Mordsgift - Barbara Edelmann - E-Book

Mordsgift E-Book

Barbara Edelmann

5,0

Beschreibung

Ein humorvoller Allgäu-Krimi und bissiges Sittengemälde. Sie war fleißig, sie war reich – jetzt ist sie tot. Ilona Wassermann, die Chefin einer exklusiven Seifenmanufaktur, liegt leblos auf ihrer Terrasse. Sie hinterlässt einen gebrochenen Ehemann, einen opulent ausgestatteten Weinkeller und eine Menge offener Fragen. Sissi Sommer und Klaus Vollmer vom K1 in Memmingen begeben sich im idyllischen Unterallgäu auf Spurensuche und stoßen dabei auf ein verstörendes Gewirr aus Lügen und Intrigen.

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Barbara Edelmann ist in Mindelheim geboren und aufgewachsen. Seit Jahrzehnten lebt sie glücklich und zufrieden im Allgäu. Ihre Erfahrungen und Beobachtungen verarbeitet sie in ihren Allgäu-Krimis. Außerdem liebt sie Rothenburg ob der Tauber und widmet der Stadt ihre zweite Krimireihe.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: stock.abobe.com/PRILL Mediendesign

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Uta Rupprecht

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-044-0

Allgäu Krimi

Originalausgabe

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1

Dieser Julimorgen hätte schöner nicht sein können – außer für die attraktive Frau Ende dreißig mit pechschwarz gefärbtem Haar, die inmitten eines parkartigen Grundstücks am äußersten Rand von Legau unschlüssig vor der schweren Metalltür einer großen Villa stand. Mehrere Male hatte sie schon erfolglos auf den Klingelknopf gedrückt.

Resigniert betätigte sie die Aus-Taste auf ihrem Smartphone und schob es zurück in ihre mit Pailletten bestickte Handtasche. »Ans Telefon geht se auch net«, flüsterte sie gereizt. »Aber ihr Auto steht in der Garage. Und mich dann zusammenscheißen, weil ich zu spät bin. Des lass ich mir nimmer lang bieten.« Wütend schüttelte sie ihre wallende Mähne, die sich wie etwas Lebendiges um ihre Schultern ringelte. Eine der nachlässig angebrachten Extensions löste sich, fiel zu Boden und blieb in einem der gepflegten Lavendelbüsche hängen, die den schmalen Gehweg zur Eingangstür säumten. Doch die hübsche Frau bemerkte es nicht.

Anita Hoff hatte sich angesichts des vielversprechenden Sommermorgens mit beeindruckender Hartnäckigkeit in ein an strategisch wichtigen Stellen etwas zu knappes feuerrotes Schlauchtop gezwängt sowie in eine schwarze Stretchjeans, die nichts der Phantasie überließ. Ihre Füße steckten in zierlichen Goldsandaletten mit halbhohen Absätzen. Der aufgeworfene Schmollmund war exakt geschminkt und der Lidstrich eine Winzigkeit zu dick aufgetragen. Anita war davon überzeugt, er verleihe ihren Augen etwas Geheimnisvolles.

Sie zeigte gern, was der liebe Gott ihr geschenkt hatte, und erfreute sich daher bei einigen Herren im Dorf großer Beliebtheit. Das lag nicht nur an ihrem unkonventionellen Kleidungsstil, den die ehrbaren Damen des Legauer Kirchenchores hinter vorgehaltener Hand »nuttig« und die männlichen Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr »rattenscharf« nannten, sondern auch an ihrer großzügigen Einstellung zu gewissen Dingen, über die man im Dorf ebenfalls tuschelte. Anita scherte sich nicht um das Gerede anderer, da sie seit ihrer Kindheit ohnehin nur um sich selbst kreiste. Das Attribut »rattenscharf« eröffnete ihr, die nichts von ihrer Überzeugung nach antiquierten Moralvorstellungen hielt, erstaunliche Möglichkeiten. Lästige Dinge wie Skrupel oder Empathie überließ sie gern Leuten, die Zeit für so was hatten. Sie säte nie, erntete trotzdem und war mit einem Selbstbewusstsein gesegnet, für das andere gemordet hätten.

Nun aber wurde sie mit jeder Sekunde, die verstrich, nervöser. Unsicher tippelte sie von einem Bein aufs andere. Die Chefin öffnete nicht. Das sah nach Ärger aus.

Dummerweise hatte Anita vor Kurzem ihre Stelle beim Moserhof verloren, einem luxuriösen Seniorenruhesitz in Legau. Schuld daran war ein klitzekleiner, Anitas Meinung nach künstlich hochgespielter und eigentlich nicht erwähnenswerter Zwischenfall, bei dem ihre offenherzige Art, ihre Schwäche für hochpreisigen Schmuck, ein wohlhabender Senior mit bis dato unerkannter Herzschwäche, ein Defibrillator plus Reanimation und ihr Minirock in der Größe eines breiteren Gürtels signifikante Rollen gespielt hatten. Wie es ihrem Naturell entsprach, betrachtete sie die ganze Entrüstung darüber als aufgebauscht, denn immerhin hatte es ja keine Toten gegeben, und wenn doch, dann wäre der gute Mann wenigstens glücklich gestorben.

Zu diesem Arbeitsplatz auf dem Moserhof hatte jedenfalls auch ein kuscheliges Appartement für Anita und ihren kleinen Sohn gehört, das mit dem Job ebenfalls futsch war. So kam es, dass sie kleinlaut auf dem Bauernhof ihrer Eltern vorstellig werden und um Aufnahme in ihr altes Kinderzimmer bitten musste.

Frau und Herr Walter hatten ihrem Sargnagel von Tochter allerdings unmissverständlich klargemacht, dass wer nicht arbeitete, auch nicht essen sollte. Die Zeiten hatten sich geändert, und der Welpenschutz, von dem Anita als Einzelkind bis zu ihrem achtunddreißigsten Lebensjahr profitiert hatte, war Geschichte. Irgendwann werden auch die gutmütigsten Eltern gescheit.

»Umsonst gibt’s gar nix mehr«, hatte Frau Walter ihrer verdatterten Tochter resolut verdeutlicht, als diese mit dem kleinen Kevin im Türrahmen stand und ihre Eltern bittend anblickte. »Kannst schon kommen, der Bub auf jeden Fall, aber schaffen gehen musst du. Oder du hilfst auf dem Hof mit. Mir können immer jemand brauchen. Der Papa wird auch net jünger.«

Anita wusste, wann ihre Mutter es ernst meinte. Dieses Mal hatte es auch nichts genützt, ihren Vater zu umschmeicheln, denn der hatte vor seiner Frau noch mehr Angst als vor seiner Tochter und schwieg nur betreten, als Anita ungläubig stotterte: »Papa, des meints ihr hoffentlich net wirklich so? Weil ich mich doch erst amal erholen muss von dem Schock, eigentlich bin des wahre Opfer ja ich. Die ham mich alle gemobbt, weil se neidisch auf mich sind.«

»Darüber, was am Moserhof war, schwätzen mir net«, hatte ihr Vater verlegen erwidert. »Reicht schon, wenn die Leut des tun. So ham mir dich net erzogen.«

Hatten sie doch, aber das ist eine andere Geschichte.

Und so kam es, dass Anita seit nunmehr zwei Monaten als Haushaltshilfe bei Ilona und Rainer Wassermann angestellt war, einem sehr vermögenden Unternehmerehepaar, das gemeinsam eine gut gehende Seifenmanufaktur in Legau betrieb. Die Artikel der Firma »Wohlgeruch« waren mittlerweile aus keinem Onlineshop und keiner Edelparfümerie mehr wegzudenken.

»Schon zehn Minuten nach acht«, zischte Anita jetzt grimmig. »Und dann macht se mich wieder rund, die grantige Beißzang, weil ich zu spät bin. Obwohl ich pünktlich war. Lieber Gott, warum werd ich so gestraft? Ich bin doch ein anständiger Mensch!« Sie sandte einen flehentlichen Blick gen Himmel, bekam aber keine Antwort. Das war zu erwarten gewesen, denn sie ließ sich höchst selten in der Kirche sehen.

»Hat sie wohl net ins Bett gefunden.« Anita war stinksauer. »Dann darf ich heut einen Haufen leere Flaschen zum Wertstoffhof schleppen. Toll. So a Teflon-Leber wie die möchte ich mal einen Tag lang ham. Da pfeift sie mich wegen ein paar Minuten Verspätung an, aber selber sauft sie wahrscheinlich dermaßen, dass sie mir jetzt net die Tür aufmachen kann. Ich bin so sauer!«

In Wirklichkeit war Anita eher verunsichert als wütend, denn Ilona Wassermann, ihre neue Chefin, hasste Unpünktlichkeit wie der Teufel das Weihwasser, genauso sehr wie Tariflöhne und glückliche Menschen. Da der Gesetzgeber sie allerdings zur Bezahlung dieser Tariflöhne verpflichtet hatte, erwartete sie eine Menge Leistung für ihr Geld. Anita konnte davon ein Lied singen. Ilona überwachte und kontrollierte sie ständig, sie war sich nicht mal zu schade, unter den Küchenschränken nachzusehen, ob ihre Angestellte dort gründlich gesaugt hatte.

Hatte sie nicht, darum war auf diese Insubordination eine Aussprache gefolgt, in deren Verlauf Anita heulend auf einem chromglänzenden Küchenstuhl von Bentz zusammengesunken war. Ilona, eine zerbrechlich wirkende, aber drahtige Blondine mit Kurzhaarschnitt, einem herben, hageren Gesicht und dünnen, stets perfekt geschminkten Lippen, hatte mit vor Wut beinahe schwarz wirkenden Augen auf sie herabgesehen.

»Da brauchen S’ jetzt net plärren«, hatte sie Anita mit ihrer harten Stimme angeherrscht. »Machen S’ Ihre Arbeit anständig, dann geraten mir zwei nicht mehr aneinander.«

»Aber …«, hatte Anita gegreint, »ich …«

»Sparen Sie sich des. Funktioniert vielleicht bei meinem Mann, aber bei mir net«, fuhr Ilona genervt fort, als Anita sie mit tränennassen Augen anblickte. »Mir sind jetzt fertig. Die zehn Minuten für des Gespräch zieh ich Ihnen übrigens vom Lohn ab. Avanti.« Mit einer einzigen Handbewegung hatte sie Anita wieder an die Arbeit gescheucht, und die hatte eingeschüchtert gehorcht.

Es gab nur wenige Menschen in Legau, die Anita so aus der Fassung bringen konnten wie Ilona Wassermann. Ihr waren grellfarbige Haushälterinnen mit dickem Lidstrich, zumal wenn sie nicht unter den Möbeln fegten, ein Gräuel. Aber Anita war die einzige Bewerberin auf das Inserat im Legauer Kirchenanzeiger gewesen, was nicht am florierenden Arbeitsmarkt, sondern am Bekanntheitsgrad von Ilona lag, die ihr Unternehmen nach dem Motto »Wenn sie mich nicht lieben, dann sollen sie mich wenigstens fürchten« leitete. Kim Jong-un hätte noch von ihr lernen können.

»Im Moserhof war’s gar net so schlecht«, bemerkte Anita verärgert. »Hätt ich da bloß bleiben können. Alleweil diese frustrierten älteren Weibsbilder, die einer starken Frau wie mir das Leben zur Hölle machen. Jetzt muss ich hier buckeln und krieg jeden Tag einen Anschiss. Was Besseres kommt halt nie nach.« Verdrossen zog sie eine Grimasse. »Ich lauf außenrum durch den Garten«, beschloss sie dann. »Vielleicht hat sie die Terrassentür offen gelassen. Wär net des erste Mal.«

Sie setzte sich in Bewegung und verschwand um die Hausecke. »Der ihre Sorgen möchte ich mal einen Tag lang ham«, maulte sie, als sie den schmalen, mit Granitplatten belegten Weg entlangstöckelte. »Riesenhaus, eigene Firma, Kleidergröße 36, Geld wie Dreck. Und dann nie mit was zufrieden, die ganze Zeit am Rumnörgeln. Dabei hat sie so einen tollen Mann. Keine Ahnung, warum die trotzdem so mies drauf ist. Die hat garantiert keinen Grund dazu.«

Hier irrte sich Anita. Ilona Wassermann, Anitas Chefin, hatte ein einziges, aber enormes Problem: Es war hundertsiebenundachtzig Zentimeter groß, achtundvierzig Jahre alt, blond und mit breiten Schultern sowie einem höllischen Charme versehen. Alle Frauen, ob jung oder alt, ob ledig oder verheiratet, bekamen bei seinem Auftauchen feuchte Augen. Rainer wusste das und genoss es. Und er nutzte es aus. Weidlich. Er war einfach unglaublich schlecht im Neinsagen. Anita hätte das sogar bestätigen können, würde sie sich noch an diese eine Nacht im Fasching erinnern.

»Des hab ich net verdient, dass die mich so behandelt!« Die wütende Anita war noch lange nicht am Ende ihrer Schimpftirade angelangt. »Wenn die blöde Reismann mich net hingehängt hätte, dann könnt ich jetzt auf dem Moserhof in Ruhe erst amal frühstücken. Und müsst net unterm Küchenschrank rumkriechen. A bissle Staub hat noch niemanden umgebracht.«

Als sie die Rückseite des Hauses erreicht hatte, blieb sie kurz stehen und lugte angestrengt durch das nicht ganz saubere Fenster ins Innere des Schlafzimmers von Ilona Wassermann. Das große Boxspringbett mit dem Kopfteil aus Büffelleder war leer. Alles wirkte unberührt.

»Die Scheiben hab ich vergessen«, flüsterte sie frustriert. »Mist. Darf ich heut bestimmt auch noch putzen. Mit Wasser und dem Abzieher. Und Spiritus. Da wird mir jedes Mal schlecht. So ein Scheißtag.«

Sie ging weiter zu dem weißen Sichtschutz, der zusammen mit fünf hohen Kübelpalmen die Terrasse vom Rest des parkartigen Gartens trennte, und zwängte sich an der Abgrenzung vorbei auf den von einer Markise überdachten Teil der Terrasse.

Auf dem Massivholztisch zwischen den beiden Liegestühlen standen ein halb volles Weinglas, eine leere Flasche und ein voller Aschenbecher neben einem Mobiltelefon.

»Wie kann man bloß so saufen!« Anita ignorierte souverän ihre eigenen alkoholgeschwängerten, bis heute legendären Ausrutscher in der Disco »Alpenblick«. Die meisten davon hatte sie ohnehin vergessen, weil sie stets mit einem kompletten Filmriss geendet hatten.

Dann richtete sie ihr Augenmerk auf die Rückenlehnen der beiden Teakholzstühle mit der grünen Sitzauflage, für die Ilona ein Vermögen bezahlt hatte. Bei einem davon hing an der Seite ein blasser Arm herab, der den Boden berührte.

Sie trat einen Schritt näher an die Lehne heran und blieb dann in respektvollem Abstand stehen. »Frau Wassermann?«

Keine Reaktion.

Nun machte sich Anita lauter bemerkbar. »Guten Morgen, Frau Wassermann. Ich war frei heut pünktlich! Hab ein paarmal geklingelt, aber Sie ham mich net gehört. Hallo?«

Stille.

Allmählich wurde Anita mulmig. Ganz langsam, als bestünde der Boden aus glühender Lava, umrundete sie den Liegestuhl.

»Jesus, Maria und Josef«, entfuhr es ihr. In einem giftgrünen, knielangen Sommerkleid lag Ilona Wassermann regungslos auf dem Deckchair, mit weit aufgerissenen Augen und verzerrtem Gesicht. Sie würde ihr aller Wahrscheinlichkeit nach nie mehr einen Anpfiff verpassen. In ihren Mundwinkeln war weißer Schaum getrocknet, einer ihrer braun gebrannten Füße war nackt, der dazugehörige Schuh lag neben ihr auf dem Boden.

»Frau Wassermann?« Hilflos tippte Anita mit der Spitze ihrer goldenen Sandalette an den herabhängenden, unbeweglichen Arm ihrer Chefin, die blicklos ins Leere starrte.

»Ich sag’s ja. Ein Scheißtag.« Sie tat einen tiefen Seufzer, zog ein riesiges Smartphone in einer strassglitzernden Hülle aus ihrer Handtasche und wählte eine Nummer.

2

Eigentlich war alles wie immer in Legau, an diesem Donnerstagmorgen im Juli um sieben Uhr morgens. Ein strahlend blauer, nur von wenigen Schäfchenwolken durchzogener Himmel leuchtete über dem Unterallgäu und verwandelte wogende Getreidefelder und dunkel aufragende Wälder in eine Postkartenidylle. Bereits vor Stunden war die Sonne aufgegangen, ringsum wiegte sich leise raschelnd hoch aufgeschossener Mais in einer von der Adria kommenden sanften Brise wie zu einer unhörbaren Musik. Kühl und geheimnisvoll plätschernd wand sich die Iller anmutig durch ihr in Jahrtausenden ausgewaschenes Flussbett. Zufrieden grasten Kühe auf dunkelgrünen Weiden, und die Glocken um ihren Hals läuteten dazu scheppernd eine beruhigende Melodie. Der Sommer zeigte sich wieder einmal von seiner allerbesten Seite.

Aus der Bäckerei Fähndrich an der Hauptstraße trat soeben ein Mann in Arbeitskleidung, der genüsslich in ein Plunderhörnchen biss.

Ilse Scharnagel, rüstige Witwe und moralische Instanz eines kleinen, eingeschüchterten Dunstkreises, schlürfte wie jeden Tag, den Gott werden ließ, auf ihrer winzigen Terrasse eine Tasse durchscheinenden Filterkaffees. Ab und zu betrachtete sie stolz ihre prächtigen roten Kübelgeranien, die es über den achtzehnten Winter geschafft hatten. Dann blätterte sie mit Hilfe einer überdimensionalen Lesebrille weiter aufmerksam im ALDI-Prospekt. Später wollte sie, wie jeden Donnerstag, auf Schnäppchenjagd gehen.

In seinem geräumigen, luxuriös eingerichteten Bungalow brütete Jürgen Reichelt, Bauunternehmer und seit zwanzig Jahren vielversprechendster Kandidat für das Amt des Bürgermeisters, bei einem starken schwarzen Tee über dem Wirtschaftsteil der Augsburger Allgemeinen. Dabei fluchte er in nicht zitierfähigen Halbsätzen und teilte dabei mit knappen Worten telefonisch seine Flotte von Arbeitern für die heutigen Baustellen ein, stets mit der Drohung oder Ankündigung, persönlich nach dem Rechten zu sehen, falls etwas nicht klappen sollte. Es klappte alles. Immer.

Vor der Bäckerei Freytag saßen auf geflochtenen Stühlen Angestellte einer in Legau ansässigen Bio-Firma bei Cappuccino und Butterbrezeln zum ersten Frühstück des Tages und lasen konzentriert die neuesten Nachrichten auf ihren iPads.

Gestresste Mütter in picobello geputzten Einfamilienhäusern rafften hastig die über Nacht getrocknete Badekleidung der Kinder von bunten Wäschespinnen und bereiteten anschließend das Frühstück zu, denn es waren noch keine Sommerferien, und der Nachwuchs musste zur Schule. Ringsum begannen erste Rasenmäher zu brummen, denn später würde es für alle, außer für die fleißigen Landwirte, zu heiß zum Arbeiten sein.

»Das ist bestimmt deines. Liegt draußen.« Peter Sommer, der beste Ehemann von allen, ein schlaksiger dunkelblonder Mann Anfang vierzig, deutete zur Diele, als ein Telefon klingelte. Zusammen mit seiner Frau saß er in der aufgeräumten Küche des schmucken Einfamilienhauses im Neubauviertel von Legau bei einem üppigen Frühstück.

»Ach nö, nicht heute.« Sissi Sommer, eine bildhübsche Brünette Ende dreißig, Kommissarin beim K1 in Memmingen, erhob sich und strich sich eine Strähne ihres langen, lockigen Haares hinters Ohr.

»Das schmeckt so lecker. Hast du klasse hingekriegt, mein Lieber. Warte einen Moment, bin gleich zurück.« Während sie in die Diele huschte, bestrich Peter genüsslich eine frisch gebackene Waffel mit Honig und versuchte vergeblich, von der Unterhaltung etwas mitzubekommen. Das Gespräch dauerte nicht lange.

»Ich muss weg, mein Schatz.« Sissi war zurück und baute sich vor ihm auf. »Wir haben einen Fall, hier in Legau.«

»Hier? Im Dorf?«, fragte Peter verwundert. »Da ihr nicht losgeschickt werdet, wenn jemandem das Auto zerkratzt wird, wüsste ich gern: Wer ist denn tot? Es ist doch jemand tot, oder?«

»Geheimsache, Herzblatt. Wenn ich es dir sage, muss ich dich erschießen.« Sie grinste. »Du wirst es ohnehin erfahren, aber nicht von mir. Ich bin nicht so naiv zu glauben, irgendwas bliebe den hiesigen Buschtrommeln verborgen. Treib dich einfach an ein paar Stellen in Legau herum, die von unserer Klatschbase Erna Dobler frequentiert werden. Sie weiß garantiert noch vor uns, wer es war. Zumindest erzählt sie das immer herum.«

»Nun, beim letzten Mal, als dieser Typ mit einer Armbrust erschossen wurde, hat sie euch bei der Aufklärung geholfen«, erinnerte Peter seine Frau.

»Stimmt, und du hast dich vor ihren Karren spannen lassen, zusammen mit meinem Lieblingsreporter Robert Steinmeier«, schalt sie ihn halb scherzhaft. »Klaus kommt gleich, um mich abzuholen, meinte der Boss. So ein Jammer, deine Waffeln sind wirklich super.«

»Schade«, erwiderte Peter enttäuscht. »Du bist immer im Dienst. Solltest du nicht heute dienstfrei haben? Wir wollten doch zusammen ins Schwimmbad und anschließend im Gromerhof Eis essen. Außerdem haben wir uns vorgenommen, abends mal wieder richtig Spaß zu haben. Ich hab nur diese Woche frei.«

»So ist eben der Job. Musst leider ohne mich gehen.« Sissi band sich die Haare mit einer geschickten Handbewegung zusammen und zog dann prüfend an ihrem Pferdeschwanz. »Passt, sitzt und hat Luft. Schließ um Himmels willen nicht wieder irgendwas ans Internet an, solange ich weg bin«, bat sie ihn. »Hier funktioniert bald gar nix mehr. Heute Morgen bin ich über den Staubsaugerroboter gefallen, der sich anscheinend verlaufen hatte und nicht auf der Ladestation stand.«

»Ich mache unser Zuhause nur fit für die Zukunft«, verteidigte Peter sich. »Irgendwann wirst du mir dankbar sein.«

»Die Wahrscheinlichkeit, dass das je eintrifft, tendiert gegen null, glaub mir. Und das hier nehme ich mit. Danke.« Sie entwand ihrem verblüfften Mann die mit Honig bestrichene Waffel, hauchte ihm ein Küsschen auf die Stirn und verschwand hastig nach draußen.

»Hey, du tropfst das ganze Haus voll!«, schrie Peter ihr vorwurfsvoll hinterher, aber sie hörte ihn schon nicht mehr. Draußen lief sie dem dunkelblauen Kombi entgegen, der gerade zum Stehen kam, und öffnete die Beifahrertür.

»Moin, Kollegin. Damit kommst du mir nicht ins Auto.« Klaus Vollmer, ihr Kollege beim K1, zeigte auf die Waffel. Sein braunes Haar war kunstvoll zerzaust wie immer, und mit seinem Drei-Tage-Bart, dem kurzärmeligen Sommerhemd und dem kantigen Kinn sah er aus wie in der Werbung für ein romantisches Lagerfeuer am Yukon. Beinahe alle Damen im Revier schmachteten ihn an, denn er wirkte wie eine gelungene Mischung aus einem jungen Alain Delon, einem wütenden Antonio Banderas und einem angetrunkenen Johnny Depp.

Aufgrund einer Liebesgeschichte war Klaus vor Jahren von Berlin nach Memmingen gezogen und nach dem Ende der Affäre hiergeblieben. Seine diversen Versetzungsgesuche auf Stellen in einer größeren Stadt wurden jedes Mal abschlägig beschieden, weil er, abgesehen von seinen Lästereien über das Allgäu, ein hervorragender Mitarbeiter war, auch wenn der Boss täglich an seinem unrasierten Kinn herumnörgelte. Klaus’ Kollegen auf dem Revier hatten sich allmählich an sein Gejammer über die kulturelle Diaspora, in der er als verwöhnter Großstädter gelandet war, gewöhnt. Nur gelegentlich wurde ihm in der Kantine mit einer original bayerischen Watsche gedroht oder in den Cappuccino gespuckt, denn er machte sich viel zu oft über die hiesigen Gepflogenheiten und Traditionen lustig. Aber es war schon viel besser geworden, was zu einem großen Teil der bayerisch-schwäbischen Küche zu verdanken war, der Klaus einfach nicht widerstehen konnte.

»Was ist da drauf? Honig? Züchtet dein Mann jetzt Bienen? Zutrauen würde ich es ihm«, erkundigte sich Klaus misstrauisch. »Egal. Sieht verdächtig klebrig aus. Iss auf, ehe du einsteigst.«

»Meinetwegen.« Sissi biss hastig von der Waffel ab. »Bring Peter nicht auf blöde Gedanken«, nuschelte sie dann mit vollem Mund. »Derzeit will er aus unserem Zuhause ein Smarthome machen. Alles soll miteinander vernetzt sein und auf mündlichen Befehl funktionieren. Für die Waschmaschine haben wir jetzt sogar eine App, mit der man sie einschalten kann und nachsehen, ob sie schon beim Schleudergang ist. Aber solange die sich nicht selbst ausräumt und die Wäsche aufhängt, interessiert mich das nur peripher. Ach ja, und seit Neuestem sind wir stolze Besitzer einer großen schwarzen Kugel, die mit uns redet. Sie heißt ›Siri‹ und verrät ihm, wie das Wetter ist, obwohl er dazu nur aus dem Fenster sehen müsste. Ständig unterhält er sich mit ihr und stellt ihr überflüssige Fragen, zum Beispiel, wie viel ich wiege. Allerdings hat sie sich da elegant herausgeredet.«

Sissi verdrehte die Augen. »Warum lässt du mich nicht endlich einsteigen?«, beschwerte sie sich. »Ich bin doch gestraft genug.«

»Weil du es nicht schaffst, unfallfrei zu essen«, gab Klaus zurück. »Iss erst die Waffel auf. Neulich hast du einen Becher halb geschmolzenes Schokoladeneis auf meinem Polster ausgeleert. Zwei Tage später ist dir ein Veggie-Burger inklusive roter Soße in den Fußraum gefallen. Und erst gestern hab ich unter dem Sitz tatsächlich einen gammeligen Zwiebelring rausgezogen.«

»Das liegt an deinem Fahrstil. Ständig diese Spontanbremsungen. Du fährst, als hättest du Schluckauf, und bleibst nie in der Spur.«

»Das ist wegen eurer Kanaldeckel«, verteidigte er sich. »Die sind teilweise so tief eingesunken, dass ich mir die Felgen kaputt mache. Man kommt sich vor wie auf der Rallye Paris–Kempten. Nur dass ich keinen Preis kriege, wenn ich wieder mal mit heilen Felgen zu Hause angekommen bin.«

»Übertreib nicht immer so, Kollege.« Sissy schluckte den letzten Rest der Waffel hinunter. In ihren engen weißen Jeans und mit der himmelblauen Bluse, die dezent ihr Gürtelholster und ein paar frauliche Rundungen kaschierte, sah sie keinen Tag älter aus als fünfundzwanzig. »Ich wette, in Berlin gibt es Schlaglöcher, in denen eine Allgäuer Kuh versinken könnte.« Sie lachte und ließ sich ächzend auf den Beifahrersitz plumpsen.

»Fahr los«, bat sie und kramte in ihrem Beutel nach einem Taschentuch, um sich die Hände abzuwischen. »Wir müssen zum Haus von Ilona und Rainer Wassermann. Weißt du den Weg?«

»Schon im Navi.« Er trat aufs Gas. »Du kennst die doch mit Sicherheit. Wie alle hier im Ort.«

»Natürlich kenn ich sie. Die beiden sind nämlich lokale Berühmtheiten. Beste Freunde von Jürgen Reichelt übrigens, den du so gern mit J. R. aus der Serie ›Dallas‹ vergleichst. Und Arbeitgeber sind sie ebenfalls. Ilona und Rainer Wassermann gehört die Seifenmanufaktur ›Wohlgeruch‹ hier im Ort. Läuft super, der Laden. Sie haben fünfundzwanzig Angestellte, expandieren bundesweit und wollen ein EU-weites Vertriebsnetz aufbauen. Früher haben die beiden recht erfolgreich Versicherungen verkauft, dann kam Rainer auf die Idee, es mal in der Wellnessbranche zu versuchen, um noch mehr Geld zu verdienen. Der Mann hat immer so tolle Ideen. Seit gut zehn Jahren produzieren sie nun exklusive Badekosmetik. Badebomben, hochwertige Seifen mit biologischen Zutaten, Badesalze und so weiter. Die Produkte sind wirklich spitze, nur leider nicht ganz billig. Peter schenkt mir gelegentlich einige davon zum Geburtstag. – Mist. Mach schneller.«

Verstohlen gab sie ihm unter dem Armaturenbrett ein heimliches Zeichen und wandte den Kopf einer dünnen älteren Dame Mitte siebzig zu, die mit einer voluminösen Papiertüte aus der Bäckerei Freytag kam und zu einem weißen Elektrofahrrad schlurfte, das an der Hauswand lehnte. Sie trug eine große Sonnenbrille mit weißem Rand, mit der sie aussah wie ein aufgescheuchter nachtaktiver Vogel.

»Morgen, Frau Dobler!« Klaus winkte grinsend aus dem Fenster.

»Spinnst du?«, flüsterte Sissi erschrocken. »Ich krieg schon Kopfschmerzen, wenn ich sie nur sehe. Jetzt ist sie auf uns aufmerksam geworden und spioniert uns garantiert nach. Das hat mir noch gefehlt.«

»Ach was, die holt uns nicht ein, mein Auto hat viel mehr PS als ihr Besen.« Klaus lachte und gab Gas.

Erna Dobler sah ihnen aufmerksam hinterher und wühlte dann ein großes Seniorenhandy aus den Tiefen des uralten taubenblauen Übergangsmantels, den sie bei jedem Wetter trug. Es klingelte leise, als die von Ernas Mutter im Zweiten Weltkrieg im Saum eingenähten Reichsmark, von denen Erna bis zum heutigen Tag keine Ahnung hatte, leicht geschüttelt wurden. Ein Passant hielt irritiert inne und ging dann beruhigt weiter. Kein Tinnitus, nur eine ältere Dame mit Opfergeld für die Kirche in der Tasche. Gott sei Dank.

»Was für ein schönes Anwesen.« Bewundernd betrachtete Klaus die große Villa mit der verspiegelten Fensterfront. »Das sind mindestens dreihundert Quadratmeter Wohnfläche. Dazu eine unverbaute Aussicht auf die Alpen. Ein Traum. Das würde mir gefallen. Will ich auch haben.«

»Dann hoffe ich, dass dein Gehalt auch für eine Reinigungskraft reicht, oder zwei. Plus Gärtner«, meinte Sissi. »Aber das Haus ist wirklich schön. Ilona und Rainer Wassermann haben es vor über zwanzig Jahren günstig von einem Architekten gekauft. Heute ist es vermutlich über eine Million wert, wenn nicht noch viel mehr.« Sie deutete auf mehrere Pkw, die auf der Straße standen. Vor der metallenen Eisentür waren zwei Polizisten in Uniform postiert. »Die Spurensicherung ist auch schon da. Wow.«

»Wir haben Glück, heute war noch nichts anderes los. Ist ja auch früh am Tag.« Er sah Sissi an. »Interessiert dich denn gar nicht, wer die Tote gefunden hat?«

»Doch, natürlich. Sag mal, warum grinst du denn so?«, fragte Sissi misstrauisch. »Solange es nicht Erna Dobler ist, bin ich zufrieden.«

»Dein Mann ist zu beneiden, du hast wenig Ansprüche.« Klaus schmunzelte. »Nah dran. Nein, Erna Dobler war es nicht, wir sind ja eben an ihr vorbeigefahren. Deine ehemalige Schulkameradin wartet hier auf uns. Du weißt schon, die mit dem strapaziösen Vorleben und der durchgehend geöffneten Auslage.«

»Anita? Ist nicht wahr!«, rief Sissi grimmig. »Hab ich eine Kettenmail nicht weitergeleitet? Oder bin ich diese Woche unter einer Leiter durchgelaufen?«

»Als ob du abergläubisch wärst, Kollegin. Ich kenne keine größere Pragmatikerin als dich.« Klaus stellte den Motor ab, stieg aus dem Wagen und streckte sich genüsslich.

»Jetzt komm schon raus«, bat er, denn Sissi war mit verschränkten Armen sitzen geblieben und zog eine Schnute.

»Du weißt doch, wo Anita ist, da ist auch Erna nicht weit«, sagte sie stöhnend. Widerwillig quälte sie sich aus dem Auto, kramte in ihrer Umhängetasche und streifte sich dann Einweghandschuhe über. Klaus tat es ihr nach. »Wahrscheinlich hat Anita sie vor uns angerufen. Mir bleibt wirklich nichts erspart. Brauche ich eigentlich noch mehr Informationen? Was ich bisher erfahren habe, ist ein wenig mager. Der Boss war recht kurz angebunden. Als ich ihn nach der mutmaßlichen Todesursache fragte, meinte er grantig, es sei unser Job, das rauszufinden, vermutlich handle es sich um einen Unglücksfall, es müsse aber abgeklärt werden. Der hatte auch schon mal bessere Laune. Ilona Wassermann war höchstens Mitte vierzig, zumindest ist dies das Alter, das sie offiziell zugegeben hat. Ich kannte sie nur oberflächlich. Es gab nicht viele Berührungspunkte zwischen uns.«

»Viel haben wir tatsächlich nicht, Sissi. Nur dass Frau Wassermann tot auf ihrer Terrasse entdeckt wurde. Anita Hoff, die dort arbeitet, hat sie gefunden.«

»Tut mir echt leid um sie«, sagte Sissi bedrückt. »Ist ihr Mann im Haus?«

»Rainer Wassermann befindet sich auf der Rückreise von Frankfurt, wo er sich seit Montag geschäftlich aufgehalten hat«, informierte Klaus sie. »Der Boss hat ihn angerufen. Herr Wassermann müsste im Laufe des Vormittags hier eintreffen und wird sich dann umgehend mit uns in Verbindung setzen. Er soll laut Boss am Telefon in Tränen ausgebrochen sein.«

Sissi seufzte. »Wirklich ein Jammer. Ilona war eine tüchtige, resolute Frau, wenn auch mit ein paar Problemen. Wie mir meine Oma schon immer predigte: unter jedem Dach ein Ach.«

»Welches Ach denn?«, wollte Klaus interessiert wissen, während sie den schmalen, von Rosenbüschen gesäumten Weg beschritten, der zur Rückseite des Hauses führte.

»Später. Jetzt haben wir keine Zeit dazu. Was für ein Tag.« Sissi zeigte auf die Terrasse. Eine sichtlich übel gelaunte Schwarzhaarige in knappem Outfit beobachtete aufmerksam einen Mann von der Spurensicherung, der den Fundort mit Absperrband sicherte, und verstaute hastig ihr Handy in einer glitzernden Handtasche, als sie die beiden erkannte.

»Morgen, Frau Sommer, Herr Vollmer«, begrüßte Seibold von der Spurensicherung die zwei. »Der Dr. Heinzelmann ist schon wieder unterwegs. Ich soll Ihnen ausrichten, den Todeszeitpunkt kann er nicht genau angeben, er meint aber, aufgrund des Zustands muss es auf jeden Fall um Mitternacht herum passiert sein. Weitere Auskünfte nach der Obduktion, wenn er die Lebertemperatur hat. Sie sind spät dran, wohl erst mal in aller Ruhe gefrühstückt? Da ist noch was.« Er deutete auf einen winzigen Klecks Honig in Sissis Mundwinkel.

»Wirklich ein gutes Auge, Herr Seibold. Immer noch Ärger mit dem Magen?«, fragte sie mitfühlend.

Er nickte grimmig. »Nicht mehr lange, dann bin ich in Pension. Sobald Sie fertig sind, geben Sie mir bitte Bescheid.«

»Danke, Herr Seibold. Was für eine Tragödie.« Sissi wandte sich Anita zu, die ungeduldig wartete.

»Da schau her. Die liebreizende Frau Sommer. Endlich. Servus, Sissi. Hast a bissle zugelegt. Steht dir aber.« Aufreizend langsam nahm Anita ihre riesige Sonnenbrille ab und hängte sie mit einem Bügel in ihrem Dekolleté ein. »Hallo, Herr Vollmer. Sie ham trainiert, gell? Sieht man. Net schlecht.«

»Guten Morgen, Anita. Google mal das Wort ›Pietät‹«, riet ihr Sissi. »Du stehst neben einer toten Frau. Mit wem hast du eben telefoniert?«

»Weiß schon, was des heißt«, verteidigte Anita sich patzig. »Da brauch ich net googeln, bin ja net blöd. Und mit wem ich telefoniert hab, geht dich nix an. Ich bin a freier Mensch.«

»Ist mir auch immer eine Freude, dich zu treffen«, antwortete Sissi gelassen. »Ich hab gehört, du arbeitest seit einiger Zeit für die Familie Wassermann. Als was?«

»Was glaubst du denn, als was?«, fauchte Anita sie an. »Passt dir mein Stil net? Bloß weil ich anderen Leuten den Dreck wegmach, muss ich ja net rumlaufen, als hätt ich meine Klamotten aus dem Altkleidercontainer geangelt, so wie gewisse andere Personen. Ich sag jetzt mal lieber keine Namen.« Abfällig betrachtete sie Sissis hellblaue Bluse.

»Also Haushaltshilfe?«, vergewisserte Sissi sich ungerührt.

Anita nickte grimmig. »Jeder muss schauen, wo er bleibt. Ich bin ja net so glücklich verheiratet und im öffentlichen Dienst wie du, sondern a arme, alleinerziehende Mutter in der freien Wirtschaft, und ich hab’s schwer.«

»Mir kommen gleich die Tränen«, antwortete Sissi trocken. »Taschentuch?«

»Meine Damen, wir wollen bitte sachlich bleiben«, bat Klaus.

»Die hat angefangen«, verteidigte sich Anita. »Total unprofessionell. Weil sie seit der Schule glaubt, ich bin a offenes Tuch für sie.«

»Sie sind also morgens zur Arbeit angetreten, und Frau Wassermann lag in diesem Stuhl?«, versuchte Klaus, das Gespräch in die richtigen Bahnen zu lenken.

»Ja«, bestätigte Anita. »So hab ich sie schon einmal gefunden, auf dem Sofa unten im Wohnzimmer. Damals ist sie allerdings aufgewacht, als ich Kaffee gekocht hab. War wohl gestern das letzte Glas Wein schlecht.«

»Wollen Sie damit ausdrücken, dass sie Ihrer Meinung nach zu viel getrunken hatte?«, erkundigte sich Klaus.

»Sie hat öfter mal den Eindruck gemacht, als hätt se ein Gläsle zu viel erwischt«, sagte Anita. »Dazu hat sie massenhaft Tabletten für die Nerven geschluckt und geraucht wie a Schlot. Ich hab mich oft gewundert, wie sie des durchhält. Die Frau ist gesundheitlich schon lang auf Reserve gefahren. Aber warum so a Volksauflauf? Des war einfach Pech.« Sie zeigte auf die Kollegen von der Spurensicherung.

»Volksauflauf? Sie haben doch die Polizei verständigt!«, sagte Klaus. »Und was meinen Sie mit ›Pech‹?«

»Des da.« Anita deutete mit dem Finger auf Ilona Wassermann, auf deren linker Handfläche eine tote Biene lag. »Ich hab net die Polizei verständigt, sondern den Dr. Maier. Der hat dann bei euch angerufen. Und jetzt seids ihr da. Endlich. Ihr habts euch ganz schön Zeit gelassen.« Es klang vorwurfsvoll.

»Anita, es ist normal, dass ein Arzt uns verständigt, wenn etwas unklar sein könnte«, belehrte Sissi sie. »War Frau Wassermann gegen Bienengift allergisch? Und hast du irgendetwas angefasst?«

Entsetzt über diese Frage, schüttelte Anita ihre Mähne. »Hab natürlich nix angelangt. Igittigitt. Und ja, sie hat mir gleich am ersten Tag mitgeteilt, dass sie allergisch ist, drum auch überall die Fliegengitter und die Insektenschutztüren. Die war echt panisch. Ständig hat sie so ein Ding mit sich rumgeschleppt. Da, schau.« Sie wies auf eine Stelle, ungefähr einen Meter von dem Liegestuhl mit der Toten entfernt.

»Ein Epi-Pen, mit Antihistamin.« Sissi eilte zu dem Gegenstand, hob ihn auf und tütete ihn ein. »Merkwürdig, er liegt ziemlich weit weg. Sie war also Allergikerin. Und wurde von einer Biene gestochen. Wie schrecklich.«

»Ich muss mit der Mama jetzt jeden Sonntag in die Kirche rennen«, beklagte sich Anita ungerührt. »Ist auch net toll. Und ich darf wieder mal aufs Arbeitsamt. Die eine Sachbearbeiterin ist so eine Bitch, die hat’s auf mich abgesehen. Hast wirklich keine Ahnung vom wirklichen Leben, Frau Sommer. Wann kommt der Rainer Wassermann eigentlich heim?«

»Du Arme.« Sissi fasste sich mit schmerzverzerrter Miene an die pochenden Schläfen. »Bald. Wie lange bist du schon hier beschäftigt?«

»Knapp zwei Monate«, antwortete Anita mürrisch. »Die Reismann, die dürre Alte im Moserhof, der jetzt ein Teil von dem Laden gehört, hat mich rausgeschmissen. Dabei hab ich gar nix gemacht.«

»Gar nix gemacht«, wiederholte Sissi halblaut und überhörte Anitas wütendes Schnauben.

»Ich erinnere mich an Frau Reismann.« Klaus lächelte Anita aufmunternd zu. »Und an den Fall, in dem wir im Moserhof ermittelt haben. Sie werden bestimmt einen neuen Job finden, Frau Hoff.«

»Darauf können Sie wetten. Muss ja, sonst schmeißen mich meine Eltern raus.« Anita setzte ihre riesige Sonnenbrille wieder auf.

»War heute Morgen etwas anders als sonst?«, wollte Sissi wissen.

»Na, alles wie immer. Bin ganz normal gekommen, pünktlich um sieben. Ich glaub, die hat schon jedes Mal hinter der Haustür auf mich gewartet mit der Stoppuhr in der Hand. Dann hat sie mich rumkommandiert wie a Feldwebel, und wenn ich fertig war, ist sie in die Firma gefahren, damit sie die Nächsten schikanieren kann. Heut Morgen hab ich geklingelt wie sonst auch, aber keiner hat aufgemacht.«

»Hatten Sie denn keinen Schlüssel?«, wunderte sich Klaus.

»Des wollt se net«, verneinte Anita, was aber nicht ganz ehrlich klang. »Der volle Kontrollfreak. Ich hätte ja was von ihrem Schmuck klauen oder mir auf ihre Kosten einen Kaffee machen können. Die hat ja net amal erlaubt, dass ich bei ihr auf die Toilette geh. Hab sie bloß putzen dürfen.«

»Irgendwie schon«, pflichtete Klaus ihr bei. »Und dann haben Sie auf der Terrasse nachgesehen.«

»Ja. Die Wohnzimmertür zum Garten hin hat sie öfter mal vergessen zuzumachen. Vielleicht hat sie gedacht, macht ja nix, weil überall die Fliegenschutztüren sind.«

»Vorher hast du erwähnt, dass sie eventuell zu viel trank. Gab es weitere Anhaltspunkte für deine Vermutung?«, fragte Sissi.

»Ich bin jetzt seit zwei Monat da, und ich komm fünfmal in der Woch. Da kriegt man einiges mit. Man hat net übersehen können, dass mit der was net stimmt. Mit so was kenn ich mich aus. Hab ja mal im ›Alpenblick‹ bedient, an der Bar. Die meiste Zeit hat sie Augenring g’habt wie ein Waschbär. Plus einer Saulaune. Gar net wie der Rainer, der war alleweil nett zu mir. Und gut aufgelegt.«

»Warst du gestern auch hier?«

»Ja. Ich komm bloß samstags und sonntags net. Gestern früh war alles normal. Hab sauber gemacht, leere Weinflaschen weggefahren und einen Anschiss kassiert. Also wie immer.« Anita rümpfte die Nase.

»Weißt du, ob Frau Wassermann mit jemandem Streit hatte? Oder Feinde?«

»Mei, wo soll ich da anfangen?«, sagte Anita gehässig. »Fragst halt amal in der Firma nach. Wenn sich überhaupt einer traut, den Mund aufzumachen. So viele Unternehmen, bei denen man Arbeit kriegt, gibt’s hier net. Die Angestellten beißen sich wahrscheinlich lieber die Zunge ab, ehe sie was rauslassen. Ich weiß halt, dass ein paar von denen fast zweihundert Überstunden vor sich herschieben. Ausgezahlt kriegen sie die aber net, weil des angeblich finanziell nie so richtig passt. Freinehmen dürfen sie aber auch net, weil ständig so viel Arbeit da ist. Drum hab ich mich dort auch net beworben. Bin ja net auf der Brennsupp dahergeschwommen.«

»Okay. Danke, Anita. Wo erreichen wir dich, wenn wir eventuell Auskünfte brauchen?«, fragte Sissi.

»Wo schon? Beim Papa und bei der Mama. Als ob du des net wüsstest.«

»Wusste ich tatsächlich nicht.« Sissi schloss für eine Sekunde die Augen und atmete tief ein. »Du bist in letzter Zeit relativ tief unter meinem Radar geflogen, und beim Friseur Reisacher war ich schon länger nicht mehr. Keine Zeit für Dorfklatsch. Also wohnst du jetzt vorübergehend bei deinen Eltern. Was macht dein Freund Kai, der als Koch auf dem Moserhof arbeitet?«

»Nix.« Anitas Miene verschloss sich.

»Sie haben uns geholfen, Frau Hoff«, bedankte sich Klaus. »Und Sie sollten bitte aufs Revier kommen und Ihre Aussage zu Protokoll geben. Beim Kollegen Dollinger. Der freut sich, wenn Sie ihn besuchen. Bitte noch innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden.«

»Ihr denkts auch, Wunder wer ihr seids, weil ihr die Leut so in der Gegend rumschicken könnts«, schimpfte Anita. »Habt ihr eine Ahnung, was des Benzin grad kostet? Ihr solltets mal einen Tag lang so hart für euer Geld schaffen müssen wie ich, damit euch das Lachen vergeht.«

»Ja, wir kommen aus dem Lachen gar nicht mehr raus«, versicherte Sissi ihr trocken. »Ich muss dich auffordern, über diese ganze Angelegenheit Stillschweigen zu bewahren.«

»Ich will auch viel, wenn der Tag lang ist«, pfurrte Anita sie an. »Du hast mir gar nix zu sagen.«

»Ach, sorry, ich hatte vergessen, mit wem ich spreche, natürlich wirst du das nicht tun«, antwortete Sissi. »Danke für deine Hilfe. Wir melden uns bei dir.«

»Muss net sein.« Anita wandte sich zum Gehen. »Ich hau jetzt ab. Schätze, heut muss ich wohl nimmer putzen. Machts net so viel Dreck beim Durchsuchen. Vielleicht braucht der Rainer ja jemanden, der ihm im Haushalt hilft, jetzt, wo er ganz allein ist. Des bin dann hoffentlich ich. Bleibt also alles an mir hängen, wenn ihr einen Haufen Unordnung veranstaltets.« Anita lugte kurz über den Rand ihrer schwarzen Sonnenbrille durch die Glastür ins Wohnzimmer und stöckelte dann am Haus entlang in Richtung Straße. Gerade als sie um die Ecke verschwand, klingelte ihr Telefon.

»Morgens ist sie noch ungenießbarer als sonst. Und die einzige Möglichkeit, sie am Plaudern zu hindern, wäre entweder ein Knebel oder eine Einzelzelle, beides ist mir verboten«, wisperte Sissi grimmig. Dann inspizierte sie die Terrasse.

»Ein halb volles Glas, eine beinahe leere Flasche, ein voller Aschenbecher. Ein Mobiltelefon. Sieht nach einem tristen Abend aus, Klaus.«

»Man kann auch mit viel Geld unglücklich sein«, sagte er. »Sissi, du wolltest mir erzählen, welche Probleme Frau Wassermann hatte.«

»Rainer ist nicht der treueste Ehemann aller Zeiten«, verriet sie ihm. »Und auch nicht sonderlich vorsichtig mit seinen Affären, man hat ihn schon mehr als einmal hier in der Gegend mit unbekannten Schönheiten ertappt. Weiß ich von Frau Dobler. Wir haben uns alle gefragt, wie lange das noch gut geht, denn das Vermögen hat sie in diese Ehe mitgebracht, er besaß nur seinen teuflischen Charme und einen Schrank voller maßgeschneiderter Anzüge. Das hat Ilona oft genug herablassend erwähnt, wie mir wiederum beim Friseur Reisacher zugetragen wurde. Rainer hat eben was übrig für schöne Frauen und kann nicht von ihnen lassen. Die Firma wird … wurde hauptsächlich von Ilona geleitet, weil er sich die meiste Zeit im Außendienst befindet. Im Knüpfen von Kontakten ist er unschlagbar, du wirst ihn ja kennenlernen. Ich hab keine Ahnung, warum das Arrangement der beiden so lange funktionierte, vermutlich konnten sie nicht ohne einander leben. Gemunkelt wird seit Jahren von einem Rosenkrieg, der teilweise sogar in der Firma vor den Angestellten ausgetragen wurde. Aber sobald man auf das Thema zu sprechen kommt, machen die Mitarbeiter dort alle dicht. Keiner traut sich, was zu sagen. Andere Frauen hätten vermutlich schon längst die Notbremse gezogen, aber Ilona zog es vor, ihren Kummer für sich zu behalten und in Wein zu ertränken. Wahrscheinlich liebte sie ihren Mann einfach zu sehr und kam nicht von ihm los.«

»Frau Wassermann ahnte also, dass ihr Gatte nicht treu war?«, fragte Klaus. »Das ist sehr traurig. Wer es schafft, Anita Hoff dermaßen einzuschüchtern, dem hätte ich zugetraut, dem eigenen Mann Paroli zu bieten.«

»Dass sie davon wusste, ist anzunehmen«, bestätigte Sissi. »Ilona war alles, aber nicht dumm. – Klaus, ich hab schon wieder dieses altbekannte Ziehen in der Magengegend. Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht. Und ausnahmsweise hat das nichts mit unserer seit Neuestem astroschwarz gefärbten Geierwally zu tun. Deren Gewissen ist zu neunundneunzig Prozent rein, denn sie benützt es ja nie.«

»Dein Bauchgefühl, Kollegin?«, fragte Klaus. »Im Grunde sieht es nach einem bedauernswerten Unglücksfall aus. Wurde der Epi-Pen eigentlich angewendet?« Er inspizierte die Tote gründlich. »Nichts zu erkennen, weder an den Armen noch an den Schenkeln. Kein abgebrochener Nagel, weder Abwehrspuren noch sonstige Verletzungen. Der Stachel steckt in ihrer Hand. Warum hat sie den Epi-Pen nicht genommen, wenn sie ihn doch stets bei sich führte, für genau so eine Gelegenheit?«

»Er könnte ihr aus den Fingern geglitten sein. Ein anaphylaktischer Schock führt zu Kreislaufversagen, wenn man nicht sofort etwas dagegen tut«, erwiderte Sissi nachdenklich. »Hm, gestern ist es um kurz nach halb zehn Uhr dunkel geworden. Daran erinnere ich mich, weil ich auf die Uhr gesehen habe, als unsere Solarlichter im Garten aufleuchteten. Wir haben sie erst letzte Woche gekauft und freuen uns dran. Sind Bienen eigentlich im Dunkeln unterwegs?« Ratlos kraulte sie sich das Kinn. »In meinem Garten hab ich in der Nacht noch nie eine gesehen.«

»Ich schaue im Internet nach, das muss fürs Erste genügen.« Er aktivierte sein Handy und tippte auf dem Display herum, während Sissi die Terrasse abschritt und dann die geöffnete Terrassentür genauer inspizierte.

»Hier! Hab es!«, rief er. »Wie ich diesem Imkerforum im Netz auf die Schnelle entnehmen kann, ist es sehr selten, dass Bienen nachts ausschwärmen. Ausnahmen gibt es natürlich immer. Es könnte eine Nachzüglerin gewesen sein.«

»Und wie weit entfernen die sich von ihrem Stock?«, wollte sie wissen.

»Ich kann dir nur sagen, was ich hier lese, Kollegin. Die einen meinen, bis zu fünf, die anderen, bis zu acht Kilometer. Ich vermute aber mal, das gilt nur bei Tageslicht.«

»Da ist was faul«, murmelte Sissi. »Oberfaul sogar.«

»Das ist ein wenig dünn als Ermittlungsgrund, sie kann ja auch schon früher gestochen worden sein«, wandte Klaus ein.

»Mir ist es dick genug.« Sissi richtete sich auf. »Frau Wassermann war eine toughe Frau und auf eine derartige Situation mit Sicherheit schon ihr Leben lang vorbereitet. Vielleicht ist ihr das auch nicht zum ersten Mal passiert. Klar kann ich mich irren, schließlich wissen wir jetzt, dass sie auch Beruhigungsmittel einnahm und gelegentlich zu viel getrunken hat. Aber ich finde es trotzdem merkwürdig, dass diese einsame Biene ausgerechnet auf sie getroffen ist.«

»Ich auch«, gab Klaus zu.

»Wir lassen checken, ob es hier in der Nähe Bienenstöcke gibt«, beschloss Sissi. »Sie kann genauso gut bei Tageslicht gestochen worden sein, aber trotzdem stimmt was nicht. Glaub mir.«

»Sissi, ich bin wie immer auf deiner Seite«, stimmte Klaus ihr zu. »Du hast dich noch nie getäuscht.«

»Nach Besuch sieht dieses Stillleben allerdings nicht aus.« Sissi besah sich das halb leere Glas von Nahem. Dann hob sie das Mobiltelefon der Toten vom Tisch. »Ein Samsung Galaxy S22«, flüsterte sie zufrieden. »Das könnte klappen.« Behutsam drückte sie den Daumen von Ilona Wassermann auf den Fingerabdruckscanner. »Schau mich nicht so vorwurfsvoll an, Klaus, das kläre ich später mit dem Boss. Ist ein Notfall.«

»Nein, bisher ein Unglücksfall, liebe Kollegin, wir haben noch keinen Beschluss«, warnte er sie.

»Jetzt nicht mehr.« Sissi hatte Ilonas Telefon aktiviert und scrollte sich durch die Einstellungen. »So bleibt es eingeschaltet. Und unser Hans Dollinger tut sich leichter. Mit wem hat sie gesprochen? Oder geschrieben? Feinde gab es ja anscheinend genug. Wo ist denn die Anrufliste? Oh, hier. Nur einer gestern, von ›IN‹ gegen zwanzig Uhr, dem Kontaktfoto nach zu urteilen, ihr Mann. Sieht wirklich gut aus. Er hat sich also gestern Abend bei ihr gemeldet. Da lebte sie definitiv noch, denn das Gespräch dauerte elf Minuten.«

»›IN‹ bedeutet ›im Notfall informieren‹, Sissi. Mann, so was hab ich in meinem Kontaktverzeichnis gar nicht. Dürfte ich dich als IN eintragen?«

»Üblicherweise wäre nicht ich zuständig, sondern deine Freundin«, sagte sie skeptisch. »Welcher Notfall sollte das sein? Ein tief liegender Kanaldeckel und ich komme dann mit dem Felgen-Reparaturset?«

»Die Dinger sind ein ernsthaftes Problem, Sissi«, stöhnte er. »Nein, vielleicht werde ich irgendwann gezwungen, etwas zu mir zu nehmen, das mir nicht bekommt, dann würde ich mein Schicksal gerne in deine Hände legen, ehe man mir den Magen auspumpt.«

»Was Falsches zu dir nehmen?« Sie streckte ihm die Zunge heraus. »Etwas mit weniger als siebentausend Kalorien pro Portion, du Vielfraß?«

»Du hast ja keine Ahnung«, beteuerte er todernst. »Ich werde seit einigen Wochen gefoltert.«

»Irgendwann werde ich deine Witze bestimmt mal verstehen, Klaus.« Sissi zuckte mit den Achseln. »Ist vermutlich Berliner Humor. Zurück zu den Bienen, die nachts eigentlich in ihrem Stock sein sollten. Sind wir uns einig, das hier was nicht stimmt?«

»Kein Unfall«, stimmte Klaus ihr zu.

»Ich besorg den Durchsuchungsbefehl. Und gleich noch einen für die Geschäftsräume.« Sie zückte ihr eigenes Handy und sprach kurz mit Hans Dollinger auf dem Revier. Dann winkte sie der Spurensicherung. »Wir sind hier fertig und gehen rein. Sie können sie mitnehmen«, informierte sie Seibold. »Glas, Flasche und Aschenbecher sollten schnellstmöglich ins Labor. Bringen Sie mir was, irgendetwas. Ein Haar, eine Zigarettenkippe, eine Fußspur. Die Sachlage hat sich soeben geändert.«

»Ich bin net David Copperfield, gnädige Frau.« Seibold schaute sie griesgrämig an. »Aber wenn hier irgendwas ist, finden wir es auch, keine Sorge.« Er gab seinen Leuten ein Zeichen.

Dann betraten beide Ermittler durch die weit geöffnete Terrassentür das Haus.

In dem vierzig Quadratmeter großen Wohnzimmer drehte sich Klaus beeindruckt einmal um die eigene Achse.

»Polierter Granit, Perserteppich, in den Boden eingelassene Sitzgruppe, offener Kamin, monströser Weinkühlschrank und tatsächlich ein Humidor«, staunte er. »So stelle ich mir eine Villa in Beverly Hills vor. Aber wo ist der Fernseher?«

»Apropos Beverly Hills. Wie geht’s deiner bildschönen Lebensgefährtin?«, fragte Sissi.

»Nicht so doll, dieses Beziehungsleben«, gestand er. »Mir wird das allmählich zu eng. Es fühlt sich an, als wäre ich seit Jahrzehnten verheiratet. Neulich hat Annalena einen Schongarer angeschleppt, einen Topf mit Deckel, Stromanschluss und über sechs Litern Fassungsvermögen, der irre viel Platz in meiner winzigen Küche beansprucht. Sie war beleidigt, weil ich keinen freudigen Luftsprung gemacht habe. Was soll ich mit so etwas? Ich benütze meinen Herd höchstens mal für Rührei, ansonsten nehme ich die Mikrowelle. Warum müssen einem Frauen immer Vorschriften machen, was man zu essen hat, oder versuchen, einen zu ändern?«

»Einen Schongarer? Davon hab ich gelesen.« Sissi schmunzelte. »Man soll damit Mahlzeiten stromsparend und vitaminschonend zubereiten können. Außerdem ist das Essen angeblich intensiver im Geschmack. Peter liebäugelt mit einem für das Kochen von Gulasch. Er behauptet, das Fleisch würde damit viel zarter werden.«

»Ich bin jedenfalls nicht begeistert und warne dich hiermit offiziell«, verkündete Klaus düster. »Annalena und ich treffen uns dreimal die Woche. Jedes Mal kommt sie Stunden früher, wirft irgendwas in diesen Pott und dünstet es anschließend zu Tode. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie Gebratenes schmeckt.«

»Es schmeckt dir nicht?«, erkundigte sich Sissi grinsend. »Ach, deswegen nennst du das Folter.«

»Sissi, die knallt einfach alles da rein«, beschwerte er sich. »Nudeln, Gemüse, Kartoffeln, Reis, was immer sie in meiner Küche findet. Neulich sogar eine halbe Blutwurst, die ich mir fürs Wochenende aufgehoben hatte. Und das köchelt sie dann. Stundenlang. Abends, wenn ich müde nach Hause komme, gibt es Pampe. Nicht mal der Hund will das fressen. Harro hat dran geschnuppert und sich dann frustriert umgedreht. Wenn das so weitergeht, praktiziere ich Trennkost: Sie isst bei sich zu Hause und ich bei mir. Jeder für sich allein.«

»Sie meint es bestimmt nur gut mit dir«, beruhigte ihn Sissi. »Und will, dass du lange lebst. So wie du dir in unseren Mittagspausen die Kässpatzen und Leberkässemmeln reinziehst, wundert es mich, dass man dir im Klinikum nicht schon mindestens drei Stents verpasst hat.«

»Mir hat schon ihre italienische Phase gereicht«, fuhr Klaus fort. »Ständig gab es Gerichte, die ich nicht aussprechen und sie nicht kochen konnte, aber essen musste ich sie trotzdem. Wir werfen ja nichts weg, weil wir hier im Allgäu sind, wo man Reste bis zur Unkenntlichkeit zerhackt, sie als Füllung in Maultaschen reinschummelt und behauptet, das wäre nachhaltig. Auf die Weise esse ich also oft drei Tage hintereinander dasselbe, nur mit Nudelteig drum herum.« Er stöhnte. »Und in Italien waren wir trotz dieser Cannelloni-Folter nie, weil ich keinen Urlaub bekommen habe.«

Sissi musste lachen. »Ja, sparsam sind wir. Und erfinderisch.«

»Nächste Woche ist sie auf Lehrgang«, verkündete Klaus rebellisch. »Für einen Monat. Dann lasse ich mir jeden zweiten Tag Pizza liefern, und den Rest der Woche esse ich, worauf ich sonst noch Bock habe, solange es nur knusprig und mit einem Pfund Käse überbacken ist. Stell dir mal vor, ich tue mittlerweile sogar Dollinger leid, und das will was heißen.«

»Ja, mach das. Und anschließend jammerst du uns auf dem Revier die Ohren voll, weil du zugenommen hast, Mister Universum.« Sissi zwinkerte ihm zu. »Wir teilen uns auf. Ich beginne im Badezimmer, und du Berliner Kellerkind fängst in der unteren Etage an. Dahinten im Flur ist eine breite Treppe.« Sie machte sich an die Arbeit.

»Sissi, ich weiß jetzt, wo der Fernseher ist!«, rief Klaus, der soeben an einem großen, beinahe leeren Raum vorbeikam, dessen Tür halb offen stand. »Die haben dafür ein eigenes Zimmer. Wow!«

3

»Warum wolltest, dass ich ausgerechnet hierher komm? So eine blöde Idee.« Missmutig schaute sich Anita im EDEKA um, der um diese frühe Tageszeit nur mäßig besucht war. »Angerufen hast mich doch vom Bäcker Freytag aus, wieso hast net dort auf mich gewartet? Mir hätten schön im Freien einen Kaffee trinken und a Nusshörnle essen können, aber nein, du bestellst mich hierher. Die Füß tun mir weh, Hunger hab ich auch und dazu garantiert einen Schock. Weil ich jetzt zu neunundneunzig Prozent wieder arbeitslos bin.« Ein vorwurfsvoller Blick traf Erna. »Heimgehen kann ich auf keinen Fall vor dem Spätnachmittag, sonst muss ich beim Siloschnitt helfen. Was, wenn die Mama jetzt reinkommt zum Einkaufen?«

»Mir sind da, weil ich heut Abend Krautwickel mach und a Hackfleisch brauch, des ist grad im Angebot«, erklärte Erna Dobler ihrem Schützling geduldig. »Nachher gehen mir zwei zu mir nach Haus. Da kostet dich der Kaffee nix, und ich hab vom Sonntag noch a Donauwelle im Kühlschrank. Ihr jungen Leut wollts alleweil in der Wirtschaft hocken und euer Geld raushauen. Ich bin a arme Rentnerin und muss sparen.«

»Erna, erzähl mir nix, du hast Geld wie Dreck«, widersprach ihr Anita mürrisch. »Haufenweis Grundbesitz und zwei Häuser.«