Mörderspiele - J.D. Robb - E-Book

Mörderspiele E-Book

J.D. Robb

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Beschreibung

Sehnsüchtig von Millionen J. D. Robb- Lesern erwartet: drei Fälle für Lieutenant Eve Dallas – bei ihren Ermittlungen natürlich tatkräftig unterstützt von ihrem geheimnisumwobenen Ehemann Roarke.

Der Mitternachtsmord

Lieutenant Eve Dallas und Roarke feiern ihr erstes gemeinsames Weihnachten, aber ausgerechnet da wird Eve zu einem Mordfall gerufen. Ein angesehener Richter wurde brutal gefoltert und ermordet. Eve kennt den Mörder. Vor Jahren hat sie geholfen, David Palmer hinter Gitter zu bringen, aber jetzt ist der Killer geflohen. Am Tatort hat er eine Liste mit den Namen seiner nächsten Opfer hinterlassen. Auch Eves Name steht darauf ...

Mörderspiele

Lieutenant Eve Dallas hasst es, zu reisen. Aber was nimmt man für eine Weiterbildung nicht alles in Kauf? Und dann soll sie auch noch einen Vortrag halten, was ihr gar nicht gefällt. Alles jedoch ändert sich, als am Tagungsort ein Toter gefunden wird, der Bodyguard eines hohen Beamten der New Yorker Polizei. Jemand will unbedingt fälschlich den Verdacht auf Eves Ehemann Roarke lenken und Eve ahnt den Grund: Noch nie hat man es geschafft, ihn eines Verbrechens zu überführen. Eves Kampfwille erwacht …

Geisterstunde

Der Club „Number Twelve“ ist in New York eine Legende – ein Monument aus dem vergangenen Jahrhundert in New York. Heute soll es dort spuken, angeblich ist der Ort verflucht. Ausgerechnet dort muss Lieutenant Eve Dallas aber den Mord an Radcliff Hopkins untersuchen, dem neuen Besitzer und Enkel jenes Mannes, der „Number Twelve“ berühmt gemacht hat. Er ist erschossen worden, mit einer Pistole, wie es sie nur noch in Museen gibt. Obwohl alle um sie herum von übernatürlichen Kräften reden, lässt sich die pragmatische Eve von Gespenstern nicht ablenken. Allerdings wird der Fall doch bizarr, als sie plötzlich eine Verbindung zu dem nie aufgeklärten Verschwinden eines Rockstars vor 85 Jahren feststellt …

Lust auf noch mehr spannende Kurzkrimis von J.D. Robb? Dann lesen Sie auch »Mörderlied« und »Mörderstunde«!

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Inhaltsverzeichnis
 
Der Mitternachtsmord
I
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
 
Mörderspiele
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
 
Geisterstunde
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
 
Epilog
Copyright
»Der Mitternachtsmord«:
Lieutenant Eve Dallas und Roarke feiern ihr erstes gemeinsames Weihnachten, ausgerechnet da wird Eve zu einem Mordfall gerufen. Ein angesehener Richter wurde brutal ermordet. Eve kennt den Mörder. Vor Jahren hat sie geholfen, David Palmer hinter Gitter zu bringen, aber jetzt ist der Killer geflohen. Am Tatort hat er eine Liste mit den Namen seiner nächsten Opfer hinterlassen. Auch Eves Name steht darauf …
 
»Mörderspiele«:
Lieutenant Eve Dallas hasst es, zu reisen. Und dann soll sie bei der Tagung auch noch einen Vortrag halten, was ihr gar nicht gefällt. Alles jedoch ändert sich, als am Tagungsort ein Toter gefunden wird, der Bodyguard eines hohen Beamten der New Yorker Polizei. Jemand will unbedingt fälschlich den Verdacht auf Eves Ehemann Roarke lenken, und Eve ahnt den Grund: Noch nie hat man es geschafft, ihn eines Verbrechens zu überführen. Eves Kampfwille erwacht …
 
»Geisterstunde«:
Der Club »Number Twelve« ist in New York eine Legende – ein Monument aus dem vergangenen Jahrhundert. Heute soll es dort spuken. Ausgerechnet dort muss Lieutenant Eve Dallas aber den Mord an Radcliff Hopkins untersuchen, dem neuen Besitzer und Enkel jenes Mannes, der Number Twelve berühmt gemacht hat. Obwohl alle um sie herum von übernatürlichen Kräften reden, lässt sich die pragmatische Eve von Gespenstern nicht ablenken. Allerdings wird der Fall doch bizarr, als sie plötzlich eine Verbindung zu dem nie aufgeklärten Verschwinden eines Rockstars vor 85 Jahren feststellt …
Autorin
J. D. Robb ist das Pseudonym der international höchst erfolgreichen Autorin Nora Roberts. Durch einen Blizzard entdeckte Nora Roberts ihre Leidenschaft fürs Schreiben: Tagelang fesselte 1979 ein eisiger Schneesturm sie in ihrer Heimat Maryland ans Haus. Um sich zu beschäftigen, schrieb sie ihren ersten Roman. Zum Glück – denn inzwischen zählt Nora Roberts zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt und veröffentlicht unter dem Namen J. D. Robb ebenso erfolgreich Kriminalromane. Die in dieser Anthologie veröffentlichten Stories sind der 8., 12. und 26. Fall in der Karriere von Lieutenant Eve Dallas.
www.noraroberts.com
Liste lieferbarer Titel
Rendezvous mit einem Mörder (1; 35450) · Tödliche Küsse (2; 35451) · Eine mörderische Hochzeit (3; 35452) · Bis in den Tod (4; 35632) · Der Kuss des Killers (5; 35633) · Mord ist ihre Leidenschaft (6; 35634) · Liebesnacht mit einem Mörder (7; 36026) · Der Tod ist mein (8; 36027) · Ein feuriger Verehrer (9, 36028) Spiel mit dem Mörder (10; 36321) · Sündige Rache (11; 36332) · Symphonie des Todes (12; 36333)
Nora Roberts ist J. D. Robb Ein gefährliches Geschenk (36384)
Die Originalausgaben der Kurzromane erschienen unter den Titeln »Midnight in Death«“1998, „Interlude in Death“2001 und »Haunted in Death« 2006 bei Jove Books, The Berkley Publishing Group, a member of Penguin Group (USA) Inc., New York
Der Mitternachtsmord
Das Jahr stirbt in der Nacht.
Tennyson
 
Das Wohl des Volkes ist oberstes Gesetz.
Cicero
I
Mord schert sich nicht um Traditionen. Er ignoriert Emotionen. Und macht keine Ferien.
Weil Mord ihr Beruf war, stand Lieutenant Eve Dallas am frühen Morgen des ersten Weihnachtstages draußen in der Kälte und bestrich die Wildlederhandschuhe, die ihr Mann ihr wenige Stunden zuvor geschenkt hatte, mit Seal-It.
Der Anruf war eben erst eingegangen, kaum sechs Stunden nach Abschluss des letzten Falles, der ihr einiges abverlangt hatte.
Ihr erstes Weihnachtsfest mit Roarke sah nicht nach einem furiosen Start aus.
Für Richter Harold Wainger hatte das Fest jedoch eine wesentlich fatalere Wendung genommen.
Seine Leiche lag mitten auf der Eisbahn im Rockefeller Center. Mit dem Gesicht nach oben, sodass seine glasig starren Augen den bombastischen Weihnachtsbaum fokussierten – New Yorks Symbol der guten Wünsche für ein friedvolles Fest.
Waingers Leichnam war unbekleidet und bereits tiefblau verfärbt. Das dichte silbergraue Haar, zu Lebzeiten sein Markenzeichen, war stoppelkurz geschoren, sein Gesicht grässlich entstellt. Trotzdem hatte Eve keine Probleme, ihn zu identifizieren.
Sie war seit zehn Jahren bei der Polizei und hatte den Richter unzählige Male bei Verhandlungen erlebt. Er war, sinnierte sie, ein kompetenter und engagierter Mann gewesen, der die Gesetze respektierte, aber auch um ihre Fallstricke wusste.
Sie bückte sich über den Toten, um die Worte zu entziffern, die tief in seinen Brustkorb eingebrannt standen.
 
Richte, so wirst du gerichtet.
 
Sie hoffte für ihn, dass ihm die Brandmale post mortem zugefügt worden waren, bezweifelte dies jedoch stark.
Man hatte ihn brutal gefoltert, ihm die Finger beider Hände gebrochen. Blutige Einschnitte an Hand- und Fußgelenken deuteten darauf, dass er gefesselt worden war. Gleichwohl waren es weder Folter noch Brandmale, die seinen Exitus herbeigeführt hatten.
Das Seil, an dem man ihn aufgeknüpft hatte, schmiegte sich weiterhin um seinen Hals, grub sich tief in das tote Fleisch. Das war bestimmt kein schneller Tod, überlegte sie. Sie hatte nicht den Eindruck, als hätte er das Genick gebrochen, stattdessen ließen die geplatzten Äderchen in seinen Augäpfeln und im Gesicht eher auf eine langsame Strangulation schließen.
»Er wollte Sie möglichst lang am Leben halten«, murmelte sie. »Damit Sie das ganze Martyrium qualvoll spüren.«
In kniender Haltung inspizierte sie die handgeschriebene Notiz, die sich fröhlich im Wind bauschte. Sie bedeckte den Penis des Opfers, gleichsam wie ein obszönes Leichentuch. Fein säuberlich mit Druckschrift aufgelistet, standen darauf diverse Namen.
 
RICHTER HAROLD WAINGER STAATSANWÄLTIN STEPHANIE RING PFLICHTVERTEIDIGER CARL NEISSAN JUSTINE POLINSKY DR. CHARLOTTE MIRA LIEUTENANT EVE DALLAS
 
»Mich hebst du dir für den Schluss auf, was, Dave?«
Sie erkannte seinen typischen Stil: bestialisch ausgeklügelte Foltermethoden, die langsam und qualvoll zum Tod führten. David Palmer genoss sein Tun. Seine Experimente, wie er es bezeichnete, als Eve ihn vor drei Jahren endlich gestellt hatte.
Bis sie ihn hinter Schloss und Riegel gebracht hatte, hatte er bereits acht Opfer auf dem Gewissen und Schränke voller Disketten, die seine »wissenschaftliche Arbeit« belegten. Seitdem saß er die acht Mal lebenslänglich ab, zu denen Wainger ihn verknackt hatte. Im Hochsicherheitstrakt einer Einrichtung für mental gestörte Täter.
»Aber du bist rausgekommen, stimmt’s, Dave? Es ist deine Handschrift. Die Folter, die Demütigungen, die Brandwunden. Öffentliche Zurschaustellung des Opfers. Das hier war gewiss kein Trittbrettfahrer. Bergen Sie den Leichnam«, befahl sie und erhob sich auf wackligen Beinen.
Sah echt nicht danach aus, als würden die letzten Dezembertage des Jahres 2058 ein Zuckerschlecken werden.
Kaum dass sie wieder in ihrem Wagen saß, fuhr Eve das Heizungsgebläse auf Hochtouren. Streifte die Handschuhe ab und rieb sich mit den Händen die kalten Wangen. Keine Frage, sie müsste einen Bericht erstellen, aber das konnte sie auch zu Hause erledigen. Verdammt noch mal, sie würde Weihnachten diesmal nicht auf dem Revier verbringen!
Über den eingebauten Link gab sie an die Zentrale durch, dass sämtliche Namen auf der Liste hinsichtlich möglicher Gefahren an Leib und Leben informiert werden sollten. Und, Weihnachten hin oder her, sie beorderte Polizeischutz für jede der genannten Personen.
Während sie fuhr, beauftragte sie ihren Computer: »Computer, aktueller Stand über David Palmer, geisteskranker Insasse der Rexal-Strafanstalt.«
 
COMPUTER ARBEITET … DAVID PALMER, VERURTEILT ZU ACHT MAL LEBENSLÄNGLICH IN AUSSERPLANETARISCHER EINRICHTUNG REXAL, WURDE AM 19. DEZEMBER ALS FLÜCHTIG GEMELDET, WÄHREND DES TRANSPORTS ZUM GEFÄNGNISKRANKENHAUS ENTKOMMEN. DIE SUCHE WIRD FORTGESETZT.
 
»Schätze, Dave beschloss, über die Feiertage nach Hause zu kommen.« Sie blickte auf und runzelte die Stirn, als ein kleines Luftschiff über ihr kreuzte, aus dem lautstark Weihnachtslieder plärrten, während dunstig der Morgen über der Stadt hereinbrach. Zum Teufel mit den himmlischen Heerscharen, dachte sie im Stillen, und rief den Commander an.
»Sir«, sagte sie, als Whitneys Gesicht auf dem Monitor auftauchte. »Bedaure, dass ich Sie an den Feiertagen stören muss.«
»Ich bin über den Fall Wainger bereits informiert. Der Richter war ein kompetenter Mann.«
»Ja, Sir, das war er.« Sie stellte fest, dass Whitney einen flauschigen, burgunderroten Bademantel trug – vermutlich ein Weihnachtspräsent seiner Frau. Roarke überraschte sie ständig mit tollen Geschenken. Ob Whitney über die Geschenke wohl auch so erstaunt war wie sie meistens? »Der Tote wird ins Leichenschauhaus überführt. Ich habe den Bereich um den Fundort der Leiche absperren lassen und bin jetzt auf dem Weg nach Hause, um in meinem privaten Büro zu arbeiten.«
»Was den vorliegenden Fall anbelangt, plädiere ich für andere Zuständigkeiten, Lieutenant.« Er gewahrte das temperamentvolle Aufblitzen in ihren goldbraunen Augen, ihr müder Blick verdunkelte sich. Ihr scharf geschnittenes Gesicht mit dem energischen Kinn und dem kleinen Grübchen und der volle, ernste Mund blieben indessen frostig kontrolliert.
»Heißt das, Sie wollen mir den Fall wegnehmen?«
»Sie haben gerade eine schwierige und nervenaufreibende Ermittlung hinter sich. Ihre Partnerin wurde tätlich angegriffen.«
»Peabody bleibt außen vor«, sagte Eve hastig. »Sie muss sich erst einmal erholen.«
»Sie etwa nicht?«
Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Vorsicht, Eve, du bewegst dich auf dünnem Eis, sann sie insgeheim. »Commander, mein Name steht auch auf der Liste.«
»Exakt. Ein Grund mehr für Sie, sich dieses Mal auszuklinken.«
Die Aussicht, erst einmal alles zu verdrängen, nach Hause zu fahren und ganz normal Weihnachten zu feiern wie andere Leute auch, war verlockend – und eine völlig neue Erfahrung für sie. Andererseits geisterte ihr Wainger durch den Kopf, brutal ermordet und sämtlicher Menschenwürde beraubt.
»Ich habe David Palmer seinerzeit gestellt und verknackt. Er war mein Fang, keiner kennt seine Denkstrukturen so gut wie ich.«
»Palmer?« Whitneys buschige Brauen hoben sich irritiert. »Der sitzt doch im Gefängnis ein.«
»Nicht mehr. Am 19. entkam er. Er ist zurück, Commander. Man könnte sagen, ich habe seine Handschrift wiedererkannt. Die Namen auf der Liste«, fuhr sie fort, entschlossen, ihre Interessen durchzusetzen, »stehen alle in Zusammenhang mit ihm. Wainger war der zuständige Richter in dem Verfahren, Stephanie Ring die stellvertretende Staatsanwältin. Cicely Towers, die die Verhandlungen leitete, ist inzwischen tot. Ring assistierte ihr. Carl Neissan sprang als Pflichtverteidiger ein, nachdem Palmer sich sträubte, einen Anwalt seiner Wahl zu benennen. Justine Polinsky übernahm den Vorsitz über die Jury. Dr. Mira erstellte das psychiatrische Gutachten und stimmte in der Verurteilung gegen ihn. Ich brachte ihn damals vor Gericht.«
»Die auf der Liste genannten Personen müssen informiert werden.«
»Das habe ich bereits veranlasst, Sir. Und Personenschutz zugesichert. Ich könnte die Dateien auf meinen Computer zu Hause überspielen, um meine Erinnerung aufzufrischen, aber was mich betrifft, wäre das absolut überflüssig. Einen Typen wie David Palmer vergisst man nicht. Ein neuer Chefermittler müsste sich erst mit dem Fall vertraut machen, und das erfordert Zeit, die wir nun einmal nicht haben. Ich kenne diesen Mann, wie er arbeitet, wie er denkt. Was er will.«
»Und, was will er, Lieutenant?«
»Was er immer schon wollte. Anerkennung für sein Genie.«
»Es ist Ihr Fall, Dallas«, sagte Whitney nach einer langen Pause. »Schließen Sie ihn ab.«
»Ja, Sir.«
Sie beendete die Verbindung, während sie durch die Tore des weitläufigen Anwesens fuhr, das Roarke als privaten Wohnsitz nutzte.
Glitzernde Eiskristalle bedeckten die kahlen Äste, als wären sie in silbrig schimmernde Seide gehüllt. Geschmückte Sträucher und Immergrün funkelten um die Wette. Dahinter erhob sich ein Haus von gigantischen Ausmaßen, eine elegante Festung, Zeugnis eines früheren Jahrhunderts mit beeindruckenden Stein- und Glasfronten.
Im morgendlichen Dämmerlicht schimmerten prächtig dekorierte Bäume in mehreren Fenstern. Roarke, sinnierte sie mit einem kleinen Lächeln, schien mächtig in Weihnachtsstimmung.
Hübsch geschmückte Christbäume und liebevoll eingewickelte Geschenke waren etwas völlig Neues für ihn und Eve. Beide hatten eine schlimme Kindheit hinter sich und diese auf unterschiedliche Weise kompensiert. Roarke hatte zielstrebig Karriere gemacht und war inzwischen einer der reichsten und mächtigsten Männer weltweit. Eve dagegen wollte Kontrollfunktionen übernehmen, Teil des Systems werden, das in ihrer Kindheit versagt hatte.
Sie trat für das Gesetz ein. Er – zumindest lange Zeit – dafür, Gesetze zu umgehen.
Vor einem knappen Jahr hatte sie ein Mordfall zusammengebracht. Seitdem waren sie ein Paar. Sie fragte sich des Öfteren, wie sie das überhaupt zuwege gebracht hatten.
Sie stellte den Wagen in der Einfahrt ab, lief die Stufen hinauf und durch die Eingangstür, wo sie von einem erlesenen Ambiente empfangen wurde, das die blühendste Fantasie noch übertraf. Antike Möbel, funkelndes Kristall, liebevoll restaurierte Orientteppiche, Antiquitäten, nach denen sich jedes Kunstmuseum die Finger geleckt hätte.
Sie streifte ihre Jacke ab, wollte sie achtlos über den aus Holz geschnitzten Treppenpfosten werfen, ging zähneknirschend noch einmal zurück und hing sie ordentlich an die Garderobe. Sie und Summerset, Roarkes Majordomus, hatten nämlich einen vorübergehenden Waffenstillstand vereinbart. Damit Weihnachten kein Porzellan zerschlagen würde.
Aber gut, damit konnte sie leben.
Wenigstens halbwegs erleichtert, dass der Butler nicht ins Foyer geschossen kam und sie wie üblich anpflaumte, steuerte Eve in den Wohnraum.
Roarke saß vor dem Kamin und las die Erstausgabe von Yeats, die sie ihm geschenkt hatte. Es war das Einzige, was ihr für einen Mann eingefallen war, der zum einen alles hatte und dem zum anderen die meisten der Fabriken gehörten, wo diese Dinge hergestellt wurden.
Er sah auf und lächelte ihr zu. Unvermittelt hatte sie Schmetterlinge im Bauch, wie so oft. Ein Blick, ein Lachen von ihm, und sie bekam weiche Knie. Er sah einfach … umwerfend aus, überlegte sie. Schlank, in lässiger Freizeitkleidung fläzte er sich in einem antiken Art-Déco-Sessel, die langen Beine lässig übereinandergeschlagen.
Er hatte das Gesicht einer griechischen Gottheit mit leicht verschlagenen Zügen, die strahlend blauen Augen seiner irischen Vorfahren und einen Mund, der Frauen die Sinne raubte. Er sieht wahnsinnig gut aus, stellte Eve wieder einmal fest, maskulin attraktiv und sexy, während ihr Blick zärtlich über seine dichten schwarzen Haare glitt, die seine breiten Schultern umschmeichelten.
Er schloss das Buch, legte es beiseite und streckte die Hand nach ihr aus.
»Tut mir leid, dass ich weg musste.« Sie lief zu ihm, verschränkte ihre Finger mit seinen. »Zu allem Überfluss muss ich jetzt auch noch nach oben ins Büro und dort ein paar Stunden arbeiten.«
»Ein, zwei Minuten hast du aber doch für mich übrig, oder?«
»Mmmh, na logo.« Sie ließ sich von ihm auf seinen Schoß ziehen. Schloss die Augen, inhalierte hingebungsvoll seinen Duft, genoss die Wärme seiner Haut. »Unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest hattest du dir sicher anders vorgestellt.«
»Das hat man davon, wenn man einen Cop heiratet.« Der leicht singende Tonfall der Iren sprach aus seiner Stimme, zärtlich wie ein erotischer Poet. »Den man liebt«, setzte er hinzu und hob ihr Gesicht an, um sie zu küssen.
»Momentan machst du ein selten schlechtes Geschäft.«
»Finde ich nicht.« Seine Finger glitten durch ihr kurzes braunes Haar. »Du bist alles, was ich will, Eve, eine Frau, die sich engagiert in ihrem Beruf einsetzt. Und die weiß, was mir eine Ausgabe von Yeats bedeutet.«
»Wahrscheinlich habe ich ein besseres Händchen für meinen Job als beim Kauf von Geschenken. Sonst wäre mir bestimmt mehr eingefallen.«
Sie musterte den Berg Geschenke unter dem Baum – sie hatte über eine Stunde gebraucht, um sie alle auszupacken. Als sie betreten aufseufzte, lachte er.
»Offen gestanden, gibt es nichts Tolleres für mich als deine Verblüffung, wenn ich dir etwas schenke, Lieutenant.«
»Ich hoffe, jetzt ist erst mal eine Weile Ruhe.«
»Mmmh«, lautete seine einzige Reaktion. Sie war es nicht gewöhnt, Wünsche erfüllt zu bekommen, überlegte er. Statt schöner Geschenke hatte sie als Kind nur körperliche und seelische Schmerzen kennengelernt, die man ihr ständig zufügte. »Hast du dir schon überlegt, was du mit dem letzten machen willst?«
Die letzte Schachtel war leer gewesen, und er hatte sich diebisch gefreut, als er ihr irritiertes Mienenspiel gewahrte. Genau wie über ihr Grinsen, als er ihr erklärt hatte, dass das ein Tag sei. Ein Tag, den sie mit allem füllen könne, was ihr Spaß mache. Er würde sie begleiten, wohin sie wollte, und sie würden alles machen, was sie sich wünschte. Außerplanetarisch oder irgendwo auf dem Globus. In der Realität oder durch den Holo-Raum.
Zeit, Raum und Ort durfte sie bestimmen.
»Nein, ich hatte noch keine Gelegenheit, intensiver darüber nachzudenken. Und so ein wunderschönes Geschenk möchte ich nicht einfach sinnlos verplempern.«
Sie entspannte für eine kurze Weile neben ihm im Schein der zuckenden Kaminflammen und des stimmungsvoll erleuchteten Christbaums. Schließlich entzog sie sich ihm. »Ich muss hoch. Bei diesem Fall kommt eine Menge Routinearbeit auf mich zu, und ich möchte Peabody heute noch nicht stören.«
»Kann ich dir nicht helfen?« Als er ihren skeptisch abschätzigen Blick gewahrte, grinste er. »Und für einen Tag in Peabodys Fußstapfen treten?«
»Dieses Mal nicht. Glaub mir, es ist besser so.«
»Okay, okay.« Er sprang auf und zog sie hoch. »Dann helfe ich dir wenigstens bei der Computerrecherche, damit du Weihnachten nicht komplett am Schreibtisch festsitzt.«
Sie wollte etwas entgegnen, überlegte es sich dann aber anders. Die meisten Dateien, die sie benötigte, waren ohnehin allgemein zugänglich. Alles andere bräuchte sie ihm ja nicht unbedingt auf die Nase zu binden.
Außerdem war er verdammt kompetent auf dem Gebiet.
»Einverstanden, du erledigst die Routinearbeit. Aber sobald Peabody wieder fit ist, bist du draußen.«
»Selbstverständlich, Liebling.« Er fasste ihre Hand und küsste sie, worauf Eve ihn argwöhnisch anfunkelte. »Wo du mich so lieb darum bittest.«
»Und keine faulen Tricks«, versetzte sie. »Ich bin im Dienst.«
2
Der fette Kater Galahad hing über Eves Schlafsessel wie ein Sturzbetrunkener über dem Bartresen. Da er am Abend vorher stundenlang mit Schachteln und Schmuckbändern gekämpft und Einwickelpapier zerfetzt hatte, ließ sie ihn weiterschlafen.
Eve stellte ihre Tasche ab und ging direkt zu ihrem Auto-Chef, um sich einen Kaffee zu nehmen. »Der Typ, um den es hier geht, heißt David Palmer.«
»Ihr wisst bereits, wer der Mörder ist?«
»O ja, ich weiß, auf wen ich es abgesehen habe. Dave und ich, wir sind alte Kumpel.«
Roarke nahm ihr den mitgebrachten Kaffeebecher ab und fixierte sie durch den duftend aufsteigenden Dampf. »Den Namen hab ich schon mal irgendwo gehört.«
»Mit Sicherheit. Vor zirka drei, dreieinhalb Jahren war er Dauergast in sämtlichen Medien. Die Zeitungen standen voll davon. Ich brauche komplett alle Dateien über die Ermittlungen in diesem Fall und über das Verfahren. Du fängst am besten damit an …« Sie stockte, als er ihr eine Hand auf den Arm legte.
»David Palmer – Serienmörder. Er folterte seine Opfer.« Unvermittelt hatte er die spektakuläre Geschichte wieder präsent. »Noch ziemlich jung. So um … Mitte zwanzig?«
»Zweiundzwanzig, als er die Haftstrafe antrat. Ein echtes Wunderkind, unser Dave. Er bezeichnet sich als Visionär und Wissenschaftler. Er begreift es als seine Mission, die menschlichen Toleranzgrenzen auf extreme Zwangssituationen am lebenden Objekt zu erforschen – Schmerzen, Ängste, Hunger, Dehydration, Psychoterror. Zudem kann er reden wie ein Buch.« Sie nippte an ihrem Kaffee. »Er saß in den Interviews, sein anziehendes Großejungengesicht strahlend vor Begeisterung, und erklärte, dass, wenn der Punkt bekannt wäre, an dem die Schmerzgrenze erreicht ist und die mentale Widerstandskraft bricht, wir in der Lage wären, an uns zu arbeiten, um diese nachhaltig zu stärken. Ich sei schließlich ein Cop, meinte er, und demzufolge bestimmt besonders an seiner Arbeit interessiert. Polizisten stünden unter erheblichem Stress, sähen sich häufig Grenzsituationen ausgesetzt, wo die Ratio sich leicht von Angst oder äußeren Stimuli beeinflussen lasse. Die Resultate seiner Forschungen könnten bei Polizei und Sicherheitskräften, dem Militär und nicht zuletzt auch in der freien Wirtschaft zum Tragen kommen.«
»Ich wusste gar nicht, dass du in dem Fall ermittelt hast.«
»Doch, ich war daran beteiligt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Seinerzeit hatte ich allerdings noch einen niedrigeren Dienstgrad.«
Wenn der Fall Palmer nicht so ernst gewesen wäre, hätte er über ihre Antwort gelächelt, immerhin war es teilweise sein Verdienst, dass sich ihr beruflicher Status geändert hatte. »Ich dachte, er säße in irgendeinem Hochsicherheitstrakt ein.«
»War wohl nicht sicher genug. Er ist entwischt. Das Opfer heute Morgen lag auf einem öffentlich zugänglichen Platz – ein weiteres Indiz, das auf Dave schließen lässt. Er will uns ganz bewusst demonstrieren, dass er wieder zugeschlagen hat. Der Autopsiebericht wird es mit letzter Gewissheit belegen, aber ich gehe davon aus, dass das Opfer vor seinem Tod gefoltert wurde. Schätze, Dave hat eine neue Arbeitsmethode entwickelt. Er hatte den Richter wenigstens einen Tag lang in seiner Gewalt, bevor er ihn umbrachte. Der Tod durch Strangulation trat gegen Mitternacht ein. Fröhliche Weihnachten, Richter Wainger«, murmelte sie.
»Wainger war der Richter, der mit seinem Fall betraut war?«
»Ja.« Abwesend stellte sie den Kaffeebecher ab und wühlte in ihrer Tasche nach einer Kopie der am Tatort sichergestellten Notiz, die sie bereits ins Labor geschickt hatte. »Er hinterließ quasi seine Visitenkarte. Alle diese Namen stehen in direkter Verbindung mit seinem Fall und seiner Verurteilung. Auf meine Veranlassung hin wird er es dieses Mal allerdings etwas schwerer haben, an seine potenziellen Opfer heranzukommen. Sämtliche Personen wurden kontaktiert und werden bis auf Weiteres überwacht.«
»Und du?«, sagte Roarke nach einem weiteren Blick auf die Liste und auf den Namen seiner Frau betont ruhig. »Wer ist zu deinem Schutz abgestellt?«
»Ich bin Polizistin. Ich weiß mich selbst zu schützen.«
»Auf dich hat er es besonders abgesehen, Eve.«
Sie drehte sich um. Seine Stimme klang zwar kontrolliert, gleichwohl hörte sie die unterschwellige Verärgerung heraus. »Mag sein, aber er kriegt mich trotzdem nicht.«
»Du hast ihn seinerzeit gefasst«, fuhr Roarke fort. »Alles, was danach kam – die Tests, die Verhandlungen, das Urteil -, war das Resultat deiner Arbeit. Du bist für ihn am wertvollsten.«
»Diese Einschätzung sollten wir dem Profiler überlassen.« Gleichwohl gab sie Roarke insgeheim Recht. »Ich werde Mira kontaktieren, sobald ich die Berichte überflogen habe. Du kannst sie mir hochladen, während ich mit meinem Vorabbericht anfange. Ich gebe dir die Codes für meinen Büro-PC und die Palmer-Dateien.«
Herablassend grinsend hob er eine Braue. »Ich darf doch sehr bitten. Wenn du mich dauernd beleidigst, stelle ich meine Assistenztätigkeit ein.«
»Entschuldigung.« Abermals angelte sie nach ihrem Kaffeebecher. »Dummerweise gehe ich immer noch davon aus, dass du entsprechende Codes brauchst, um dir Zugang zu irgendeinem verdammten Rechner zu verschaffen.«
»Brauche ich aber nicht.«
Er setzte sich an den Schreibtisch und lud ihr zügig die gewünschten Dateien herunter. Dergleichen war lachhaft einfach für ihn, weshalb er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Und heimlich eine Entscheidung traf.
Sie hatte ihm erklärt, er hätte nichts damit zu tun und dass er aus der Sache raus wäre, sobald Peabody ihren Dienst wieder antrat. Aber da irrte sie sich gewaltig. Ihr Name auf der Liste bedeutete, dass er extrem stark involviert war. Und keine Macht auf Erden – und schon gar nicht die Frau, die er liebte – könnte ihn dazu bewegen, auszusteigen.
Neben ihm arbeitete Eve an ihrem Bericht und gab weitere Fakten in den Rechner ein. Sie bat um die Ergebnisse der Autopsie, die Daten von Aufklärung und Spurensicherung. Allerdings hatte sie wenig Hoffnung, dass die abgespeckte Weihnachtsbesetzung so schnell mit Infos aufwarten könnte.
Bemüht, sich die Feiertage nicht von ihrer Frustration vermiesen zu lassen, hielt sie ihren piependen Link ans Ohr. »Dallas.«
»Lieutenant. Officer Miller am Apparat.«
»Was ist, Miller?«
»Sir, mein Partner und ich bekamen Anweisung, den Personenschutz von Staatsanwältin Ring zu übernehmen. Wir trafen kurz nach halb acht vor ihrem Haus ein. Auf unser Klingeln erfolgte keine Reaktion.«
»Es handelt sich um eine Situation von höchster Priorität, Miller. In einem solchen Fall sind Sie dazu ermächtigt, sich rigoros Zugang zu verschaffen.«
»Ja, Sir. Verstanden. Das haben wir auch getan. Das zu überwachende Subjekt ist nicht im Haus. Mein Partner erkundigte sich bei den Nachbarn nach ihr. Ring brach gestern Morgen zeitig auf, weil sie die Feiertage bei ihrer Familie in Philadelphia verbringen wollte. Lieutenant, dort ist sie nie angekommen. Ihr Vater meldete sie heute Morgen als vermisst.«
Eves Magengrube verkrampfte sich. Zu spät, schoss es ihr durch den Kopf. Es war bereits zu spät. »Welches Transportmittel benutzte sie, Miller?«
»Ihren eigenen Wagen. Wir sind auf dem Weg zu ihrer Garage.«
»Halten Sie mich auf dem Laufenden, Miller.« Eve unterbrach die Verbindung, sah auf und fing Roarkes Blick ein. »Er hat sie. Ich würde gern glauben, dass es anders wäre, aber er hat sie mit Sicherheit. Ich brauche die Linkcodes der anderen Personen auf der Liste.«
»Das haben wir gleich. Eine Minute.«
Einen wusste sie auswendig. Mit schmerzhaftem Herzklopfen wählte sie Miras Privatnummer. Ein kleiner Junge grinste freundlich aufs Display. »Fröhliche Weihnachten! Das ist Großmamas Haus«, giggelte er.
Einen Moment lang blinzelte Eve verdutzt. Ob sie sich wohl verwählt hatte? Aber dann vernahm sie die vertraute Stimme im Hintergrund und gewahrte Mira auf dem Bildschirm. Ihr Lächeln wirkte verkrampft.
»Eve. Guten Morgen. Bitte bleiben Sie einen Augenblick in der Leitung, ja? Ich möchte das Gespräch lieber oben führen. Nein, Schätzchen«, sagte sie zu dem Jungen, der ihr am Ärmel zupfte. »Lauf und spiel mit deinen neuen Sachen. Ich bin gleich fertig. Moment noch, Eve.«
Das Display wurde dunkel, und Eve atmete tief durch. Schwer erleichtert, dass sie Mira gesund und munter zu Hause antraf, und etwas baff, dass die kompetente Psychiaterin offenbar schon Großmutter war.
»Verzeihen Sie.« Mira erschien erneut auf dem winzigen Bildschirm. »Ich mochte das Gespräch nicht im Beisein meiner Familie führen.«
»Kein Problem. Sind die Uniformierten bei Ihnen eingetroffen?«
»Ja.« Bemüht gefasst strich Mira sich die aschblond getönten Haare zurück. »Scheißjob, Weihnachten draußen in einem Auto verbringen zu müssen. Aber ich weiß wirklich nicht, mit welcher Begründung ich sie hereinholen könnte, ohne dass meine Familie von der Sache erfährt. Meine Kinder sind hier, Eve. Und meine Enkel. Glauben Sie, dass sie in Gefahr sind?«
»Nein«, erwiderte sie schnell. »Das ist nicht sein Stil. Dr. Mira, ich muss Sie eindringlich warnen. Ohne Ihre Wachleute dürfen Sie das Haus nicht verlassen. Ohne die beiden fahren Sie nirgendwohin, weder ins Büro noch in den Supermarkt, ist das klar? Morgen wird man Ihnen Sensorenbänder anpassen.«
»Ich bin vorsichtig, Eve.«
»Gut, und Sie müssen sämtliche Patiententermine absagen, bis Palmer wieder hinter Gittern ist.«
»Das ist doch lächerlich.«
»Sie dürfen unter gar keinen Umständen mit jemandem allein in einem Raum sein. Falls Ihre Patienten einverstanden sind, sich im Beisein der Beamten von Ihnen analysieren zu lassen, habe ich nichts dagegen. Sonst nehmen Sie doch einfach mal ein paar Tage Urlaub.«
Mira sah Eve scharf an. »Und Sie?«
»Ich mache weiterhin meinen Job. Und ein Teil dieses Jobs sind Sie. Stephanie Ring ist verschwunden.« Sie schwieg einen Herzschlag lang, um dem Gesagten den nötigen Nachdruck zu geben. »Bitte befolgen Sie die Anweisungen, Dr. Mira. Anderenfalls kann ich Sie innerhalb von einer Stunde in Sicherheitsverwahrung stecken. Morgen früh besprechen wir alles Weitere. Um neun Uhr bin ich bei Ihnen.«
Sie beendete die Verbindung, drehte sich um, um die erbetenen Links von Roarke in Empfang zu nehmen, und stellte fest, dass er sie gedankenvoll beobachtete. »Ist irgendwas?«
»Sie bedeutet dir sehr viel. Sonst wärst du mit mehr Feingefühl an die Sache herangegangen.«
»In diesem Fall ist Feingefühl der falsche Weg. Hast du die Linkcodes für mich?« Als er zögerte, antwortete sie seufzend: »Gut, okay. Sie bedeutet mir eine ganze Menge, und ich werde alle Hebel in Bewegung setzen, damit er nicht in ihre Nähe kommt. Jetzt gib mir die verdammten Nummern.«
»Sind bereits auf deinen PC transferiert, Lieutenant. Eingeloggt im Speicher. Für eine Verbindung brauchst du lediglich den gewünschten Namen einzugeben.«
»Angeber«, fauchte sie, wohl wissend, dass er sich darüber amüsieren würde. Sie wandte sich wieder ihrem Link zu, um die restlichen Namen auf Palmers Liste zu kontaktieren.
Nachdem sie alle anderen Zielobjekte erreicht und sichergestellt hatte, dass sie unter Personenschutz standen, widmete sie sich den Files, die Roarke auf ihren Rechner geladen hatte.
Eine Stunde lang brütete sie über Daten und Berichten, eine weitere verbrachte sie damit, sich die aufgezeichneten Interviews mit Palmer noch einmal anzusehen.
»Okay, Dave, erzählen Sie mir von Michelle Hammel. Was war das Besondere an ihr?«
David Palmer, zweiundzwanzig Jahre alt, gut gebaut, Typ sympathischer Sonnyboy, stammte aus einer wohlhabenden Familie in New England. Er grinste und beugte sich eifrig vor, seine strahlend blauen Augen sprühend vor Begeisterung. Sein sportlich gebräunter Teint spiegelte Gesundheit und Vitalität.
Endlich hört ihm jemand zu, schoss es Eve durch den Kopf, als sie sich selber auf dem Bildschirm gewahrte, wie sie vor drei Jahren ausgesehen hatte. Endlich bekommt er die Gelegenheit, sich in seiner ganzen Genialität mitzuteilen.
Ihre Frisur war grauenvoll – seinerzeit hatte sie sich die Haare noch selbst geschnitten. Die knöchelhohen Stiefel waren neu gewesen und noch relativ vorzeigbar. Sie trug keinen Ehering am Finger.
Ansonsten, überlegte sie, hatte sie sich kaum verändert.
Sie sei jung und durchtrainiert gewesen. Eine Topathletin, erklärte Palmer ihr. Sehr diszipliniert, physisch und psychisch. Langstreckenläuferin und Olympiahoffnung. Sie wusste, wie man Schmerz ausblendete, sich auf ein Ziel fokussierte. Sie rangierte für Dave am oberen Ende der Skala. Anders als Leroy Greene, diese Memme. Hatte sich schon jahrelang mit Drogen zugedröhnt. Keine Toleranz für nervenreizende Stimuli. Verlor die Kontrolle über sich, bevor es überhaupt richtig losging. Drehte durch, als er wieder zu Bewusstsein kam und feststellte, dass er an den Tisch gefesselt war. Michelle dagegen...
»Sie kämpfte? Sie litt?«
Palmer nickte euphorisch. »Sie war echt großartig«, beteuerte er. »Sie wehrte sich bis zum Schluss, hörte erst auf, als sie begriff, dass sie keine Chance hatte. Erst da setzte die Angst ein. Die Monitore registrierten einen beschleunigten Puls, erhöhten Blutdruck, sämtliche vitalen körperlichen und emotionalen Reize. Sie müssen wissen, ich verfüge über eine Top-Ausstattung.«
»Ja, das hab ich mit eigenen Augen verifiziert. Eine der besten.«
»Das ist obligatorisch für meine wissenschaftliche Arbeit.« An diesem Punkt wurde sein Blick schwärmerisch entrückt, wie jedes Mal, wenn er von der Bedeutung seiner Experimente sprach. »Wenn Sie sich Michelles Daten ansehen, werden Sie feststellen, dass sie ihre Ängste kontrollierte, um am Leben zu bleiben. Anfangs versuchte sie noch, mit mir zu verhandeln. Sie machte Versprechungen, tat so, als könnte sie meine Forschungstätigkeit nachvollziehen, erbot sich sogar, mir zu helfen. Sie war clever. Als sie kapierte, dass das alles nicht fruchtete, verteufelte sie mich, was ihren Adrenalinspiegel hochjagte. Worauf ich ihr weitere Schmerzstimuli verpasste.«
»Er brach ihr die Füße«, murmelte Eve. Sie spürte Roarkes Blick im Rücken. »Dann die Arme. Er hatte verdammt Recht, seine damalige Ausstattung ließ nichts zu wünschen übrig. Er schloss Elektroden an verschiedene Körperteile beziehungsweise -öffnungen an und erhöhte ganz allmählich die Stromzufuhr für die Elektroschocks. Drei Tage lang quälte er Michelle, ehe die Folter sie brach. Am Ende flehte sie ihn an, er möge sie umbringen. Er benutzte eine Art Seilzug, um sie aufzuhängen – langsame Strangulation. Sie war neunzehn.«
Roarke legte begütigend die Hände auf ihre Schultern. »Du hast ihn schon einmal gefasst, Eve, du wirst es wieder schaffen.«
»Darauf kannst du verdammt noch mal Gift nehmen.«
Da vernahm sie ein Geräusch und sah auf. Jemand lief durch den Korridor. »Sichere die Dateien und die Files«, wies sie ihren Mann an. In diesem Augenblick glitt Nadine Furst in den Raum. Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte sie, der Besuch einer der Top-Reporterinnen von Channel 75. Obwohl sie Freundinnen waren, blieb Eve skeptisch reserviert.
»Sie wollen uns doch bestimmt keinen Weihnachtsbesuch abstatten, Nadine, oder?«
»Ich habe heute Morgen ein Geschenk bekommen.« Nadine warf eine Diskette auf den Schreibtisch.
Eves Blick glitt von dem Datenträger zu Nadine. Ihr Gesicht war blass, die kantigen Züge verkniffen. Anders als sonst war die Reporterin nicht perfekt geschminkt, gestylt und tadellos frisiert. Sie sah ziemlich durch den Wind aus, überlegte die Ermittlerin. Regelrecht verschreckt.
»Wo liegt das Problem?«
»David Palmer.«
Mechanisch stand Eve auf. »Was ist mit ihm?«
»Offensichtlich weiß er, was ich beruflich mache und dass wir befreundet sind. Er hat mir das da geschickt.« Sie spähte auf die Disk und unterdrückte unwillkürlich ein Schaudern.
»Er hofft, dass ich eine Titelstory über ihn mache – und natürlich über seine Arbeit – und dass ich mir die Disk mit Ihnen anschaue. Kann ich was zu trinken haben? Ich brauche jetzt was Starkes.«
Roarke umrundete den Schreibtisch und drückte sie in einen Sessel. »Setzen Sie sich. Sie sind ja eisig kalt«, murmelte er, als er ihre Hände anfasste.
»Das kann man wohl so sagen. Seit ich mir das da angesehen habe, jagt es mir einen Schauder nach dem anderen über den Rücken.«
»Ich hole Ihnen einen Brandy.«
Nadine nickte dankbar, ballte die Hände im Schoß und spähte zu Eve. »Auf dem Film sind noch zwei andere Leute. Einer von ihnen ist Richter Wainger. Besser gesagt, was von Richter Wainger übrig ist. Und eine Frau, die ich nicht kenne. Sie ist … er hat schon mit ihr angefangen.«
»Hier.« Sanft legte Roarke Nadines Hände um den gefüllten Cognacschwenker. »Trinken Sie das.«
»Okay.« Sie hob das Glas, nahm einen langen Schluck, spürte, wie die scharfe Flüssigkeit warm durch ihre Kehle rann. »Dallas, ich habe eine Menge schlimmer Dinge mitbekommen. Habe darüber berichtet und recherchiert. Aber so etwas wie das da habe ich noch nie gesehen. Ich weiß nicht, wie Sie tagtäglich mit so was klarkommen.«
»Das lernt man mit der Zeit.« Eve nahm die Disk. »Sie brauchen sich das nicht noch einmal anzuschauen.«
»Doch.« Nadine trank einen weiteren Schluck und seufzte schwer. »Ich pack das.«
Eve drehte die Disk in der Hand. Es war ein gebräuchliches Standardmodell. Sie könnte niemals zurückverfolgen, wo es gekauft worden war. Sie steckte es in ihren Rechner. »Computer, kopiere Disk und übermittle auf Monitor.«
David Palmers junges, sympathisches Gesicht kam in Großaufnahme auf den Wandbildschirm.
»Ms Furst, oder darf ich Sie Nadine nennen? Das ist um einiges persönlicher, und meine Arbeit hat auch etwas ungeheuer Persönliches, sie liegt mir nämlich sehr am Herzen. Im Übrigen bewundere ich Sie in Ihrem Job. Deshalb vertraue ich auch darauf, dass Sie meine Geschichte publizieren. Sie glauben an das, was Sie tun, nicht wahr, Nadine?«
Seine Augen blickten ernst, vom Fachmann zur Fachfrau, sein Gesicht wirkte so jungenhaft naiv wie das eines Novizen vor dem Altar. »Alle, die Perfektion erreichen, glauben an das, was sie tun«, fuhr er fort. »Ich weiß, dass Sie mit Lieutenant Dallas befreundet sind. Der Lieutenant und ich sind ebenfalls Bekannte, aber nicht unbedingt Freunde. Wir stehen gewissermaßen in Verbindung, und ich bewundere die Zähigkeit und Resolutheit, mit der sie ihren Job macht. Ich hoffe doch sehr, dass Sie sich diese Aufzeichnung so bald als möglich mit ihr gemeinsam anschauen. Inzwischen steckt sie bestimmt schon mitten in den Ermittlungen um den Tod von Richter Wainger.«
Sein Grinsen wurde breiter und wirkte fast ein bisschen irre. »Hallo, Lieutenant. Sie entschuldigen, aber ich habe vorab noch eine Kleinigkeit mit Nadine zu regeln. Ich möchte, dass Dallas explizit genannt wird, ist das klar? Darauf lege ich allergrößten Wert. Sie berichten meine Geschichte, ja, Nadine? Dann kann die Öffentlichkeit selbst entscheiden und nicht irgendein hohlköpfiger Wichser in schwarzer Robe.«
Die nächste Einstellung schloss sich nahtlos an, der Ton war so laut, dass die schrillen Frauenschreie die Luft in Roarkes Büro zu zerreißen schienen. Eve starrte wie gebannt auf die Leinwand.
An Händen und Füßen gefesselt, hing Richter Wainger mehrere Zentimeter über einem nackten Betonboden. Diesmal war es ein einfacher Zugmechanismus, überlegte Eve. Er hatte sich zwar die Zeit genommen, ein paar perverse Nettigkeiten aufzubauen, aber es war beileibe nicht das komplexe, ja geniale Foltersystem, das ihn sonst auszeichnete.
Trotzdem funktionierte es ausgezeichnet.
Waingers Gesicht war zur schmerzverzerrten Maske erstarrt, seine Muskeln zuckten unkontrolliert, derweil Palmer ihm mit einem Handlaser Buchstaben in den Brustkorb brannte. Der Richter stöhnte nur, warf den Kopf hin und her. Ringsum summten und brummten Monitore.
»Er wird ohnmächtig, sehen Sie«, kommentierte Palmer beiläufig. »Seine Hirnfunktionen setzen sich über den Schmerz hinweg, sobald dieser unerträglich wird. Er verfällt in einen Zustand der Apathie. Aber das kann man beheben, wie Sie gleich beobachten können.« Auf dem Bildschirm wurde erkennbar, wie er einen Schalter betätigte. Ein sägendes Winseln ertönte, Waingers Körper wurde hochgerissen. Diesmal schrie er.
Auf der anderen Seite des Raums kreischte und schluchzte eine Frau. Der Käfig, in dem sie steckte, schwang an einem Elektrokabel wild hin und her. Das Verlies war gerade groß genug, dass sie darin auf Händen und Knien kauern konnte. Das dunkle Haar hing ihr wirr in die Stirn, gleichwohl erkannte Eve die Frau auf Anhieb.
Palmer hatte Stephanie Ring in seine Gewalt gebracht.
Als er sich umdrehte und einen weiteren Knopf drückte, sprühte der Käfig Funken und schaukelte bedenklich. Die Gefangene stieß einen spitzen Schrei aus, wurde von spastischen Zuckungen geschüttelt und sackte schließlich in sich zusammen.
Palmer wandte sich lächelnd an die Kamera. »Ich lenke sie in der Zwischenzeit ein bisschen ab. Es ist eminent wichtig, dass man mit dem nächsten Probanden beginnt, bevor man die Arbeit an einem anderen abschließt. Sie kommt bestimmt bald an die Reihe. Das Herz von Subjekt Wainger macht nicht mehr lange mit. Zudem sind die Daten über ihn fast vollständig.«
Er fasste den Strick und senkte Wainger manuell auf den Estrich ab. Eve bemerkte das Muskelspiel in Palmers Armen. »Dave hat Gewichte gestemmt«, murmelte sie. »Um in Form zu kommen. Er wusste, dass es diesmal härter für ihn wird. Und er ist gern auf alle Eventualitäten vorbereitet.«
Palmer legte eine perfekt geknotete Schlinge um Waingers Hals und schob das lose baumelnde Seilende sorgfältig durch einen an der Decke befestigten Metallring. Von dort führte er es wieder nach unten, ließ es durch einen zweiten Ring am Boden gleiten und zog daran, bis Wainger auf die Knie kam, dann auf die Füße, bis er qualvoll röchelnd nach Luft rang.
»Stoppen Sie es bitte, ja?« Nadine sprang auf. »Ich kann mir das nicht noch einmal ansehen. Ich dachte, ich schaffe es, aber ich pack’s nicht.«
»Disk stoppen.« Sobald der Bildschirm dunkel wurde, trat Eve zu Nadine. »Entschuldigen Sie vielmals.«
»Nein, ich muss mich entschuldigen. Ich dachte, ich wäre stark.«
»Das sind Sie. Aber so stark ist keiner.«
Nadine schüttelte fassungslos den Kopf und leerte den Brandy in einem tiefen Zug. Abwesend stellte sie das Glas ab. »Sie schon. Sie lassen das nicht an sich heran.«
»Irrtum. Aber das ist nun mal mein Job. Ich werde Personenschutz für Sie anfordern. Man wird Sie nach Hause begleiten und rund um die Uhr bewachen. Bis Palmer gefasst ist.«
»Glauben Sie, er hat es auch auf mich abgesehen?«
»Nein, trotzdem möchte ich kein Risiko eingehen. Gehen Sie nach Hause, Nadine. Verdrängen Sie, was Sie gesehen haben.«
Nachdem sie Roarke gebeten hatte, Nadine hinunterzubegleiten und gemeinsam mit ihr auf die Beamten zu warten, sah Eve sich den Rest der Disk an. Am Schluss trafen ihre Augen auf Palmers, der auf die Kamera zutrat.
»Proband Wainger starb am 24. Dezember um Mitternacht. Sie bleiben länger am Leben, Dallas. Das ist uns beiden doch klar, oder? Sie werden das faszinierendste Subjekt in meiner gesamten Forschungsreihe. Ich habe wahre Wunder für Sie geplant, meine ganze Kreativität spielen lassen. Sie werden mich finden. Ich weiß es und rechne fest mit Ihnen. Fröhliche Weihnachten.«
3
Stephanie Rings Wagen stand auf seinem angestammten Platz in der Tiefgarage, ihr Gepäck lag ordentlich verstaut im Kofferraum. Eve umrundete das Fahrzeug, auf der Suche nach den Spuren eines stattgefundenen Kampfes, irgendein Indiz, das Palmer bei der Entführung der Staatsanwältin hinterlassen haben könnte.
»Er hat zwei grundlegende Taktiken«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu den uniformierten Beamten, die sich in unmittelbarer Nähe aufhielten. »Eine besteht darin, sich mithilfe eines Tricks Zugang zu den Häusern der Opfer zu verschaffen, also getarnt als Postzusteller, Servicetechniker oder Pizzabote; die andere ist, sie an wenig belebten Orten zu überwältigen. Er nimmt sich die Zeit, sie zu beobachten, um routinemäßige Gewohnheiten wie Fahrtstrecken und Arbeitszeiten in Erfahrung zu bringen. All das archiviert er – wissenschaftlich organisiert – mit ihren Biodaten.«
Sie waren keine Laborratten für ihn, sinnierte sie, sondern individuelle Persönlichkeiten. Genau das erregte ihn.
»In jedem Fall«, fuhr sie fort, »benutzt er einen Stunner, mit dem er sie blitzartig handlungsunfähig macht. Dann bringt er sie mit seinem Wagen fort. Befinden sich hier unten Überwachungskameras?«
»Ja, Sir.« Einer der Beamten reichte ihr ein versiegeltes Päckchen Disketten. »Das sind die Aufzeichnungen der letzten drei Tage. Ausgehend von der Vermutung, dass der Täter das Opfer schon vor der Entführung heimlich verfolgte.«
Eve hob eine Braue. »Miller, richtig?«
»Ja, Sir.«
»Hervorragend kombiniert. Im Übrigen gibt es hier nichts mehr für Sie zu tun. Gehen Sie ruhig nach Hause, und lassen Sie sich den Festtagsbraten schmecken.«
Grinsend entfernten sich die Beamten. Eve ließ das Päckchen in ihre Tasche gleiten und wandte sich an Roarke. »Wieso gehst du nicht auch nach Hause? In ein paar Stunden bin ich bei dir.«
»Ich bleibe lieber die paar Stunden bei dir.«
»Ich brauche wirklich keinen Bodyguard, um mir Rings Apartment mal genauer anzuschauen.«
Unbeeindruckt fasste Roarke sie am Arm und geleitete sie zum Wagen. »Du hast die beiden Uniformierten gehen lassen«, begann er, während er die Zündung betätigte. »Alle auf Palmers Liste genannten Personen stehen unter Bewachung. Nur du nicht, wieso?«
»Das Thema haben wir bereits geklärt.«
»Teilweise.« Er wendete und fuhr aus der Tiefgarage. »Aber ich kenne dich, Lieutenant. Du hoffst, er ändert die Reihenfolge und fokussiert sich als Nächstes auf dich. Deshalb möchtest du vermeiden, dass ihn ein paar breitschultrige Uniformierte abschrecken.«
Für eine kurze Weile trommelte sie schweigend mit den Fingern auf ihr Knie. Sie waren noch nicht einmal ein Jahr verheiratet, und dieser Mann kannte sie in- und auswendig. Sie war sich nicht sicher, ob sie das so prickelnd fand. »Hast du einen besseren Vorschlag?«
Über die Verärgerung in ihrer Stimme ging er milde grinsend hinweg. »Ich bewundere den Mut meiner Frau und die Loyalität, mit der sie sich für ihren Job aufopfert.«
»›Meine Frau‹ hast du doch bloß eingeworfen, um mich zu ärgern, gib’s zu!«
»Na logo.« Aufgeräumt fasste er ihre Hand, küsste zärtlich die Fingerknöchel. »Trotzdem wirst du mich nicht los, Eve. Finde dich damit ab.«
Die Durchsuchung von Stephanie Rings Apartment war reine Routine. Es gab keinerlei Auffälligkeiten. Die Staatsanwältin führte das geordnete Singleleben einer Karrierefrau, die sich gern mit exquisiten Sachen umgab und die ihr Topgehalt in modische Kleidung investierte.
Automatisch dachte Eve an die nackte Frau, die wie ein Tier in einem Käfig hockte und panikartig kreischte.
Er bringt sie um. Eve wusste es. Und sie hatte nichts in der Hand, um ihn zu stoppen.
Nach ihrer Rückkehr sah sie sich in ihrem privaten Arbeitszimmer noch einmal die Diskette an, die Palmer Nadine geschickt hatte. Diesmal zwang sie sich, seine Experimente zu ignorieren und sich stattdessen ausschließlich auf die gefilmte Umgebung zu fokussieren.
»Keine Fenster«, stellte sie fest. »Boden und Wände lassen auf Zementverputz und altes Ziegelmauerwerk schließen. Das da ist ein Treppenaufgang. Stufen, ein Stück Geländer. Dahinter steht eine Art – mmh, mal überlegen – altmodischer Heizkessel oder Öltank. Er hat einen Unterschlupf gefunden. Es muss sich um ein Privathaus handeln«, konstatierte sie. »In einem Mietkomplex könnten die Leute nämlich mitbekommen, was er treibt. Selbst wenn die Wände schallisoliert wären, würde er riskieren, dass man ihn entdeckt. Irgendwelche Servicetechniker oder Handwerker beispielsweise.«
»Jedenfalls ist es kein Apartment- oder Bürogebäude«, räumte Roarke ein. »Und aufgrund der Stufen vermutlich auch kein Abstellraum. Nach dem Heizbrenner zu schließen, handelt es sich um ein relativ großes Haus, das schon älter ist. In den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren wurden solche Heizungsanlagen sicherlich nicht mehr installiert. Er will doch bestimmt irgendwas in Innenstadtnähe, oder?«
»O ja, er schätzt das pralle Leben. Randgebiete und Außenbezirke sind nicht sein Ding. Unser Dave ist nämlich ein echtes Großstadtkind und New York sein Tummelplatz. Privathaus. Ganz sicher. Aber wie ist er daran gekommen?«
»Über Freunde?«, gab Roarke zu bedenken. »Oder seine Familie?«
»Palmer hat keinen engen Freundeskreis. Er ist der typische Einzelgänger. Seine Eltern sind nach dem Verfahren weggezogen. Sie fielen unter das Zeugenschutzprogramm.«
»Also absolute Geheimhaltung?«
In seiner Stimme schwang ein ironischer Unterton, und sie musterte ihn stirnrunzelnd. Kämpfte einen kurzen Augenblick mit sich. Natürlich könnte sie den neuen Wohnort der Palmers in Erfahrung bringen. Aber es würde mindestens zwei Tage dauern, bis man ihr dazu grünes Licht gab. Andererseits … Wenn sie das Problem Roarke überließ, hätte sie das Gesuchte innerhalb weniger Minuten.
Stephanie Rings gellende Schreie hallten ihr unablässig im Ohr.
»Dazu müsstest du einen nicht registrierten Rechner verwenden. CompuGuard hat bestimmt eine automatische Blockade auf den Daten.«
»Lass das mal meine Sorge sein.«
»Ich arbeite inzwischen weiter daran.« Sie deutete auf die Leinwand. »Vielleicht entdecke ich noch irgendetwas, das uns weitere Aufschlüsse über sein Versteck geben kann.«
»In Ordnung.« Damit trat er zu ihr, umschloss mit seinen Händen ihr Gesicht. Er senkte den Kopf und küsste sie lange und zärtlich. Spürte, wie die innere Anspannung von ihr wich.
»Ich komme damit klar, Roarke.«
»Ganz bestimmt. Trotzdem könntest du mich für einen klitzekleinen Augenblick umarmen.«
»Okay.« Sie schlang die Arme um seinen Hals, spürte den geliebten, vertrauten Körper, die angenehme Wärme seiner Haut. Impulsiv schmiegte sie sich an ihn. »Wieso ist er wieder draußen? Wieso konnten sie ihn nicht so wegsperren, dass er keine Gefahr mehr darstellt? Was nutzt es, wenn man vernünftig seinen Job macht, und dann fängt alles wieder von vorne an?«
Er hielt sie fest in seiner Umarmung und schwieg.
»Er will mir zeigen, dass er uns ausgetrickst hat. Dass ich das alles noch einmal durchexerzieren soll, genau wie damals. Nur dass es dieses Mal härter wird. ›Ich bin clever, was, Dallas?‹«
»Diese Erkenntnis wird dir helfen, ihn ein zweites Mal zu stoppen.«
»Ja.« Sie löste sich aus seiner Umarmung. »Also gut, besorg mir die Anschrift seiner Eltern, damit ich die löchern kann.«
Roarkes Finger glitt sanft über ihr Kinngrübchen. »Aber ich darf dabei sein, ja? Es ist nämlich nachgerade faszinierend, mitzuverfolgen, wie du Zeugen auf den Zahn fühlst.«
Sie lachte, genau das hatte er bezweckt. Darauf zog er sich in seinen privaten Computerraum zurück, um die erbetenen Daten herauszufiltern.
Kaum dass sie sich ein weiteres Stück der Aufzeichnung angesehen hatte, tauchte er wieder auf.
»War es so einfach für dich?«
»Ja.« Grinsend schob er ihr eine neue Datendiskette zu. »Ein Kinderspiel. Thomas und Helen Palmer, die inzwischen Thomas und Helen Smith heißen – was wieder einmal die Fantasiebegabung unserer Bürokratenhengste demonstriert, leben derzeit in Leesburo, einem kleinen Ort im ländlichen Pennsylvania.«
»Pennsylvania.« Nachdenklich spähte Eve von ihrem Link zu Roarke. »Mit einem schnellen Transportmittel kämen wir in Nullkommanichts dorthin.«
Um Roarkes Mundwinkel zuckte es belustigt. »Was für ein schnelles Transportmittel schwebt dir denn so vor, Lieutenant?«
»Mit deinem kleinen Jet wären wir in einer knappen Stunde da.«
»Und wieso starten wir dann nicht gleich?«
Hätte Eve nicht unter Höhenangst gelitten, hätte sie den schnellen, ruhigen Flug nach Süden sicher genossen. So saß sie in ihren Sitz geschmiegt und wippte nervös mit einem Fuß, während Roarke das Flugzeug über eine bestimmt malerisch anmutende Berglandschaft steuerte.
Für sie war es indes nur eine öde Felswüste mit schauerlich tief eingeschnittenen Tälern.
»Ich muss dir mal was sagen«, hob sie an. »Und das auch nur, weil Weihnachten ist.«
»Fertig machen zur Landung«, warnte er, da er sich der privaten Rollbahn näherte. »Was musst du mir sagen?«
»Dass deine kleinen Spielzeuge keine reine Geldverschwendung sind. Überflüssig vielleicht, aber immerhin nicht ganz unsinnig.«
»Liebling, ich bin gerührt.«
Auf dem Flugfeld schälten sie sich aus dem winzig kleinen Zwei-Personen-Jet und liefen zu dem Wagen, den Roarke gemietet hatte. Natürlich konnte es kein normales Auto sein, sinnierte Eve, während sie das rassige schwarze Geschoss in Augenschein nahm.
»Ich fahre.« Sie hielt ihm die Hand hin, damit er ihr den Keycode reichte, den ihm die Autovermittlung ausgehändigt hatte. »Du navigierst.«
Abwesend drückte Roarke ihr die Codekarte in die Hand. »Wieso?«
»Weil ich diejenige mit der Dienstmarke bin.« Sie steckte die Codekarte ein und strahlte ihn triumphierend an.
»Aber ich bin der bessere Fahrer.«
»Tsts.« Sie schwang sich auf den Fahrersitz. »Bloß weil du einen heißen Reifen fährst, bist du noch lange kein guter Autofahrer. Anschnallen, Baby. Wir haben’s eilig.«
Sobald sie aufs Gas drückte, schossen sie aus dem Terminal und auf eine gewundene Landstraße, die von verschneiten Bäumen und Felsen gesäumt war.
Roarke programmierte ihr Ziel ein und verfolgte die Route, die das Navigationsgerät anzeigte. »Du bleibst die nächsten zwei Meilen auf dieser Straße, dann biegst du links ab und nach weiteren zehn Meilen an einer Kreuzung noch mal links. Auf der Straße sind es dann noch knapp sechs Meilen.«
Als er geendet hatte, war sie bereits links abgebogen. Sie erspähte einen schmalen Fluss, der sich durch Eisschollen und Felsen kämpfte. Einige verstreute Häuser, Bäume, die sich an steile Anhöhen schmiegten, und ein paar Kinder, die auf ihren neuen Airskates oder Snowboards die schneebedeckten Hänge hinunterschossen.
»Was zieht Menschen in solche Gegenden? Hier ist doch nichts. Nur weiter Himmel und Einsamkeit«, meinte sie zu Roarke. »Das stelle ich mir schrecklich vor. Wo gehen sie essen? Wir sind noch an keinem einzigen Restaurant, Deli oder sonst was vorbeigekommen.«
»Vielleicht sitzen sie gemütlich um den Küchentisch und spachteln«, gab Roarke zurück.
»Immer? O Gott.« Sie schauderte in gespieltem Entsetzen.
Lachend streichelte er mit den Fingern über ihr Haar. »Eve, ich liebe dich.«
»Wow.« Sie bremste und bog erneut ab. »Wo ist es?«
»Das dritte Haus auf der rechten Seite. Da, das anderthalbgeschossige Fertighaus mit dem Minivan in der Auffahrt.«
Sie verlangsamte, taxierte das Haus und parkte hinter dem Van. Rings um den Dachfirst zog sich eine Lichtergirlande, an der Eingangstür hing ein Mistelkranz, hinter einem der Frontfenster zeichneten sich die Umrisse eines geschmückten Baums ab.
»Schätze, ich habe keine Chance, wenn ich dich bitte, im Wagen auf mich zu warten.«
»Nicht die geringste.«
»Sie freuen sich bestimmt nicht über unser Kommen«, warnte Eve ihren Mann, während sie über den gekehrten Gartenweg zur Haustür steuerten. »Falls sie sich dagegen sträuben, mit mir zu reden, werde ich ihnen ein paar harte Wahrheiten ins Gesicht sagen müssen. Sollte es dazu kommen, hältst du gefälligst die Klappe.«
Zähneklappernd drückte sie auf die Klingel.
»Du hättest besser den Mantel angezogen, den ich dir geschenkt habe. Kaschmir wärmt super.«
»Den trage ich aber nicht im Dienst.« Der Mantel war traumhaft, überlegte sie. Er verlieh ihr etwas feminin Weiches. Was leider Gottes absolut nicht zum Image eines Cops passte.
Sobald die Tür aufging, war Eve wieder ganz die kompetente, knallharte Mordermittlerin.
Helen Palmer hatte sich eine andere Haarfarbe und Frisur zugelegt und ihre Augenform plastisch korrigieren lassen. Kleine Veränderungen, die ihr Aussehen jedoch nachhaltig beeinflussten. Gleichwohl war ihr Gesicht anziehend, wie das ihres Sohnes. Ihr aufgesetztes Willkommenslächeln verlor sich schlagartig, als sie Eve gewahrte.
»Sie erinnern sich noch an mich, Mrs Palmer?«
»Was wollen Sie von uns?« Helen legte intuitiv eine Hand auf den Türrahmen, als wollte sie ihnen den Zutritt versperren. »Wie haben Sie uns gefunden? Wir fallen unter das Schutzprogramm.«
»Daran wird sich auch nichts ändern, glauben Sie mir. Ich stecke in einer heiklen Situation. Sie sind bestimmt schon darüber informiert, dass Ihr Sohn aus dem Gefängnis geflohen ist.«
Helen presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, zog fröstelnd die Schultern ein, da ein kalter Windstoß durch die offene Haustür blies. »Sie versicherten uns, sie hätten ihn bald gefasst und dann käme er wieder in Behandlung. Er ist nicht hier. Er weiß nicht, wo wir wohnen.«
»Kann ich reinkommen, Mrs Palmer?«
»Wozu müssen Sie das alles wieder aufrollen?« Tränen traten in ihre Augen, vermutlich eine Mischung aus Wut und Trauer. »Mein Mann und ich fangen gerade an, wieder ein ganz normales Leben zu führen. Wir hatten fast drei Jahre lang keinen Kontakt zu David.«
»Schätzchen? Wer ist denn da? Du lässt ja die ganze Kälte rein.« Ein hochgewachsener Mann mit dichten dunklen Haaren kam grinsend an die Tür. Er trug eine alte Strickjacke, abgewetzte Jeans und ein Paar brandneue Pantoffeln. Er blinzelte ein, zwei Mal, ehe er seiner Frau eine Hand auf die Schulter legte. »Lieutenant. Lieutenant Dallas, richtig?«
»Ja, Mr Palmer. Verzeihen Sie die Störung.«
»Bitte sie doch herein, Helen.«
»O Gott, Tom!«
»Sie sollen reinkommen.« Er klopfte ihr begütigend auf die Schulter und schob sie sanft beiseite. »Sie müssen Roarke sein.« Tom nötigte sich ein Grinsen ab und reichte ihm die Hand. »Jetzt erkenne ich Sie wieder. Bitte kommen Sie, setzen Sie sich doch.«
»Tom, bitte …«
»Mach uns rasch einen Kaffee, ja?« Er drehte sich um, drückte seiner Frau einen flüchtigen Kuss auf die Schläfe. Dabei raunte er ihr etwas zu, worauf sie seufzend nickte.
»Ich versuche, es so kurz wie möglich zu machen, Mr Palmer«, erklärte Eve, als Helen durch den Flur in Richtung Küche lief.
»Als das damals passiert war, haben Sie sich uns gegenüber sehr korrekt verhalten, Lieutenant.« Er wies die beiden in einen kleinen Wohnraum. »Das habe ich Ihnen nicht vergessen. Helen – meine Frau ist fix und fertig. Schon seit Tagen«, setzte er hinzu. »Seit wir wissen, dass David aus der Anstalt entkommen ist. Zwar versuchen wir, das zu verdrängen, aber …«
Er gestikulierte hilflos und setzte sich.
Eve erinnerte sich sehr gut an diese sympathischen Leute, ihren Schock und den Kummer über die kriminelle Energie ihres Sohnes. Ungeachtet ihrer liebevollen, fürsorglichen Erziehung hatten sie ein Monster großgezogen.
David war weder missbraucht noch geschlagen oder in irgendeiner Weise vernachlässigt worden. Die abschließende Analyse von Miras Tests hatte Eves Eindruck bestätigt, dass es sich bei den Palmers um ganz normale Eltern handelte, die ihrem einzigen Kind ihre ungeteilte Zuneigung und Geborgenheit gaben. Mochte sein, dass sie den Jungen ein bisschen zu sehr verwöhnt hatten.
»Ich habe keine guten Nachrichten für Sie, Mr Palmer. Es fällt mir nicht leicht, es Ihnen zu sagen.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Er ist tot.«
»Nein.«
Tom schloss die Augen. »Grundgütiger. Ich hatte so gehofft – ich hatte wirklich gehofft, er wäre tot.« Als er die Schritte seiner Frau vernahm, sprang er auf. »Komm, ich mach das schon.« Er nahm ihr das Tablett ab. »Wir packen das, Helen. Gemeinsam sind wir stark.«
»Ich weiß. Ich weiß, dass wir es schaffen.« Sie glitt ins Zimmer, setzte sich, schenkte Kaffee ein. »Lieutenant, glauben Sie, David ist wieder in New York?«
»Wir wissen es mit Bestimmtheit.« Nach kurzem Zögern entschied sie, dass die Nachricht ohnehin bald durch die Medien gehen würde. »Heute, in den frühen Morgenstunden, wurde die Leiche von Richter Wainger auf der Rockefeller Plaza entdeckt. Sie trägt eindeutig Davids Handschrift«, setzte sie hinzu, als Helen unwillkürlich aufstöhnte. »Er hat mich kontaktiert, den Beleg geliefert. Es besteht kein Zweifel mehr.«
»Er sollte doch in psychiatrische Behandlung. Und vor den Menschen weggeschlossen werden, damit er niemandem mehr etwas antun kann, auch sich selbst nicht.«
»Bisweilen versagt das System, Mrs Palmer. Und das, obwohl man alles richtig gemacht hat.«
Helen erhob sich, schlenderte zum Fenster und spähte nach draußen. »So etwas haben Sie schon einmal zu mir gesagt. Zu uns. Dass wir alles richtig gemacht haben, getan haben, was wir nur konnten. Aber dass bei David irgendetwas ausgesetzt hat. Das war nett von Ihnen, Lieutenant, aber Sie machen sich kein Bild davon, wie es ist, wenn man weiß, dass man ein Monstrum in die Welt gesetzt hat.«
Nein, dachte Eve im Stillen. Allerdings wusste sie, wie es war, wenn man von einem Monstrum gezeugt und die ersten acht Lebensjahre von ihm erzogen worden war und mit dieser Erfahrung leben musste.
»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte sie stattdessen. »Vielleicht haben Sie eine vage Vorstellung, wo er stecken könnte. Womöglich kennen Sie sogar jemanden, der ihn bei sich aufnehmen würde. Er ist irgendwo untergeschlüpft«, räumte sie ein. »Irgendwas Privates, wo er experimentieren kann. Wir tippen auf ein Einfamilienhaus, irgendwo in New York. In der City oder jedenfalls in Innenstadtnähe.«
»Nicht dass ich wüsste.« Tom hob beschwörend die Hände. »Vor unserem Umzug haben wir alles verkauft. Unser Haus, mein Geschäft, Helens Laden. Sogar unser Ferienhaus in den Hamptons. Wir haben sämtliche Zelte abgebrochen. Das Haus, wo David – wo er in jenem letzten Jahr wohnte, wurde ebenfalls verkauft. Wir leben hier einsam und einfach. Die Erlöse aus den Verkäufen haben wir festgelegt. Wir brachten es nicht über uns … wir brauchen das Geld nicht.«
»Und er verfügte über ein eigenes Konto?«, fragte Eve prompt.
»Ja, eine Erbschaft, Treuhandfonds. Damit finanzierte er, was er getan hat.« Tom fasste die Hand seiner Frau und drückte begütigend ihre Finger. »Wir haben das Geld wohltätigen Zwecken zukommen lassen, Lieutenant. Sämtliche Lokalitäten, die er hätte aufsuchen können, gehören jetzt anderen Menschen.«
»In Ordnung. Vielleicht fällt Ihnen ja später noch etwas ein. Auch wenn es Ihnen abwegig oder weit hergeholt erscheint, bitte rufen Sie mich in jedem Fall an.« Sie stand auf. »Sobald David wieder in Sicherheitsverwahrung ist, melde ich mich kurz bei Ihnen. Danach werde ich Ihre Adresse in meinem Gehirn auslöschen.«
Eve schwieg, bis sie und Roarke im Wagen saßen und zurückfuhren. »Sie lieben ihn noch immer. Nach allem, was er getan hat. Er kann sein, wie er will – im Grunde ihres Herzens werden sie ihn immer lieben.«
»Ja und zwar so sehr, dass sie dir gern dabei helfen würden, ihn zu stoppen, wenn sie nur wüssten, wie.«
»Um uns beide hat sich seinerzeit niemand gekümmert.« Ihr Blick glitt sekundenlang von der Straße zu Roarke. »Uns hat keiner geliebt.«
»Nein.« Zärtlich schob er ihr das Haar aus der Schläfe. »Bis wir zwei uns schließlich fanden. Kopf hoch, Eve.«
»Er hat die Augen seiner Mutter«, murmelte sie. »Sanft, blau und strahlend. Sie hat ihre operativ verändern lassen, weil sie es vermutlich nicht mehr ertrug, vor dem Spiegel in diese Augen schauen zu müssen.«
Seufzend wandte sie den Blick von neuem auf die Straße.
»Aber er erträgt es«, sagte sie leise.
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Für den Augenblick blieb ihnen nichts anderes, als zu warten. Morgen, überlegte Eve, bekäme sie neue Daten, neue Anhaltspunkte.
Sie schlenderte in ihr Schlafzimmer, um sich kurz hinzulegen. Ein bisschen Privatsphäre musste ihnen an diesem Feiertag schließlich auch vergönnt sein, oder? Sie freute sich schon auf das gemeinsame Weihnachtsmenü mit Roarke, auf einen entspannten Abend zu zweit.
Der starke, himmlische Duft von Kiefernnadeln stieg ihr in die Nase. Sie schüttelte nachsichtig den Kopf. Der Mann riss sich förmlich ein Bein aus, um ihr erstes gemeinsames Weihnachten so stilvoll wie möglich zu gestalten. Nur der Himmel wusste, was er allein für die Lebensbäume bezahlt hatte, die im ganzen Haus verteilt standen. Bei der Kiefer, die am Fenster ihres Schlafzimmers stand, war er nicht davon abzubringen gewesen, sie gemeinsam mit ihr zu schmücken. Das Weihnachtsfest mit ihr bedeutete ihm ungeheuer viel. Und ihr, stellte sie verblüfft fest, ging es nicht anders.
»Lichter an«, befahl sie und lächelte, als die kleinen Lämpchen glitzerten und funkelten.