Sissi Sommer und der Mord beim Alpenglühen - Barbara Edelmann - E-Book

Sissi Sommer und der Mord beim Alpenglühen E-Book

Barbara Edelmann

5,0

Beschreibung

Eifersucht, Habgier und eine Gelegenheit – mehr braucht es nicht für einen guten Mord. Ganz Legau amüsiert sich bei einem Krimidinner, als von der Straße ein Schrei ertönt: Christian, Verlobter der hübschen Biobäuerin Katharina, liegt tot auf den Stufen der Bankfiliale – mit einem Pfeil in der Brust. Der einzige Zeuge schwört Stein und Bein, ein Ritter habe ihn ermordet. Eine harte Nuss für Sissi Sommer und Klaus Vollmer vom Memminger K1. Zumal ihnen eine rüstige Witwe, ein anhänglicher Reporter und Lukas, begeisterter Schwertkämpfer und enttäuschter Ex von Katharina, das Leben schwer machen.

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Barbara Edelmann ist in Mindelheim geboren und aufgewachsen. Seit Jahrzehnten lebt sie glücklich und zufrieden im Allgäu und möchte nirgendwo anders sein. Ihre Erfahrungen und Beobachtungen verarbeitet sie in ihren Allgäu Krimis.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: raperonzolo/photocase.de

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept

von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Uta Rupprecht

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-800-9

Allgäu Krimi

Originalausgabe

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Dieses Buch widme ich meiner Mutter Isolde Kostner, die mich die Liebe zu Büchern gelehrt hat. Danke, Mama.

Donnerstagabend, Legau

Sissi Sommer, die hübsche Kommissarin des K1 in Memmingen, sah sich in dem bis zum Bersten gefüllten Festsaal des »Mohren« um. Die Wirtin Ernestine Seitz hatte sich mit dem Schmücken des Saales Mühe gegeben. An den Wänden hingen kunstvoll geflochtene Girlanden in Weiß und Blau, und vor jedem Platz lag ein mit der bayerischen Raute bedrucktes Tischset inklusive passender Serviette, dazu ein länglicher Handzettel mit dem Aufdruck: »Mord beim Alpenglühen – ein unvergessliches Erlebnis mit dem Semmelknödel-Ensemble«.

Zögerlich ging Sissi zu einem Tisch in der Mitte des großen Raumes, wo ihr Mann Peter bereits Platz genommen hatte, und ließ sich neben ihm nieder. Nur noch die beiden Stühle genau gegenüber und einer auf ihrer Seite waren leer. Am Kopfende saßen ein Mann und eine Frau, die sie in Legau noch nie gesehen hatte, darum nickte sie ihnen freundlich zu.

Sissi griff nach dem Flyer vor sich. Griaß Gott! Genießen Sie den Nervenkitzel bei unserer neuartigen interaktiven Krimikomödie. Schauen Sie sich Ihren Sitznachbarn genau an – jeder kann der Mörder sein!, stand da in blutroten Lettern.

»Siehst du, Peter, wir sind doch gar nicht so spät dran«, wandte sie sich an ihren Ehemann und deutete auf die leeren Plätze. »Klaus fehlt auch noch.«

»Der sitzt heute neben mir.« Er zeigte auf den einzelnen leeren Stuhl. »Ich brauche euch beide nämlich als Berater.«

»Warum hast du eigentlich so gedrängelt?«

»Weil ich so aufgeregt bin«, erklärte Peter.

Um sie herum herrschte ausgelassene Stimmung an diesem herrlichen Sommerabend Ende Juli. Trotz der zum Rathaus hin weit geöffneten Fenster war die Luft im Saal schwül und zum Schneiden dick. Frau Walter, die leidgeprüfte Mutter der zu Sissis Erleichterung nicht anwesenden Anita Hoff, fächelte sich mit einer Serviette Luft zu. Neben ihr bestellte sich ihr missmutiger Ehemann bereits das dritte Bier.

Alles, was in Legau Rang und Namen hatte, war heute erschienen, denn keiner wollte sich die Gelegenheit entgehen lassen, alte Bekannte zu treffen, etwas Leckeres zu essen und dem Alltagstrott für ein paar Stunden zu entrinnen.

Sissi schnupperte, von unten aus der Küche drangen verführerische Essensgerüche durch die offen stehende Saaltür, die sich mit der im Saal vorherrschenden Melange aus Parfums jeder Preislage vermischte.

»Ich bin viel zu leicht zu überreden.« Sie warf Peter ein Luftküsschen zu. »Das tue ich wirklich nur, weil du normalerweise der beste Ehemann der Welt bist.«

»Schatz, das wird toll, versprochen«, beteuerte er. »Und du bist wunderschön heute. Solltest viel öfter mal so was tragen.« Er zeigte auf ihr rotes Sommerkleid, in dem sie mit den dunklen Locken, die sich um ihre nackten Schultern ringelten, und einem Hauch von Make-up wirklich entzückend aussah. »Ich krieg dich ja sonst nur in Jeans auf dem Weg zum Dienst zu sehen oder im Pyjama, wenn du spät in der Nacht zu mir ins Bett kriechst. Aber heute bist du die Schönste im ganzen Saal.«

»Du Charmeur.« Sissi lächelte. »Ich wäre lieber mit dir zum Essen gegangen. Das hast du mir schon ewig versprochen.«

»Essen gibt’s hier auch«, erinnerte Peter sie. »Drei Gänge. Steht alles im Flyer, und ich hab’s dir außerdem gesagt.« Seine Augen leuchteten wie die eines Fünfjährigen an Heiligabend, denn er hatte diesem Ereignis seit Wochen entgegengefiebert.

Sissi seufzte. Seit einiger Zeit galt Peters geballte Aufmerksamkeit ausschließlich Biografien von Serienmördern und deren Untaten. Er kaufte Unmengen einschlägiger Literatur, saß stundenlang vor dem Fernseher, um sich Video-Dokumentationen anzusehen, und vertiefte sich in Bücher von Gerichtspsychiatern, als wollte er sich demnächst beim FBI als Profiler bewerben.

Damit brachte er die arme Sissi beinahe zur Weißglut, vor allem, weil er sie inzwischen sogar mit ungebetenen Tipps für ihre Tätigkeit bei der Mordkommission versorgte, die er dem täglich höher werdenden Stapel an Sachliteratur auf seinem Nachttisch entnahm.

»Wann gibt es denn das versprochene Essen?«, fragte Sissi, denn ihr Magen knurrte laut und vernehmlich, aber Peter winkte gerade Korbinian, dem Metzgermeister, zu, der ihn vom Nachbartisch gegrüßt hatte. »Seit du so viel im Internet surfst, hast du die Aufmerksamkeitsspanne einer Stubenfliege«, beschwerte sie sich lautstark. »Hast du meine Frage gehört?«

»Ich war noch nie so konzentriert wie jetzt«, widersprach Peter. »Essen gibt’s bald. Und ich dachte, du hast an so einem Krimirätsel bestimmt auch einen Heidenspaß.«

»Weil ich ja täglich lachend und tanzend von meiner Arbeit vom Morddezernat nach Hause komme! Na ja, vielleicht wird es ja doch ganz nett.«

»Mit deiner Hilfe löse ich den Fall, und wir gewinnen den ersten Preis, einen bayerischen Fresskorb«, verkündete Peter aufgeregt.

»Dann drücke ich dir die Daumen. Leberkäse, Senf und Altbier können wir uns ja normalerweise nie leisten.« Sie lachte.

»Wow, hier ist ja wirklich was los heute! Hallo, ihr beiden.«

Soeben war Klaus hereingekommen. Er setzte sich freundlich nickend zwischen Peter und die fremde Frau.

Diese musterte ihn interessiert. Klaus sah einfach zu gut aus mit seinem dunklen, ständig etwas verwuschelt wirkenden Haarschopf, dem markant geschnittenen Gesicht und dem energischen Kinn mit dem Dreitagebart. Er begrüßte seine Sitznachbarin höflich und rückte seinen Stuhl zurecht.

»Hallo, Kollege«, empfing ihn Sissi freudig. »Für dich dürfte dieser Abend Wasser auf deine Mühlen sein. Da kannst du wieder kräftig über das Allgäu ablästern.«

»Ach, ich finde Bauerntheater ganz witzig«, meinte Klaus verschmitzt und erntete dafür von der Fremden einen bösen Blick, den er mit seinem charmantesten Lächeln quittierte.

»Ach, schau mal an, die High Society.« Eben hatte Sissi Jürgen Reichelt, den reichsten Bauunternehmer am Ort, an einem etwas weiter entfernten Tisch entdeckt. Er unterhielt sich angeregt mit drei attraktiven Damen in den Vierzigern, die förmlich an seinen Lippen hingen. Er grüßte kurz und führte seine Unterhaltung fort, wirkte aber irgendwie ertappt.

»Wahrscheinlich liegt das an meinem Job, aber mich würde sehr interessieren, was an diesem Tisch so Wichtiges besprochen wird.« Sissi konnte die Augen nicht von Reichelt lösen, der sich gerade zu einer der drei Frauen beugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte.

Klaus sah ebenfalls hinüber. »Interessante Mischung. Die zwei Blondinen kann man nicht auseinanderhalten, sie sehen aus, als hätte man sie geklont. Gehört die üppige Brünette auch dazu?«

»Das ist Diana«, sagte Sissi. »Ich mag sie gern, sie ist pragmatisch, liebenswert und gescheit. Vor allem nimmt sie nie ein Blatt vor den Mund. Du würdest sie mögen. Keine Ahnung, warum sie so versessen darauf ist, zu diesen ›Golden Girls‹ zu gehören.«

Klaus musterte Reichelt, der sich nach wie vor aufmerksam mit einer der Blondinen unterhielt. »Also ›Drei Engel für Reichelt‹.« Er grinste. »Man sollte doch meinen, er hätte erst mal genug von Frauen nach seiner Ehe mit dieser Gerlinde. So hieß sie doch?«

»Richtig. Jürgens Ex-Frau werden wir alle wohl so schnell nicht vergessen. – Aber hast du gesehen, Klaus?« Unauffällig deutete Sissi auf einen kleinen Tisch neben dem Eingang, von wo aus ein gedrungener, vierschrötiger Mensch sie mit funkelnden Schweinsäuglein musterte. Als er ihren Blick bemerkte, verzog er schnell das Gesicht zu einer Grimasse, die wohl erfreut wirken sollte. Es sah aber aus, als litte er unter Bauchschmerzen.

»Robert Steinmeier.« Sie runzelte die Stirn. »Den brauche ich heute so dringend wie einen Fersensporn. Was macht der denn hier?«

Robert Steinmeier, rasender Reporter des »Tagblatt« in Memmingen und mürrischer Zyniker und Opportunist aus Leidenschaft, war, weil das Schicksal gelegentlich einen merkwürdigen Humor hat, nach seinem jüngsten Fehltritt auf dem Moserhof von seinem Chefredakteur ins Feuilleton versetzt und zum Besuch dieses Theaterstücks verdonnert worden. Steinmeier hielt das offensichtlich für eine sadistische Strafe, denn es bedeutete Orgel-Weihen in winzigen Dorfkirchen, Chorkonzerte in hastig freigeräumten Gemeindesälen und Schüleraufführungen in zugigen Turnhallen. Am schlimmsten war wohl, dass er dabei mit fröhlichen, gut gelaunten Menschen in Kontakt kam, und das wollte er nicht riskieren, denn er war ein begeisterter Misanthrop. Steinmeier mochte niemanden, nicht einmal sich selbst, und war hundert Prozent des Tages unausstehlich, sogar im Schlaf.

Sissi und Klaus kannten ihn gut, denn als Reporter schnüffelte er den beiden Ermittlern des K1 unablässig hinterher. Zu ihrem Leidwesen war er so hartnäckig wie Kaugummi an einer Schuhsohle, hinterfotzig wie Lucrezia Borgia, besaß ein Ego so groß wie der Watzmann und war nicht wählerisch in der Wahl seiner Mittel. Offenbar hatte er vor, den heutigen Abend mit Hilfe von ein paar gut eingeschenkten König Ludwig Dunkel zu überstehen, und vermutlich tröstete ihn auch die Aussicht auf das erstklassige Abendessen, das zum Krimidinner dazugehörte. Immerhin war Ernestine, die Wirtin, für ihre gutbürgerliche Küche bis über die Grenzen des Landkreises hinaus berühmt.

Klaus grinste. »Wo wir sind, will auch er sein. Das hat schon was von einer Ehe.«

In diesem Moment erhob sich Steinmeier und tappte etwas unsicher auf ihren Tisch zu.

»Mir bleibt wohl nichts erspart«, wisperte Sissi grimmig.

»Ja, Frau Sommer, Sie sind heute ja ein richtiger Hingucker!«, schleimte Steinmeier mit feuerrotem Kopf. Sein froschgrünes Poloshirt war bereits jetzt unter den Achseln durchgeschwitzt.

»Ich hoffe, Sie sind nicht wegen mir so errötet?«, erkundigte sich Sissi scheinheilig. »Sie machen jetzt auf Kultur? Wir werden es vermissen, dass Sie uns bei der Kripo ins Handwerk pfuschen.«

»Ach, Sie ham ja keine Ahnung, wie grausam des Leben ist.« Steinmeier zog ein riesiges, nicht mehr ganz weißes Stofftaschentuch aus seiner Gesäßtasche und wischte sich über die Stirn. »Aber man muss nehmen, was man kriegt.«

»Tja, Augen auf bei der Berufswahl.« Klaus zwinkerte ihm zu. »Aber Sie als legendärer Theaterkritiker schaffen das schon. Setzen Sie einfach ein Fragezeichen hinter Ihre Artikelüberschrift, wie Sie das sonst auch immer tun.«

»Sie – Sie schulden mir noch ein Handy.« Jetzt ließ Steinmeier jede Freundlichkeit fahren, denn wegen Klaus war er bei seiner letzten Schnüffelei im Pool gelandet. »Ich hab mir ein neues kaufen müssen. Das war teuer.«

»Meine Herren, bitte, wir sind heute zur Unterhaltung hier«, schaltete sich Sissi ein, die dem Wortwechsel amüsiert gefolgt war.

»Wollt nur Grüß Gott sagen. Einen schönen Abend wünsch ich Ihnen, Frau Sommer. Aber bloß Ihnen.« Steinmeier drehte sich auf dem Absatz um und stapfte wütend wieder an seinen Tisch.

»Ich glaube, wir waren zu hart zu ihm«, murmelte Sissi, aber Klaus lachte nur.

»Dem wünsche ich so viele Blasmusikkonzerte, dass ihm die Ohren platzen. Endlich sind wir ihn los.«

»Er hat hoffentlich keine Chance, den Mörder rauszufinden«, sagte Peter, der ihrer Unterhaltung gefolgt war. »Den ersten Preis hole nämlich ich. Äh, wir.«

»Ohnehin merkwürdig, dass man an einem solchen Abend was gewinnen kann«, sagte Sissi. »Aber teuer genug waren die Eintrittskarten ja.«

»Entschuldigung, aber ich habe unbeabsichtigt mitgehört. Sie arbeiten bei der Polizei?«, mischte sich plötzlich der männliche Part des fremden Paares vom Tischende in die Unterhaltung ein, ein kräftiger Mann Anfang fünfzig mit dichtem weißem Vollbart und einer auffallend roten Nase mit unzähligen geplatzten Äderchen. Er trug eine krachlederne Trachtenhose mit Hosenträgern über einem rot karierten Hemd und einen grauen Hut mit künstlichem Gamsbart.

»Respekt, ich wusste gar nicht, wie viele Hirschhornknöpfe man an eine einzige Hose nähen kann«, bemerkte Sissi belustigt. »Kennen wir uns?«

»Bald, da bin ich mir sicher.« Der Mann lächelte gewinnend. »Ich bin der Schädler Schorsch vom Schädlerhof. Und heute Abend hier mit meiner geliebten Frau Resi.« Er zeigte auf die finster dreinguckende Mittvierzigerin neben sich, die in einem recht engen schwarzen Polyesterdirndl steckte und den Eindruck machte, als wollte sie sich am liebsten umgehend aus dem Fenster stürzen.

»Schädler? Schorsch? Ihr Ernst?«, wiederholte Klaus, der sich das Lachen verkneifen musste. Der Mann im Trachtenoutfit nickte eingeschnappt.

»Über diese Auftritte in der Provinz reden wir zwei noch mal«, zischte »Resi« stinksauer ihrem Schorsch zu. »Ich habe in München Schauspiel studiert, und jetzt sitze ich dank dir jeden Abend in einer anderen Kaschemme.«

»Die Resi ist heute nicht so gut drauf«, erzählte Schorsch den Ermittlern sowie Peter, der die zwei fasziniert anstarrte. »Weil der Sepp, unser Schwiegersohn, heute auch mitgekommen ist, mit meiner Tochter Zenzi. Schauen Sie, da drüben sitzen sie. Neben dem großen, lauten Herrn mit seinen schönen Begleiterinnen.« Er zeigte auf den Nachbartisch, wo Jürgen Reichelt gerade einen Witz gemacht haben musste, denn die Damen kicherten schrill.

»Sepp und Resi. Okay.« Sissi folgte Schorschs Zeigefinger. Am Ende von Reichelts Tisch gähnte gerade eine bildhübsche Rothaarige mit expressionistisch anmutender Hochsteckfrisur gelangweilt hinter vorgehaltener Hand und machte den Eindruck, als würde sie demnächst einschlafen. Sie steckte in einem wie aufgemalt wirkenden rosaroten Dirndl mit neongrüner Schürze, das glänzte, als wäre es elektrisch beleuchtet. Ihr Dekolleté reichte beinahe bis zum Nabel, weswegen sogar Reichelt gelegentlich einen Blick riskierte, wenn die um ihn versammelte Damenclique nicht hinsah. Korbinian Altmeier, der Metzgermeister, war wegen dieses gefährlichen Abgrunds bereits von seiner Frau auf einen anderen Stuhl abkommandiert worden, mit Sicht auf die rautengeschmückte Saalwand. Neben der hübschen Rothaarigen hockte ein düster wirkender Mittdreißiger im Karohemd, der seinen grauen Filzhut tief in die Stirn geschoben hatte.

»Gute Güte«, flüsterte Klaus. »Dieser Schwiegersohn Sepp sieht aus, als ob er gleich loszieht, um zuerst den Alm-Öhi und dann Heidi und Fräulein Rottenmeier abzuknallen. Wo nehmen sie diese Visagen nur her?«

Sissi stupste ihn in die Seite, musste aber gegen ihren Willen kichern.

»Ihre Tochter und Ihr Schwiegersohn sind das also, Herr Schädler. Gut zu wissen«, sagte Peter nervös. »Aber wo ist der böse Nachbar, der Sie hasst? Sitzt der auch hier im Saal?« Er schaute sich suchend um.

»Das werden Sie schon noch herausfinden.« Der Bärtige grinste. »Spätestens beim Hauptgang.«

»Da haben Sie aber tief in die Klischeekiste gegriffen«, wandte sich Klaus an den ominösen Schorsch. »Sind Sie denn überhaupt Bayer? Ich glaube, Sie sprechen Hochdeutsch mit einem winzigen Allgäuer Einschlag.«

Schorsch wand sich ob dieser Frage wie ein Aal, während seine Frau Resi ihn schadenfroh beobachtete. »Nicht so ganz«, nuschelte er etwas verlegen. »Doch wir lieben das Allgäu, nicht wahr, Resi?« Aber Resi hatte momentan von ihm die Nase voll und schwieg verstockt.

»Ich hätte es mir denken können.« Sissi sah auf die beiden leeren Stühle ihr gegenüber und dann auf die dürre Gestalt, die soeben an ihren Tisch getreten war. »Guten Abend, Frau Dobler.«

»Dass du dir so was net entgehen lässt, hätt ich mir denken können. Grüß dich, Sissi.« Erna Dobler, knackige fünfundsiebzig Jahre alt und aufgrund ihres schamlosen Mundwerks eine lokale Größe, verwitwet seit einer alkoholbedingten Kollision ihres Gatten mit einem Mähdrescher und in ihrer Funktion als Brieftaube des Ortes auf eine krude Art und Weise unentbehrlich, stand vor Sissi wie ein ausgemergelter Racheengel und musterte sie mit neugierigen Vogelaugen.

Dann zeigte sie grinsend zwei Reihen perfekt modellierter Zähne. »Nett siehst aus, wenn d’ ausnahmsweise mal ein Kleid anhast. Was macht übrigens deine Diät?«

»Diät?«, wiederholte Sissi erstaunt.

Erna kicherte boshaft. »Grüß dich, Peter. Darfst heut auch mal vor die Tür? Und Sie, Herr Vollmer, schick wie jedes Mal, wenn ich Sie treff. Wo ist denn Ihre Freundin, die Annalena? Oder suchen Sie schon wieder ein neues Opfer? Gut genug ausschauen tun S’ ja.«

Klaus, der auf dem Revier von den meisten Kolleginnen angebetet wurde, weil er aussah, als hätte man Antonio Banderas mit Brad Pitt geklont, durfte sich üblicherweise der ungeteilten Aufmerksamkeit sämtlicher Frauen jedes Alters sicher sein, sogar der von Erna Dobler. Er lächelte geschmeichelt.

»Ihnen schmeckt’s aber auch gut in letzter Zeit.« Erna deutete auf seine Körpermitte, wo sich der Stoff seines Leinenhemdes ein wenig spannte. »So schlimm kann’s also bei uns net sein, wie Sie alleweil rumnörgeln.«

Damit traf sie voll ins Schwarze. Vor Jahren hatte Klaus sich der Liebe wegen von Berlin nach Memmingen versetzen lassen und jammerte seitdem über die unwirtliche und raubeinige Diaspora, in der er gelandet war. Was er schamhaft verschwieg, war die Tatsache, dass er großen Gefallen an Leberkäs, Maultaschen und anderen vorwiegend butter- und sahnehaltigen Allgäuer Spezialitäten gefunden hatte und dass es ihm hier eigentlich ganz gut gefiel.

»Annalena besucht heute einen Russischkurs in Memmingen, Frau Dobler. Und ich habe einen BMI von einundzwanzig«, beantwortete Klaus ungerührt Ernas Frage. Nach einigen Jahren der Zusammenarbeit mit Sissi war er mittlerweile gegen Ernas Sticheleien grundimmunisiert.

Sie steckte ihre Nase mit Vorliebe in alles, was sie nichts anging, und liebte amerikanische Krimiserien, Dorfklatsch und Melissengeist. Letzteren schluckte sie gegen alles: Verdauungsbeschwerden, Kopfweh, Schlaflosigkeit oder Rechnungen. Klaus behauptete, dass sie nachts auf einem Hexenbesen übers Dorf flog, aber das konnte er nicht beweisen.

»Was macht Ihr Spirituosenhandel?«, wollte Sissi wissen. »Verkauft sich Ihr selbst gemachter Likör noch? Und sind Sie eigentlich heute zu Fuß hier?«

Erna tat, als hätte sie nichts gehört, zog aber eine säuerliche Grimasse. Bis vor Kurzem hatte sie einen schwunghaften Handel mit einem Bewohner der luxuriösen Senioren-WG am Rande von Legau betrieben, dem sie ihren Johannisbeerlikör aus eigener Produktion teuer verkaufte. Leider war der Absatz um hundert Prozent eingebrochen, nachdem besagter Kunde eines Morgens tot aufgefunden worden war.

»Bist zum Finanzamt versetzt worden?« Erna funkelte Sissi böse an. »Soso, Russisch lernt sie, die Annalena? Wollts ihr auswandern?« Sie blinzelte Klaus neugierig zu.

»Ach nein, ich bleibe hier. Sie sind mir zu sehr ans Herz gewachsen, Frau Dobler«, versicherte er ihr hintergründig.

Überrascht blieb Erna der Mund offen stehen. Man sah deutlich, wie sie in Gedanken um eine mehr oder weniger subtile Gemeinheit rang, aber es fiel ihr ums Verrecken keine ein, darum wandte sie ihre Aufmerksamkeit jetzt wieder Sissi zu.

»Wetten, dass ich es vor dir rauskrieg, wer der Mörder ist?«, fragte sie scheinheilig. »Tu ich ja immer.«

Sissi massierte sich unauffällig die Schläfen, weil ihre bohrenden Kopfschmerzen wiederkamen.

»Migräne, mein Schatz?«, fragte Peter besorgt.

Sissi winkte ab. »Ist nur psychosomatisch. Oder das Wetter. Wäre so ein schöner Abend gewesen, um irgendwo draußen zu sitzen.« Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf die geöffneten Fenster.

»Was macht denn der Jürgen da?« Erna war endlich der Nachbartisch aufgefallen, an dem die drei hübschen Frauen an Reichelts Lippen hingen. »Die Weiber sind doch alle drei verheiratet! Was will die Diana bloß mit den spinnerten Hungerhaken? Und was ist überhaupt des für eine? Die kenn ich net!« Mit ihrem knochigen Finger zeigte sie auf die rothaarige Schauspielerin im knallbunten Dirndl neben dem finsteren Sepp, die soeben einen tiefen Schluck aus ihrem Weinglas nahm. Man sah ihr deutlich an, dass sie sich wünschte, ganz woanders zu sein. Genau wie »Resi« Schädler, Schorschs auch im richtigen Leben Angetraute, die schweigend an ihrer Cola nippte und den Tag verfluchte, an dem sie diesem Engagement zugestimmt hatte.

»Fragen Sie doch einfach die junge Frau selbst«, riet Klaus Erna mit einem Zwinkern. »So ein Dirndl in Bonbonrosa würde Ihnen bestimmt auch gut stehen. Vielleicht verrät sie Ihnen, wo sie es gekauft hat.«

»Wer im Glashaus hockt, Herr Vollmer …«, schlug Erna zurück. »Wenn Sie so weiterfressen, passen S’ nimmer lang in Ihre engen Hosen rein. Aber die drei Weibsbilder …«, sie kniff die Augen zu einem schmalen Spalt zusammen. »Die scharwenzeln um den Jürgen rum, und keine hat ihren Mann dabei. Was sind denn des für neue Sitten?«

»Annette, Susanne und Diana haben den heutigen Abend organisiert«, erklärte ihr Peter. »Ich finde ihr Engagement gut und wichtig.«

»Engagement!«, schimpfte Erna. »Jaja. Alles bloß Tarnung.«

»Man muss auch gönnen können, Frau Dobler.« Sissi lächelte. »Für diese Veranstaltung war bestimmt viel Vorbereitung nötig.«

»Warum auch net? Die ham doch Zeit. Und wie die daherkommen! Wie auf der Reeperbahn nachts um halb drei.«

»Ich fürchte, Sie haben sich in der Zeit vertan«, korrigierte Sissi sie schmunzelnd. »Es war halb eins. Fragen Sie Hans Albers.«

»Wen?« Erna schaute sich suchend um. Dann richtete sie ihr Augenmerk wieder auf den Tisch, an dem die Stacheln in ihrem Fleisch sich gerade bestens zu amüsieren schienen. Susanne Siebert, Diana Dengler und Annette Schultheiß, allesamt ansehnliche Geschöpfe Ende vierzig, waren Erna schon länger ein Dorn im Auge.

»Die Susanne und die Annette glauben auch, sie sind was Besseres«, giftete Erna. »Nach außen schöntun, aber in Wirklichkeit …«

»Hierher, Onkel Andi!« Erleichtert begrüßte Sissi ihren Onkel, der soeben den Saal betreten hatte.

»Ich bin etwas zu spät, tut mir leid.« Ächzend ließ Pfarrer Sommer sich auf den Stuhl schräg gegenüber von Sissi fallen und fuhr zusammen, als er Erna erkannte. »Frau Dobler, so eine Überraschung«, stotterte er. »Gott zum Gruß. Ist das hier wirklich mein Platz?« Verzweifelt sah er sich um, aber mittlerweile waren alle Stühle besetzt.

»Es ist deiner«, bestätigte Peter. »Aber du hast nichts versäumt. Noch an der Predigt gearbeitet?«

Sommer war der katholische Hirte von Legau und als solcher weit über die Grenzen des Landkreises Unterallgäu hinaus bekannt, vor allem für seine apokalyptisch anmutenden Predigten über Hölle, Verdammnis und Feuerregen. Anfang sechzig, von gedrungener Statur, da seine Haushälterin einfach zu gut kochte, und mit blitzenden blauen Augen unter einem silbernen Haarkranz, wurde er hinter vorgehaltener Hand von den Dorfbewohnern gerne »Don Promillo« genannt, weil er einem guten Schoppen Wein nie abgeneigt war.

»An der Predigt arbeiten?« Erna, die mit Sommer seit Jahrzehnten eine moderate Fehde pflegte, kicherte. »Der predigt doch eh jeden Sonntag desselbe. Ich kann’s schon auswendig.«

»Beschweren Sie sich am besten bei meinem Vorgesetzten.« Sommer betupfte seine gerötete Stirn mit einem blütenweißen Taschentuch. »Ist das wirklich ganz sicher mein Platz?« Suchend sah er sich noch mal um.

»Alles voll, nix zu machen«, erwiderte Peter bedauernd.

»Aber, ich wollte doch am Ausgang …« Sommer war verzweifelt, denn die Aussicht auf einen Abend an Ernas Seite war so verlockend wie eine proktoskopische Untersuchung im Memminger Klinikum.

»Ham S’ Angst?«, kicherte Erna. »Des ham mir auch jedes Mal, wenn Sie von der Kanzel zu uns runterbrüllen.«

»Wann waren Sie eigentlich das letzte Mal bei mir in der Messe?«, holte Sommer zum Gegenangriff aus. »Ich habe Sie schon länger nicht mehr in der Kirche gesehen. Oder gehört. Vor allem Letzteres.«

»Ich bin jeden Sonntag da. Aber ich setz mich jetzt halt weiter nach hinten, damit Sie mich net so giftig anstarren können.«

Sommer blieb vor Empörung der Mund offen stehen.

»Touché«, flüsterte Klaus beeindruckt.

»Wie lang dauert’s denn noch?«, ertönte plötzlich eine laute Stimme. Jürgen Reichelt winkte ungeduldig der Wirtin, die sofort herbeieilte. Trotz der Hitze trug er ein akkurat gebügeltes kurzärmeliges Leinenhemd und eine Trachtenhose, die ihm hervorragend stand. Er war auch mit Anfang sechzig noch ein fesches Mannsbild.

»Nicht mehr lang, Jürgen, bitte reg dich net auf«, versuchte ihn Susanne Siebert zu beruhigen und schaute nervös auf ihre diamantenbesetzte Uhr.

»Des sind Künstler, Jürgen«, verteidigte Annette die Schauspieler. Trotz des in unglaublichen Mengen aufgetragenen Concealers war es ihr nicht gelungen, ihre Augenringe vollständig abzudecken. »Die ham ihren eigenen Rhythmus.«

»Wenn d’ meinst.« Reichelt zwinkerte ihr zu. »Ich werd net jünger, weißt.«

»Mir alle net«, kicherte Diana, die sich in ihrem feuerroten engen Kleid etwas unwohl fühlte. Und dabei hatten ihr Susanne und Annette in der Boutique auf Palma de Mallorca geschworen, sie würde darin aussehen wie Penélope Cruz. Mindestens. Dianas Mann hatte sich höflich der Stimme enthalten, denn er liebte seine Frau von Herzen. Außerdem widersprach er ihr nie, sondern wartete, bis sie es selbst tat.

»Schön, dass du überhaupt gekommen bist, Jürgen.« Susanne lächelte ihn beschwichtigend an.

»Ich bin bloß da, weil dein Mann mir die Karte aufgeschwätzt hat«, klärte Reichelt sie mürrisch auf. »Schwätzen kann er gut. Wie hast du ihn rumgekriegt, dass er beim Kartenverkauf mitgemacht hat? Ach, ich kann’s mir schon denken.« Er lachte scheppernd.

»Wo sind eure Mannsbilder heut überhaupt?«, wollte er dann wissen.

»Ham was anderes vor«, erklärte Annette zögernd. »Wie immer. Das ist nix für sie, ham sie gesagt, gell, Susanne?«

»Also der Bernd wär gern mitgegangen.« Diana zupfte unbehaglich an ihrem tiefen Ausschnitt herum. Mit der wirren Hochsteckfrisur, die ihre beiden Freundinnen ihr auf dem Klo vom Mohren verpasst hatten, sah sie aus wie ein Gemälde von Picasso. »Aber wenn die Susi und die Anni ihre Mannsbilder net mitbringen, muss er halt ohne mich was machen. Die Mädels gehen vor.«

»Na, ich hoff, ihr seids jetzt zufrieden«, brummte Reichelt. »Der Saal ist voll, alle Karten verkauft. Fünfundsiebzig Euro ist kein Pappenstiel für a paar Knallchargen und ein Abendessen. Aber allmählich könnt’s losgehen. Hab dacht, des ist um zehne rum?«

Annette sprang auf. »Hast recht. Ich geb dem Leiter der Truppe Bescheid. Wir fangen an. Sonst dauert des bis nach Mitternacht.«

»Schau, wie die sich an den Jürgen ranschmeißen«, beschwerte sich Erna, die Reichelt und die Frauengruppe seit mindestens fünf Minuten nicht aus den Augen gelassen hatte. »Die zwei ham eh keinen Anstand, bloß die Diana. Die passt doch überhaupt net zu denen.«

»Ist nicht unser Bier«, wiegelte Sissi ab. »Jürgen ist geschieden. Und alle sind erwachsen.«

»Sag amal, du merkst doch sonst auch alles.« Erna beugte sich über den Tisch und starrte Sissi an. »Ist dir nie aufgefallen, dass die drei alleweil dürrer heimkommen, als sie wegfliegen?«

Im Dorf wurde schon länger gemunkelt, dass Diana, Annette und Susanne nicht nur deshalb alle paar Wochen auf die Balearen flogen, um dort in einem Whirlpool auf ihre braven Männer anzustoßen, sondern mit wie frisch gebügelt wirkenden Gesichtern – vor allem um die Mundwinkel herum – in ihre geräumigen Einfamilienhäuser zurückkehrten.

»Ich hab noch nie jemanden gesehen, der so viel frisst wie die Diana«, erzählte Erna. »Drei Teller Lammkotelett hintereinander. Mit Gemüs. Und dann noch an Kuchen hinterher. Niemand kann so viel in sich reinstopfen und dann in so a Kleid passen, gell, Herr Vollmer?«

»Treffer, versenkt!« Sissi kicherte.

»Die lassen sich bestimmt des Fett raussaugen, mit dem Schlauch«, fuhr Erna fort. »Hab des im Fernsehen gesehen. Der wird einfach …«

»Frau Dobler, um Gottes willen«, bat Pfarrer Sommer verzweifelt. »Wir kriegen gleich unser Essen.«

Sissi beobachtete, wie Schorsch Schädler, der attraktive Mann im Trachtenanzug und Kopf des »Semmelknödel-Ensembles«, zusammen mit der übel gelaunten »Resi« von Tisch zu Tisch ging, um dort seine Geschichte von der missratenen Tochter Zenzi und dem biestigen Schwiegersohn Sepp zu erzählen, damit anschließend alle besser mitraten konnten. Bei Hansi Seitz am Tisch musste er erst mal einen Schnaps trinken, und dann noch einen. Als er sah, wie Annette ihm ein Zeichen gab, eilte er, gefolgt von seiner unleidlichen Gattin, wieder zu seinem Platz an Sissis Tisch.

»Endlich!«, wisperte Peter aufgeregt, als das Licht im Saal gedimmt wurde, sodass der große Raum nur noch vom Schein etlicher Kerzen erhellt war. »Es geht los!«

Die Flügeltür öffnete sich, die Wirtin Ernestine kam mit drei Servicekräften herein. Alle trugen Tabletts mit dampfenden Terrinen. Ein verführerischer Geruch erfüllte den Raum. Die Bedienungen stellten die Terrinen auf die Tische und verschwanden sofort wieder, um die nächsten zu holen.

»Hochzeitssuppe«, freute sich Klaus. »Ich hab so einen fürchterlichen Hunger.«

Alle bedienten sich und fingen gierig an zu löffeln. Im ganzen Raum waren nur noch gedämpftes Gemurmel und das Klirren von Metall auf Porzellan zu hören.

»Sag amal, Schorsch, wann überschreibst du endlich den Hof an die Zenzi?«, rief plötzlich die Frau neben »Schorsch« so laut und schrill, dass Sissi zusammenzuckte. »Bei der Hochzeit hast es versprochen, dass die Zenzi alles kriegt.«

Peter ließ den Löffel sinken und hatte sein Essen im Bruchteil einer Sekunde vollständig vergessen. Im Saal war es still geworden.

»Des geht ja schon gut an«, wisperte Erna.

Schorsch Schädler, der im wahren Leben Thorsten hieß und genau wie seine entzückende Gattin aus Leer in Ostfriesland stammte, zerteilte in aller Ruhe einen Brätknödel, denn er hatte gewaltigen Hunger. Diese mal mehr, mal weniger bekömmlichen Mahlzeiten waren das einzige Gute an ihren derzeitigen Engagements.

»Du bist a Depp, a damischer, und ich hasse dich!«, schrie Resi jetzt. Ihre Entrüstung wirkte echt. Sie war nämlich schon länger mit Thorsten verheiratet.

Sogar am Tisch von Reichelt war es still geworden, denn niemand wollte das sich anbahnende Drama versäumen.

»So geht des nimmer weiter, Schorsch. Ich lass mich scheiden von dir, du Hirsch.« Resi legte ihren Löffel neben dem Teller ab. Brätknödel waren ohnehin noch nie ihr Ding gewesen. Thorsten übrigens auch nicht.

»Ach, halt deine Gosche, du böses Weibsbild«, befahl ihr Thorsten, dem dieser Teil der Vorstellung sichtlich Spaß zu machen schien. Dann schielte er zur Tür, denn er wollte heute nicht sterben, ohne vom Zwiebelrostbraten probiert zu haben.

»Ja, Papa!«, schrie plötzlich die dick geschminkte Rothaarige vom Nachbartisch. In ihrem glänzend rosa-grünen Dirndl spiegelte sich das Kerzenlicht, was dem Outfit einen gruseligen Touch verlieh. Sie stand auf und fuchtelte mit den Armen, als wollte sie Mücken vertreiben. »Der Sepp und ich, mir wollen endlich den Hof ham. Du bist ein Tyrann! Und dem Sepp seine größte Sau hast du geschlachtet, obwohl die der Sepp bloß bei dir untergestellt hat.«

Metzgermeister Korbinian lachte schallend, weil er glaubte, als Einziger den Witz verstanden zu haben. Es war aber keiner, sondern einfach nur ein grottenschlechter Dialog.

Mittlerweile hatten sich etliche Zuschauer erhoben, um den Tisch mit Thorsten/Schorsch besser sehen zu können. Von den hinteren Tischen wurden Rufe laut: »Hinsetzen, mir sehen nix!« Einem zünftigen Streit geht kein gestandener Allgäuer aus dem Weg, und es hätte ja sein können, dass Resi dem Schorsch eine schmierte, wegen der Dramaturgie.

Mucksmäuschenstill war es im Raum geworden.

»Da bist du ja, du Bazi, elender! Jetzt hab ich dich!« Wie aus dem Nichts kam plötzlich von draußen eine riesige Gestalt in den Saal gestürmt: ein gut aussehender Mittfünfziger mit unheilvollem Gesichtsausdruck und dichtem grauen Haar.

»Das muss dieser böse Nachbar sein«, wisperte Peter, den das Essen überhaupt nicht mehr interessierte.

»Was willst du von mir, Franz Fuckner? Dass du dich noch mal hertraust, alle Achtung, du Verräter.« Schorsch Schädler, den der verfrühte Auftritt von Franz Fuckner überrascht zu haben schien, ließ versehentlich seinen Löffel in den riesigen Suppenteller fallen, wo er umgehend zwischen Flädle und Knödeln versank. Ernestine hatte zur Feier des Tages eigens die großen Teller aufgelegt.

»Mir machen reinen Tisch. Jetzt wird aufgeräumt!«, brüllte der Neuankömmling so laut, dass man es bis auf die Straße hören konnte, und baute sich breitbeinig vor Schorsch auf. Auch er trug einen völlig überladenen Trachtenanzug mit Knöpfen an den unmöglichsten Stellen, in dem er noch mehr zu schwitzen schien als Steinmeier in seinem Poloshirt.

»Papa, es wird Zeit, dass die Wahrheit ans Licht kommt!«, schrie plötzlich die Rothaarige in dem knallbunten Dirndl von Reichelts Tisch. »Sag’s ihm, Franz! Los, sag’s ihm! Der Sepp und ich, wir halten zu dir.« Der übel gelaunte Sepp neben ihr rückte seinen grauen Hut zurecht und nickte bestätigend. Er hatte nicht viel Text, denn sein Allgäuerisch klang noch gekünstelter als das von Schorsch und Resi. Kein anderes Geräusch als die Stimmen der Schauspieler war im Raum zu hören.

Klaus nutzte die Gelegenheit, sich, als gerade keiner hersah, noch einmal seinen Teller zu füllen.

»Franz, warum sagst denn nichts? Papa, gib mir endlich den Hof, der Sepp und ich, wir haben es verdient!«, drohte die Rothaarige. »Sonst gehen wir weg. Ins Ausland. Nach Württemberg. Hab ohnehin nichts mit dir zu tun, aber zahlen musst. Bloß, dass du’s weißt!« Sie stand auf und zog den Sepp hinter sich her bis zu Sissis Tisch.

Der grauhaarige Mann, der als Letzter hereingekommen war, starrte Schorsch bitterböse an. »Wird Zeit, dass du alles erfährst, Schädler. Die Zenzi ist nämlich mein Kind, weil die Resi dich mit mir beschissen hat. Und gemerkt hast du nix, weil du brunzdumm bist. Das weiß im Dorf jeder.«

»Was sind denn das für Ausdrücke«, sagte Sommer entsetzt. »Das hat mir niemand vorher gesagt.«

»Ich hoffe, du bist zufrieden, Peter«, wisperte Sissi ihrem Mann ins Ohr. »Viel realistischer geht es nicht mehr.«

»Resi!« Schorsch schielte betrübt auf seinen Löffel, der auf dem Grund des riesigen Tellers unter ein paar Flädle begraben war. Dann fuhr er seine Gattin wütend an: »Du hast mich also doch mit dem Franz beschissen damals bei der Kirchweih, drum sieht mir die Zenzi gar nicht ähnlich! Ich habe mich schon gewundert.«

»Selber schuld, Schädlerbauer«, rief Franz Fuckner. »Hättest halt besser aufpassen sollen. Und was willst jetzt machen?«

»Du Schweinehund, du nixiger!«, brüllte Schorsch urplötzlich. Erna zuckte zusammen, während Sissi und Klaus sich amüsiert zuzwinkerten. »Ich mach dich kalt!« Er wollte aufspringen, aber Franz haute ihm so kräftig auf den Rücken, dass Schorsch nach vorne fiel und versehentlich mit dem Gesicht in der Suppe landete. Sie war zum Glück nicht mehr ganz so heiß.

»’tschuldigung, Versehen«, flüsterte Franz betreten, als Schorsch seinen nassen Kopf aus dem Teller hob und sich ein Flädle von seiner Nase pflückte. Mit einem garantiert nicht vorher eingeübten angewiderten Gesichtsausdruck stand er ganz langsam auf und ballte die Faust.

»Das war Absicht, du Honk«, schimpfte er seinen Schauspielerkollegen in gedämpfter Lautstärke und schnippte den Flädlestreifen mit den Fingern weg. Er landete vor Sissi auf dem Tisch.

»Jetzt geht’s los!« Erna freute sich, sie hatte schon lange keine zünftige Rauferei mehr gesehen.

Plötzlich drang durch die weit geöffneten Fenster ein markerschütternder Schrei, so grell und laut, dass Sissi und Klaus ihre Löffel fallen ließen und aufsprangen. Vorbei am Schädler Schorsch und seiner schrecklich netten Familie rannten sie nach draußen. Niemand hielt sie auf.

Schorsch ließ die Faust sinken und musterte irritiert die Zuschauerschar.

»Jetzt hau ihm schon eine rein!«, verlangte jemand aus der Menge lautstark. Ein paar Leute lachten, während andere zum Fenster drängten, um nachzusehen, was passiert war.

Währenddessen hasteten Sissi und Klaus bereits die Treppe hinunter.

»Ernestine!«, brüllte Reichelt in das gedämpfte Gemurmel, das jetzt aufgekommen war. »Bringst mir den Braten am besten sofort. Ich hab Hunger!«

Die Wirtin, die am Saaleingang das Geschehen verfolgt hatte, gab einer Servicekraft Bescheid, die flink nach unten huschte.

»Was ist denn da los?« Susanne Siebert saß kreidebleich auf ihrem Stuhl. »War das etwa echt?«

»Gehört bestimmt dazu. Die sind gut. Ich hab so lachen müssen.« Diana trank einen weiteren Schluck Prosecco. Noch zwei Gläser, und sie würde sich sogar in dieser engen Wurstpelle aus Kunstfaser wohlfühlen, die ihre Freundinnen ihr aufgeschwatzt hatten.

»Wer hat denn geschrien? Die Schauspieler sind doch bloß zu fünft.« Nervös spähte Annette zum Tisch mit den Darstellern. »Oder fehlt da noch einer?«

»Was machen wir jetzt?« Sepp, der Schwiegersohn, schob seinen grauen Hut zurecht und starrte Schorsch hilfesuchend an.

»Typisch Provinz«, zischte »Resi« erbost. »Immer ist bei diesen Bauern irgendwas. Uns beachtet doch gar keiner mehr.« Sie zeigte gereizt zum Fenster, wo sich ein Pulk Neugieriger drängte, darunter auch Erna Dobler und Peter.

»Also, was nun?« Franz sah Schorsch hilfesuchend an. »Abbrechen?«

»Abwarten«, befahl der. »Wir haben die Gage schon im Voraus kassiert. Und so, wie die hier drauf sind, bestehe ich wohl besser nicht auf unseren allgemeinen Geschäftsbedingungen.«

»Provinz bleibt eben Provinz.« Resi nahm einen weiteren Schluck von ihrer Cola. »Mehr sage ich nicht.«

»Wird auch gut sein, wenn du endlich die Klappe hältst, sonst suche ich mir eine andere für deine Rolle«, drohte ihr Schorsch. »Und mach gefälligst den Knopf am Mieder zu. Das hier ist kein Softporno, und du gehst auf die fünfzig zu, zumindest Teile von dir.«

Pfarrer Sommer, der als Einziger seelenruhig sitzen geblieben war, seufzte, genehmigte sich einen tiefen Schluck von seinem Rotwein und nahm sich vor, solchen Veranstaltungen künftig fernzubleiben. Das war nichts für ihn. Er hatte schon genug mit Erna Dobler zu tun.

Donnerstagabend, Legau

»Aus welcher Richtung kam denn nun der Schrei?« Sissi und Klaus sahen sich auf dem menschenleeren Marktplatz um.

»Da!« Sissi deutete auf das Bankgebäude, das sich links vom Mohren auf der anderen Straßenseite befand, und rannte los.

Auf der Treppe vor der Filiale lag kopfunter eine reglose Gestalt. Daneben standen zwei zitternde ältere Frauen, von denen eine laut und ausdauernd schrie, immer wieder. Kurz musste sie husten, dann kreischte sie sofort weiter.

»Frau Reismann?« Sissi nickte der schreckensbleichen, spindeldürren Dame zu, die still dastand, kniete sich neben die reglose Person und fühlte den Puls, während Klaus die Zentrale verständigte und einen Rettungswagen anforderte. »Wir sind jetzt da. Bitte hören Sie doch auf zu schreien!« Das war an die kleine dicke Begleiterin der dünnen Frau gerichtet, die einfach nicht aufhörte zu brüllen.

»Frauke, halt endlich die Klappe!«, befahl Renate Reismann ihrer Freundin, die abrupt verstummte. »Man hört dich bis nach Altusried.«

Bei dem Opfer handelte es sich um einen ungefähr dreißigjährigen blonden Mann, aus dessen Brust ein langer Pfeil aus Metall ragte. Seine blicklosen Augen waren in den sternenfunkelnden Julihimmel gerichtet.

»Echt jetzt?« Klaus zeigte auf den Metallstab. »Eine Armbrust? Dass ihr Allgäuer immer so übertreiben müsst. Er ist tot.«

Sissi erhob sich. »Ich fürchte auch, da ist nichts mehr zu machen. Klaus, bitte sorg dafür, dass die Gaffer wegbleiben.« Sie zeigte auf eine Gruppe Menschen, die gerade Anstalten machte, den Zebrastreifen an der Hauptstraße zu überqueren, allen voran natürlich Erna Dobler. »Halte sie irgendwie auf.«

»Wird erledigt. Die Kollegen kommen gleich, wir haben Glück. Eine Streife war in der Nähe.« Klaus drehte sich um und ging auf die Menschenmenge zu.

»Herrschaften, hier gibt es nichts zu sehen, bitte begeben Sie sich wieder zurück in den Mohren«, befahl er resolut. »Auch Sie, Frau Dobler. Ganz besonders Sie.«

Pfarrer Sommer, der vor der unguten Stimmung an seinem Tisch und der schlecht gelaunten Resi geflüchtet war und sich zu den Schaulustigen gesellt hatte, redete auf Erna ein, die ihn bockig anstarrte und die Arme vor der dürren Brust verschränkte.

»Frau Reismann, Sie haben ihn gefunden?« Sissi registrierte aus dem Augenwinkel, wie Klaus mit Nachdruck ein paar besonders Hartnäckige aufforderte, endlich zu verschwinden.

»Reni wollte nur zweihundert Euro abheben«, quietschte die kleine stämmige, etwa siebzigjährige Blondine neben Frau Reismann, die aussah, als hätte man Dolly Parton mit Helga Feddersen verschmolzen. Sie trug ein grell geblümtes, bodenlanges Sommerkleid mit ausgestelltem Rock, das so ziemlich das Unvorteilhafteste war, was Sissi je gesehen hatte, vor allem, weil Frauke nicht mal eins fünfundfünfzig groß war.

»Jetzt rede ich«, schnitt ihr Renate Reismann, genau wie Frauke Einwohnerin der Senioren-WG Moserhof, das Wort ab. »Wir waren spazieren, und ich brauchte Geld. Das tut aber doch nichts zur Sache.«

»Fürs Erste sind sie weg.« Klaus verscheuchte mit einer unwilligen Handbewegung noch ein paar Unentwegte, die auf keinen Fall nicht wieder zurück zum Krimidinner wollten, wenn ihnen hier ein echter Krimi geboten wurde. »Benützen wir das, ich habe es eben aus meinem Verbandskasten geholt«, sagte er und warf Sissi eine Rettungsdecke zu. »Sonst muss ich doch noch in die Luft schießen. Wollte ich ja schon immer mal machen.«

»Danke, Kollege.« Sissi packte die Decke aus und breitete sie behutsam über das Opfer. »Frau Reismann, Sie wollten also Geld holen …«

»Wird schon wieder gepokert auf dem Moserhof?«, erkundigte sich Klaus.

Renate zögerte eine Weile. Sie war groß, hatte den Körperfettgehalt eines trockenen Astes und trug an diesem Abend wieder ihr geliebtes olivgrün gebatiktes Sommerkleid, in dem man sie ohne Weiteres in ein Maisfeld zum Verscheuchen der Vögel hätte stellen können.

»Nur gelegentlich«, gestand sie. »Ich hatte meine Scheckkarte schon in der Hand.«

»Er ist tot, oder?«, quiekte Frauke. »Wo sind wir hier nur gelandet, Reni? Ich hab solche Angst!«

»Ach, da schau her.« Sissi zeigte auf eine dünne kleine Gestalt, die sich hinter einem roten Auto versteckte, das am äußeren Rand des Parkplatzes stand. »Komm her. Ich hab dich gesehen.«

Vorsichtig richtete sich ein schmächtiger kleiner Mann hinter dem Fahrzeug auf und kam so unsicher auf sie zugetrottet, als müsste er zu seiner eigenen Hinrichtung. In der Hand trug er eine halb leere Bierflasche.

»Allmählich denke ich, mit dem Krimidinner und Schorsch wären wir besser dran gewesen«, murmelte Klaus, als er ihn erkannte. »Uns bleibt ja heute nichts erspart.«

»Schucki, ganz ruhig. Hast du mitbekommen, was passiert ist?«, wollte Sissi wissen.

Schlotternd hob Schucki seine Bierflasche, um einen Schluck zu trinken, aber das ging gründlich daneben, denn vor lauter Nervosität verfehlte er seinen Mund, und die ungekühlte Flüssigkeit rann ihm über das nicht ganz saubere Hemd.

»Dieser Mensch hat definitiv ein Alkoholproblem«, sagte Renate streng, die den Toten offenbar bereits wieder vergessen hatte. Sie war dreifach verwitwet und hatte schon einiges erlebt. »Und zwar ein gravierendes, denn er kommt gar nicht erst an ihn ran.«

»Herr Herrmann, kennen Sie uns noch? Wir sind von der Polizei«, schaltete Klaus sich ein. »Haben Sie was gesehen?«

Und ob sich Schucki Herrmann an Sissi und Klaus erinnerte. Die beiden waren schuld daran, dass er mit seinem Spezi Manni nicht mehr in Ruhe am Illerufer einen durchziehen konnte. Seither war es sehr einsam um Schucki geworden.

»Kennen tu ich Sie«, nuschelte er jetzt, »und ich hab …«

»Ich weiß schon, Geburtstag«, antwortete Klaus leicht genervt. »Was haben Sie gesehen? Wie lange sitzen Sie schon hinter diesem Auto?«

»Der Mann ist doch betrunken«, wandte Renate empört ein. »Warum fragen Sie den überhaupt irgendetwas? Ich würde mich wundern, wenn der noch weiß, wie er heißt.«

»Herrmann heiß ich«, nuschelte Schucki mit kalkweißem Gesicht. »Und a Ritter hat mich fast umbracht. A Ritter.«

»Gott sei Dank, das ging ja schnell.« Sissi zeigte auf einen Streifenwagen, der soeben wendete und die Einfahrt blockierte, was auch die letzten verbliebenen Schaulustigen so weit abschreckte, dass sie murrend zurück in den Mohren trotteten.

»Jetzt haben wir endlich Ruhe. Die Spurensicherung müsste auch gleich eintreffen.« Sissi winkte den Beamten zu, die sich am Parkplatzeingang postiert hatten und freundlich grüßten.

»Halten Sie bitte die Schaulustigen fern!«, bat sie, als sie bemerkte, dass sich an der anderen, von der Straße abgewandten Seite des Bankgebäudes etwas bewegte. Etwas sehr Farbenfrohes. »Herr Steinmeier!«, rief sie. »Ich habe ein hervorragendes Peripheriesehen, und Sie tragen ein knallgrünes Hemd, sind also ungefähr so unauffällig wie eine Verkehrsampel. Sollte Sie mir heute noch einmal in die Quere kommen, wird das teurer für Sie als ein neues Mobiltelefon. Husch, husch, rein mit Ihnen, die Vorstellung geht sicher gleich weiter.«

Der feuerrote Kopf über dem grünen Hemd verschwand sofort wieder. Ganz leise hörte man einen unterdrückten Fluch.

»Ritter, Sissi. Ehrlich!« Schucki versuchte abermals, einen Schluck von seinem Bier zu trinken. Diesmal klappte es. »Ich kann bloß sagen, was ich gesehen hab.«

»Sie wollen mir jetzt nicht allen Ernstes erzählen, dass Prinz Eisenherz hier vorbeigekommen ist, mal eben jemanden mit der Armbrust erschossen hat und dann … was … auf einem Schimmel davongeritten ist?«, fragte Klaus. »Beginnen Sie noch mal von vorn, Herr Herrmann. Frau Reismann, haben Sie vielleicht etwas mitbekommen?«

»Nein. Haben Sie was an den Ohren?« Renate Reismann war wieder ganz kühle Hanseatin. Da mussten schon Metzger kommen und keine Wursträdchen, um sie aus der Ruhe zu bringen. »Als wir um die Ecke bogen, lag er schon da.«

»Ist Ihnen jemand aufgefallen, der sich vom Tatort entfernt hat?« Sissi zog ein Paar Einweghandschuhe aus ihrer Umhängetasche und schnappte sich eine Aktenmappe aus feinem Leder, die neben dem Opfer auf den Stufen lag. »Raub dürfen wir wohl ausschließen.«

»Nein. Frauke, hast du was gesehen? Gott, jetzt reiß dich mal zusammen.« Renate sah ihre Freundin strafend an, die schlotternd neben ihr stand und nicht aufhören konnte zu schniefen.

»Brauchen Sie uns noch?« Unsanft packte sie Frauke am Arm. »Sie muss nach Hause. Wo wir wohnen, wissen Sie ja.«

»Wir haben Ihre Adresse«, bestätigte Sissi. »Und wir schicken Ihnen morgen jemanden vorbei. Oder noch besser, Sie kommen aufs Revier, damit wir Ihre Aussage zu Protokoll nehmen können.«

»Selbstverständlich.« Renate zog Frauke zu sich her und tätschelte ihr den Kopf. »Sie sehen ja selbst, wie sie beieinander ist. Mir selbst täte eine Tavor auch ganz gut. Ich muss mich hinlegen. Dieses Landleben ist gelegentlich ziemlich anstrengend.« Resolut riss sie ihre Freundin mit sich und verschwand.

»Schucki.« Sissi sah den schlotternden dünnen Mann streng an. »Jetzt überleg mal ganz genau, was du gesehen hast. Und komm mir nicht mit einem Ritter. Weißt du überhaupt, welches Jahr wir haben? Jedenfalls später als 1249 nach Christus.«

»War aber einer«, beteuerte Schucki. »Der hätte mich ja beinah überfahren.«

»Mit seinem Pferd?«, wollte Sissi wissen.

»Blaues Auto«, nuschelte Schucki. »A kleines. Des kenn ich, glaub ich.«

»Konnten Sie die Marke erkennen? Ach, warum frage ich.« Klaus schüttelte resigniert den Kopf.

»Frau Sommer. Da sind wir.« Seibold, der Leiter der Spurensicherung, kam gerade auf sie zu, im Schlepptau seine Kollegen, die sofort einen Sichtschutz aufbauten.

»Danke, dass es so schnell gegangen ist, Herr Seibold. Ist dringend nötig.« Sissi zeigte auf ein paar versprengte Schaulustige gegenüber am Ende des Zebrastreifens.

Klaus beugte sich über die Brust des Opfers. »Ich würde mal aus dem Stegreif behaupten, dass der Pfeil die Todesursache war. Ein attraktiver junger Mann.«

»Keiner ist so schön wie du«, erwiderte Sissi. »Und es heißt ›Bolzen‹.«

Sie zog aus der Aktentasche des Toten einen Geldbeutel. »Christian Schmidt«, las sie vor. »Zweiunddreißig Jahre alt, Angerweg 27. Ich kenne ihn von irgendwoher, bestimmt fällt es mir gleich wieder ein.«

»Weil er mit der Kessler Kathi vom Kesslerhof verlobt ist!«, hörten sie hinter der improvisierten Sichtschutzwand plötzlich eine laute Stimme, die Erna Dobler gehörte. Sie spähte an der Abschirmung vorbei betreten auf den Toten.

»Wie schafft die das nur immer?«, flüsterte Sissi gereizt. »Manchmal glaube ich, sie kann doch fliegen.«

»Entschuldigung, Frau Sommer.« Der junge Streifenpolizist zuckte bedauernd die Schultern. »Die Dame behauptet, sie sei mit dem Opfer verwandt. Können Sie das bestätigen?«

»Kann ich das, Frau Dobler?«, fragte Sissi gefährlich leise, denn ihre Kopfschmerzen kehrten gerade mit voller Wucht zurück. »Bitte seien Sie so freundlich und bringen Sie diese Dame … irgendwohin«, wandte sie sich an den Streifenbeamten. »Frau Dobler, ich bin derzeit nicht in Stimmung für Ihre ›Miss Marple‹-Nummer. Kümmern Sie sich doch um den Schädler Schorsch und sein Gefolge. Da haben Sie genug zu tun. Die kennen Sie noch nicht.«

»Langen Sie mich ja net an! Des ist nämlich Polizeigewalt«, wehrte sich Erna, als der Streifenbeamte sie sachte zum Zebrastreifen bugsieren wollte. Sie verpasste ihm einen Tritt vors Schienbein, dass er zusammenzuckte. Dann tappte sie lautstark zeternd über den Zebrastreifen zurück zum Mohren.

Sissi fasste sich an die Schläfen und seufzte. »Die Frau kostet mich bei jeder Begegnung ein Lebensjahr.« Aus einiger Entfernung hörte man Erna noch schimpfen, dann verklang ihre aufgebrachte Stimme.

»Er weist keinerlei andere Verletzungen auf, Sissi«, sagte Klaus. »Das muss ein Profi gewesen sein. Ich korrigiere mich: ein professioneller Ritter, wenn wir Herrn Herrmann glauben.«

»Möglich ist alles.« Sissi nickte. »Ich will nicht ausschließen, dass er uns die Wahrheit erzählt hat.«

»Wildes Allgäu eben«, meinte Klaus. »Immer, wenn man denkt, man kennt euch endlich, legt ihr noch einen drauf.«

»Du tust gerade so, als wärst du in einem Kriegsgebiet gelandet«, tadelte ihn Sissi. »Von nichts kommt diese kleine Stauung am mittleren Ring bei dir aber nicht.« Sie zeigte auf seine Taille. »Beim Sturz hat sich das Opfer offensichtlich nicht weiter verletzt. Herr Seibold, den Rest überlassen wir der Rechtsmedizin. Sie können übernehmen. Wir beginnen sofort mit den Ermittlungen.«

»Nett sehen Sie heut aus.« Seibold musterte sie anerkennend. »Ich hab Sie noch nie im Kleid gesehen.«

»Ich weiß.« Sissi lächelte. »Und Sie schauen so finster drein wie immer. Dabei mögen Sie doch Ihren Job.«

»Stimmt, ich hätte ja auch Gärtner werden können.« Seibold wies auf das Opfer. »Hab ich auch noch net gehabt in meiner Laufbahn, einen Armbrustbolzen. Viel Glück.«

Sissi drehte sich blitzschnell um. »Dageblieben!« Das galt Schucki Herrmann, der während ihrer Unterhaltung mit Seibold versucht hatte, sich davonzuschleichen.

»Was hast du überhaupt hier gemacht? Keine Ausreden bitte.« Sie musterte ihn streng.

»Gar nix Schlimmes. Bin bloß a bissle spazieren gegangen«, stotterte er verlegen. »Mein Mofa steht am Marktplatz, und mir war langweilig. Nirgends ist was los. Alle hocken im Mohren. Hab dacht, vielleicht treff ich ja noch wen. Wenn die Veranstaltung rum ist.«

Das klang sehr verloren, und für einen Augenblick tat er Sissi beinahe leid.

»Bin durchs Dorf gelaufen und grad vom Zimmerplatz gekommen, weil ich wieder zu meinem Mofa wollt. Hoffentlich ist des noch da.«

»Ich glaube, da brauchst du keine Angst zu haben«, beruhigte sie ihn.

»Und wie ich hier vorbeilauf, seh ich grad den da …«, Schucki zeigte zitterig auf den Toten, »… bei der Glastür rauskommen, und dann hab ich bloß so ein Geräusch gehört. Flapp oder so. Auf einmal ist der umgefallen. Und aus dem Parkplatz ist ein blaues Auto rausgeschossen mit dem Ritter drin, des hätt mich beinah überfahren. Ich bin auf die Seite gehupft. Hätt um ein Haar mein Bier fallen lassen.«

»Du bleibst also bei dem Ritter.« Sissi seufzte. »Sollen wir dich daheim abliefern? Du kannst doch so nicht mehr fahren.«

»Wir wissen beide, dass er das sehr wohl kann.« Klaus grinste. »Kommen Sie morgen freiwillig aufs Revier, Herr Herrmann, oder müssen wir Sie abholen lassen?«

»Bloß net!« Schucki erschrak. »Ich komm rein zu euch nach Memmingen. Mit dem Mofa brauch ich halt a bissle. Stehts ihr im Telefonbuch?«

»Nimm den Bus. Die Fahrtkosten bekommst du ersetzt, du findest uns dann schon.« Sissi seufzte. »Sag mal, wohin sind denn alle plötzlich verschwunden?« Sie richtete sich ächzend auf und lugte um die Sichtschutzwand auf den Marktplatz.

»Die sind wieder ins Gasthaus gegangen«, berichtete einer der Streifenpolizisten. »Hab gehört, wie einer gesagt hat, dass der Hauptgang serviert wird und dass das Essen immerhin bezahlt ist. Also, er meinte: ›Lieber den Magen verrenkt, als dem Wirt was g’schenkt.‹«

»Ich könnte nicht behaupten, dass mich das wundert.« Klaus konnte sich das Grinsen nicht verkneifen.