Mordsärger - Barbara Edelmann - E-Book

Mordsärger E-Book

Barbara Edelmann

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Beschreibung

Ein launiger Kriminalroman, herrlich skurril und liebenswert böse. In Legau herrscht mal wieder Bombenstimmung, das ganze Dorf feiert ausgelassen beim Musikfest – nur einem ist der Spaß vergangen: Der leichtlebige Frauenheld Julian liegt neben dem Bierzelt, erschlagen mit einem Maßkrug. Bald darauf findet eine weitere Person ein mysteriöses Ende, und alle Verdächtigen beschuldigen sich gegenseitig. Sissi Sommer und Klaus Vollmer vom K1 in Memmingen kämpfen sich durch ein Dickicht aus Halbwahrheiten – und stoßen auf einen Täter, mit dem sie nie gerechnet hätten.

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Barbara Edelmann ist in Mindelheim geboren und aufgewachsen. Seit Jahrzehnten lebt sie glücklich und zufrieden im Allgäu. Ihre Erfahrungen und Beobachtungen verarbeitet sie in ihren Allgäu-Krimis. Außerdem liebt sie Rothenburg ob der Tauber und widmet der Stadt ihre zweite Krimireihe.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Westend61/Achim Sass

Umschlaggestaltung: Pia Sperl, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Julia Lorenzer

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-215-4

Allgäu Krimi

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Dieses Buch widme ich meiner geliebten Oma, die mir als Kind eingeschärft hat, ich müsse, wenn ich erwachsen sei, unbedingt als Nachrichtensprecherin zum Fernsehen. Stattdessen schreibe ich Bücher.

1

»Zefix! Wenn’s mir einmal pressiert!« Erschrocken bremste Rainer Fröhlich seinen Schwung und starrte ungläubig auf die lange Reihe von Menschen, die vor den Toilettenhäuschen in einiger Entfernung vom Bierzelt stand. Er warf einen flehenden Blick in den sternklaren Augusthimmel über dem Lehenbühl in Legau im Unterallgäu, aber als er anschließend wieder auf die Schlange schaute, war sie nicht kürzer geworden.

Seit knapp einer Woche fand das Musikfest statt, und im Zelt nebenan hatten unüberhörbar Hunderte gut gelaunter Menschen bei den Auftritten verschiedener Kapellen ihre Gaudi.

Verwirrt kraulte er seinen stattlichen schwarzen Vollbart, der trotz seiner gerade mal vierzig Lenze bereits einige graue Strähnen aufzuweisen begann. »Was mach ich jetzt?«, überlegte er laut, denn er wollte schnellstmöglich zurück ins Gewühl. Da wartete ein halb voller Maßkrug auf ihn, außerdem jede Menge Spaß, gute Musik und hübsche Frauen.

Alles, was Rang und Namen hatte, amüsierte sich im bis auf den letzten Platz gefüllten Festzelt. Einträchtig schunkelte Bauunternehmer Reichelt mit seinem früheren Erzfeind Pfarrer Sommer, während sie von Erna Dobler und Anita Hoff, die ihnen gegenübersaßen, ungnädig beobachtet wurden. Vor allem Erna Dobler, rüstige Rentnerin, Brieftaube des Ortes und unbestechliche moralische Instanz, ließ die beiden Herren um die sechzig nicht aus den Augen. Das lag aber daran, dass sie einen festen Punkt zum Fixieren brauchte, weil sie sonst umgekippt wäre, hatte sie doch zu Hause einer alten Tradition folgend kräftig mit Melissengeist vorgeglüht, damit sie hinterher nicht so viel fürs Bier bezahlen musste. Denn aus dem Alter, in dem man wegen eines gut gefüllten Dirndls ein Getränk spendiert bekam, war sie seit ein paar Jahrzehnten raus. Sie trug ein rotes Trachtenkleid mit weißen Biesen und hatte ihr schütteres graues Haar mittels kleiner Hornkämme und Nadeln mehr oder weniger kunstvoll zu einer Krone aufgetürmt, die wie ein verlassenes Vogelnest wirkte. Tatsächlich hatte schon vor zwei Stunden ein übermütiger Mittzwanziger boshaft einen Kronkorken inmitten dieser Haarpracht deponiert, ohne Ernas Aufmerksamkeit zu erregen.

Unablässig fixierte sie Pfarrer Sommer und Jürgen Reichelt. Eigentlich hätte sie schon länger die Toilette aufsuchen müssen, aber Anita, die sich von diesem Abend etwas mehr versprochen hatte als zwei Bier mit ihrer Busenfreundin, weigerte sich, Erna zu begleiten, um nicht ein einziges fesches Mannsbild in Lederhosen zu verpassen, das an ihrer Bank vorbeikam. Darum blieb Erna eisern sitzen und hoffte das Beste.

Das Publikum im Zelt bestand aus einer bunten Mischung aus Menschen in Tracht und Jeansträgern mit T-Shirt. Jede Stilrichtung war vertreten, elegant, leger oder so lässig, dass Erna, als sie noch nüchterner gewesen war, die Nase gerümpft hatte. Echte Krachlederne konnte man genauso ausmachen wie phantasievolle Landhauskleider oder Dirndl vom Discounter. Ab einem gewissen Alkoholpegel waren Kleiderfragen ohnehin obsolet. Aber wer etwas auf sich hielt, kam stilgemäß in einem eher zugeknöpften Dirndl, die Herren in Lederhosen und hellen Strümpfen, die sich um mehr oder weniger kräftige Waden schlossen.

Rainer Fröhlich überlegte krampfhaft, was er tun sollte, denn die Schlange vor den Toilettenhäuschen wurde einfach nicht kürzer.

In dem mit ungefähr achthundert Personen gefüllten Festzelt in unmittelbarer Nähe ertönte gerade, begleitet von Hunderten Kehlen, »Skandal im Sperrbezirk« von der Spider Murphy Gang. Rainer wollte mitgrölen, aber der Text fiel ihm ums Verrecken nicht mehr ein.

Weil er schon den ganzen Abend eine Maß nach der anderen geleert hatte, schwankte er wie ein Schiff im Sturm, und ihm war schwindelig. Da er befürchtete, demnächst umzukippen, tastete er in seiner Panik blindlings nach einem Halt.

»Spinnst du?«, rief die junge rothaarige Frau in dem eng anliegenden Dirndl, das keine Fragen offenließ, empört und schmierte ihm sicherheitshalber eine. Rainer hatte in seinem alkoholgeschwängerten Zustand nach dem Erstbesten gegrapscht, das er zu fassen bekam, und das war eine der hervorstechenden Eigenschaften der hübschen Rosi gewesen, die sie mehr oder weniger notdürftig in ihrem Trachtenkleid verpackt hatte.

»’tschuldigung«, nuschelte Rainer, aber aufgrund seines angetrunkenen Zustandes war er leider außerstande, ein betroffenes Gesicht aufzusetzen. Hastig nahm er seine Hände weg. »Schönesch Dirndl, schteht dir gut.«

»Hau bloß ab, du besoffenes Wagscheitle«, zischte Rosi. »Sonst hol ich meinen Bruder, den Bernd, der zeigt dir, wo der Barthel den Most holt. Wenn der einmal einatmet, hängst du dem quer unter der Nase.«

Leider bemerkte Rosi in ihrer Empörung nicht, dass sich durch Rainers verzweifelten Versuch, sich an ihr festzuhalten, die aus einer dünnen silbernen Kette bestehenden Schnüre ihres Mieders gelöst hatten, die die ganze Pracht zusammenhielten. Es war ein warmer Sommerabend, und Rosi war auch nicht mehr ganz nüchtern.

Rainer, dessen Gedanken mittlerweile nur noch von zwei Dingen beherrscht wurden, nämlich seiner vollen Blase und dem blöden Erdboden, der ständig unter ihm wegzurutschen drohte, drehte sich langsam um und schlingerte ohne Abschied in die Nacht Richtung Parkplatz. Da standen ein paar Bäume, die sich nicht beschweren würden, wenn er sie umarmte.

»Depp, blöder.« Rosi stellte sich in all ihrer blanken Herrlichkeit als Letzte in die Schlange vor der Toilette. Irgendjemand würde ihr sicher noch sagen, woher der ungewohnte Luftzug an ihrem Dekolleté kam, aber das konnte dauern. Schließlich war sie ausgesprochen attraktiv.

»Jessas!«, entfuhr es Rainer, als er auf dem Weg zum Parkplatz unversehens über seine eigenen Füße stolperte. Unsanft landete er auf den Knien und verzog das Gesicht.

»Und i fliag, fliag, fliag wie a Flieger«, tönte es nun vom Festzelt, während er sich aufrappelte und weiter in die Dunkelheit taumelte, bis er endlich einen stattlichen Baum am Rand des Parkplatzes entdeckte, der ihm garantiert keine schmieren würde.

Während er mit einem Seufzer der Erleichterung an der vorderen Klappe seiner Krachledernen nestelte, hörte er plötzlich ein Geräusch, das nicht zur Musik passte, und zuckte zusammen. Vorsichtig hielt er sich an der prächtigen Linde fest und lugte um sie herum. Nicht weit von ihm entfernt kniete eine Silhouette und hielt etwas in der Hand, das Rainer nach jahrelanger Kampftrinkererfahrung mühelos als Bierkrug identifizierte. Außerdem sah Rainer etwas auf dem Boden liegen, das ihm vorkam wie ein menschlicher Körper.

»Wasch isch da los?«, lallte er.

Die schattenhafte Silhouette erschrak und ließ den Bierkrug fallen.

»He du!«, schrie Rainer. »Wart amal, wasch machsch du da?« Die Gestalt sprang hoch und rannte davon.

»Hä?« Rainer vermutete in seinem vom Alkohol vernebelten Hirn, dass er soeben heldenhaft eine Schlägerei verhindert hatte. Mit geöffneter Hosenklappe schwankte er auf die Stelle zu und erkannte im schimmernden Mondlicht das Gesicht eines Mannes, der auf dem Bauch lag, den Kopf zur Seite gedreht. »Julian!«, rief er überrascht. »Ich binsch, der Rainer. Erkennsch du mich? He, Julian, schlafsch du? Wach auf!«

Ungelenk ließ er sich auf die Knie fallen und packte den Mann an den Schultern. Doch der bewegte sich nicht.

In Rainers Kopf rumorte es, und er versuchte verzweifelt, sich daran zu erinnern, was er beim Erste-Hilfe-Kurs in der Firma gelernt hatte, aber es fiel ihm nicht mehr ein.

»Julian«, wiederholte er leise mit Blick auf die blutende Kopfwunde, die er soeben wahrgenommen hatte, »bisch du tot?« Da er keine Antwort bekam, hielt er dem regungslosen Mann seinen Zeigefinger unter die Nase, um festzustellen, ob er noch atmete. Kein Hauch.

»Jetsch weisch ich auch nimmer.« Er tastete nach seiner Gesäßtasche und fieselte sein Smartphone hervor, während drinnen im Festzelt die Gäste sangen: »Heut is so a schöner Tag, la-la-la!«

Mit zitternden Fingern wählte er eine Nummer. Während er darauf wartete, dass sich jemand meldete, dämmerte ihm, dass für Julian Weidner wohl nie mehr ein Tag schön sein würde.

Wäre er nicht so betrunken gewesen, hätte er vielleicht geheult.

2

Durch das gekippte Fenster des schmucken Einfamilienhauses in der Pfarrpfründe in Legau leuchtete sanft der Sommermond und tauchte das aufgeräumte Schlafzimmer in geheimnisvolles Licht.

»Oh, verdammt.« Schlaftrunken wälzte sich Peter Sommer auf die andere Seite, als das Telefon seiner Frau vibrierte. »Wach auf, das ist deins. Sissi!« Peter Sommer rüttelte seine Frau an den Schultern. »Du musst rangehen.«

»Bin wach«, flüsterte sie und schwang sich aus dem Bett. »Du kannst weiterschlafen.«

Peter rieb sich die Augen und richtete sich auf, während seine Frau sich ihr Smartphone schnappte, das griffbereit neben dem Bett auf dem Nachttisch lag.

»Sommer?« Sissi, die hübsche Kriminalkommissarin Ende dreißig vom K1 in Memmingen, setzte sich auf die Bettkante. »Hallo, Chef. Nein, wir haben geschlafen.« Sie lauschte eine Weile, während Peter, nur zur Hälfte wach, aus dem Zimmer tapste und gähnte.

»Im Bierzelt? Im Lehenbühl? Ist Klaus schon unterwegs? Okay. Haben Sie noch weitere Informationen? Alles klar.«

Hastig schlüpfte sie in ihre Jeans und streifte sich ein T-Shirt über. Dann eilte sie in die Küche, wo ihr Mann sie bereits erwartete.

Peter blinzelte müde und schaltete den Kaffeeautomaten ein. »Bloß gut, dass wir gestern Abend nicht ins Bierzelt gegangen sind. Sonst wären wir noch gar nicht zu Hause.«

»Im Gegenteil«, widersprach seine Frau. »Da wäre ich momentan genau richtig.«

Peter schaute ungläubig auf die Uhr am Backofen. »Himmel, es ist nach Mitternacht. Welch unchristliche Zeit für einen Mord. Worum geht es?«

»Ich weiß nichts Genaues, und wenn ich was wüsste, dürfte ich es dir nicht sagen.« Sissi nahm den dampfenden Kaffee entgegen, den Peter ihr reichte. »Geh wieder ins Bett, Liebling.«

»Wenn ich schon wach bin, kann ich auch gleich nach meinem Teig sehen.« Er öffnete den Kühlschrank und lupfte den Deckel einer riesigen Plastikdose.

»Wir haben dir extra einen Kühlschrank mit Innenkamera gekauft«, tadelte Sissi ihren Mann und nahm vorsichtig einen Schluck von dem heißen Getränk. »Du kannst sogar vom Bett aus den Inhalt kontrollieren. Was gibt es da überhaupt zu sehen?«

»Das nennt sich ›kalte Teigführung‹, und ich probiere es zum ersten Mal aus.« Er schloss die Kühlschranktür wieder. »Keine Ahnung, ob es klappt.«

Sissi rollte entnervt mit den Augen, während Peter im Hängeschrank über der Spüle kramte, und huschte nach draußen, um in ein Paar bequeme Slipper zu schlüpfen.

»Ich gebe dir noch einen für die Fahrt mit.« Ihr Mann füllte gerade einen großen Becher Kaffee ab, als sie zurück in die Küche kam. »Vermutlich wird es länger dauern.«

»Du bist ein Schatz.« Sie ließ ihr Handy in die große Umhängetasche gleiten und hängte sie über die Schulter.

»Soll ich für Klaus auch einen machen? Ach, wie dumm von mir. Klar.« Peter nahm einen zweiten Becher aus dem Schrank. »Also, wer ist tot?«

»Frag unsere Erna Dobler morgen, wenn du sie triffst«, schmunzelte seine Frau. »Sie wusste es vermutlich schon vor dem Täter.«

Als es an der Tür klingelte, sprintete sie durch die Diele. »Bin schon fertig«, begrüßte sie ihren Kollegen Klaus.

Erstaunt musterte Peter, der Sissi gefolgt war, Klaus von oben bis unten.

»Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich den Kaffee geschüttelt, nicht gerührt.« Er grinste. »Wie siehst du denn aus, und wo ist Miss Moneypenny?«

»Ab ins Bett mit dir, mein Lieber.« Sissi ergriff die beiden Becher, die Peter ihr entgegenstreckte, und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Deine Frau muss jetzt arbeiten.« Sie schob ihn resolut zurück in den Flur.

Während im Inneren des Hauses das Licht wieder erlosch und Klaus den Wagen startete, ließ Sissi sich auf den Beifahrersitz plumpsen.

»Ich weiß ja, dass du die Zusammenarbeit mit mir schätzt. Aber dieses Doppelagenten-Outfit wäre doch nicht nötig gewesen. Du kannst mir deine Wertschätzung auch anders zeigen.« Sie deutete auf den eleganten dunkelblauen Anzug aus leichtem Stoff, den ihr Kollege trug.

»Ich wurde dazu gezwungen«, beklagte sich Klaus. »Und zum Umziehen hat die Zeit nicht mehr gereicht. Schon vergessen? Immer im Einsatz.«

»Ach, und ich hätte schwören können, dass du in deinem früheren Dezernat in Berlin täglich so rumgelaufen bist.« Sissi schmunzelte.

»Mach nur so weiter, dann bin ich bald wieder dort. Da werdet ihr aber jammern, wenn euer Preuße fehlt, den ihr ärgern könnt«, drohte Klaus und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr.

Klaus kam tatsächlich aus Berlin und war nach einem überhasteten Versetzungsgesuch aufgrund einer leidenschaftlichen Affäre mit einer schönen jungen Allgäuerin beim K1 in Memmingen gelandet. Aber die Liaison mit der atemberaubenden Blondine war mit einem kürzeren Haltbarkeitsdatum versehen gewesen als eine Packung Camembert, und die Dame hatte ihn schon bald für einen anderen sitzen lassen.

Im Unterallgäu gestrandet, ohne Aussicht auf baldige Rückkehr nach Berlin, hatte Klaus es sich in der ersten Zeit mit der halben Belegschaft wegen seiner ständigen Lästereien über die intellektuelle und kulturelle Diaspora verdorben, in der er seinen eigenen Worten zufolge gelandet war. Von den Frauen wurde er angehimmelt wie ein Filmstar, denn er sah aus wie eine Mischung aus dem jungen Brad Pitt und einem noch jüngeren Antonio Banderas.

Seine männlichen Kollegen hingegen verstanden nicht, was an dem eingebildeten Schönling mit Großstadtallüren dran sein sollte, der allen mit seinem überbordenden Selbstbewusstsein auf die Nerven ging. Klaus’ Anfänge im K1 waren von größeren und kleineren Missverständnissen geprägt gewesen, und mehr als einmal war ihm in der Cafeteria deswegen eine original bajuwarische Watsche angedroht worden, wenn er den Mund wieder einmal zu voll genommen hatte.

Das konnte man übrigens teilweise wörtlich nehmen, denn an der Allgäuer Küche hatte Klaus von Anfang an großen Gefallen gefunden. Ob Kässpatzen, Maultaschen oder Rostbraten, Klaus fraß sich durch die Speisekarten wie ein Wildfeuer durch die australische Steppe. Er hatte sich im Laufe der Zeit halbwegs an seine neue Heimat gewöhnt, auch wenn er das niemals offen zugegeben hätte.

»Jetzt sag doch«, bohrte Sissi, »weshalb du so aufgedonnert bist. Ich dachte, so verkleidest du dich nur am Wochenende.«

»Wenn ich es dir erzähle, wirst du es nicht glauben«, wich Klaus ihrer Frage aus. »Gib mir doch bitte meinen Kaffee.«

Sie reichte ihm seinen Becher. »Das ist eine wundervolle Nacht heute, aber Schlaf wäre mir lieber gewesen. Was wissen wir bisher?«

»Nicht viel.« Klaus steuerte den Wagen durch die Pfarrpfründe in Richtung Marktplatz. »Musikfest, Bierzelt, leblose Person, Tatwaffe vermutlich ein Bierkrug. Leider ist der einzige Zeuge in Wirklichkeit keiner, da zu wenig Blut im Alkohol.«

»Herrje.« Sissi seufzte. »Das Musikfest. Wir wollten morgen Abend hingehen, damit Peter seine neue Lederhose vorführen kann. Spurensicherung und Streife sind vor Ort?«

»Seibold ist schon dort«, informierte Klaus sie. Er bog links zum Legauer Marktplatz ab und fuhr weiter Richtung Bad Grönenbach.

»Voilà, hier sind wir«, verkündete er. »Alles zugeparkt.« Er deutete hinter sich auf die Straße, an deren Rand rechts und links dicht an dicht Fahrzeuge standen. Ziemlich weit hinten in der Reihe erkannte Klaus sogar zwei Traktoren.

»Mann, das fasse ich nicht«, murmelte er. »Die fahren mit dem Trecker zum Bierzelt?«

»Glaub es ruhig, du Großstadtpflanze«, tadelte ihn Sissi. »Zugmaschinen sind Fahrzeuge, wenn auch keine schnellen. Und halt bei der Zufahrt zum Parkplatz an. Wir sind die Polizei, schon vergessen? Die Streife wird sich darum kümmern, dass andere passieren können.« Sie hatte bereits die Hand am Türgriff.

»Kannst es wohl gar nicht erwarten«, stichelte Klaus, stoppte den Wagen und stieg aus. Er folgte seiner Kollegin, die zielstrebig zu einer kleinen Gruppe von Menschen neben einem großen Baum eilte, von denen etliche weiße Papieranzüge trugen.

Ein wie ein Schiff im Sturm wankender Mann in Trachtenkleidung zwischen zwei Streifenbeamten starrte ihnen mit geröteten Augen entgegen.

»Der einzige Zeuge«, raunte Klaus. »Landleben in 3-D. Klasse.«

»Weil in Berlin ja nie einer zu viel trinkt, 007«, tadelte ihn Sissi.

»Hallo, Frau Sommer«, grüßte der Streifenbeamte. »Das ist Herr Fröhlich. Er hat den Toten entdeckt.«

»Wir kennen uns. Hallo, Rainer.« Sissi lächelte freundlich. »Kannst du uns erzählen, was du gesehen hast?«

»Net viel«, nuschelte der betrunkene Mann. »Ich wollt doch blosch pinkeln. Und da hab ich wasch gehört.« Hilfesuchend klammerte er sich an dem Streifenbeamten zu seiner Rechten fest, der davon nicht begeistert war.

»Was gehört?«

»Irgendwasch halt«, brummte Fröhlich unwillig. »Weisch ich nimmer. Und da war wer. Ein Schatten.«

»Ein Schatten? Männlich oder weiblich? Groß oder klein? Rainer, bitte reiß dich zusammen«, bat Sissi.

Fröhlich schüttelte den Kopf. »Schatten halt.«

»Und dann?«

»War er weg. Hat den Krug fallen lassen. Mei isch mir schlecht.« Er rülpste.

Klaus trat sicherheitshalber einen Schritt zurück. »Wie viel haben Sie getrunken? Sorry, blöde Frage. Sie haben also den Umriss einer Person gesehen. Und dann?«

Rainer war deutlich anzumerken, dass er angestrengt nachdachte. »Isch jemand weggerannt«, nuschelte er.

»Das wird heute nichts mehr«, gab Sissi auf. »Hier hast du meine Nummer.« Sie griff in ihre Umhängetasche und zückte eine Visitenkarte. »Bitte komm morgen aufs Revier, melde dich bei Hans Dollinger und gib deine Aussage zu Protokoll.«

Fröhlich schaute sie verständnislos an.

»Schon gut, ich lasse dich abholen. Morgen!« Resigniert drückte Sissi ihm die Karte in die Hand.

Fröhlich versuchte zu salutieren, traf aber versehentlich dabei mit dem Finger sein rechtes Auge und zuckte zusammen. »Schind mir fertig?« Umständlich fieselte er in seiner Hosentasche und zog triumphierend einen Autoschlüssel heraus. »Ah, da ischer ja.«

»Nicht Ihr Ernst.« Klaus war fassungslos. »Wir sind die Polizei, guter Mann. Ist euch denn gar nichts heilig hier im Auenland?«

»Du lieber Himmel, Rainer, was ist denn da hinter dir?« Sissi tat, als hätte sie etwas hinter Rainers Rücken gesehen.

Schwerfällig drehte er den Kopf. Sie entwand ihm blitzschnell den Autoschlüssel und ließ ihn in ihrer Tasche verschwinden. Erst starrte Rainer entgeistert auf seine leere Hand, dann auf Sissi.

Sie blinzelte ihn unschuldig an. »Keine Bange. Ich sorge dafür, dass du sicher nach Hause kommst«, versprach sie ihm. »Folge einfach diesem freundlichen Herrn.« Sie gab dem Beamten ein Zeichen, der setzte sich zusammen mit Fröhlich in Bewegung.

»Mann, bist du gerissen«, entfuhr es Klaus.

»Nur besorgt um meine Mitmenschen. Rainer ist ein ganz Lieber und verdient sein Geld als Lkw-Fahrer bei Jürgen Reichelt. Er braucht seinen Führerschein, und wir brauchen ihn. Guten Morgen, Herr Seibold«, grüßte Sissi einen älteren, griesgrämig dreinblickenden Mann, der ihr erwartungsvoll entgegensah.

»Frau Sommer.« Seibold von der Spurensicherung war schlecht gelaunt wie immer. »Und der Herr Vollmer muss wahrscheinlich nachher noch ins Fernsehstudio, oder? Machen Sie beim Bachelor mit?«

»Lassen Sie ihn lieber in Ruhe, er leidet schon genug«, bat ihn Sissi. »Sie sind ja mal wieder schnell.«

»Nicht mal zu Hause mit Freunden grillen kann man in Ruhe, ständig bringt irgendjemand irgendeinen um«, beklagte sich Seibold. »Ich hab nur einen Krug mit Blutspuren für Sie.« Er zeigte auf die regungslose Person am Boden. »Ihr Kunde. Wir arbeiten, so schnell wir können. Ihnen ist schon klar, dass hier eine Million Menschen rumlaufen und dass es eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist, eine valide Spur zu finden? Immerhin kommen alle, die vom Bierzelt zu ihrem Auto wollen, hier vorbei.«

»Der Weg zum Parkplatz ist weiter links«, korrigierte ihn Sissi. »Diese Stelle hier wird normalerweise nicht von Fußgängern frequentiert. Haben Sie außer dem Krug noch was für mich?«

»Wir sind dran«, versicherte ihr Seibold. »Hexen kann ich nicht.«

»Wieder der Magen?«, erkundigte sich Sissi mitleidig.

Seibold verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Wird wohl erst besser, wenn ich in Pension bin. Der Notarzt musste übrigens dringend weg. Konnte nur noch den Exitus bestätigen. Da das Opfer auf dem Bauch liegt, ist die schwere Verletzung am Hinterkopf unübersehbar. Legen Sie los!«

»Wir machen so schnell wie möglich, dann können Sie ihn wegbringen«, versicherte ihm Sissi. »Ehe hier noch ein Volksauflauf entsteht.«

Sie streifte sich Einweghandschuhe über, kniete sich vorsichtig neben den Toten, griff behutsam in seine Gesäßtasche und holte ein teuer aussehendes echtledernes Portemonnaie heraus. Mit spitzen Fingern öffnete sie die Börse und langte ins Kartenfach.

»Julian Weidner«, las sie betroffen. »Er war fünfunddreißig Jahre alt. Letzte Woche bin ich im EDEKA an ihm vorbeigelaufen.«

»Du kennst ihn. Natürlich.« Klaus ging neben ihr auf die Knie.

»Nur vom Sehen und dem, was ich beim Friseur Reisacher gehört habe. Großgrundbesitzer, sehr charmant, außerordentlich attraktiv. Das kannst du ja selbst erkennen. Er bewirtschaftete zusammen mit seinem Bruder Max einen riesigen Hof, und sein Frauenverschleiß war spektakulär.«

»So einen Fall hatten wir doch schon mal.« Klaus kratzte sich am Kinn. »Florian Schütz, erinnerst du dich? Werden diese Platzhirsche bei euch in einer unterirdischen Scheune gezüchtet?«

»Nix unterirdisch, Freilandhaltung«, korrigierte Sissi ihn. Sie sah sich den Geldbeutel näher an. »Soweit ich das überblicke, ist noch alles da: knapp fünfhundert Euro in bar, zwei Kreditkarten, zwei Girokarten, Ausweis, Führerschein. Ausgeraubt wurde er jedenfalls nicht. Und was ist das?« Zwischen zwei Geldscheinen zog sie eine kleine Plastiktüte hervor, die eine weiße Substanz enthielt.

»Ja, da schau an.« Klaus, der sich nun ebenfalls Einweghandschuhe übergestreift hatte, nahm ihr vorsichtig die Tüte aus der Hand. »Er war also ein Genussmensch. Auf was tippst du?«

»Zu neunundneunzig Prozent Kokain«, sagte sie. »Mit diesem Mist haben wir in letzter Zeit öfter zu tun, obwohl das Zeug verdammt teuer ist.«

Sie hatte sich an der zweiten Gesäßtasche des Toten zu schaffen gemacht und holte ein iPhone mit gesplittertem Display heraus.

»So ein Käse«, ärgerte sie sich. »Vielleicht gab es eine Rangelei, und er ist auf das Ding in seiner Tasche gefallen.« Behutsam überreichte sie Klaus das Handy. »Da wird wohl nicht mal mehr Hans was ausrichten können. Hilf mir doch bitte, ihn umzudrehen.«

Sachte bewegten sie Julian vom Bauch auf den Rücken.

»Mehrere Hämatome im Schlüsselbeinbereich, ein großes über dem Jochbein und eine massive Wunde am Hinterkopf.« Klaus zeigte auf das Gesicht des Opfers. »Es hat sehr wahrscheinlich ein Kampf stattgefunden, dabei ist vermutlich auch das Telefon zu Bruch gegangen. Abschürfungen an den Fingerknöcheln deuten auf eine Schlägerei hin. Andere äußere Verletzungen kann ich nicht feststellen.«

Sissi richtete sich auf und gab Seibold ein Zeichen. »Wir sind so weit fertig. Schönen Gruß an Heinzelmann von der Rechtsmedizin. Ich brauche baldmöglichst die Laborwerte inklusive einer Haaranalyse. Dürfte interessant werden.«

Seibold winkte seinen Leuten. »Bringen wir ihn weg.«

»Merkwürdig.« Klaus sah sich aufmerksam um. »Normalerweise müssen die Kollegen von der Streife dafür sorgen, dass uns die Schaulustigen nicht auf die Finger treten. Was stimmt nicht? Hier ist es wie ausgestorben.«

»Da sind doch welche.« Sissi beobachtete ein älteres Paar, das stehen geblieben war und jetzt von einem der Streifenbeamten weitergeschickt wurde. »Der Rest ist im Bierzelt. Und wir gehen da jetzt auch rein. Bist ja genau richtig angezogen, du Doppelagent.« Sie setzte sich in Bewegung.

»Mir bleibt heute auch nichts erspart.« Klaus verzog das Gesicht.

»Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle?«, sang gerade jemand. Klaus nickte ergeben, als er die Worte hörte und hinter Sissi das voll besetzte Zelt betrat.

»Grundgütiger!«, rief er laut, um die Musik zu übertönen. »Hier kann man die Luft ja schneiden.«

Es war der Teufel los. Mindestens ein Drittel der Gäste stand auf den Bänken und wiegte sich im Takt. Der Rest grölte lautstark mit.

»Davor hat mich keiner gewarnt, als ich damals mein Versetzungsgesuch nach Memmingen eingereicht habe!«, brüllte Klaus Sissi ins Ohr.

»Hätte dich nicht interessiert, du warst ja verknallt!«, schrie sie zurück.

Von allen Seiten folgten ihnen neugierige Blicke, als sie sich durch das Gewühl kämpften.

»Warum gucken die so komisch?« Klaus drehte sich ein paarmal um, weil er sich beobachtet fühlte. »Hat von denen noch keiner einen gut sitzenden Anzug von Hugo Boss gesehen?«

»Weil du daherkommst wie einer der ›Men in Black‹, der gleich jemanden blitzdingsen wird«, rief Sissi. »Ignorier es einfach!«

Sie waren bis zur Mitte des Zeltes gekommen, als jemand Sissi am Ärmel ihres Shirts zupfte. Überrascht drehte sie sich um und starrte in die funkelnden Augen von Erna Dobler.

»Elisabeth!«, rief Erna. »Ist was passiert?« Missbilligend musterte sie Sissis Jeans und T-Shirt. Ihre Augen waren gerötet, und sie machte einen nicht mehr ganz nüchternen Eindruck. »Hast du kein Dirndl im Schrank? Alleweil diese Hosen.«

»Hallo, Frau Dobler. Ihnen geht es ja gut, wie man sieht«, brüllte Sissi gegen die Musik an. »Ich will mich nur mal umschauen.«

»Jetzt hast alles gesehen, kannst wieder gehen.« Ernas Stimme durchdrang mühelos die laute Musik. »Oder was ist los?« Sissi hatte den Eindruck, dass Erna sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte. Aber ihr Gesichtsausdruck war boshaft wie immer, also war offenbar alles in Ordnung.

»Schönes Kleid.« Sissi zeigte auf das schlotternde Trachten-Outfit. »Haben Sie was getrunken?«

»So gut wie nix.« Erna entblößte zwei Reihen perfekt sitzender Zähne. Zwei Maß waren ja auch so gut wie nichts, wenn man es genau nahm.

Sie war Mitte siebzig und seit dem Tod ihres Ehemannes Schorsch, der auf dem Heimweg vom »Mohren« im Straßengraben unglücklicherweise einem Kreiselmähwerk zum Opfer gefallen war, äußerst interessiert am Leben anderer und überhaupt an allem, was sie nichts anging. Wenn sie nicht gerade ihre Nachbarn ausspionierte oder sich nach dem neuesten Tratsch umhörte, pflegte sie Hobbys wie das Herstellen von hochprozentigem Likör, den sie unter der Hand verkaufte, und das exzessive Gucken von amerikanischen Krimiserien wie zum Beispiel »CSI: Miami«. Sämtliche körperliche Zipperlein, die es wagten, sie zu belästigen, bekämpfte sie wirksam mit Melissengeist. Aber am allerliebsten steckte sie ihre scharf geschnittene Nase in Angelegenheiten der Kripo, weil das in ihren Augen viel besser war als fernzusehen. Sozusagen interaktiv und in Farbe.

»Herr Vollmer!« Erna hatte Klaus entdeckt, der sich unter den belustigten Blicken der anderen Gäste unwohl fühlte. »Endlich zieht sich mal einer von euch bei der Arbeit anständig an. Ihr seids doch bei der Arbeit?«

»Zum Vergnügen bin ich garantiert nicht hier«, versicherte ihr Klaus laut. »Freiwillig sowieso nicht.«

»Die Anita sitzt da drüben, Herr Vollmer.« Erna zeigte auf eine Bank. »Gehen Sie doch mal rüber, die freut sich bestimmt.«

»Da ist ja auch mein Onkel«, rief Sissi, die Ernas Zeigefinger gefolgt war. Auf einer Bank am Rand des Trubels saß Pfarrer Sommer und starrte resigniert in sein Bier, während Anita Hoff, die sich zur Feier des Tages in die Variation eines Landhauskleides gezwängt hatte, das für eine Frau mit zwei Kleidergrößen weniger entworfen worden war, unentwegt auf ihn einredete.

Gerade machte die Band eine Pause.

»Hallo!« Sissi nahm neben ihrem Onkel Platz, einem grauhaarigen Mann, unter dessen weißem Haarkranz wache blaue Augen funkelten. »Schön, dich zu treffen.« Sie umarmte ihn.

»Liebe Sissi, mit dir habe ich heute nicht mehr gerechnet«, freute sich Pfarrer Sommer. »Jetzt hast du knapp Jürgen Reichelt verpasst, aber der kommt bald wieder.«

»Bist du schon länger hier, Onkel Andi?«, fragte Sissi.

»Seit Frau Doblers erstem Bier«, bejahte Pfarrer Sommer. »Hallo, Herr Vollmer. Dass Sie beide hier auftauchen, ist kein gutes Zeichen.«

»Leider stimmt das, Onkel Andi«, bestätigte Sissi. »Und die Ausgangsbedingungen für Ermittlungen waren auch schon mal besser.«

»Herr Vollmer!« Anita beugte sich in ihrem tief ausgeschnittenen Kleid über den schmalen Bierzelttisch und strahlte ihn an. »Kommen Sie grad von einer Beerdigung?«

»So ganz falsch liegen Sie damit nicht«, verriet ihr Klaus geheimnisvoll.

»Aha. Raus damit! Mir ist langweilig.« Ihr Kleid spannte an strategisch wichtigen Stellen, aber es hielt. Immerhin.

»DEFCON 1, hilf mir, Sissi«, bat Klaus. »Höchste Alarmstufe. Hol mich hier raus!«

»He, ich bin da oben!«, schimpfte Anita und deutete anklagend auf ihr Gesicht. »Ihr seids wirklich alle gleich, ihr Mannsbilder. Na, Frau Sommer, schaust wieder amal beim Plebs vorbei?«

»Anita, dir geht es ja blendend, wie man sieht«, begrüßte Sissi sie scheinheilig. »Die paar Kilo mehr auf den Rippen stehen dir hervorragend.«

»Gar net!«, fauchte Anita. »Ich trag alleweil noch Größe sechsunddreißig. Net zweiundvierzig, so wie gewisse andere Leut, die bloß noch in weite Jeans passen.«

Irgendjemand am Tisch kicherte. Es kam von Erna. Pfarrer Sommer, der gerade einen Schluck von seinem abgestandenen Bier getrunken hatte, begann zu husten, bis sein Gesicht sich bedenklich verfärbte. Sissi klopfte ihm auf den Rücken.

»Jetzt musst du mir nur noch das Land verraten, in dem das Größe sechsunddreißig ist«, konterte Sissi. »Arbeitest du noch bei der Firma Wohlgeruch?«

»Logisch. Bin da die rechte Hand«, verkündete Anita schnippisch. »Und die linke.«

»Selbstverständlich. Du legst dich bestimmt richtig ins Zeug«, erwiderte Sissi zweideutig. »Onkel Andi, können wir uns unterhalten? Draußen?«

»Die Geheimnistuerei wird dir nix helfen«, rief Anita. »Ich krieg’s ohnehin raus.« Argwöhnisch beobachtete sie, wie Sissi mit Pfarrer Sommer nach draußen verschwand. »Soso, mir zwei Schönen also.« Sie zwinkerte Klaus verheißungsvoll zu. »Wenn Sie nachher fertig sind, schauen Sie doch noch mal bei mir vorbei«, bot sie ihm an. »Dann zeig ich Ihnen mein Kreuz des Südens. Ich hab sogar eine winzige Tätowierung drauf, die dürfen Sie suchen.«

»Danke für das Angebot, aber ich habe schon jemanden mit Größe sechsunddreißig«, lehnte Klaus amüsiert ab.

»Na dann.« Anita rümpfte die Nase. »Gut sehen Sie aus. Aber so würd ich nicht in ein Festzelt gehen. Gell, Erna?«

Erna reagierte nicht. Sie war vor ihrem Bier im Sitzen eingeschlafen. In ihren Haaren hing immer noch der Kronkorken.

»Onkel Andi, war heut Abend irgendwas?«, wollte Sissi von ihrem Onkel wissen, als sie etwas abseits im Freien standen. »Du hast doch ein waches Auge.«

»Nur das Übliche.« Pfarrer Sommer schüttelte den Kopf. »Ein paar Reibereien, aber soweit ich das einschätzen kann, nichts Ernsthaftes. Zwischen dem Julian Weidner und dem Patrick Brandstetter gab’s einen handfesten Händel, ich glaube, es war wegen einer Frau. Aber das hat nicht lange gedauert.«

»Interessant. Wann war das?«

»So ungefähr vor einer Stunde. Beide waren ziemlich betrunken, du kennst das ja. Sag mir lieber, warum du hier bist. Es ist etwas Schlimmes passiert, oder?«

»Du weißt, dass ich nicht komme, wenn jemand die Batterien seiner Taschenlampe verloren hat, Onkel Andi. War das die einzige Auseinandersetzung, die Julian Weidner heute hatte?«

Pfarrer Sommer nickte. »Soweit ich mich erinnere, ja. Hab ihn vor einer knappen Stunde das letzte Mal gesehen. Auf mich hat er einen äußerst nervösen Eindruck gemacht, anscheinend hat er Streit gesucht. Brandstetter sitzt wieder an seinem Platz unter der Tribüne, wo es schrecklich laut ist. Das weiß ich, weil ich vorhin auf dem Weg zurück von der Toilette an seinem Tisch vorbeikam. Aber bei seinem Alkoholpegel stört ihn das vermutlich nicht mehr. Warum fragst du?«

Sissi schwieg.

»Um Gottes willen.« Sommer bekreuzigte sich. »Wann?«

»Wissen wir nicht. Behalt es für dich.«

»Der arme Bub.« Sommer blickte sie betrübt an. »Hast du seinen Freund schon befragt, mit dem er hier war? Anscheinend waren die nicht gut aufeinander zu sprechen, es wirkte auf mich, als würden sie gleich anfangen zu schlägern.«

»Welcher Freund?«

Sommer kratzte sich am Kopf. »Mir fällt der Name nicht ein. Die beiden waren ständig zusammen unterwegs und sind mir auch im ›Mohren‹ öfter begegnet. Ein merkwürdiges Gespann, der attraktive Julian und der, äh, untersetzte … Menschenskinder, ich komme einfach nicht drauf.«

»Schon gut, Onkel Andi. Ist dieser angebliche Freund noch hier?«

»Keine Ahnung. Zu Beginn des Abends saßen die zwei am selben Tisch beim Sportverein und schienen zu streiten. Später dann nicht mehr.«

»Ein wenig hilft mir das, danke. Ich muss leider wieder rein. Alles okay bei dir und deiner Kirche?«

»Meine Gottesdienste werden immer beliebter«, schwärmte Sommer. »Du könntest auch mal wieder zu einem erscheinen.«

»Wenn ich am Wochenende mal freihabe, sollte ich das wirklich tun«, gab Sissi zerknirscht zu. »Was meinst du mit ›immer beliebter‹? Als ich das letzte Mal in der Kirche war, saßen da höchstens zwanzig Leute.«

»Wie ich es sage«, bekräftigte er. »Seitdem ich mir diese App runtergeladen habe, die mir bei meinen Predigten hilft, besuchen auch andere Menschen den Gottesdienst. So etwas spricht sich eben herum.«

»Eine App?«, staunte Sissi.

»So eine künstliche Intelligenz«, bestätigte ihr Onkel. »Ich lebe nicht hinterm Mond. Man gibt ein Thema vor, und dieses Ding verfasst für dich einen Text. Muss nur noch meine persönliche Note reinschmuggeln, aber die KI erledigt die Hauptarbeit.«

Mit »persönlicher Note« meinte Pfarrer Sommer einprägsame Begriffe wie Hölle, Verdammnis oder Fegefeuer, denn seine Schäflein waren seiner Meinung nach starrsinnig und nicht leicht von der Gnade Gottes zu überzeugen, wenn man ihnen nicht drohte. Ein bisschen Apokalypse wirke bei seiner verstockten Herde argumentationsverstärkend, hatte er festgestellt und wandte diese Technik seit Jahren erfolgreich an.

Sissi schmunzelte. »Freut mich für dich. Ich gehe jetzt. Aber wir sehen uns, versprochen.«

»Viel wirst du nicht erfahren«, warnte Pfarrer Sommer. »Die meisten haben was getrunken.«

»Ich riskiere es. Bis bald.«

Klaus sah Sissi erleichtert entgegen und erhob sich hastig. »Hast du etwas herausbekommen? Ich glaube, es geht schon los mit dem Tratsch.« Verstohlen zeigte er auf Anita, neben der eine junge, stark geschminkte Frau Platz genommen hatte. Eine der künstlichen Wimpern über ihrem rechten Auge hing auf Halbmast. Als sie Sissi erkannte, huschte sie davon.

»Soso.« Anita verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Sissi an. »Der Julian also. Deshalb bist du da. Eine riesige Sauerei ist des.«

»Finden wir auch.« Sissi setzte sich neben sie. »Und? Weiß es schon das ganze Zelt? Frau Dobler schläft, also musst du das übernehmen.«

Erna schrak kurz hoch, ließ aber sofort den Kopf wieder sinken. »Scheißbier«, nuschelte sie und döste weiter.

Anita überhörte Sissis Stichelei. »Ich geb dir einen Tipp. Der Julian hat vorhin mit dem Patrick geschlägert, mitten im Zelt. Wegen der Katja Weißenhorn.«

»Weiß ich schon«, winkte Sissi ab.

»Aber dass der alte Maier dem Julian gestern alles Mögliche angedroht hat, mitten auf dem Marktplatz in Legau, des weißt net, gell?« Anita lächelte triumphierend.

»Solltest du nicht traurig statt boshaft sein?«, fragte Sissi. »Immerhin warst du doch mal kurz mit Julian Weidner zusammen.«

»Ach, des ist ewig verjährt«, grinste Anita. »War nix Ernstes. Hat’s schon jemand dem Max gesagt? Und wo ist der Markus?«

»Sein Bruder ist hier? Und wer ist Markus?«, wollte Sissi alarmiert wissen.

»Aha, alles weißt du also auch net.« Boshaft funkelte Anita Sissi an.

»Aber mit Kleidergrößen kenne ich mich aus. Wo ist denn nun Max Weidner?«, wiederholte Sissi.

»Sitzt da drüben mit seinen Freunden«, verriet ihr Anita mürrisch.

»Klaus, wir gehen kurz nach draußen.« Sissi griff sich an die Schläfen. »Ich krieg schon wieder diese Kopfschmerzen, gegen die keine Tabletten helfen. Und ich muss zwei Kollegen von der Streife anfordern.«

»Weil du die Wahrheit net vertragst! Ich schau einfach besser aus als du«, schrie Anita den beiden hinterher.

Die nächste Band hatte mittlerweile angefangen zu spielen, und es war entsprechend laut, als sie in Begleitung von zwei Streifenbeamten wieder das Zelt betraten. Sie brauchten nicht lange nach Patrick Brandstetter zu suchen.

Mitten im Trubel, direkt unterhalb der Tribüne, dort, wo der Geräuschpegel am höchsten war, saß ein blonder Mann Mitte dreißig, der sein Gesicht im Ausschnitt einer üppigen Blondine im grünen Dirndl vergraben hatte. Ab und zu tastete er nach einem Maßkrug, hob den Kopf, nahm einen Schluck und stellte ihn wieder auf den Tisch, ohne hinzusehen.

»Physikalisch unmöglich, dass der noch Luft kriegt«, rief Klaus Sissi ins Ohr. »Wir sollten ihn retten.«

Sie wandte sich an die beiden Streifenbeamten. »Kollegen, Sie greifen erst auf meinen ausdrücklichen Befehl ein«, ordnete sie an. »Egal, was passiert. Wir wollen nicht eskalieren.«

Die beiden Polizisten postierten sich, wie ihnen geheißen, mit etwas Abstand vor der Bank, auf der Brandstetter saß.

Ein Teil des Publikums war mittlerweile auf sie aufmerksam geworden, und es hagelte nicht zitierfähige justiziable Bemerkungen, die hauptsächlich mit »Bullen« und »Spaß verderben« zu tun hatten, aber die beiden Männer von der Streife blieben gelassen.

»Patrick Brandstetter?« Sissi tippte auf die Schulter des blonden Mannes, der aber nicht reagierte. Die hübsche Blondine namens Katja Weißenhorn, an deren Ausschnitt Patrick klebte, zwinkerte Sissi zu. »Er ist a bisserl mies drauf«, kicherte sie. »Aber des wird wieder, gell, Schnucki?«

Sissi beugte sich hinab und begutachtete das mit roten Spritzern gesprenkelte weiße Hemd. »Herr Brandstetter?«

Der streckte gerade wieder seine Hand aus, um einen Schluck aus dem Maßkrug zu nehmen.

Sissi hielt sie fest. »Herr Brandstetter! Wir müssen mit Ihnen reden«, sagte sie laut.

Unwillig hob er den Kopf und schaute sie mit rot geränderten Augen an, von denen gerade eines zuschwoll. Sein Blick fiel auf Klaus. »Wer bist du denn? Kommst von der Gebühreneinzugszentrale?« Er lachte dreckig.

»Sommer und Vollmer vom K1 in Memmingen.« Sissi zückte ihren Dienstausweis und hielt ihn Brandstetter unter die Nase. »Bitte folgen Sie mir nach draußen. Sie möchten doch nicht, dass hier jeder alles mitbekommt?«

»Ich glaube nicht, dass hier irgendjemand noch was mitbekommt.« Klaus widerstand dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten. »Schau dich doch mal um!«

»Hey, Magic Mike!«, brüllte ihm jemand zu. »Ausziehen!«

»Ich hasse wirklich alles an diesem Abend«, murmelte Klaus resigniert in seinen Dreitagebart.

»Hä? Was wollts ihr von mir?« Unwillig richtete sich Brandstetter zu seiner vollen Größe von hundertneunundachtzig Zentimetern auf. Obwohl er unsicher auf den Beinen war, wirkte er bedrohlich.

»Kommen Sie bitte mit, sonst müssen wir Sie festnehmen«, bat Klaus unbeeindruckt.

Mittlerweile verfolgten noch mehr Festbesucher das Geschehen. Das lag daran, dass die Band genau in dem Moment eine kurze Pause zwischen zwei Liedern eingelegt hatte, als Klaus mit der Verhaftung drohte.

»Sagt wer?«, raunzte Brandstetter. Er war ein wohlhabender Jungbauer und nicht gerade für sein sanftmütiges Naturell bekannt. »Da müssen schon Metzger kommen und keine Wursträdle. Dich hau ich ungespitzt in den Boden, du Schauspieler, du.«

»Mitkommen«, befahl Klaus ungerührt. »Sofort!«

»Tatä, tatä, tatä«, erschallte es plötzlich über ihnen. Klaus zuckte unwillkürlich zusammen und konnte gerade noch einer riesigen Faust ausweichen, die auf ihn zukam.

Blitzschnell griff er zu und packte Brandstetters Arm, der ein zweites Mal ausholen wollte.

»Haben Sie ein Glück, dass ich nicht nachtragend bin!«, schrie er gegen den nun wieder aufbrandenden Lärm an und hielt den Betrunkenen fest. Dieser riss unerwartet seinen Arm, den Klaus umklammert hatte, nach hinten, was zur Folge hatte, dass Klaus mit dem Bauch voran auf dem Bierzelttisch in einem Pappteller mit fettigen Gockelresten landete. Brandstetter, der trotz seines Alkoholpegels erstaunlich behände war, warf sich mit einem Kampfschrei auf ihn.

»Patrick«, kreischte die hübsche Katja. »Ich helf dir, Schatzi!« Hektisch sprang sie hoch, um sich ins Getümmel zu stürzen, aber Sissi zog sie am Kleid weg.

Das alles war in wenigen Sekunden passiert, hatte aber genügt, dass jetzt mindestens hundert Augenpaare und fünfundsechzig Smartphone-Kameras auf die beiden Ermittler und Patrick gerichtet waren. Die Musik verstummte. Mit einem Mal erhoben sich auf den Nachbarbänken acht Männer in Trachtenkleidung und machten Anstalten, ins Geschehen einzugreifen. Es war nicht klar ersichtlich, für wen sie Partei ergreifen würden.

Sissi wollte den Streifenpolizisten ein Zeichen geben, als plötzlich eine sehr laute Stimme brüllte: »Schluss jetzt, ihr Deppen! Alle wieder hinsetzen! Aber pronto! Des gilt auch für dich, Bernhard. Wird’s bald? Oder brauchst eine Ordnungsschelle?«

Murrend nahm der Angesprochene, ein grobschlächtiger Mann in den besten Jahren, wieder Platz. Die anderen taten es ihm gleich.

Jürgen Reichelt, Bauunternehmer, lokale Größe und seit vielen Jahren beinahe erfolgreicher Bürgermeister-Kandidat, packte Patrick am Kragen und zerrte ihn unsanft von Klaus herunter. Dieser rappelte sich auf, wischte sich einen Hühnerknochen von seiner Brusttasche und zog seelenruhig ein paar Handschellen unter seinem Sakko hervor. »Ich habe darüber nachgedacht und bin jetzt doch nachtragend, Herr Brandstetter.« Routiniert legte er Patrick die Handschellen an. »Kommen Sie bitte mit.«

»Danke, Jürgen.« Sissi lächelte dem Bauunternehmer zu. »Die Lage war aber zu keiner Zeit außer Kontrolle.«

»Wirklich, Sissi?« Reichelt zeigte auf die voll besetzten Bierzeltbänke, von denen aus sie argwöhnisch beobachtet wurden. »Du weißt doch, was ein paar Halbe Bier ausrichten können.« Dann wandte er sich in Richtung der Kapelle und brüllte: »Weitermachen!«

Der Dirigent stutzte und gab dann ein Zeichen. Prompt setzte die Musik wieder ein.

»Na also.« Reichelt nickte zufrieden. »Sissi, dir hätt ich zugetraut, dass du dem Brandstetter zeigst, wo der Hammer hängt«, rief er ihr ins Ohr. »Bei deinem Kollegen aus Beverly Hills, der im ganzen Allgäu anscheinend keine Rasierklingen auftreiben kann, bin ich net sicher. Wieso läuft der eigentlich rum wie a Pharmareferent?«

Sissi stellte sich auf die Zehenspitzen. »Morgen ziehe ich ihn normal an, Jürgen, versprochen«, antwortete sie. »Danke dir, wir müssen los.«

»Logisch.« Reichelt reichte ihr zum Abschied die Hand und drückte sie fest. »Wenn ich noch amal helfen kann, gib mir Bescheid.«

Sissi folgte Klaus, der Brandstetter zusammen mit den beiden Beamten aus dem Zelt führte.

Er wehrte sich heftig. »Was glaubts ihr, wer ihr seids?«, brüllte er. »Ich verklag euch alle, bis einer heult!«

»Puh.« Klaus betrachtete betrübt seinen Anzug, als die Kollegen mit dem widerspenstigen Landwirt verschwunden waren, erstaunt beäugt von ein paar angeheiterten Festzeltgästen, die von den Toiletten zurück ins Zelt strömten. »Das wird teuer.«

»Das mit deinem Outfit tut mir leid«, bedauerte ihn Sissi. »Aber ich hatte volles Vertrauen in deine Fähigkeiten. Hast du nicht irgendeinen Gürtel in einer asiatischen Kampfsportart?«

»Er hat mich überrascht«, rechtfertigte sich Klaus. »Außerdem trainiere ich seit einigen Jahren nicht mehr. Diesen Reichelt hätte ich allerdings nicht gebraucht, das hätte ich auch allein geschafft.«

»Weiß ich doch«, tröstete ihn Sissi. »Die Kollegen befragen gerade Patrick Brandstetters Begleitung Katja. Und wir müssen jetzt zu Max Weidner, dem Bruder des Toten. Ich habe ihn aus dem Zelt holen lassen.«

Sie zeigte auf zwei Polizisten, die ungefähr fünfzig Meter vom Zelteingang entfernt mit einer männlichen Person auf sie warteten.

»Was für eine Nacht«, entfuhr es Klaus, als er das leichenblasse Gesicht des Mannes mit dem dichten dunklen Haar sah, der zitternd neben den Polizisten stand.

»Und sie ist noch lange nicht zu Ende«, flüsterte Sissi. »Hallo, Herr Weidner.«

3

Schon längst waren die meisten Lichter in Legau erloschen. Wer jetzt nicht schlief, amüsierte sich noch im Bierzelt oder spekulierte über die Festnahme von Patrick Brandstetter und den tragischen Tod von Julian Weidner.

Gelegentlich hörte man auf einer Weide das melodische Läuten einer Kuhglocke. Leise plätscherte die Iller in ihrem Flussbett vor sich hin, wie sie das seit Jahrtausenden tat. Still ruhte die Nacht.

Nur in einem Fenster der luxuriösen Seniorenresidenz Moserhof, die sich nicht weit entfernt von Legau in die hügelige Landschaft schmiegte, brannte noch Licht. Imposant zeichnete sich die Silhouette des weitläufigen, vor etlichen Jahren zum Ruhesitz für solvente Rentner und Pensionäre umgebauten ehemaligen Bauernhofs zwischen saftigen Weiden und blühenden Feldern ab.

Die breiten, mit teuren Teppichböden ausgelegten Gänge wurden um diese Uhrzeit lediglich von wenigen Energiesparlampen mit Bewegungssensor erleuchtet und waren menschenleer. Hinter jeder schlichten, nur mit einer Nummer versehenen Zimmertür verbarg sich ein prätentiöses Appartement für den gehobenen Geschmack mit jedem erdenklichen Luxus: Smart-TV, italienisch gefliestem barrierefreiem Bad mit Dampfdusche, elektrisch verstellbarer Couchgarnitur und vollwertig ausgestatteter Küche inklusive hochwertiger Geräte.

Wer im Moserhof residierte, durfte das Beste von allem erwarten und bekam es auch – und dazu an klaren Tagen einen atemberaubenden Blick auf die Alpen. Hier wohnte ausschließlich zahlungskräftige Klientel vorwiegend aus dem Norden Deutschlands, und ein Appartement war mittlerweile schwerer zu bekommen als eine Privataudienz beim Papst. Wenn man es denn überhaupt auf die Warteliste schaffte. Diese wurde von der klapperdürren rothaarigen Renate Reismann, ihres Zeichens gar nicht so stille Mitinhaberin und ebenfalls Bewohnerin der Anlage, und ihrer Freundin Frauke unbarmherzig überwacht.

Es war ein herrlicher Sommertag gewesen. Etliche Bewohner des Moserhofs hatten das Festzelt besucht und lagen nun, müde geschunkelt und abgefüllt mit König Ludwig Dunkel, in ihren bequemen Boxspringbetten, wo sie den Schlaf der Gerechten schliefen und einem neuen, unaufgeregten Tag entgegendämmerten.

Inmitten des gepflegten Gartens spiegelte sich der Mond im gekräuselten Wasser des Pools. Auf einem der massiven Liegestühle aus Teakholz, die allmonatlich mit Öl poliert wurden, lag zerknittert ein vergessenes, noch feuchtes Handtuch. Jeder einzelne der bequemen Korbsessel, auf denen die Bewohner morgens auf der riesigen Terrasse ihr opulentes Frühstück einnahmen, stand vor einem mit einer Glasplatte versehenen Tisch akkurat an seinem Platz. Alles wirkte aufgeräumt und idyllisch. Das Quaken der Frösche in dem großen Zierteich am Ende des Gartens war mittlerweile verstummt.

Nur aus einem gekippten Fenster im Erdgeschoss drang gedämpft das Jaulen einer Bassgitarre, gefolgt von einem langen Schlagzeugsolo. Die Töne bildeten mit den Geräuschfetzen der Stimmungsmusik vom einige Kilometer entfernten Bierzelt, die durch die laue Sommernacht waberten, ein surreales, atonales Gemisch, während ein paar verirrte Glühwürmchen über dem Pool einen Tanz aufführten.

Auch die geräumige Edelstahlküche im Moserhof lag im Dunkeln.

»Na warte.« Helga Exner, eine stämmige Mittfünfzigerin mit halblangem grau meliertem Haar, das zu einem strengen Dutt frisiert war, drückte sich, bewaffnet mit einer schweren gusseisernen Pfanne, in die schmale Nische neben dem doppeltürigen Kühlschrank. Angestrengt versuchte sie, durch die Nase zu atmen, was angesichts ihrer Gräserallergie um diese Jahreszeit aussichtslos und bei ihrer Tätigkeit als Köchin des Moserhofs oft hinderlich war.

In ihrer schwarzen Jerseyhose und dem kurzärmeligen, ebenfalls schwarzen T-Shirt, kombiniert mit dem grimmigen Gesichtsausdruck eines englischen Fleischerhundes, wirkte sie wie eine CIA-Agentin, die sich demnächst mit Arnold Schwarzenegger und Sylvester Stallone zu einer allerletzten Mission aufmachen würde, um einen gefangenen Armee-Kumpel in Nordkorea zu befreien.

Während sie in ihren praktischen Halbschuhen nervös von einem Fuß auf den anderen tippelte, wurde sie immer wütender. Das Maß war voll.

Seit Monaten verschwanden aus dem Kühlschrank in der Küche und der Kühlkammer nebenan Vorräte, wobei die dreisten Diebe nicht einmal vor einem für den nächsten Tag vorbereiteten Vanillepudding mit kandierten Walnüssen zurückschreckten. Sie nahmen einfach alles mit, klauten Biskuitrollen mit handgerührter Erdbeercreme, geeiste Kokosriegel an Kiwimus, selbst gemachtes köstliches Stracciatellaeis – ja, sogar Helgas geheimer Privatvorrat an Keksen und Schokolade wurde regelmäßig dezimiert, obwohl sie sich ständig neue Orte ausdachte, an denen sie ihre Schätze deponierte. Einmal hatten die Diebe wie zum Hohn die leere Verpackung einer großen Tafel Milka-Schokolade in einem solchen Versteck zurückgelassen und Helga damit an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht.

Heute krieg ich euch, ihr Bazis, dachte sie zornig und erschrak trotzdem, als sich endlich leise Schritte näherten. Die Tür öffnete sich sehr langsam mit einem unmerklichen Quietschen.

Helga hielt unwillkürlich die Luft an, als auch schon ein dürrer Schatten an ihr vorbeischlich. Sie drückte sich noch tiefer in die Nische, die Pfanne fest umklammert.

Die Gestalt schlüpfte in die Kühlkammer. Man hörte ein Klirren und Scheppern, dann kehrte sie wieder zurück. Deutlich konnte Helga erkennen, dass sie eine Auflaufform in den Händen hielt.

»Stehen bleiben!«, rief sie und betätigte den Lichtschalter.

Der Dieb erstarrte mitten in der Bewegung.

»Schau an, schau an.« Grimmig musterte sie den Eindringling. »Sie sind des also, der mir seit Monaten mein Essen klaut.«

Hans-Joachim Münnemann, Universitätsdozent im Ruhestand, ein dünner Mann Mitte siebzig mit schulterlangem schneeweißem Haar, der aussah wie ein Ex-Mitglied der Kommune 1, strahlte sie durch eine runde Nickelbrille aus rot geränderten Augen an. Die Auflaufform hielt er weiter fest umklammert.

»Hallo.« Mit verwirrtem Gesichtsausdruck erkannte er die Pfanne in ihrer Hand. »Es gibt schon Frühstück? Wow. Wie lange war ich denn da drin?« Er drehte sich in Zeitlupe zur Kühlkammer und schien nicht zu begreifen.

»Ham Sie einen Schlaganfall?« Hastig stellte Helga die Pfanne ab, um die Auflaufform mit der kostbaren Nachspeise auffangen zu können, falls der dürre Mann, der kaum merklich schwankte, umfallen sollte.

»Keine Panik. Alles gut.« Ein breites Grinsen überzog sein Gesicht. »Wie sind Sie denn drauf? Sie sind ja vielleicht verkniffen. Ich habe mir nur einen Nachtisch geholt.«

»Essen gibt’s von achtzehn Uhr dreißig bis zwanzig Uhr«, fauchte Helga. »Und wenn ich mich recht erinnere, ham Sie zweimal Dessert gehabt gestern Abend. Das da drin …«, sie deutete auf die Form, die Münnemann offensichtlich nicht loszulassen gedachte, »… hab ich für morgen vorbereitet. Her damit.«

»Aber ich hab jetzt Hunger, nicht morgen«, jammerte Münnemann und platzierte die Form im Schneckentempo neben der Edelstahlspüle. »Wahnsinn, wie egoistisch Sie sind. Was ist das? Kokoscreme? Mousse? Haben Sie wenigstens noch irgendwo Schokolade? Eigentum verpflichtet.«

Helga lachte bissig. »Meine Schokolade ist an einem sicheren Platz, die finden Sie nie. Sind Sie net vor ein paar Tagen mit einer Tüte vom EDEKA an mir vorbeigegangen? Warum kaufen Sie sich net selber was Süßes?«

»Tja.« Münnemann hob die Schultern. »Ich hatte sieben Packungen Oreo-Kekse. Aber die sind weg. Alle aufgegessen.«

»Und dann rumjammern, wenn man Diabetes kriegt«, sagte Helga bissig. »Typisch.«

»Tiramisu vielleicht?« Münnemann zeigte auf die Auflaufform. »Verraten Sie es mir?«

»Tirami… was?« Misstrauisch kniff Helga die Augen zusammen. »Sind Sie betrunken? Sie waren doch gar net im Festzelt.«

»Steh da nicht so drauf.« Er schüttelte den Kopf. »Besoffene Proleten, die sich an reaktionärem Liedgut berauschen. Dafür war ich 69 nicht auf der Straße. Na gut, gehe ich jetzt eben mit leerem Magen ins Bett. Ihre Schuld.«

»Sie geben also zu, dass Sie mir seit Monaten den Nachtisch aus der Kühlkammer klauen?«, versuchte Helga es noch mal. Diese Unterhaltung ähnelte dem Versuch, in der Badewanne ein glitschiges Stück Seife zu fangen.

Er warf ihr einen verschmitzten Blick zu. »Das ist eine hypothetische Annahme von Ihnen, die Sie keinesfalls mit validen Beweisen unterlegen können, nicht wahr? Nun ja, ich gehe jetzt. Gute Nacht.« Er schickte sich an, den Raum zu verlassen.

»Von wegen.« Helga stellte sich ihm in den Weg. »Mir klären des jetzt.«

»Jetzt kommen Sie doch bitte mal runter«, riet ihr Münnemann in vertraulichem Ton. »Heute schon gelebt?«

»Ich bin ein anständiger Mensch und mach so was nach Feierabend«, erklärte ihm Helga bissig. »Warum grinsen Sie eigentlich so blöd?« Ihr kam ein Verdacht.

Münnemann gähnte ausgiebig, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Er hatte tadellose Zähne. »Mann, Mann, Mann, Sie sind ja kein bisschen Zen.«

Helga dämmerte allmählich, dass diese Debatte an Sinnlosigkeit nicht zu überbieten war. »Wissen S’ was? Sie gehen jetzt in Ihre Suite. Und mir reden morgen drüber.«

»Suite«, wiederholte Münnemann gedankenverloren. »Suiiiite. Ein Wahnsinnswort. Wie ein Geigenstrich. Haben Sie da schon mal drüber nachgedacht?«

»Ich bring Sie hin.« Kurz entschlossen packte Helga ihn am Arm und schob ihn auf den Flur. »Zweihundertsiebzehn, gell?«

Münnemann gähnte erneut. »Legen Sie mich einfach irgendwohin. Ich kann überall schlafen.«

»Jesus, Maria und Josef«, schnaubte Helga und zog ihn hinter sich her, bis sie in der langen Diele des ehemaligen Kuhstalls ankamen, der mittlerweile zu einem zweckmäßigen flachen Gebäude umgebaut worden war.

»Da ist es ja schon. Rein mit Ihnen.« Sie öffnete die Tür. Zwei verdatterte Gesichter starrten sie an.

»Was riecht denn da so komisch?« Helga hob ihre Nase in die süßlich riechende Nebelwolke, die ihr entgegenwaberte, und verzog das Gesicht. »Eine Opiumhöhle!«

4

»Ist Sissi noch nicht da?« Klaus fläzte sich in seinen Bürostuhl und nahm einen Schluck von seinem Kaffee.

Hans Dollinger, IT-Experte, Recherche-Spezialist und Gemütsmensch, ein grauhaariger Mittfünfziger mit leidendem Gesichtsausdruck, schüttelte den Kopf. »Schon was rausbekommen? Wie ist es denn so gelaufen im Festzelt, Karate Kid?«

»War ja klar.« Klaus zog eine Grimasse. »So was spricht sich schnell herum. Aber die neunundneunzig Prozent Festnahmen, bei denen gar nichts passiert, natürlich nicht.«

Dollinger kicherte. »Gibst doch alleweil damit an, dass du Klimbim gelernt hast. Dann darfst es einmal anwenden und machst es net.«

»Taekwondo heißt das«, korrigierte Klaus ihn gekränkt. »Du warst ja auch mal schlank und wendest es nicht mehr an. Nicht nett, was ihr da jetzt schon wieder mit mir abzieht.«

»Was denn?«, wollte Dollinger unschuldig wissen.

»Als ob das nicht von dir käme«, warf Klaus ihm vor. »Ich laufe an der Pforte vorbei, und die Kollegen benehmen sich mit einem Mal wie Statisten in einem Bruce-Lee-Film, machen Karate-Bewegungen, stoßen Kampfschreie aus und lachen. Nicht witzig.«

»Mir ham nur gehört, dass du gestern Nacht in einem James-Bond-Outfit losgezogen und in einen Gockel gefallen bist.« Dollinger kicherte. »Also, habts ihr schon was in Erfahrung gebracht?«

»Natürlich nicht«, verneinte Klaus mit verdrossener Miene. »Versuch du doch mal, in einem Pulk von angeheiterten Menschen effizient zu ermitteln. Wir haben später noch die Bedienungen befragt, allerdings hatten die den ganzen Abend über keine Zeit, um sich um die Fluktuation der Besucher zu kümmern. Und die Personen im unmittelbaren Umkreis von Patrick Brandstetter haben alle Stein und Bein geschworen, dass dieser sich mindestens eine Stunde lang nicht von seinem Platz bewegt hat.«

»Und als er sich bewegt hat, war’s auch wieder net recht.« Dollinger lachte.

»Pah.« Klaus winkte ab. »Der hatte keine Chance gegen mich.«

»Für einen Fettfleck auf deinem guten Zwirn hat’s gelangt. Du bist jedenfalls schon berühmt.«

»Ich bin was?«, entfuhr es Klaus.

»Im Internet.« Dollinger lugte hinter seinem Bildschirm hervor. »Ein paar Leute ham mitgefilmt. Ist schon auf Instagram und Facebook. Hashtag ›fightclubAllgäu‹. Dein Anzug sieht gut aus. Du weniger.«

»Lass sehen.« Klaus eilte hinter Dollingers Schreibtisch. »Verdammt. Ich hatte tatsächlich vergessen, dass heutzutage jeder filmt. Das wird dem Boss nicht gefallen.«

»Schau, einer hat das Video sogar bearbeitet. Ein echtes Kunstwerk.« Dollinger klickte auf »Play«.

Zu der Musik von »Kung Fu Fighting« sah man, wie Klaus in Zeitlupe an Brandstetters Arm hängend auf dem Teller mit den Gockelresten landete und dieser sich auf ihn stürzte.

»Sorg dafür, dass das wieder verschwindet«, verlangte Klaus stinksauer. »Und zwar schnell.«

»Es braucht leider seine Zeit«, bedauerte Dollinger verschmitzt. »Ich hab schon jemanden drauf angesetzt. Meine runtergeladene Kopie behalt ich natürlich. Ausschließlich im Rahmen der Ermittlungen.«

»Wenn du meinst.« Klaus zuckte mit den Achseln. »Ich habe ja auch ein Video von dir, wie du einen riesigen Pizzakarton öffnest und die Calzone mit der Schere zerteilst. Deine Frau wird sich freuen. Sie ist doch so um deine Ernährung besorgt.«

»Niemand mag Verräter«, belehrte ihn Dollinger beleidigt.

»Damit kann ich leben.« Klaus zwinkerte vielsagend. »Ich verlasse mich darauf, dass diese Clips innerhalb kürzester Zeit von den Betreibern der Plattformen gelöscht werden.«

»Geht klar«, beschwichtigte ihn Dollinger. »Hier, ich hab was für euch.« Er kramte in dem Papierberg auf seinem Schreibtisch.

»Warum druckst du eigentlich den ganzen Krempel trotz Digitalisierung aus?«, fragte Klaus.

»Ich bin halt alte Schule. Das hier«, Dollinger wedelte mit einem Blatt Papier, »löscht keiner, weder versehentlich noch mit Absicht. Widersteht jedem Cyberangriff.«

»Apropos Angriff.« Klaus schmunzelte. »Ich habe gestern Anita Hoff getroffen. Du hättest mal ihr Kleid sehen sollen.«

»Kann’s mir vorstellen«, grinste Dollinger. »Die Frau hat was.«

»Ziemlich viel davon sogar. Und sie teilt es gerne.« Klaus lächelte säuerlich. »Also, was ist mit diesem Brandstetter?«

»Die Blutspuren auf seinem Hemd stammen von ihm selber.« Dollinger reichte ihm einen Ausdruck. »Der Laborbericht. Hat vermutlich eins auf die Nase bekommen. Der Kollege Hoffmann hat ihn heut Morgen verhört. Brandstetter ist mittlerweile halbwegs ausgenüchtert und schwört, dass Julian Weidner ihm eine Blondine namens Katja ausspannen wollte, mit der er unterwegs war. Deswegen ham sich die zwei geprügelt. Aber er ist ihm nicht aus dem Zelt gefolgt, beteuert er. Passt zu den Zeugenaussagen und der Tatsache, dass seine Fingerabdrücke nicht auf dem Maßkrug sind. Heute Vormittag um elf Uhr ist Haftprüfung. Er wird garantiert auf freien Fuß gesetzt. Wiederholungsgefahr besteht keine, Fluchtgefahr auch net, weil er arbeiten muss auf dem Hof. Und Verdunkelungsgefahr … na ja, die Verdunkelung hat der sich schon selber zugefügt. Julian Weidner muss mindestens genauso betrunken gewesen sein wie er. Alkohol und viel Testosteron sind eine ungute Mischung.«

»Es war garantiert nicht nur Alkohol bei Weidner«, widersprach Klaus. »Der Typ hatte Kokain dabei. Bier plus Koks plus Allgäuer Brauchtum ergibt eben so was.«

»Mach nur so weiter«, drohte ihm Dollinger scherzhaft. »Dann geben wir dir dein Brauchtum. Unsere Kampfsportarten kennst du ja jetzt. Schade, ich wär auch gern im Festzelt gewesen.«

»Du kannst doch immer noch hingehen«, eröffnete ihm Klaus. »Die machen laut Sissi noch bis Sonntagabend Bumsfallera.«

»Keine Chance.« Dollinger seufzte tief. »Meine Holde und der alte Drachen mögen des net.«

Das ganze Revier wusste, dass Dollinger sich – euphemistisch ausgedrückt – etwas gegängelt fühlte, seitdem seine verehrte Schwiegermutter in dem adretten kleinen Haus am Rand von Memmingen eingezogen war. Die beiden Damen bildeten eine geschlossene Front gegen ihn, erlegten ihm alle naselang neue Diäten auf und überzogen ihn mit Vorschriften, gegen die die deutsche Kleingartenverordnung wie ein auf einen Bierdeckel geschmierter Steuerentwurf wirkte. Apropos Bierdeckel: Auch das edle Hopfengebräu war im Hause Dollinger nicht gern gesehen, höchstens alkoholfrei, ersatzweise möglich war bestenfalls Karamalz. Genauso wie Kartenspielen, Zigarren, Fußball oder andere Dinge, die angeblich der Erbauung dienten, würde ihn auch das Bier ins frühe Grab bringen, behauptete seine Frau und verbot ihm deswegen sicherheitshalber gleich alles.

Dollinger liebte seine Arbeit einschließlich der Überstunden, bot diese ihm doch eine willkommene Gelegenheit, seinem Zuhause und den dort vorherrschenden Regeln zu entfliehen und ein wenig über die Stränge zu schlagen.

»Wo bleibt sie bloß? Die Besprechung mit dem Boss geht gleich los.« Dollinger klopfte mit dem Fingerknöchel nervös auf seine Schreibtischunterlage.

In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Sissi trat ein. Sie schleppte eine riesige Plastiktasche, die sie ächzend auf den Schreibtisch wuchtete. Man sah ihr nicht an, dass sie – genau wie Klaus – letzte Nacht kaum geschlafen hatte. Fröhlich ringelten sich ihre dunkelbraunen Locken auf den Schultern. In ihrem maisgelben Shirt und der schwarzen Jeans wirkte sie frisch wie der junge Morgen.

»Hier, meine Lieben.« Sie griff in die Tasche und holte zwei riesige Brotlaibe heraus, die sie Dollinger und Klaus auf den Schreibtisch knallte. »Gern geschehen.«