittmund schon gar nicht. Von Postbote Henner ist auch keine Hilfe zu erwarten. Der kurt seelenruhig auf Norderney. Als es eine weitere Tote gibt, erwacht Rosas Jagdinstinkt. Bei Mord versteht sie keinen Spaß. Und als bei allen dreien die gleiche Todesursache festgestellt wird, ist das Trio in Alarm …
Cornelia Kuhnert lebt in Hannover und hat bereits zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht und Anthologien herausgegeben.
Christiane Franke wurde an der Nordseeküste geboren und lebt immer noch gerne dort. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin und Herausgeberin arbeitet sie als Dozentin für kreatives Schreiben.
Gleich wird er zugreifen.
Es ist kurz vor elf, da sackt sein Blutzuckerspiegel immer ab.
Michael ist so berechenbar. Ich weiß, dass er Grünkohlpralinen liebt. Mit diesen habe ich mir ganz besonders viel Mühe gegeben. Jetzt. Er steckt sich eine in den Mund.
«Irgendwie ein bisschen bitterer als sonst», murmelt er, schmatzt dennoch genüsslich und schiebt sich die nächste rein.
Weiter so. Bedien dich.
Als die Kirchturmuhr schlägt, packt Michael sich an die Brust und reißt die Augen auf. Hilfesuchend blickt er mich an.
Ich bleibe ruhig sitzen. In ein paar Minuten werde ich den Notarzt rufen. Aber erst, wenn sicher ist, dass der nichts mehr tun kann.
Der perfekte Mord. Der Arzt wird einen Herzinfarkt feststellen, mehr nicht.
Rosa Moll steht frisch geduscht in Unterwäsche vorm Spiegel. In einer halben Stunde muss sie im Sielhof sein. Ihr Blick fixiert den geöffneten Kleiderschrank. Zum dritten Mal schiebt sie die Blusen und Kleider von links nach rechts. Das rote, das bis zu den Waden geht? Nein, der Ausschnitt ist viel zu tief. Das passt für eine Abendveranstaltung, aber nicht zur Begrüßung der Autoren der «Ostfriesischen Literaturtage». Sie wirft das Kleid mit Schwung aufs Bett. Es ist wirklich toll, was Meta Hinrichs da auf die Beine gestellt hat. Nie hätte sie der Vorsitzenden des Lesezirkels aus Neuharlingersiel zugetraut, dass sie es tatsächlich schafft, so eine Veranstaltung an Land zu ziehen. Keine Frage, dass Rosa der Cousine ihres Lieblingsbäckers jede Unterstützung zugesagt hat.
Entschlossen schlüpft sie in die weiße Leinenhose und das passende Hemd. Nach einem Blick in den Spiegel zieht sie beides schnell wieder aus. Vielleicht doch das schwarze Kleid mit den weißen Tupfen? Nein, das geht gar nicht. Tupfen sind viel zu spießig.
Was zieht man zu so einem Anlass eigentlich an? Schließlich lernt sie gleich jede Menge Autoren kennen, dazu Literaturagenten und Kritiker. Wahnsinn! Rosas Finger wandern die Kleiderstange entlang. Vielleicht sollte sie das schwarze, ärmellose Leinenkleid nehmen. Dazu die mit Strass verzierten Sandalen … Sie guckt auf die Wanduhr. Mist. In zehn Minuten muss sie im Sielhof sein. Und geschminkt ist sie auch noch nicht.
Warmer Wind schlägt Gesche Anders entgegen, als sie in Norden aus dem Zug steigt. Tief saugt sie die Luft in ihre Lungen. Nein, die würzige Nordsee riecht man hier noch nicht. Mit Herzklopfen nimmt sie ihren Koffer und orientiert sich. Wo muss sie hin? Es bleiben ihr zwölf Minuten, um den Bus nach Neuharlingersiel zu finden. Nicht mehr lang, und sie sieht Alexander wieder. Das letzte Treffen ist schon Wochen her. Und es war viel zu kurz. Nur eine Nacht in München. Bereits am nächsten Tag musste er zu einer Veranstaltung in die Schweiz und sie ins Fernsehstudio.
Ein glückliches Lächeln huscht über ihr Gesicht. Jetzt haben sie ganze fünf Tage miteinander. Natürlich müssen sie vorsichtig sein, dürfen es nicht an die große Glocke hängen, dass sie vertrauter miteinander sind, als es nach außen aussieht. Immerhin ist Alexander verheiratet. Aber das haben sie in den letzten drei Jahren ja auch meisterhaft hingekriegt. Voller Vorfreude wirft Gesche die schulterlangen rotblonden Haare zurück und folgt dem Hinweisschild zum Bus, den Rollkoffer ratternd hinter sich herziehend.
Aus dem vorderen Waggon steigen ein Mann und eine Frau. Von hinten sieht der Mann aus wie Alexander. Nein, das kann nicht sein. Dann hätte er ihr doch Bescheid gesagt, dass er diesen Zug nimmt. Außerdem kommt Alexander immer allein. Und seine Frau sieht ganz anders aus. Kleiner als er, mit kürzeren, leicht ergrauten Haaren. Nicht nur einmal hat er sich darüber aufgeregt, dass Francesca sich weigert, ihre Haare zu färben. Auch, wenn sie ein paar Jahre älter ist als er, müsse das niemand auf den ersten Blick sehen. Das hat Gesche für sich selbst als Kompliment aufgefasst. Francesca und sie sind schließlich beinahe gleich alt.
Verwundert folgt Gesche dem Paar. Beide ziehen jeweils einen Rollkoffer hinter sich her. Die Frau lacht laut auf. Es ist eine junge Stimme. Der Mann antwortet, und Gesche zuckt zusammen. Sie würde dieses rollende «R» unter Tausenden erkennen: Alexander Paulssen. Wie blöd ist das denn? Sie hätten doch im Zug nebeneinandersitzen können. Nun lacht auch Alexander. Wie gut sie dieses Lachen kennt! Sie beschleunigt ihren Schritt, soweit es der enge Kostümrock zulässt.
«Hallo, Alexander!», ruft sie, als sie fast auf gleicher Höhe sind. Überrascht dreht er sich um.
«Gesche.» Er klingt mehr irritiert als erfreut. «Bist du auch schon da?» Ohne eine Antwort abzuwarten, zeigt er zum Ausgang und sagt zu seiner Begleitung: «Da vorn müsste der Bus stehen.» Dann wendet er sich wieder zu Gesche um. «Du kennst Tessa von Wittgenfels sicher. Tessa, das ist Gesche Anders, du hast bestimmt schon von ihr gehört. Sie ist Literaturkritikerin.»
Gesche ist sprachlos. Was ist das denn für eine Begrüßung? Wenigstens ein «Schön, dich zu sehen» hätte sie erwartet. Und zumindest einen Kuss auf die Wange. Na, der wird sie noch kennenlernen. Gesche ist Literaturkritikerin. Wie er das sagt. Sie ist die Literaturkritikerin, die Nummer eins! Kein Autor, der die Bestsellerlisten stürmen will, kommt an Gesche Anders vorbei. Sie ist die Königsmacherin. Ohne sie wäre Alexander nicht dort, wo er jetzt steht.
Alle drei steuern auf den Reisebus zu. Der Fahrer nimmt Gesche den Koffer ab und verfrachtet ihn auf die Ladefläche unterhalb des Fahrgastraumes. Alexander hilft Tessa.
«Danke, das ist zu lieb!» Das Gurren in Tessas Stimme steigert Gesches Wut. Schnell erklimmt sie den Bus und setzt sich in die dritte Reihe. Ans Fenster. Dann ist der Platz neben ihr für Alexander frei. Aber er geht einfach weiter nach hinten durch. Als gäbe es sie gar nicht. Was läuft denn hier, bitte schön? Sie will etwas sagen, doch kein Wort kommt über ihre Lippen. Ihr Mund bleibt offen stehen. Hat Alexander sie tatsächlich gerade abserviert? Einfach so? Im Vorbeimarschieren? Das wird sie ihm nicht durchgehen lassen. Niemals!
War ja irgendwie klar, dass zehn Minuten nicht reichen, um sich zu schminken und die Haare in Form zu bringen. Rosa hetzt die letzten Meter über die Cliener Straat zum Sielhof. Der einstige Herrensitz derer von Eucken liegt inmitten einer großzügigen Parkanlage direkt in Hafennähe. Als sie an der Freitreppe des zweigeschossigen Klinkerbaus ankommt, steht ihr der Schweiß auf der Stirn. «Mörderhitze im August» stand heute als Schlagzeile im Anzeiger für Harlingerland. Über 35 Grad zeigte ihr Thermometer gestern Nachmittag. Hoffentlich wird es heute nicht noch heißer. Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn, wendet sich nach rechts und eilt die Treppe hoch, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. In der oberen Etage hört sie Stimmen. Na, wenigstens die anderen sind pünktlich.
«Entschuldigt, dass ich mich verspätet habe!», ruft Rosa ganz außer Atem, als sie den großen Raum mit dem Kachelofen betritt, in dem Meta Hinrichs und Ottwin Otten schon fleißig alles herrichten.
Meta hebt den Kopf: «Hauptsache, du bist da. Den Empfangstisch hab ich mit Ottwin schon fertig gemacht. Du kannst die Programmhefte aus den Kartons links auf den Tisch packen. Die ersten Autoren müssten jeden Moment eintrudeln. Der Bus aus Norden sollte schon längst da sein.»
Meta dreht sich zu einem schlaksigen Mann um, der die Baumwolltaschen mit Infomaterial über Neuharlingersiel und Ostfriesland füllt und in jede noch eine Packung ostfriesischer Festtagsröllchen steckt. Ein Karton mit kleinen Schnapsfläschchen der Kornbrennerei aus dem Nachbarort steht als zusätzlicher Willkommensgruß bereit.
«Ottwin, wie weit bist du?», fragt Meta.
«Gleich fertig.» Ottwin hebt nicht einmal den Kopf, sondern steckt stur weiter Prospekte in die Taschen. Seine fisseligen Haare, farblich zwischen Matsch und Straßenköterblond, fallen ihm über die Brille. «Die Namensschilder hab ich alphabetisch sortiert.»
«Super», freut sich Meta und wendet sich an Rosa. «Erst brüllt der ganze Lesezirkel: ‹Wir wollen so ein Festival nach Neuharlingersiel holen›, aber wenn es ans Eingemachte geht, schiebt jeder Gründe vor, nicht helfen zu müssen. Wie schön, dass wenigstens ihr zwei mich heute nicht hängenlasst. Ohne euch und die Unterstützung des Kurvereins wäre es ein Chaos geworden.» Sie hebt den Kopf. «Ottwin, der rechte Tisch muss noch ein bisschen dichter ans Fenster. Dahinter können wir dann die Tüten stellen.»
Sofort führt Ottwin den Auftrag aus. «Gut so?»
«Bestens», sagt die Vorsitzende des Lesezirkels, die auch die Buchhandlung «Watt’n LeseLust» in Neuharlingersiel betreibt. «Dann kann’s ja jetzt losgehen!»
Herrlichstes Wetter auf Norderney. Henner hat einen Platz in der dritten Reihe ergattert. Mittlerweile sind alle Stühle vor der Musikmuschel besetzt. Heute spielt ein polnisches Symphonieorchester. Begeistert lauscht Henner den Klängen von Gershwins «Rhapsody in Blue». Die Jungs sind wirklich einmalig gut. Henner kann das beurteilen, seit seiner Jugend schlägt sein Herz für klassische Musik. Wie gern hätte er ein Streichinstrument gelernt, aber daran war in einer Bauernfamilie mit neun Kindern nicht zu denken. Seine acht Schwestern hätten den Eltern die Hölle heiß gemacht, wenn sie ihrem einzigen Sohn und Hoferben Musikunterricht finanziert hätten. Da ist er dann eben in den Spielmannszug vom Schützenverein eingetreten und hat die große Trommel geschlagen.
Während seiner dreiwöchigen Kur hat Henner kein Konzert verpasst. Vor allem, weil sie keinen Eintritt kosten. Wo bekommt er so etwas sonst schon geboten? Er streckt die Beine weit von sich. Norderney. Was für eine schöne Insel! Allein die Spaziergänge am Strand zur Weißen Düne. Er genießt die letzten Tage hier. Vor allem die Ruhe. Weder eine seiner Schwestern noch Rosa will etwas von ihm. Seit die über ihm wohnt, ist sein ruhiges Leben irgendwie vorbei. Da sehnt er sich direkt den geigenden Finanzbeamten als Nachbarn zurück. Denn schon drei Mal ist Rosa über Leichen gestolpert und hat nicht eher Ruhe gegeben, bis er und sein Kumpel Rudi sich der Sache angenommen haben. Rudi ist zwar bei der Polizei und nicht nur für Esens, sondern auch für Neuharlingersiel zuständig, bei Mord darf jedoch nur die Kripo in Wittmund ermitteln. Rudi nicht. Aber irgendwie sind die Wittmunder in letzter Zeit immer auf dem Holzdampfer, was die Ermittlungen angeht. Da war es schon gut, dass Rudi, Rosa und er auf eigene Faust Nachforschungen angestellt haben – sonst wären nachher noch die Falschen im Gefängnis gelandet.
Aber wirklich Spaß hat Henner an solchen Aktionen nicht. Viel lieber feilt er an seinen Reden für die Stadtausrufer-Wettbewerbe. In Uniform und mit Dreispitz auf dem Kopf ist er so ganz in seinem Element. Vor ein paar Wochen hat er in Neustadtgödens eine Rede hingelegt, da haben die Leute laut Beifall geklatscht. Und im Finale musste er gegen Bernd Krüger von Norderney antreten. Den Favoriten. Da hat er allerdings keine Chance gehabt. Aber das tut ihrer Freundschaft keinen Abbruch.
Das Orchester setzt zum Schlussakkord an. Henner applaudiert tüchtig, bevor er sich auf den Weg in die Milchbar macht. Nur noch zweimal Sonnenuntergang am Meer und ein letztes Treffen mit Bernd auf ein Bier. Anders als Henner, der die Ausruferei nur hobbymäßig betreibt, ist es bei Bernd ein richtiger Job. Täglich läuft er in weißer Hose, blau-weißem Fischerhemd und großer Messingglocke durch den Ort und verkündet die Veranstaltungen. Seit neuestem trägt er auch noch einen königsblauen Umhang. Seine rote Schirmmütze erinnert an die von Eisenbahnern aus dem vorigen Jahrhundert und leuchtet weithin sichtbar.
Gestern und heute hat er auch die Lesung von Alexander Paulssen angekündigt. Dabei ist die Insel sowieso schon mit Werbeplakaten dafür regelrecht zugepflastert. Rosa kommt sogar extra deswegen angereist. Aber das Schlimmste: Sie hat ihn darauf festgenagelt, zusammen mit ihr hinzugehen. Sie hat gemeint, er müsse diesen Paulssen unbedingt live erleben. Wirklich Lust hat er dazu nicht. Liebesromane sind überhaupt nicht sein Ding. Aber seine Nachbarin hat nicht lockergelassen. Rosa ist eben Rosa. Zur Not schiebt er einfach einen Asthmaanfall vor und verlässt vorzeitig den Saal.
Henner schlendert die Bülowallee entlang, vorbei am Café Koppe, wo es so leckere Waffeln gibt. Dörte war letzte Woche ganz begeistert davon.
Hoffentlich kriegt Rosa nicht spitz, dass die ihn besucht hat. Und eigentlich war es auch kein richtiger Besuch. Sie hat nur ihre Mutter zum Onkel gebracht. Der hat hier einen Fahrradverleih und braucht im Sommer ein bisschen Unterstützung. Und natürlich hat er Dörte bei dieser Gelegenheit getroffen. Warum auch nicht? Schließlich kennen sie sich seit ihrer Sandkastenzeit. Das mit dem Kino war aber keine so gute Idee. Er hat gedacht, beim Filmgucken muss er nicht so viel reden. Aber der Schuss ist gründlich nach hinten losgegangen. Ihm graust es, wenn er daran zurückdenkt. Frauen sind wirklich eine schwierige Sorte Mensch. Besser, man hält die sich vom Leib.
Mittlerweile geht es auf Mittag zu, und schon mehr als die Hälfte der fünfzig Teilnehmer hat sich am Empfangstisch des Begrüßungskomitees angemeldet. Bei der brütenden Hitze draußen freuen sich alle über die angenehme Kühle in dem alten Klinkerbau.
«Herzlich willkommen in Neuharlingersiel», sagt Rosa zu der Frau, die gerade an den Tisch tritt. «Hatten Sie eine gute Anreise?»
«Ja», lautet die einsilbige Antwort.
«Verraten Sie mir Ihren Namen?»
Rosa mustert die verhärmt aussehende Brünette. Das Gesicht kennt sie nicht von Facebook, dabei hat Rosa sich allen Autorengruppen angeschlossen, die sie dort aufgetrieben hat.
«Lüttjohann, Heide Lüttjohann.»
Ach nee. Nun ist Rosa baff. Das soll die Lüttjohann sein? Auf dem Schwarz-Weiß-Foto für das Lesungsplakat sieht die mindestens zehn Jahre jünger aus. Schnell sucht Rosa das Namensschild aus dem Karton für die Buchstaben I bis L heraus und macht auf der Liste einen Haken.
«Am Freitag haben Sie die Lesung auf Wangerooge. Die Tide ist günstig, da können Sie hin die Fähre nehmen und zurück mit den Inselfliegern nach Harle fliegen. Der Shuttleservice ist bereits für Sie organisiert», sagt Ottwin, zeigt auf Rosa und reicht ihr die Stofftasche. Rosa merkt ihm an, dass er zu gern ein Lob hören möchte. Doch die Lüttjohann nickt nur blasiert.
«Ich habe nichts anderes erwartet», sagt sie herablassend, dreht sich um und geht grußlos. Nach drei Schritten bleibt sie stehen, hebt erfreut die Arme und ruft überschwänglich: «Robert! Du hier!? Was für eine Überraschung! Wir haben uns ja ewig nicht gesehen!»
Sie fällt dem Mann um den Hals, der gerade durch die Tür getreten ist. Eine stattliche Erscheinung mit weißem Hemd unter dunkelblauem Sakko. Er ist groß gewachsen und wohlgenährt. Die Tropfenform seiner runden Hornbrille ist zurzeit der letzte Schrei, eine ähnliche hat Rosa kürzlich in der Zeitung bei einem bekannten amerikanischen Schauspieler gesehen. Seine graumelierten Haare sind eine Spur zu lang, schmeicheln jedoch seinem Gesicht, in dem ein Dreitagebart wohl vom Doppelkinn ablenken soll.
«Hallo, Heide», brummt er und schiebt sie von sich. «Hast du Alexander schon gesehen?»
«Ja. Und Gesche auch.»
«Muss mich das wundern?» Er lacht auf.
«Nicht wirklich. Aber Alexander hat diesmal nicht sie, sondern Tessa von Wittgenfels im Schlepptau.»
«Tessa?» Er grinst breit. «Na, dann ist ja für Spannung gesorgt.» Er schlägt der Lüttjohann auf die Schulter. «Wir sehen uns später. Ich muss jetzt erst mal die Formalitäten regeln.»
Rosas Herz macht einen Sprung, als er auf sie zukommt.
«Guten Morgen! Ich hätte gern meine Unterlagen. Robert Goldbach.»
Goldbach. Der Literaturagent. Rosa schluckt aufgeregt. «Willkommen, Herr Goldbach. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Anreise.»
«Danke. War wunderbar.»
«Einen Moment, gleich habe ich Ihr Namensschild.» Rosa strahlt ihn an. «Ich bin schon sehr auf die Podiumsdiskussion heute Nachmittag gespannt. Wissen Sie, ich …»
Doch Goldbach hört ihr nicht zu, sein Blick fällt auf Ottwin, der ihm den Baumwollbeutel entgegenhält. «Ach, der Herr Otten», sagt Goldbach gedehnt. «Was machen Sie denn hier?»
«Ich gehöre zum Organisationsteam.»
«Richtige Entscheidung, Otten. Organisieren liegt Ihnen bestimmt mehr als Schreiben. Ist gut, wenn das mal jemand einsieht. Gibt eh viel zu viele talentfreie Autoren.»
Ottwin wird blass, erwidert aber nichts.
Das ist zwar hart, was Goldbach da sagt, Rosa gibt ihm insgeheim jedoch recht. Ottwins Krimis sind wirklich gähnend langweilig. Einen hat sie ganz gelesen, den anderen nach sieben Seiten weggelegt. Aber das würde sie ihm natürlich nie direkt sagen.
«Hier, bitte», sagt Rosa und reicht Goldbach das Schild. «Wenn Sie noch Fragen haben, können Sie sich jederzeit an mich wenden. Wissen Sie, ich würde gerne …»
«Danke.» Goldbach dreht sich um und geht.
«Moment», ruft Ottwin, «vergessen Sie nicht Ihre Begrüßungstasche!»
«Puh», stöhnt Rosa auf, als nur noch sie, Meta und Ottwin im Raum sind, «das war ja, als hätte jemand eine ganze Busladung hier abgesetzt.» Sie öffnet das Fenster, um frische Luft hereinzulassen.
Meta legt den Stift zur Seite und grient. «Die sind tatsächlich zum großen Teil mit dem Bus aus Norden gekommen. Ist jetzt sicher eine knappe Stunde Ruhe, bevor der nächste Ansturm kommt.»
«Wenn das so ist, dann geh ich unten einen Kaffee trinken», sagt Rosa. «Kommt einer von euch mit?»
Meta schüttelt den Kopf. «Nein. Ich halte die Stellung. Ottwin, willst du nicht mitgehen? Ich schaffe das auch allein.»
«Nein», widerspricht er. «Ist besser, wenn wir zu zweit hier sind.»
«Na gut, dann bis gleich.» Erleichtert verlässt Rosa den Raum. Natürlich hätte sie auch mit Meta und Ottwin einen Kaffee getrunken, aber wenn sie ehrlich ist, geht sie lieber allein runter. Schließlich hofft sie, Goldbach in ein Gespräch verwickeln zu können.
Doch der ist nirgends zu sehen, als sie mit dem Kaffeebecher in der Hand durch die Räume streift und so tut, als ob sie sich für die blaue Fliesenwand mit den Bibelmotiven interessiert. Unauffällig wirft sie einen Blick in den Pavillon des Restaurants. Überall hocken Autoren und plappern und lachen. Eine verschworene Gemeinschaft. Rosa kann die kreative Energie, die durch den Raum fließt, förmlich spüren. Langsam schlendert sie zum Vordereingang. Ob Goldbach vor dem Sielhof frische Luft schnappt? Sie bleibt draußen auf dem Treppenabsatz stehen und schaut sich um. Er ist nirgendwo zu sehen. Enttäuscht will sie wieder hineingehen, als sie aus der kleinen Kapelle Stimmen hört.
«Was bildest du dir eigentlich ein, mich so zu behandeln?», faucht eine Frau aufgebracht. «Ich bin kein lästiges Insekt, das man mal eben so aus seinem Leben entfernen kann! Das haben sich vielleicht die Frauen vor mir gefallen lassen, aber mit mir kannst du das nicht machen! Ich habe dich erst zu dem gemacht, was du jetzt bist, also wirst du mich mit Respekt behandeln. Hast du das kapiert? Ich lasse es nicht zu, dass du einfach über mich hinwegsiehst! Deine kleine Tessa kannst du vögeln, wann immer du willst, aber nicht hier. Vergiss nie: Ich habe dich in den Olymp der Autoren gebracht, und ich kann dich dort ebenso schnell wieder hinauskatapultieren.»
Rosa ist baff. Was sind das denn für Töne? Und vor allem: Wer spricht da mit wem?
«Du überschätzt deinen Einfluss», antwortet eine gelangweilte Männerstimme, deren rollendes «R» ihr einen wohligen Schauer über den Rücken laufen lässt. Das ist Alexander Paulssen. Kein Zweifel. Oft genug hat Rosa ihn im Fernsehen gesehen.
«Damit hättest du mich vielleicht zu Anfang meiner Karriere unter Druck setzen können, aber inzwischen habe ich so viele Stammleser, die kannst selbst du mir nicht mehr nehmen.»
«Das glaubst aber nur du», zischt die Frau. «Wenn ich will, dann kannst du einpacken.»
Henner ist schon ein gutes Stück auf dem Damenpfad am Weststrand entlangspaziert. Vorbei an weißen klassizistischen Herrenhäusern mit Blick aufs Meer, Strandkörben und badenden Menschen. Und dem historischen Badekarren, einer hölzernen Umkleidekabine auf vier Rädern, die als mobiles Standesamt dient. Dörte war richtiggehend gerührt, als sie den gesehen hat.
«Was muss das schön sein, hier zu heiraten», hat sie gesagt. Henner schüttelt sich. Bloß schnell weg. Die Milchbar ist bereits in Sichtweite, und er entdeckt Bernd Krüger direkt davor, diesmal ohne Ausrufer-Uniform. Henner will ihm gerade zuwinken, als sein Handy in der Hosentasche vibriert.
«Henner, der Goldbach ist hier», ruft Rosa ihm ohne Begrüßung ins Ohr. «Er ist tatsächlich nach Neuharlingersiel gekommen!»
«Glückwunsch», murmelt Henner. Wer um Himmels willen ist Goldbach? Muss er den kennen? Das fragt Henner aber nicht, stattdessen winkt er Bernd zu. Der hat ihn auch entdeckt und grüßt zurück.
«Henner, weißt du, was das für eine Chance für mich ist?»
«Nee.» Also nicht wirklich.
Bernd macht ein Zeichen in Richtung Milchbar und hebt zwei Finger. Henner nickt zustimmend.
«Menno, Henner! Goldbach ist der Agent. Ich will ihm mein Manuskript anbieten. Er wird es an einen der ganz großen Verlage verkaufen. Für richtig viel Geld. Dann werde ich reich und berühmt.»
«Aber du hast das doch noch gar nicht fertig geschrieben», wendet Henner ein.
«Sei nicht so ein Korinthenkacker», meckert Rosa, «du hast überhaupt keine Ahnung vom Literaturbetrieb. Niemand gibt ein fertiges Manuskript ab.»
«Echt nicht? Selbst Anfänger wie du nicht?»
«Was soll denn die Spitze?», fragt Rosa erbost. «Du bist ja so was von miesepetrig!»
Bernd kommt ihm mit zwei Gläsern Bier entgegen.
«Du, Rosa, ich muss jetzt auflegen. Die nächste Anwendung geht los.»
Rudi, genauer: Rudolf Hieronymus Bakker, brütet über dem Einsatzplan für den nächsten Monat, als das Telefon der Polizeistation in Esens klingelt. Er blickt zu seinem Kollegen Bernie Bütefisch, der eigentlich Telefondienst hat. Doch der hat den Mund voll. Seine Frau Martha hat gestern wieder einmal gebacken: Kuchen mit frischen Augustäpfeln. Also greift Rudi zum Hörer.
«Polizeistation Esens, Kommissar Bakker am Apparat», meldet er sich.
«Rudi, ich bin’s!», brüllt Dörte aufgeregt in den Hörer. «Du musst unbedingt kommen, ich hab gerade einen Unfall gebaut.»
«Um Himmels willen, bist du verletzt?» Rudi ist genau wie Henner seit Kindertagen mit Dörte befreundet. Kein Wunder, die beiden Jungs sind am selben Tag geboren und zusammen auf dem Steffens-Hof aufgewachsen. Er allerdings nicht als Sohn des Bauern, sondern als uneheliches Kind der Magd – sein Vater ist als Matrose auf den Weiten des Meeres verschollen, bevor er Rudis Mutter heiraten konnte.
«Nein, ist nur Blechschaden. Aber ich bin einem reingefahren. Die Fahrerin hat so dämlich gebremst, dass ich ihr hinten draufgerumst bin, und jetzt macht die ein Theater, das glaubst du nicht. Ist ’ne Auswärtige.» Dörte senkt abfällig die Stimme.
Eine Auswärtige. Dann ist ja alles nur halb so wild. Streit im Dorf hasst Rudi nämlich wie die Pest.
«Wo bist du denn?»
«Auf der Neuharlingersieler Straße. Beim Netto. Im Kreisverkehr. Du musst schnell kommen, wir blockieren hier alles. Aber man darf die Autos doch nicht bewegen, bevor die Polizei den Unfall aufgenommen hat. Ich hab zur Sicherheit schon Fotos mit dem Handy gemacht. Birgit kann auch bezeugen, dass die so blöd gebremst hat. Völlig grundlos. Ich sehe gar nicht ein, dass ich den Schaden übernehmen soll.»
«Wer ist Birgit?»
«Birgit Haller. Ich hab sie abgeholt, weil wir zusammen auf dem Voßhörnerhof reiten. Ich trainiere da doch für das Westernreitabzeichen. Aber das tut jetzt nichts zur Sache, Rudi. Beeil dich, die Frau kreischt hier rum, dass sie zu einer Podiumsdiskussion in Neuharlingersiel muss und sie mich verklagt, wenn sie nicht rechtzeitig dort ist.»
«Nun beruhig dich mal wieder. Bin gleich da.» Er legt den Hörer auf, greift nach seiner Dienstmütze und den Autoschlüsseln.
«Was ist denn los?», fragt Bernie und schiebt sich eine Gabel mit Apfelkuchen in den Mund.
«Muss zu einem Auffahrunfall.»
«Alln’s klor …»
Das kommt zwar undeutlich, aber Bernie redet so oft mit vollem Mund, dass Rudi beinahe immer versteht, was der sagt.
Im Kreisverkehr steht ein LKW hinter Dörtes Auto, die anderen Fahrzeuge haben sich an der Unfallstelle vorbeilaviert. Gottlob, ohne dass es zu weiteren Dellen und Kratzern durch Außenspiegel gekommen ist. Neben Dörte steht eine großgewachsene, schlanke Frau mit langem, blondem Pferdeschwanz. Das muss diese Birgit sein. Sie macht einen entspannten Eindruck, was man von der dritten Frau nicht behaupten kann, die etwas abseits steht.
«Da sind Sie ja endlich!», keift sie, bevor Rudi Dörte überhaupt begrüßen kann. «Schauen Sie sich diesen Schlamassel an. Fährt die mir einfach hinten drauf, diese dumme Kuh.»
«Also bitte, mäßigen Sie sich.» Rudi zieht seine Uniformjacke straff. «Zeigen Sie mir bitte Ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere, Frau …»
«Stern. Vera Stern. Ich bin Schriftstellerin und muss dringend nach Neuharlingersiel. Unvorstellbar, wenn die Podiumsdiskussion ohne mich beginnt.» Sie wühlt aufgeregt in den Tiefen ihrer großen Handtasche. Ihre dunkelblonden Haare kleben strähnig am Kopf.
«Nun lassen Sie mich erst einmal alles in Ruhe angucken und aufnehmen. Und schön der Reihe nach. Zur Not wird man eben auf Sie warten müssen. Wann geht die Diskussion denn los?»
«In einer Stunde.»
«Och, bis dahin schaffen wir das locker.»
Blöd, dass der Fahrstuhl defekt ist. Die Stufen hinauf in den Kursaal des Sielhofs machen Ludwig Twenge ordentlich zu schaffen. Selbst mit seinen Unterarmgehhilfen. Doch was tut er nicht alles, um den Lesern der Mitmachzeitung aktuelle Artikel zu bieten. Da hat er einen hohen Anspruch an sich. Deshalb ist er früh genug gekommen, um nicht ins Getümmel auf der Treppe zu geraten. Die Leute sind oft so rücksichtslos. Drängeln, schieben, schubsen – was er da schon alles erlebt hat, das geht auf keine Kuhhaut. Bestens vorbereitet ist er auch. Seine Frau Sigrid trägt den Rucksack, in dem sein iPad, ein Block und auch eine Thermoskanne mit Tee sind, er kann ja nicht mal eben schnell runter ins Restaurant. Und wer weiß, wie lang diese Podiumsdiskussion dauert, angesetzt sind zweieinhalb Stunden. Mit Pause zwischendrin.
«Gleich hast du’s geschafft», sagt Sigrid und schlägt diesen fürsorglichen Ton an, der Ludwig sofort zur Weißglut treibt. «Ich wäre gerne geblieben, das weißt du, aber Adelheid braucht mich. So kurz vorm Hafenfest ist echt viel zu tun.»
«Nun tu man nicht so, als wär ich alt und senil. Ich kann das alles gut alleine.» Manchmal benimmt Sigrid sich wirklich wie eine Krankenschwester. Das kann er auf den Tod nicht ab. Er ist weder krank noch ein Pflegefall. Er ist noch immer ein ganzer Mann! Mit leichten Einschränkungen zwar, aber die sind nicht der Rede wert.
Im Kursaal lässt er sich auf einen Stuhl in der letzten Reihe fallen. Von hier hat er alles im Blick. Vorne ist eine kleine Bühne aufgebaut. Es soll eine heiße Diskussion geben, hat Ludwig beim Reingehen aufgeschnappt. Er hat zwar keine Ahnung von diesem Literaturgequatsche, aber dieser Vera Stern wird er nachher in der offenen Fragerunde ordentlich auf den Zahn fühlen. Die ist nicht mal hier geboren, geschweige denn an der Küste aufgewachsen! Hat zwei Urlaube im Norden gemacht und meint, sie kennt Ostfriesland gut genug, um ihre Romane hier anzusiedeln. Das muss man sich mal vorstellen! Es juckt Ludwig schon bei dem Gedanken daran in den Fingern, einen schonungslosen Artikel über sie zu schreiben. Noch heute Abend wird er ihn online stellen. Dann ist er mal wieder aktueller als die Kollegen von der Ostfriesen-Zeitung und vom Anzeiger für Harlingerland, die vorne in der ersten Reihe auf den Presseplätzen sitzen.
«Moin, Ludwig.» Meta Hinrichs reißt ihn aus seinen Gedanken. Sie kennen sich schon ewig, seit dem Konfirmandenunterricht. In der Tanzstunde waren sie auch zusammen. Und wenn ihm damals nicht Sigrid über den Weg gelaufen wäre, wer weiß …
«Moin, Meta.»
Sie wirft ihm einen schrägen Blick zu. «Du wirst hoffentlich nur lobend über die Literaturtage berichten.»
Er grinst breit. «Klar.»
Ihre Skepsis bleibt. «Dann ist ja gut. Es war nämlich eine Heidenarbeit, diese Sache auf die Beine zu stellen. Also: Mach sie mir nicht mit deinen Artikeln kaputt.»
Ludwig hält ihrem Blick stand. «Ich berichte sachlich über alles, was ich in Erfahrung bringe.»
Meta mustert ihn. «Ich hab gesehen, dass du dich sogar für zwei Veranstaltungen angemeldet hast.» Es klingt wie eine versteckte Drohung.
«Jo. Als Journalist muss man sich genauestens informieren, bevor man seinen Artikel schreibt. Die Teilnahmegebühr muss ich doch wohl nicht entrichten, oder?» Es fühlt sich richtig gut an, das Wort Journalist auszusprechen. Die Leute sehen ihn auch viel respektvoller an, seit er schreibt. Geradezu hochachtungsvoll. In dem Elektrogeschäft in Esens, wo er bis zum Räumungsverkauf Fernseher verkauft hat, war das nie so.
«Nein, Ludwig. Die Presse kommt immer umsonst rein. Ich verlasse mich also auf dich und freue mich, dass du über dieses Festival schreibst. Das kann auch gerne sehr ausführlich sein», sagt sie und setzt ein kokettes Lächeln auf. «Aber jetzt entschuldige mich, ich muss auf der Bühne nach dem Rechten sehen. Ein Mikro machte gerade noch Zicken, da muss ich gucken, ob das jetzt funktioniert. Wir sehen uns sicher nachher.» Schon ist sie verschwunden.
Zehn Minuten später geht es los, obwohl auf dem Podium noch ein Stuhl unbesetzt ist. Der von Vera Stern. Garantiert hat die Stuttgarterin in letzter Minute gekniffen. Aber Ludwig kann aus ihrer Abwesenheit seine Schlüsse ziehen. Wieder grient er.
«Meine sehr verehrten Damen und Herren», eröffnet Meta die Veranstaltung. «Ich begrüße Sie alle sehr herzlich im ehrwürdigen Sielhof hier in Neuharlingersiel und freue mich über Ihr reges Interesse an den ersten Ostfriesischen Literaturtagen! Wir beginnen mit einer Podiumsdiskussion zu einem Thema, das uns alle interessiert: Wie wird Literatur heute veröffentlicht und vermarktet? Begrüßen Sie mit mir zu diesem Thema den Bestsellerautor Alexander Paulssen, die Literaturkritikerin Gesche Anders, den Literaturagenten Robert Goldbach und …» Als wäre ihr jetzt erst aufgefallen, dass ein Platz leer geblieben ist, gerät sie kurz ins Stocken. «Eigentlich sollte Vera Stern bei uns sein, die ihre Bücher digital im Eigenverlag veröffentlicht …»
«Ich bin schon da!», schallt es von hinten in den Saal. Die Stimme der Frau klingt abgehetzt und schrill. «Mir ist jemand ins Auto gefahren! Im Kreisverkehr! So viel Dämlichkeit kann einem wirklich nur in Ostfriesland begegnen!» Vera Stern eilt schnellen Schrittes zum Podium und setzt sich auf den freien Stuhl.
Meta übergeht ihre letzte Bemerkung. «Wie schön, dass Ihnen nichts passiert ist. Herzlich willkommen, Frau Stern!» Meta blickt wieder ins Publikum. «Lassen Sie uns beginnen. Herr Paulssen, Ihre Liebesromane sind allesamt in Ostfriesland angesiedelt. Warum, meinen Sie, sind Sie so erfolgreich, dass Sie regelmäßig eine Auflage von über einhunderttausend Büchern erreichen?»
Schon legt Paulssen los. Sein rollendes «R» jagt Rosa erneut einen kleinen Schauer über den Rücken, der jedoch schnell verfliegt, denn er hört überhaupt nicht mehr auf, sich und seine Romane zu loben. Diskussion kann man das nun eigentlich nicht nennen. Aber Meta lässt Paulssen einfach reden, bis Vera Stern der Kragen platzt und sie ihm ins Wort fällt. «So können Sie das nun nicht darstellen. Es gibt auch andere Wege, den Leser zu erreichen. Ich zum Beispiel schreibe ebenfalls regionale Bestseller. Nach meiner Erfahrung …»
Kaum hat sie das gesagt, stürzen sich Gesche Anders und Robert Goldbach wie Kampfhähne auf Vera Stern und lassen kein gutes Haar an ihr. «Nur weil Sie jeder Straße einen Namen geben, ist das noch längst kein Lokalkolorit! Und was heißt hier Bestseller?», schließt Goldbach seine Tirade.
Vera Stern ringt nach Worten.
«Also … das muss ich mir nicht bieten lassen!»
Ottwin springt auf und versucht ihr aus dem Publikum heraus beizustehen: «Die Leute lieben es, wenn sie die Schauplätze wiedererkennen!»
Gesche Anders bläht den Mund auf wie ein Goldfisch und herrscht ihn an: «Klar, dass Sie das sagen! Sie schreiben doch genauso einen Mist! Da könnte ich mir abends auch eine Flasche Rotwein aufziehen und das Telefonbuch durchlesen. Das wäre unterhaltsamer!»
Ottwins Kopf läuft hochrot an. Er setzt sich kommentarlos hin. In Rosa flammt direkt ein wenig Mitleid auf.
Meta scheint das Gespräch zu hitzig zu werden. «Ich denke, wir haben uns alle eine halbe Stunde Pause verdient», beendet sie den ersten Teil der Veranstaltung und tupft sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. Die ersten Zuhörer stehen auf und nutzen die Gelegenheit, sich die Beine zu vertreten.
Rosa blickt sich um. Alexander Paulssen steht vor der Bühne und spricht mit Tessa von Wittgenfels. Gesche Anders wird ein paar Meter weiter von Vera Stern und Ottwin regelrecht belagert. Nur Robert Goldbach scheint keine Lust auf Pausengespräche zu haben und verlässt den Saal. Wenn er jetzt an die frische Luft geht, ist das die Chance, ihn abzupassen. Sie schnappt sich ihre Handtasche. Tatsächlich, Goldbach geht die Treppe hinab und verlässt den Sielhof. Rosa folgt ihm.
Als sie vor die Tür tritt, schlägt ihr die Mittagshitze entgegen. Augenblicklich beginnt sie zu schwitzen. Goldbach geht den Weg zum Hafen entlang. Vielleicht ist er mit jemandem verabredet? Langsam folgt sie ihm. Als er die Straße überquert, beschleunigt sie ihren Schritt.
«Herr Goldbach, warten Sie!» Schnell ist sie neben ihm. «War ganz schön aufwühlend die Diskussion, oder?», fragt sie ein wenig außer Atem. Er blickt sie verwundert an. Kann er sich etwa nicht mehr an sie erinnern?
«Rosa Moll. Ich habe Sie bei Ihrer Ankunft begrüßt und Ihnen die Unterlagen gegeben.» Sie setzt ihr charmantestes Lächeln auf.
«Ach so.» Goldbach entspannt sich. «Dann gehören Sie also nicht zu den Autoren. Gott sei Dank.»
Das ist jetzt eigentlich nicht das, was Rosa hören möchte. «Also ehrlich gesagt …», beginnt sie.
«Ich brauch jetzt dringend einen Kaffee», schneidet er ihr das Wort ab und blickt sich suchend um.
Sofort wittert Rosa ihre Chance. «Genießen Sie die Aussicht auf den Hafen, und ich besorge uns einen Kaffee. Setzen Sie sich da schon mal rein.» Rosa deutet auf einen der wenigen freien Strandkörbe, die entlang der Hafenmauer stehen. Goldbach guckt sie misstrauisch an, nickt schließlich jedoch. Rosa flitzt die Schräge hoch und betritt die Bäckerei. Schiete, schon wieder eine lange Schlange.
Kurz darauf kehrt sie mit zwei Pappbechern zurück und setzt sich neben Goldbach. «Tut mir leid, aber da war so viel los», sagt sie und hält ihm einen Becher hin. «Milch und Zucker?»
«Schwarz», murmelt er.
Zum Glück hat Rosa das vorhergesehen und gibt ihm den anderen Becher. Sie bemerkt, dass er eine leichte Fahne hat. Das findet sie unangenehm. Für einige Momente beobachten sie schweigend das Treiben rund ums Hafenbecken. Dann hält Rosa es nicht mehr aus.
«Glauben Sie, der Literaturagent als solcher ist ein aussterbender Beruf?», beginnt sie. «Schließlich veröffentlichen immer mehr Autoren ihre Bücher in Eigenregie.»
Goldbach runzelt die Stirn und trinkt in kleinen Schlucken. Gut, das war also keine geschickte Frage.
«Ich meine …», versucht Rosa zu retten, was zu retten ist, aber statt auf ihre Frage einzugehen, steht Goldbach auf.
«Danke für den Kaffee», sagt er, wirft den halbvollen Becher in den Papierkorb und strebt in Richtung Sielhof.
Verdammt, ärgert sich Rosa. Wie kriegt sie jetzt bloß die Kurve? Sie läuft ihm hinterher. Vielleicht hat sie nur diese eine Chance, ihn zu bitten, sie als Autorin unter seine Fittiche zu nehmen. Also: Augen zu und durch.
«Herr Goldbach. Bitte, seien Sie mir nicht böse … Ich schreibe auch. Krimis. Also, im wirklichen Leben bin ich Lehrerin. Aber daneben schreibe ich. Mein Manuskript ist zwar noch nicht ganz fertig … aber ich habe immerhin schon dreiundvierzig Seiten.» Nun stellt sie die Frage, die ihr die ganze Zeit schon unter den Nägeln brennt: «Darf ich es Ihnen zuschicken?»
Sie wartet auf eine Antwort, aber Goldbach hat ihr anscheinend überhaupt nicht zugehört. Er bleibt stehen und atmet gepresst. Na, so schlimm ist es nun auch wieder nicht, dass sie ihn gefragt hat. Da könnte er ihr wenigstens antworten. Jetzt greift er sich ans Herz. Er öffnet den Mund, doch bevor er etwas sagen kann, sackt er in sich zusammen.
Ludwig sitzt völlig zufrieden im Kursaal und trinkt seinen Tee in kleinen Schlucken. Das war ja vielleicht ein Gekeife! Schlimmer als die Fischweiber auf dem Markt. Er setzt den Deckel auf die Thermoskanne, packt sie in seinen Rucksack und schiebt ihn unter den Stuhl. Nicht, dass der ihm noch geklaut wird. Da ist alles drin, was er braucht. Mittlerweile ist außer ihm kaum noch jemand im Saal. Einige sind nach unten ins Café oder nach draußen gegangen. Andere diskutieren lauthals vor der Saaltür weiter. Am besten er geht zu denen, da kann er vielleicht das eine oder andere aufschnappen, was in seinen Artikel passt.
Ächzend erhebt er sich vom Stuhl, stützt sich auf seine Gehhilfen und schlurft schwerfällig in den breiten Flur. Etliche der Teilnehmer stehen bei den Glasvitrinen und unterhalten sich lebhaft. Keinen von ihnen kennt er. Er geht zum Fenster, da kann er sich wenigstens ein bisschen anlehnen. Und die Ohren offen halten.
«Dieser Paulssen gibt vielleicht an, das ist geradezu unerträglich», sagt eine Frau mit braunen Haaren. Er schaut auf ihr Namensschild. Heide Lüttjohann. Sie verzieht den Mund zu einer verächtlichen Grimasse. Von der Lüttjohann hat Sigrid erst vor einer Woche ein Buch gelesen, erinnert sich Ludwig. Es lag in der Schale mit seinen Tabletten. Sigrid wollte ihm wohl mal wieder unter die Nase reiben, dass sie nicht nur Western-Romane liest, sondern richtige Bücher. Sie ist sogar Mitglied im Literaturzirkel.
Ludwig hat sich den Klappentext angeguckt. Eine Tote wird im Watt gefunden. Das kommt schon mal vor. Die Touristen kriegen das mit Ebbe und Flut ja nicht so richtig auf die Reihe. Marschieren einfach drauflos Richtung Horizont und vergessen, rechtzeitig umzudrehen. Er hat das Buch gleich wieder weggelegt. Außerdem kommt die Autorin aus Haselünne. Da steht eine Schnapsbrennerei neben der anderen. Mit Korn kennt die sich bestimmt aus, aber was weiß die schon vom Watt!
Der Lüttjohann gegenüber steht ein großgewachsener, hagerer Mann um die sechzig mit verknittertem Gesicht und gewaltigen Segelohren. Sofort hat Ludwig das Bild von Dumbo vor Augen, dem fliegenden Elefanten.
«Wo du recht hast, hast du recht, Heide», äußert er sich jetzt lautstark. «Paulssen hält sich anscheinend für was Besseres. Dabei …» Er senkt verschwörerisch seinen Kopf und flüstert etwas, das Ludwig nicht versteht. Dafür kann er nun das Namensschild des Mannes entziffern: Tom Winter. Von dem hat er nun wirklich noch nichts gehört.
«Echt?», ruft Heide Lüttjohann. «Aber zwischen Ideen klauen und Plagiat liegen doch Welten.»
«Psst, nicht so laut. Diese Bombe will ich erst später platzen lassen. Ich …» Wieder senkt er die Stimme und flüstert ihr etwas zu. In diesem Moment bleibt ein Mann neben den beiden stehen. Seine Haare fallen ihm über die Brille ins Gesicht. Ludwig erkennt ihn sofort. Es ist der arme Kerl, den sie vom Podium aus so fertiggemacht haben. Der hat ihm richtig leidgetan. Den anderen anscheinend auch.
«Tja, Ottwin, dein Engagement für Vera in allen Ehren, aber das ist wohl nach hinten losgegangen. Kennst du denn den Goldbach näher, dass der dich so anmacht?»
«Nein, ich hab ihm nur mein Manuskript geschickt, das kam drei Tage später postwendend zurück. Mit ein paar unschönen Kommentaren. Da habe ich ihn noch mal angerufen.»
Winter nickt, geht aber nicht weiter auf ihn ein, sondern wendet sich seiner Nachbarin zu: «Wen hast du eigentlich als Agenten, Heide?»
Tom Winter scheint richtig neugierig zu sein. Und das ist Ludwig nur recht. Insider-Informationen, genau die braucht er für seinen Artikel.
«Früher hatte ich Goldbach. Aber jetzt will der mich nicht mehr», sagt die Lüttjohann und wird mit jedem Wort leiser. «Angeblich sieht er nicht mehr genügend Potenzial bei mir. Das vermutet der neuerdings eher bei kurzen Röcken und langen Beinen.»
«Goldbach ist dafür bekannt, ein Arschloch hoch zehn zu sein.» Tom Winters rechtes Ohr wackelt beim Reden.
«Wie meinst du das?», fragt die Lüttjohann.
Ludwig saugt jedes Wort auf. Einen Titel für seinen Artikel hat er schon: «Ostfriesische Literaturtage – eine Schlangengrube ist nichts dagegen».
Um nicht aufzufallen, dreht er sich zur Seite und blickt durch das Fenster Richtung Hafen. Was ist da denn los? Ein Krankenwagen fährt mit Blaulicht durchs Sieltor und stoppt. Zwei Sanitäter springen heraus und rennen mit einem großen roten Rucksack zur Hafenkante.
Mittlerweile hat sich eine Menschentraube am Hafenbecken gebildet. Alle gaffen zu dem Notarzt, der mit einer Herzmassage verzweifelt um Goldbachs Leben ringt.
«Um Gottes willen, das ist doch Robert!», hört Rosa eine Stimme hinter sich. Sie dreht sich um. Es ist Tessa von Wittgenfels.
«Was ist denn passiert?», fragt die junge Autorin.
«Ich weiß es nicht», stammelt Rosa und starrt weiter auf die Bemühungen der Sanitäter.
«Was ist passiert?», fragt nun auch Adelheid, Henners älteste Schwester, die gemeinsam mit Sigrid Twenge aus dem Andenkenlädchen herübergeeilt ist, nachdem sie die Sirene des Rettungswagens gehört hat.
«Er ist einfach neben mir zusammengebrochen», sagt Rosa tonlos.
Der Notarzt drückt immer noch in schnellem Rhythmus auf die Brust seines Patienten, der Rettungssanitäter bittet die Leute, weiterzugehen.
«Bestimmt ein Herzinfarkt», vermutet Sigrid, beinahe zeitgleich brüllt der Arzt: «Hol den Defibrillator aus dem Rettungswagen. Schnell!» Der Sanitäter spurtet los.
«Ältere Männer mit Übergewicht neigen zu so was», fährt Sigrid ungerührt fort. «Ist statistisch bewiesen. Sag ich Ludwig auch immer wieder. Der bestellt sich dauernd heimlich Pizza, statt den Salat zu essen, den ich ihm liebevoll zubereitet habe. Ich kann machen, was ich will, er hört nicht auf mich und wird immer dicker.»
Der Arzt hat die Paddles des Defibrillators inzwischen angesetzt. Einmal, zweimal, dreimal zuckt Goldbachs Körper unter den Stromstößen hoch.
Rosa kommt es wie eine Ewigkeit vor. Schließlich stellt der Arzt das Gerät zur Seite. Er atmet tief durch, blickt seinen Kollegen an und schüttelt dann den Kopf.
«Warum hören Sie auf?», presst Rosa heraus. Ihr Mund ist ganz trocken. «Sie müssen doch weitermachen.»
«Da geht nichts mehr. Sieht nach schwerem Herzinfarkt aus.» Der Arzt blickt Rosa an. «Ihr Ehemann?» Als Rosa nicht sofort antwortet, schiebt er ein verhaltenes «Mein Beileid» hinterher.
«Nein, er ist nicht mein Mann, er ist …» Rosa zögert einen Moment. «Robert Goldbach. Mein Literaturagent.» Fast-Literaturagent. Aber darauf kommt es jetzt nicht an. «Drüben im Sielhof findet gerade eine Veranstaltung statt, und wir haben die Pause hier draußen verbracht und Kaffee getrunken.»
Der Arzt macht sich Notizen.
«Hat Herr Goldbach über Schmerzen in der Brust geklagt?»
Rosa schnieft. «Nein. Aber auf dem Rückweg schien ihm plötzlich die Luft auszugehen. Er keuchte und röchelte. Das hörte sich seltsam an. Dann hat er sich an die Brust gefasst. Er ist stehengeblieben und zusammengesackt. Ich hab versucht, ihn hochzuziehen, aber er war so schwer. Dann habe ich die 112 gewählt.»