Rothenburg sehen und erben - Barbara Edelmann - E-Book

Rothenburg sehen und erben E-Book

Barbara Edelmann

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Beschreibung

Mord zwischen alten Mauern... ein herrlich schräger Franken Krimi mit Herz und Humor. Aufruhr in Rothenburgs exklusivster Nobelherberge: Ein Hotelier wird ermordet aufgefunden, doch vom Täter fehlt jede Spur. Ein kniffliger Fall für das eigenwillige Ermittlerpaar Dodo und Kurti, denn die Vernehmungen gestalten sich schwieriger als erhofft: Weinselige Seniorentouristen, widerspenstige Zeugen und ein Nachtportier, der an einen Geist als Mörder glaubt, sorgen für mehr Aufruhr, als den beiden lieb ist.

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Seitenzahl: 369

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Barbara Edelmann ist in Mindelheim geboren und aufgewachsen. Seit Jahrzehnten lebt sie glücklich und zufrieden im Allgäu. Ihr »Tal« verlässt sie höchstens für Ausflüge ins fränkische Rothenburg ob der Tauber, weil sie sich vor Jahrzehnten unsterblich in die bezaubernde Stadt mit ihrem historischen Flair verliebt hat. Ihre Erfahrungen und Beobachtungen verarbeitet sie in ihren Krimis.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: istockphoto.com/senorcampesino

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Uta Rupprecht

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-919-8

Franken Krimi

Originalausgabe

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Dieses Buch widme ich meinem Mann.

Danke.

1

»Ich bin absolut sicher, dass es hier spukt.« Der hochgewachsene ältere Herr in legerer Freizeitkleidung legte seinen Zimmerschlüssel auf die blank polierte Mahagonitheke und blinzelte dem Hotelportier verschwörerisch zu. »Das gerade eben habe ich mir nämlich nicht eingebildet.«

Kurz ließ er seinen Blick durch die leere Hotellobby schweifen. Gleich neben dem offenen Kamin, über einer gepolsterten Sitzgruppe aus dem vorvorigen Jahrhundert, blickte eine schlanke Dame in eleganten Gewändern aus einem Ölgemälde in die ausgestorbene Halle, sie schien ihn geflissentlich zu ignorieren. Alles im Raum atmete die Atmosphäre und den etwas verstaubten Charme längst vergangener Zeiten. Dafür war das Hotel nämlich berühmt.

»Ganz schön unheimlich hier«, nuschelte er. »Bestimmt sind hier schon Gäste auf merkwürdige Weise in ihren Betten gestorben. Sie haben uns selbst erzählt, dass das Hotel bereits seit knapp dreihundert Jahren besteht. Was ich vorhin gehört habe, stammte aus einer anderen Dimension – Sie waren nicht dabei und können das gar nicht beurteilen.«

Unsicher hielt er sich an der Theke fest und warf dabei die zierliche Messingklingel um. Wilfried Schulze, Buchhalter im Vorruhestand und im Sternzeichen Stier geboren, war heute Nachmittag zusammen mit seiner Gattin Henriette und der insgesamt sechsunddreißigköpfigen Chorgemeinschaft »Zweitstimme« aus Castrop-Rauxel nach Rothenburg ob der Tauber gereist, um in der weltweit bekannten historischen Stadt in Mittelfranken ein paar schöne Tage zu verbringen. Das vielversprechende Motto des Busreiseveranstalters lautete: »Frankens edle Tropfen«.

Aus diesem Grund hatte sich die stimmgewaltige Truppe bereits am ersten Abend in der Trinkstube »Zur Höll« kräftig an diesen edlen Tropfen delektiert und anschließend den überraschten anderen Gästen der Lokalität traditionsreiche Perlen deutschen Liedguts angedeihen lassen. Der laute Klang aus sechsunddreißig wohlgeschmierten Kehlen übertönte jegliches Gespräch.

Nach einer erbitterten Debatte darüber, welches Lied nun als Nächstes ertönen sollte, einigte man sich frustriert darauf, ins Hotel zurückzukehren und über die Angelegenheit gründlich zu schlafen. Man wollte ohnehin am nächsten Morgen in der nahe gelegenen St.-Wolfgangs-Kirche, einer alten Wehrkirche, ein kleines Spontankonzert geben.

Und so war die Reisegesellschaft geschlossen in der Hotelhalle eingefallen, hatte mit schweren Zungen ihre Zimmerschlüssel verlangt und war dann mehr oder weniger schwankend im dritten Stock verschwunden. Alle bis auf zwei, nämlich Herrn Schulze und seine Gattin Henriette.

Herr Schulze, ein großer Fan der um die Jahrtausendwende beliebten Fernsehserie »X-Factor«, wollte ums Verrecken noch nicht ins Bett. Beim Betreten ihres Zimmers waren er und seine Frau nämlich von einem unheimlichen Geräusch erschreckt worden, das ihnen Gänsehaut beschert hatte. Und nun wollte er dem gestressten Portier ein paar gruselige Details aus der schillernden Historie des altehrwürdigen Beherbergungsbetriebes entlocken.

»Jetzt mal Butter bei die Fische«, bat Herr Schulze mit verwaschener Stimme. »Nur eine Geschichte, eine einzige, dann gehe ich schlafen. Ich weiß doch, was ich gehört habe! Glauben Sie, ich habe es an den Ohren?«

Dieter Manz, in Ehren ergrauter Nachtportier, blieb gelassen. »Ich kann Ihnen versichern, dass sich noch keiner unserer Gäste wegen einer Geistererscheinung beschwert hat, Herr Schulze«, versicherte er ihm. »Sie und Ihre Frau können unbesorgt schlafen gehen. Niemand wird Sie stören. Hier, bitte schön.«

Behutsam schob er den silbernen Zimmerschlüssel, an dem einer dieser großen kegelförmigen Anhänger hing, wieder über den glänzenden Tresen vor seinen Gast und lächelte Frau Schulze, deren Gesichtszüge vor Ungeduld mit jeder Sekunde mehr zu entgleisen schienen, entschuldigend zu.

An solchen Abenden kam es Manz vor, als würde seine kurz bevorstehende Pensionierung nie kommen. Dann spürte er jedes seiner beinahe fünfundsechzig Lebensjahre doppelt und dreifach, obwohl ihm im Laufe seines Berufslebens, das er größtenteils an der Rezeption der Blauen Kutsche verbracht hatte, schon etliche ähnlich wissbegierige Gäste begegnet waren. Hätte er jedes Mal, wenn ihn jemand nach ruhelosen Gespenstern in den dunklen, langen Fluren des Hotels aushorchen wollte, Geld bekommen, säße er längst am Strand von Honolulu auf seiner eigenen Veranda. Stattdessen musste er mit einem unbequemen Bürostuhl vorliebnehmen, von dem aus er abwechselnd in drei verschiedenen Sprachen Fragen beantwortete, die er teilweise nicht einmal verstand. Denn mit seinem Japanisch haperte es nach all den Jahrzehnten nach wie vor.

»Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht«, sagte er nun erlesen höflich. Immerhin war er ein Profi. Nach vierzig Jahren an der Rezeption konnte einen so leicht nichts mehr erschüttern.

»Ja, von wegen.« Wilfried Schulze zwinkerte nochmals vertraulich.

»Doch«, versicherte ihm Manz irritiert. »Sie werden schlafen wie Gott in Frankreich. Oder in Rothenburg.«

»Das meinte ich nicht«, erklärte ihm Schulze, der sich mittlerweile anhörte, als wäre sein Mund mit Wattebäuschchen gefüllt. »Ist Ihnen wirklich noch nie aufgefallen, dass sich in diesen Gängen etwas herumtreibt? Das merkt man doch sogar am helllichten Tag. Mich hat eben noch ein eisig kalter Hauch gestreift. Eisig, sage ich Ihnen. Als wäre jemand über mein Grab gelaufen.«

»Bestimmt ein Luftzug«, sagte Manz beschwichtigend. »Es ist ein altes Haus, irgendwo wurde vielleicht ein Fenster geöffnet. Außer der Ihren ist nur eine einzige weitere Suite in diesem Flur belegt. Neue Gäste erwarten wir erst am Wochenende, dann sind wir ausgebucht.«

»Willi«, schaltete sich seine Frau nun ein, eine drahtige Dame mit brünettem Kurzhaarschnitt, der vor Müdigkeit beinahe die Augen zufielen. »Lass uns endlich aufs Zimmer gehen. Mit euch fahre ich nie mehr irgendwohin. Wenn ich gewusst hätte, dass diese Reise in ein Besäufnis ausartet, wäre ich daheimgeblieben. Wehe, du trinkst noch mal so viel!«

Verdrossen sah sie sich in der mit antiken Möbeln ausgestatteten Empfangshalle um. »Außerdem wollte ich eigentlich in dieses schnieke kleine Hotel in der Herrngasse mit dem entzückenden Garten, aber du hast mir die ganze Zeit erzählt, was alle anderen wollen, und was von Geschichte und Flair gebrabbelt. Dabei sind das nur alte Stühle und Teppiche, die gibt es hier überall in der Stadt. Und jetzt zerrst du mich hier zur Rezeption, nur weil du dir was einbildest. Für mich klang es, als hätte jemand seinen Koffer fallen lassen. Mehr nicht. Soll vorkommen. Jetzt komm, ich will mir endlich die Zähne putzen.« Ungehalten kniff sie die Augen zusammen und unterdrückte ein Gähnen.

»Liebelein«, versuchte Herr Schulze seine Gattin zu besänftigen, während er sich schwankend an den Tresen lehnte. »Wir fahren nächstes Jahr noch mal zu den edlen Tropfen, und dann schlafen wir, wo du willst. Wegen dir habe ich extra diese teure Suite gebucht, statt wie alle anderen ein normales Zimmer im dritten Stock zu nehmen. Und du schimpfst trotzdem mit mir, weil du es einfach nicht lassen kannst.« Er wendete sich wieder dem genervten Portier zu. »Geben Sie doch einfach zu, dass es hier spukt, dann verschwinden wir, nicht wahr, Henriette?«

Seine Gattin kniff verstimmt die Lippen zusammen und schwieg.

»Herr Schulze«, Manz bemühte sich, so vertrauenerweckend wie möglich zu klingen, »ich versichere Ihnen …«

Schulze schnitt ihm das Wort ab. »Sie haben uns selbst erzählt, wie viele Berühmtheiten hier schon übernachtet haben, sogar ein Kaiser und ein Präsident!« Er öffnete sicherheitshalber den obersten Knopf an seinem Polohemd, denn ihm wurde ein wenig schwindelig.

»Sogar mehrere Präsidenten«, korrigierte ihn Manz, aber Schulze ignorierte den Einwand.

»Die sind jetzt alle tot«, fuhr er nuschelnd fort. »Vielleicht schauen sie ja gelegentlich mal vorbei? In dem Salon dahinten«, Herr Schulz deutete auf eine verschlossene Glastür in der Lobby, hinter der man bei genauem Hinsehen Umrisse alter Ohrensessel erkennen konnte, »da saßen vor zweihundert Jahren bestimmt die ganzen Adeligen, haben Cognac getrunken, Kekse gegessen und ihre Diener schikaniert. Kann ich mal reinsehen? Ist doch ohnehin gleich Geisterstunde. Bitte.«

»Willi.« Seine Frau zupfte ihn gereizt am Ärmel. »Lass den Mann in Ruhe. Du siehst doch, dass er nicht reden will.« Sie deutete auf Manz, der genau wie Henriette ein Gähnen unterdrückte.

Es war ein langer Abend mit ständigem Kommen und Gehen gewesen, und der Einmarsch der gesamten Sängergruppe vor einer halben Stunde hatte ihm den Rest gegeben. Außerdem wurde es Zeit für seinen Mitternachtssnack. Den würde er sich gönnen, sobald die Schulzes verschwunden waren. Er hatte ihn sich redlich verdient.

Verstohlen schielte er auf die uralte Standuhr neben dem Aufzug. Schon dreiundzwanzig Uhr fünfunddreißig. Seit einer Viertelstunde löcherte ihn dieser Mensch bereits. Wenn er endlich gehen würde, hätte Manz seine Ruhe, denn bis auf zwei weitere Gäste, die aber nicht zu der Reisegruppe gehörten, wurde niemand mehr erwartet.

»Na gut.« Wilfried Schulze gab auf, besiegt vom fränkischen Bocksbeutel, sechsunddreißig Jahren Ehe und einem verstockten Portier. »Wir gehen schlafen, Liebelein«, sagte er zu seiner Frau. »Aber das war nicht unsere letzte Unterhaltung, Herr Maus. Ich weiß, was ich gehört habe. Machen Sie sich auf was gefasst.«

»Manz«, korrigierte ihn der Hotelportier müde, aber immer noch formvollendet. »Wenn Sie noch irgendetwas benötigen, lassen Sie es mich wissen. Ich bin die ganze Nacht für Sie da.«

Schulze nahm den Schlüssel augenzwinkernd in Empfang und drehte ihn in den Händen. »Der ist auch uralt, nicht wahr? Wer den wohl in den Fingern hatte? Willy Brandt? Heinz Erhardt? Napoleon Bonaparte?«

»Möglich ist alles. So genau kann ich Ihnen das leider nicht sagen.« Manz blieb gelassen, obwohl er sicher war, dass selbst Napoleon Bonaparte sich weniger nervtötend gezeigt hätte. Herrisch vielleicht, aber nicht so lästig.

»Komm jetzt, Willi, du hast für heute wahrlich genug.« Henriette Schulze packte ihren Mann am Arm und zog ihn zum Lift. »Nehmen Sie es ihm nicht übel«, sagte sie entschuldigend. »Er sieht zu viel fern.«

Manz nickte verständnisvoll. Mühsam arbeitete sich Wilfried Schulze am Arm der Ehefrau die fünf Stufen zum Lift empor, dessen mit Lilien verziertes schmiedeeisernes Gitter sich leise rumpelnd öffnete.

Beide stiegen ein, dann schloss sich die Tür, und die Kabine setzte sich mit einem fast unhörbaren Zischen in Bewegung.

Manz warf aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick in die abgedunkelte Halle, in deren Ecken sich mit einem Mal amorphe Schemen zu versammeln schienen. Bei all dem Gerede über Geister und Spuk war ihm nun doch ein wenig mulmig geworden. Er sah nämlich auch gelegentlich zu viel fern.

»Blödsinn«, schalt er sich selbst. Dann kontrollierte er den Haupteingang und den Lieferanteneingang ein allerletztes Mal und kehrte beruhigt hinter die Rezeption zurück, wo er sich aufatmend auf seinen Stuhl plumpsen ließ.

Leise öffnete er eine Schublade. »Na, wo ist es denn?« Er holte ein in Alufolie eingewickeltes Wurstbrot heraus. Gerade als er herzhaft hineinbeißen wollte, zuckte er zusammen. Soeben hatte sich der Lift in Bewegung gesetzt und fuhr nach unten. Er hielt mit einem sanften Ruckeln im Erdgeschoss, direkt neben der Rezeption. Kamen die beiden etwa noch einmal zurück?

»Nicht schon wieder.« Resigniert legte er das Brot zurück. »Wenn der so weitermacht, werfe ich mir noch persönlich ein altes Laken über und heule vor seiner Tür herum, nur damit er Ruhe gibt.«

Das verzierte Gitter öffnete sich mit einem kaum vernehmbaren Quietschen. Der Fahrstuhl schien leer zu sein.

»Warum haben die den Lift nach unten geschickt? Das war bestimmt die Frau.« Manz beugte sich ein Stückchen über die Theke und vergewisserte sich nochmals, dass niemand ausgestiegen war.

Etwas Kleines, Glänzendes, das zuvor nicht da gewesen war, schimmerte auf dem Boden der Liftkabine.

Ächzend arbeitete Manz sich hinter der Rezeption hervor und tappte die fünf Stufen zum Fahrstuhl hoch. Für einen kurzen Moment war ihm, als hätte auch er einen kalten Hauch gespürt. Er schauderte.

»Dieser Schulze hat mich richtig verrückt gemacht mit seinen Geschichten«, raunte er. Dann schaute er vorsichtig in die Kabine und stockte.

»Ein Kugelschreiber?« Erstaunt hob er den Gegenstand auf. Das war nicht ganz einfach, weil er sich bemühte, wenigstens mit einem Bein auf dem Teppich im Flur zu bleiben. Eines seiner bestgehüteten Geheimnisse war nämlich die Angst vor engen, geschlossenen Räumen. Er wollte lieber nichts riskieren.

»Der gehört bestimmt den Schulzes.« Unentschlossen wiegte er das schwere Schreibgerät in der Hand. »Fühlt sich an wie Gold. Ich bringe es ihnen am besten gleich hoch. Sonst gibt es nur Ärger.« Mühsam versuchte er, die eingravierte Inschrift auf dem Kuli zu entziffern, aber seine Lesebrille lag auf der Theke. War bestimmt nicht so wichtig. Das Ehepaar hatte den Lift zuletzt benutzt. Nur logisch, dass der Kuli ihnen gehören musste.

Der Portier wandte sich nach links und betrat dann leise seufzend die mit moosgrünem Teppichboden ausgelegte breite Treppe in den ersten Stock.

Beinahe das gesamte Hotel lag in dämmrigem Halbdunkel. Früher, in anderen, unbedarfteren Zeiten, waren die langen, schmalen Flure die ganze Nacht über erleuchtet worden, von verschnörkelten messingfarbenen Wandlampen, die düstere Winkel in fahles Licht getaucht und nachgedunkelten Ölgemälden eine geheimnisvolle Patina verliehen hatten.

Aber vor einigen Jahren, seit der Klimawandel das ökologische Bewusstsein geweckt hatte, hatte die Hotelleitung Bewegungssensoren installieren lassen, die einzelne Energiesparlampen aktivierten, sobald jemand an ihnen vorbeiging.

Manz tappte vorsichtig über den schweren Teppichboden, der seine Schritte zu verschlucken schien. Er wünschte sich, diese neumodischen Bewegungssensoren würden ein klein wenig schneller reagieren, denn kaum schaltete sich eine Lampe ein, erlosch die vorherige und hüllte den bereits durchschrittenen Flur in undurchdringliche Schatten.

»Hier residierte im Jahre 1793 Kaiser Maximilian«, verkündete ein schwarzes Metallschild an einer Tür im ersten Stock. Manz las es automatisch, obwohl er es schon Hunderte von Malen gesehen hatte. Er hatte diesen Ort immer sehr gemocht, die atmosphärische Dichte, die flüsternden Nischen, die knarrenden Stufen, alles atmete den Charme vergangener Generationen, und an manchen Abenden konnte er sich durchaus vorstellen, dass aus dem Ballsaal fröhliches Gelächter und Musik drangen, aus einer anderen, längst vergangenen Zeit.

Aber ausgerechnet heute beschlich ihn ein merkwürdiges Gefühl. Er konnte sich nicht erklären, warum, denn er kannte jede Ecke des altehrwürdigen Gemäuers wie seine Westentasche. Auf einmal glaubte er, ein leises Scharren zu vernehmen, und blieb kurz stehen. In diesem Moment erlosch hinter ihm die Wandlampe, und die vor ihm schaltete sich nicht sofort ein. Hastig machte er einen Schritt nach vorn, um so schnell wie möglich zur Treppe in den zweiten Stock zu gelangen.

Auf Zehenspitzen durchquerte er den offenen Salon im ersten Stock, vorbei an schweren gepolsterten Ohrensesseln und zierlichen Tischen mit verschnörkelten Beinen, die seit Jahrhunderten an derselben Stelle standen und nicht einmal zum Saugen der Teppiche verschoben wurden. Die vom fahlen Licht einer Straßenlaterne nur teilweise angeleuchtete Silhouette des uralten Flügels am Fenster wirkte beinahe lebendig. Daneben, bei dem dicken moosgrünen Vorhang, der von einer schweren Kordel zusammengehalten wurde, hingen an diesem merkwürdigen Abend ebenfalls düstere Schatten.

Das war sicher nur eine Täuschung, denn es gab keine Gespenster, sagte sich Manz. Sonst wäre ihm in den letzten vierzig Jahren mindestens eines von ihnen begegnet. Dennoch war ihm die nächtliche Stille in dem jahrhundertealten Haus so bedrohlich erschienen. Dieser Herr Schulze …

Als würde er von unsichtbarer Hand unbarmherzig weitergeschoben, betrat er die Treppe in den zweiten Stock und schaute nicht mehr zurück, denn hinter ihm erlosch gerade wieder geräuschlos eine Leuchte.

»Die schlafen alle, darum ist es hier so ruhig. Jetzt krieg dich ein, Dieter«, sprach er sich selbst Mut zu. Er passierte ein sehr großes altes Ölgemälde, aus dem ihn ein Ehepaar in gutbürgerlicher Kleidung warnend anzublicken schien, als er überstürzt die letzten Stufen nahm. Beinahe wäre er gestolpert. Warum war ihm in den letzten Jahrzehnten niemals aufgefallen, wie sehr dieses wurmstichige Holz der Treppe ächzte, wenn man es betrat? Und wer bitte war auf die Idee gekommen, solche Bilder aufzuhängen, die einen mit ihren Augen zu verfolgen schienen?

Wieder war ihm, als hätte er etwas gehört, nur weiter entfernt. Unten im Salon vielleicht? Sollte er nicht doch nachsehen? Kurz blieb er stehen und überlegte, dann setzte er entschlossen seinen Weg fort.

Als er endlich den zweiten Stock erreichte und sich die erste Dielenlampe einschaltete, atmete er erleichtert auf. Das riesige Porträt, auf dem ihn ein in Rüschen und Spitze gehülltes Fräulein mit kalten Augen arrogant zu mustern schien, ignorierte er tunlichst. Den goldenen Kugelschreiber wie eine Waffe in der Hand haltend, tappte er vorsichtig weiter durch den düsteren Flur. »Zimmer 212, wir sind gleich da«, wisperte er erleichtert.

Vor der Tür von 212 blieb er stehen und streckte die Hand aus, um zu klopfen. Aus dem Raum drang tatsächlich bereits Schnarchen. Nicht laut, aber doch deutlich erkennbar. »Ist das schnell gegangen.« Manz war erstaunt. Dieses Geräusch ließ jedenfalls darauf schließen, dass Herr Schulze aus Castrop-Rauxel und vermutlich auch seine Gattin mittlerweile den Schlaf der Gerechten schliefen. Und nichts war verpönter, als einen Hotelgast aus der wohlverdienten Nachtruhe zu reißen.

»Jetzt bin ich den ganzen Weg umsonst gelaufen!«, stöhnte Manz leise.

Frustriert wandte er sich zum Gehen, damit er sich endlich seinem Mitternachtssnack widmen konnte, als ihm aus dem Augenwinkel eine Unregelmäßigkeit in der gleichförmigen Symmetrie der aufgereihten Zimmertüren auffiel, die im Halbdunkel sanft schimmerten. Es waren nämlich nicht alle geschlossen, eine schien offen zu stehen. Zimmer 216. Die Suite war seit dem Nachmittag von zwei Personen aus München bewohnt. Das einzige belegte Zimmer in diesem Trakt außer dem der Schulzes. Merkwürdig.

Auf Zehenspitzen schlich Manz vorsichtig zur Nummer 216. Die Tür war tatsächlich nur angelehnt. Hatte sich nicht letzte Woche ein Gast darüber beschwert, dass sie sich schwer schließen ließ und man sie kräftig ins Schloss drücken musste?

Mit angehaltenem Atem lauschte er. Nichts war zu hören.

»Hallo?«, flüsterte er so leise wie möglich. Dann klopfte er zaghaft und kaum vernehmbar. Niemand meldete sich. Vielleicht waren die Gäste noch unterwegs? Eben wollte er den Messingknauf ergreifen, um die Tür sachte ins Schloss zu ziehen, als er das große Kingsize-Bett erspähte, auf dem im fahlen Mondlicht, das durch einen Spalt in den Vorhängen fiel, ein menschlicher Umriss zu erkennen war.

»Hallo?« Hastig schob er den goldenen Kugelschreiber in seine Jackentasche. »Herr … äh … Gassner?«

Der Name des Gastes war ihm im Gedächtnis haften geblieben, weil ihm Maike von der Tagschicht von dem Mann berichtet hatte. Und Anja vom Roomservice. Und Moritz vom Restaurantservice. Die Liste konnte beliebig fortgeführt werden, denn Helmut Gassner war seit seiner Ankunft wie ein wütender Oktobersturm durch die wohlgeordnete Tagesroutine des Personals gefegt und hatte die Angestellten eingeschüchtert zurückgelassen. Nichts konnte man ihm recht machen. Angefangen bei den zu kratzigen Handtüchern über die seiner Meinung nach mangelhaft bestückte Minibar bis hin zu seiner Beschwerde über den lahmen Zimmerservice hatte 216 alles getan, damit ihm sein Ruf vorauseilte.

»Herr Gassner?«, wiederholte Manz mit zugeschnürter Kehle. Ausgerechnet mit diesem Mann wollte er sich nun wirklich nicht anlegen. Aber die Gestalt auf dem Bett regte sich nicht.

Als bestünde die gemusterte Auslegeware vor ihm aus glühender Lava, bewegte der Portier sich millimeterweise durch den Raum, während er die Silhouette des Gastes auf dem Bett nicht aus den Augen ließ. Gleich würde er grunzen und sich umdrehen, weil er etwas Schlechtes geträumt hatte. Ganz bestimmt.

»Herr Gassner?«, fragte er ein drittes Mal, diesmal etwas lauter. Keine Antwort.

Mit zitternden Fingern tastete er nach dem Schalter der Nachttischlampe und fuhr entsetzt zurück, als das Licht anging: Der wohlhabende Geschäftsmann aus München, der seinen Kollegen im Service noch am Nachmittag dieses Tages das Leben zur Hölle gemacht hatte, starrte blicklos zur stuckverzierten Decke. Die markanten Gesichtszüge, die sich vor einigen Stunden wegen eines zu spät servierten Mineralwassers missmutig verzogen hatten, wirkten nun wächsern und eingefallen. Er war vollständig bekleidet mit einer leichten braunen Hose und einem hellblauen Leinenhemd. Sein linker Arm hing über die Bettkante, und der Portier wich entsetzt einen Schritt zurück, um damit nicht in Berührung zu kommen.

»Herrje.« Manz war wie zur Salzsäule erstarrt. Im Gegensatz zu dem, was er dem wissbegierigen Herrn Schulze aus Castrop-Rauxel gegenüber noch vor einer guten halben Stunde behauptet hatte, handelte es sich nicht um seinen ersten Todesfall. In vier Jahrzehnten als Angestellter eines großen Hotels erlebte man einiges, worüber man normalerweise niemals sprach. Schon gar nicht mit Gästen. Aber ihn als Nachtportier hatte es noch nie getroffen. Meist wurden solche Fälle vom Zimmerservice entdeckt, der morgens die Handtücher wechseln wollte.

»Warum ausgerechnet ich? Nächste Woche hätte Max Dienst gehabt.« Manz haderte mit seinem Schicksal und dachte einen Moment angespannt nach. Dann fiel ihm ein, dass Helmut Gassner laut Eintrag im Gästeverzeichnis zusammen mit seiner Ehefrau eingecheckt hatte. Sie musste sich noch irgendwo aufhalten.

»Gnädige Frau?«, murmelte er halblaut in Richtung des Badezimmers, bekam aber keine Antwort. Mit allergrößter Vorsicht, als wären seine Beine aus Gummi, schlich Manz zum Badezimmer und drückte mit dem Ellbogen die Klinke herab. Hoffentlich fand er dort nicht noch jemanden. Ein Toter war schon schlimm genug, aber zwei wären eine Katastrophe.

Doch der Raum war leer. Ordentlich aufgefaltet hingen schneeweiße, flauschige Handtücher auf ihren Haltern, blitzblank schimmerte die große Wanne auf Klauenfüßen, und im Raum lag ein leichter Duft nach »Coco« von Chanel.

»Wenigstens etwas. Meine Güte. Der Boss wird sich freuen.« Manz schlich auf Zehenspitzen zurück zum Bett und überlegte angestrengt, ob sich diese leidige Situation auf irgendeine Weise zum Vorteil des Hotels lösen lassen könnte. Leider fiel ihm nichts ein, was auch nur halbwegs im Bereich der Legalität lag, denn so gut wie alles hatte mit dem Wäschewagen der Reinigungskraft, einer Menge großer Leintücher und dem Hinterausgang zu tun.

Verärgert über sich selbst schüttelte er den Kopf und spähte ein letztes Mal zaghaft aufs Bett hinab, als ihm zwei weißliche, nebeneinanderliegende Hautstellen am Hals des Toten auffielen.

»O mein Gott. Warum bin ich nur damals nicht Friseur geworden«, krächzte er schockiert, dann verließ er Hals über Kopf das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Anschließend rannte er wie vom Teufel gejagt die zwei Stockwerke nach unten, ohne sich um knarrendes Holz, wabernde Schatten oder geheimnisvolle, starrende Ölgemälde zu kümmern. An der Rezeption angekommen, wählte er die Nummer der Polizei in Rothenburg.

In Zimmer 216 blieb es still. Totenstill.

2

»Das kommt davon. Ich sollte endlich lernen, konsequent Nein zu sagen.« Dorothea »Dodo« Haug, Kommissarin des K1 in Ansbach, schnappte sich die Fernbedienung und reduzierte die Lautstärke, weil irgendwo in ihrer unmittelbaren Nähe ein Smartphone vibrierte.

Die hübsche Blondine mit Schmollmund, großen blauen Augen und üppigen, äußerst ansehnlich verteilten Proportionen, die in einem rosafarbenen Seidenpyjama steckten, hatte es sich gerade mit einem riesigen Eisbecher auf ihrer Couch gemütlich gemacht. Nun richtete sie sich ächzend auf, griff hinter sich und zog aus einer Sofafalte ein zerkratztes Samsung-Handy heraus.

»Der Typ ist es schon mal nicht, wenigstens etwas«, murmelte sie erleichtert. »Warum hab ich dem bloß meine Nummer gegeben! Ich bin so doof.«

Das Vibrieren hörte nicht auf. Sie beugte sich genervt vor und angelte nach einem zweiten Smartphone auf dem Couchtisch, dessen Display aufleuchtete. »Gott sei Dank, nur dienstlich«, seufzte sie.

Erleichtert stellte sie den Plastikbehälter auf den Tisch, der bis vor knapp zwanzig Minuten noch eine nicht unerhebliche Menge Schokoladeneis enthalten hatte, und warf dabei aus Versehen ein leeres Glas um.

»Haug?«, meldete sie sich. »Nichts, Chef. Ich sehe nur fern. Was heißt ›an so einem schönen Abend‹? Für mich ist das einer. Man muss doch nicht immer rausgehen. Was ich anschaue? ›Last Blood‹ mit Sylvester Stallone. Na, diesen Streifen, in dem er sich tierisch rächt.« Wehmütig schielte Dodo zu ihrem Fernseher, wo gerade wieder jemand röchelnd umfiel.

»Ach, er rächt sich immer, sagen Sie? Stallone alt? Wird der nie. Der ist eine Legende, Chef.« Sie lachte und schaltete nebenbei das TV-Gerät aus.

Dann stand sie auf, tappte barfuß ins Schlafzimmer und griff nach ihrer am Boden liegenden Jeans, während sie weiterhin konzentriert lauschte.

»Ja. In Rothenburg, habe verstanden. In der Blauen Kutsche? Ach was? Da waren wir noch nie. Ist die Spurensicherung schon unterwegs? Bin in dreißig Minuten da. Oder zwanzig. Nein, Chef, ich rase nie. Wissen Sie doch. So viele Strafzettel waren es auch wieder nicht. Ist Voggel informiert, oder brät er sich gerade eine Tofu-Schnitte über dem Lagerfeuer, und ich kriege als Ersatz Enzensberger?« Sie verdrehte die Augen. »Schon gut. Bis später, Chef. Bin quasi unterwegs.«

Sie beendete das Gespräch und schlüpfte hektisch in ihre Jeans. »Mist, die ist eingelaufen, Mama wäscht die immer viel zu heiß«, schimpfte sie und zerrte mit sanfter Gewalt am Reißverschluss, bis er endlich zuging. Dann schlüpfte sie in ein hüftlanges blaues T-Shirt und ein paar flache Sandalen, schnappte sich ihr Diensthandy und ihr Gürtelholster und verließ die Wohnung.

Sie war noch nicht einmal im Erdgeschoss, als in ihrem Wohnzimmer der typische WhatsApp-Signalton erklang und auf ihrem privaten Smartphone eine Nachricht aufpoppte, die ungewöhnlich viele Herzchen und küssende Emojis enthielt. Aber das bekam sie nicht mehr mit. War vielleicht auch besser so.

»Weiter ist Ihnen nichts aufgefallen?« Kurti Voggel, Kommissar beim K1 in Ansbach und Kollege von Dodo Haug, schaute sich in der Hotelhalle um und wandte sich dann wieder dem verstörten Portier zu. »Irgendwelche verdächtigen Geräusche oder Personen?«

»Sind Sie wirklich ein richtiger Polizist?«, erkundigte sich Manz, der sich hinter seiner Theke verschanzt hatte, misstrauisch. Der attraktive blonde Mann Ende dreißig vor ihm trug Bermudahosen und ein kurzärmeliges Shirt mit dem Aufdruck »Wir haben nur einen Planeten« und erweckte eher den Eindruck, als käme er gerade von den Dreharbeiten für den »Bachelor« oder von einer Walrettungsmission. Mit seinem zerzausten Haarschopf und den neugierigen grünen Augen erinnerte er Manz an jemanden, den er neulich im Fernsehen gesehen hatte, aber er kam nicht drauf, an wen. Vielleicht war es diese Detektivserie gewesen, die in Hawaii spielte.

»Es war dunkel, und ich hatte es eilig«, entschuldigte sich Kurti amüsiert. »Nächstes Mal suche ich etwas Seriöses aus. Und ja, ich bin bei der Polizei. Auch bunt und in Farbe. Sie haben doch meinen Ausweis gesehen. Kennen Sie diese beiden Herrschaften?« Er deutete diskret zur großen gläsernen Eingangstür, wo ein Mann und eine Frau gerade in halblautem Ton mit einem Streifenbeamten sprachen.

Manz war unendlich dankbar, dass sich an diesem Abend beinahe alle Hotelgäste bei einem fröhlichen Umtrunk die Kante gegeben hatten und nun selig schlummerten. Noch hatte sich bis auf die beiden Neuankömmlinge kein einziger in seiner Ruhe gestörter Tourist in der Halle sehen lassen. Gott segne Frankens edle Tropfen.

»Die beiden?«, wiederholte er nun. »Wenn ich richtig informiert bin, handelt es sich bei der Dame um die Frau des … des …« Er schluckte und brachte es nicht fertig, das Wort auszusprechen. »Und der Herr wohnt auch hier. 112, im ersten Stock.«

»Aha.« Kurti musterte das attraktive Paar, das scheinbar eine Menge Fragen stellte und immer nervöser zu werden schien.

»Bitten Sie doch Ihre Kollegen, möglichst keinen Lärm zu machen.« Manz wies auf ein Team der Spurensicherung in weißen Einweganzügen, das sich gerade auf den Weg nach oben machte. »Ich möchte nicht, dass die Gäste geweckt werden, das bringt uns unter Umständen miese Bewertungen im Netz, und die können wir nicht gebrauchen.« Bewertungsportale waren nach Manz’ Meinung die Hölle, denn die Kunden merkten sich jede noch so winzige Kleinigkeit und beschwerten sich dann anonym. Man musste wirklich nicht jeden neumodischen Kram mitmachen! Die guten alten Kärtchen, die früher auf den Zimmern ausgelegt waren, um von den Gästen ausgefüllt zu werden, waren doch völlig ausreichend gewesen. Manz seufzte.

Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt. Gerade war nämlich eine weitere unbekannte Person hereingekommen, eine Frau, und Manz beobachtete sie misstrauisch.

Hinter dem Team der Spurensicherung betrat Dodo die Lobby und eilte auf die Rezeption zu, ohne auf das gut gekleidete Paar zu achten, das mit dem Polizisten diskutierte. Eben erst hatte sie mit Nachdruck ein paar neugierige Nachtschwärmer vom Bürgersteig verscheucht, die beim Anblick der beiden Polizeiautos vor dem Eingang die Handys gezückt und auf ein Skandalbild gehofft hatten.

»Da kommt ja meine Kollegin«, informierte Kurti den frustrierten Portier und winkte grüßend.

Dodo zog ihren Ausweis und zeigte ihn dem Portier. »Haug vom Kriminaldauerdienst in Ansbach«, stellte sie sich kurz angebunden vor und wandte sich dann Kurti zu. »Hab dein Fahrrad schon an der Regenrinne angekettet gesehen. Und daran ist eigentlich alles verkehrt. Du bist nämlich bei der Kripo und solltest Auto fahren. Welche Zimmernummer?«

»Ich weiß, was du in der letzten halben Stunde getan hast.« Kurti deutete amüsiert auf ihre Mundwinkel. »Neue Diät? Schokolade oder Eis?«

Dodo wischte sich ertappt mit dem Handrücken über den Mund. »Weder noch. Hab auf dem Weg hierher ein Kaninchen gerissen, weil der Kühlschrank leer war. Sonst noch Fragen, Herr Umweltaktivist?«

Manz hatte die beiden fassungslos beobachtet und war sicherheitshalber ein Stück zurückgewichen.

»Keine Angst, sie beißt nicht.« Kurti zwinkerte ihm zu. »Man darf sie nur nicht ärgern. Fassen Sie das als Warnung auf und beantworten Sie ihre Fragen.«

»Sind Sie hier zuständig?« Das gut aussehende Paar aus der Halle hatte die Diskussion mit dem Streifenbeamten offenbar beendet und kam auf die Ermittler zu: ein Mann mittleren Alters mit grauen Schläfen und eine bildschöne dunkelhaarige Frau Ende zwanzig, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit der verstorbenen Jackie Onassis hatte.

»Das müsste die Frau des Opfers sein«, informierte Kurti seine Kollegin. »Auf ihn kann ich mir noch keinen Reim machen. Ist aber ebenfalls Gast hier.«

»Eigentlich wollte ich erst zum Tatort hoch. Aber gut.« Dodo hielt den beiden ihren Ausweis hin. »Haug und Voggel vom Kriminaldauerdienst in Ansbach. Können Sie mir bitte sagen, wer Sie sind?«

»Ich bin Sophie Gassner und ich wohne hier«, meldete sich die dunkelhaarige Frau zu Wort. Sie trug ein eng anliegendes cremefarbenes Sommerkleid mit dezentem Ausschnitt und sah aus, als wäre sie einem Film aus den fünfziger Jahren entsprungen. An ihrem rechten Ohr glitzerte ein diamantenbesetztes kleines Herz aus Weißgold.

Aus geröteten braunen Augen, die wirkten, als hätte sie geweint, sah sie Dodo fragend an. Sie tappte nervös von einem Fuß auf den anderen, hatte eine leichte Alkoholfahne und war nicht ganz sicher auf den Beinen.

Der ältere Mann stellte sich ebenfalls vor: »Ich heiße Frank Lorenz. Und bin der Geschäftspartner des Gatten von Frau Gassner.« Genau wie die Frau machte er einen angetrunkenen Eindruck. »Wir würden gerne unsere Zimmer aufsuchen, denn wir sind müde und hatten einen langen Abend. Aber man will uns nicht nach oben lassen.« Sophie Gassner nickte bestätigend.

»Was soll eigentlich dieses Aufgebot?« Frank Lorenz deutete auf die Lobby. »Ist jemand verunglückt?«

»Wir müssen mit Ihnen beiden sprechen. Würden Sie uns bitte zu der Sitzgruppe begleiten?« Dodo deutete auf die ausladende, mit dunkelrotem Leder überzogene Couch neben dem Kamin.

»Erklären Sie uns dann endlich, was hier los ist? Sophie, alles in Ordnung?« Lorenz legte schützend einen Arm um die junge Frau, führte sie zum Sofa und nötigte sie, Platz zu nehmen. Dann setzte er sich dicht neben sie.

Dodo wählte einen riesigen Sessel dem Paar gegenüber, in dem sie beinahe versank. Kurti ließ sich in einem weiteren Sessel nieder. »Über deine Hose reden wir übrigens noch, du modische Sahelzone«, flüsterte ihm Dodo zu.

»Muss das denn jetzt sein?«, fragte Sophie und gähnte diskret hinter vorgehaltener Hand. »Ich bin sehr müde.«

Dodo beugte sich erneut zu Kurti und wisperte ihm ins Ohr: »Du bist heute dran mit den miesen Nachrichten. Ich hatte den Totschlag neulich.«

»Frau Gassner«, begann Kurti, »es tut uns unendlich leid, aber wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann verstorben ist.«

Sophie Gassner zuckte zusammen. Ihre Augen wurden riesengroß.

»Bestimmt ein Missverständnis.« Frank Lorenz tätschelte ihr väterlich den Arm. »Es ist doch eins?«, wandte er sich dann an Kurti.

Dieser schüttelte bedauernd den Kopf.

»Sie lügen doch!« Sophie Gassner wollte aufspringen, geriet ins Schwanken und ließ sich wieder zurückfallen.

»Wie viel hat sie wohl getrunken?«, fragte Kurti Dodo beinahe unhörbar.

»Wenig war’s wohl nicht«, flüsterte sie. »Brauchen Sie einen Arzt?«, erkundigte sich Dodo dann bei der kreidebleichen Frau, aber die reagierte nicht.

»Was ist denn nun wirklich los?«, wollte Lorenz irritiert wissen.

»Herr Gassner wurde vom Nachtportier tot in seinem Bett gefunden«, informierte ihn Dodo. »Wir verstehen, dass es sich um eine Ausnahmesituation handelt, aber wir müssen Sie beide trotzdem bitten, uns ein paar Fragen zu beantworten.«

»Nein. Bitte erst was zu trinken!« Sophie Gassner schaute sich suchend um, als wüsste sie nicht so recht, wo sie sich befand.

Dodo musterte die Frau unauffällig und registrierte Reste von Wimperntusche in den Augenwinkeln, fahrig aufgetragenen Lippenstift und verschmiertes Rouge.

Kurti erhob sich und ging zur Rezeption, wo er mit Manz eine kurze Unterhaltung führte. Dann kam er mit einem Glas Wasser zurück.

»Was zu trinken, hatte ich gesagt. Bleiben Sie mir damit vom Leib.« Sophie Gassner schob seine ausgestreckte Hand mit dem Glas ungehalten beiseite.

Kurti verschwand kopfschüttelnd.

»Sie sind der Geschäftspartner von Herrn Gassner?«, vergewisserte sich Dodo.

Frank Lorenz nickte. »Schon lange.«

»Und Sie beide waren den ganzen Abend unterwegs?«

»Waren wir«, bestätigte er. »Sophie und ich sind zum Abendessen ausgegangen. Helmut wollte nicht mit. Er war etwas aufgebracht.«

»Warum denn?«, fragte Dodo.

»Familienangelegenheiten«, mischte sich Sophie Gassner unvermittelt heftig ein. »Das geht Sie nichts an.«

»Sophie«, appellierte Lorenz an sie, »die Herrschaften sind von der Polizei. Man muss es ihnen sagen.«

»Lass ihn da raus«, befahl sie.

Frank Lorenz überging ihre Forderung. »Helmut hatte Ärger mit seinem Sohn«, sagte er. »Das Verhältnis zwischen den beiden ist kompliziert. Der Junge ist ein wenig schwierig.«

»Wohnt der Sohn auch im Hotel?«, fragte Kurti.

»Nein, momentan wohnt Jonas irgendwo in Rothenburg. Wo, kann ich nicht sagen.«

»Und was bedeutet bitte ›schwierig‹?«, hakte Dodo nach.

»Das Übliche.« Er zuckte mit den Schultern. »Ärger zwischen Eltern und Kindern gibt es doch immer mal. Aber es ist irgendwie schade um den Burschen, er hat so viel Potenzial.«

»Hör auf«, verlangte Sophie, die merkwürdigerweise mit jedem Moment nüchterner zu werden schien. »Du kennst ihn doch gar nicht richtig.«

»Entschuldige, Sophie«, bat Frank Lorenz. »Ein bisschen schon … Ach, lassen wir das. Du hast recht. Ich kann momentan nicht klar denken.«

In diesem Moment kam Kurti mit einem halbhohen Glas zurück, in dem eine bernsteinfarbene Flüssigkeit schimmerte. Sophie Gassner riss es ihm beinahe aus der Hand und nahm einen großen Schluck. Dann ließ sie sich auf die Couch zurücksinken und schloss für einen Moment die Augen.

Frank Lorenz legte ihr erneut einen Arm um die Schulter. »Sophie, bitte bleib ruhig«, bat er. »Wir regeln das, ich verspreche es dir. Frau Haug, Helmut ist heute Abend allein im Hotel geblieben, das habe ich ja schon gesagt.«

»Es war meine Schuld«, unterbrach ihn Sophie Gassner. »Dass wir so lange unterwegs waren. Ich wollte auf keinen Fall zurückkommen, ehe er schläft. Er … konnte manchmal gemein sein. Und vorhin war er es.«

»Genau darum waren wir nach einem vorzüglichen Abendessen im ›Reichsküchenmeister‹ noch in der ›Glocke‹ und später in der Trinkstube ›Zur Höll‹ und haben uns unterhalten«, erzählte Lorenz den Ermittlern. »Um Sophie ein wenig abzulenken. Sie war total durch den Wind.«

»Verstehe«, sagte Kurti. »Diese Aufenthalte können Sie ja sicher auch nachweisen. Hatte Herr Gassner eigentlich Feinde?«

»Kennen Sie einen einzigen erfolgreichen Geschäftsmann, der keine hat?«, fragte Lorenz sarkastisch. »Sicher war er nicht überall beliebt. In unserem Business macht man sich nicht unbedingt nur Freunde. Immerhin führen wir sieben florierende Hotels. Helmut erledigt … erledigte das Organisatorische und ist … war meistens draußen im Außendienst. Ich bin für das Administrative zuständig. Verdammt. Das wird kompliziert. Jetzt ändert sich alles.«

»Sie meinten vorhin, Sie seien aus geschäftlichen Gründen hier«, hakte Kurti nach. »Würden Sie uns verraten, worum es da genau geht, Herr Lorenz?«

»Ich verstehe nicht ganz, was das mit der Angelegenheit zu tun hat, aber bitte. Helmut und ich haben morgen um zehn Uhr dreißig einen Notartermin in der Kanzlei Schröder und Eisenmann, um einen Vertragsabschluss zu beurkunden.«

»Interessant. Können Sie das näher erläutern?«

»Wir standen kurz davor, das insolvent gegangene Hotel Goldener Ritter unserem Portfolio hinzuzufügen«, erklärte Lorenz. »Der Kauf war so gut wie unter Dach und Fach. So ein Unglück! Ich glaube, das hat sich damit erledigt. Wir müssen uns wohl neu strukturieren. Keine Ahnung, wie es weitergehen soll.« Er massierte sich die Schläfen.

»Eigentlich wollte ich gar nicht mitkommen nach Rothenburg«, flüsterte Sophie Gassner. »Aber Helmut wollte unbedingt, dass ich dabei bin. Warum habe ich mich bloß überreden lassen? Wäre ich daheimgeblieben, dann wäre nichts passiert.« Das klang doppeldeutig.

»Sophie, es geht dir nicht gut.« Frank Lorenz tätschelte wieder ihren Arm. »Darüber reden wir später.«

Dodo formulierte ihre nächste Frage so diplomatisch wie möglich. »Hatte Herr Gassner noch anderweitig Probleme? Eventuell private, abgesehen vom Streit mit seinem Sohn?«

»Was wollen Sie damit sagen?«, erwiderte Sophie aggressiv. »Wir waren glücklich miteinander.«

»So glücklich, dass Sie mit einem anderen Mann zum Abendessen gegangen sind«, konterte Dodo. »Entschuldigen Sie bitte die Indiskretion, aber Sie sind um einiges jünger als Ihr Gatte. Kann es sein, dass Sie deswegen gelegentlich Differenzen hatten?«

»Wir haben vor drei Jahren geheiratet«, murmelte Sophie Gassner. »Und ich lie… habe ihn geliebt. Sehr. Habe alles für ihn aufgegeben.« Urplötzlich begann sie zu schluchzen. Ihre schlanken Schultern zuckten, und es schüttelte sie.

Dodo suchte in ihrem Umhängebeutel nach einem Taschentuch und reichte es ihr. Sie nahm es ohne Dank entgegen und betupfte sich damit die Augen.

»Helmuts erste Frau ist vor über zehn Jahren gestorben«, sprach Lorenz an Frau Gassners Stelle weiter. »Er hatte ein bisschen Glück mehr als verdient. Ich verstehe nicht, was der Altersunterschied mit alledem zu tun hat. Und jetzt lassen Sie uns bitte gehen. Sophie befindet sich am Rande der seelischen Dekompensation, und ich muss mich auch dringend sammeln. Sie haben ja keine Ahnung, welche Komplikationen nun auf uns zukommen.«

»Bring mich hier weg, Frank.« Sophie erhob sich. Sie schwankte wieder. »Sofort.«

»Jetzt noch nicht, Frau Gassner, aber so bald wie möglich«, lehnte Dodo bedauernd ab. »Bitte.«

»Wir können doch morgen weiterreden«, bot Frank Lorenz ihr an. »Ich muss in der Früh noch eine geschäftliche Angelegenheit regeln, dann können Sie meinetwegen wiederkommen. Wo soll Sophie denn jetzt schlafen? Sie kann doch unmöglich in die Suite.«

»Ich bin sicher, der Portier kümmert sich um Ihre Unterbringung«, sagte Dodo zu Sophie Gassner. »Wir melden uns morgen früh bei Ihnen, vielleicht sind Sie dann in besserer Verfassung.«

»Viel Menschenkenntnis haben Sie offenbar nicht.« Lorenz deutete auf Sophie Gassner. »Glauben Sie, das geht mit einer Aspirin oder ein wenig Schlaf weg? Eigentlich sollte ich sie sofort nach München zurückbringen.« Er wirkte ernsthaft besorgt.

»Bedaure«, lehnte Kurti ab. »Entweder noch mal hier im Hotel oder gleich auf dem Revier. Ihre Aussage zu Protokoll geben müssen Sie auch noch.«

»Aber mein Koffer? Kann ich den wenigstens haben?«, bat Sophie.

»Den lasse ich Ihnen bringen, so bald wie möglich«, versicherte ihr Dodo. »Verlassen Sie sich drauf. Bis morgen also. Und nochmals unser aufrichtiges Mitgefühl.«

»Zur Not kommst du mit in mein Zimmer. Und ich schlafe auf der Couch.« Lorenz half Sophie beim Aufstehen und führte sie behutsam zur Rezeption.

Nach einem kurzen Disput überreichte der Portier ihm einen Schlüssel, und beide verschwanden über die große Treppe, ohne sich noch einmal umzusehen.

»Das wird nicht ganz einfach werden«, raunte Dodo zu Kurti hinüber. »Die lügen doch beide. Und ihr linker Ohrring fehlt.«

»Frau Haug?« Sie wandte sich um. Hinter ihr stand der Portier und drehte nervös einen schimmernden Gegenstand in den Fingern. »Hier.« Er hob den goldenen Kugelschreiber hoch. »Ich wollte eben nach einem Taschentuch greifen und habe bemerkt, dass ich den hier ganz vergessen hatte.«

»Ein Kuli von Montblanc? Edel.« Dodo zog aus ihrer Umhängetasche ein paar Einweghandschuhe und streifte sie über. Dann nahm sie den Stift entgegen. »Mit Gravur sogar. Woher haben Sie den?«

»Er lag im Lift.« Manz druckste herum. »Der ist ohne Passagier nach unten gekommen. Und als ich nachgesehen habe, lag das Ding dort.«

»Fährt der Fahrstuhl automatisch zurück ins Erdgeschoss, sobald oben jemand ausgestiegen ist?«, fragte Kurti.

Manz verneinte. »Da müsste schon einer extra den Knopf drücken, sonst nicht.«

»Also hat ihn jemand nach unten geschickt«, überlegte Kurti.

»Könnte das Ehepaar Schulze gewesen sein.« Manz erzählte von den beiden Herrschaften aus Castrop-Rauxel, die als Letzte ihr Zimmer aufgesucht hatten. »Die beiden sind vorher extra noch mal zu mir in die Halle gekommen, weil sie meinten, sie hätten im zweiten Stock was gehört«, erzählte er.

»Sind Sie eigentlich momentan ausgebucht?«, wollte Kurti wissen.

»Erst zum Wochenende«, gab Manz Auskunft. »Der dritte Stock ist beinahe voll, der zweite Stock so gut wie leer, da befinden sich fast nur unsere teuren Suiten. Die sind erst ab Freitag alle belegt. Und im ersten Stock ist lediglich die Hälfte der Zimmer vergeben.«

»Danke.« Dodo packte das teure Schreibgerät in eine mitgebrachte Tüte und gab Kurti ein Zeichen. »Das Ehepaar Schulze also. Wie lange bleiben die?«

»Die Sänger? Bis übermorgen.«

»Gut. Wir nehmen die Treppe. Wo haben Sie Frau Gassner denn nun untergebracht?«

»Zimmer 107 im ersten Stock. Ich mache diese Arbeit schon länger.« Es klang vorwurfsvoll.

»Merci vielmals«, bedankte sich Dodo ungerührt. »Wo finden wir den Tatort?«

»Zimmer 216 im zweiten Stock. Ihre Kollegen sind doch bereits oben. Und ich wiederhole: Bitte, bitte, wecken Sie die anderen Gäste nicht.« Er faltete die Hände wie zum Gebet. »Ich habe noch eine lange Nacht vor mir, und es wäre so schön, wenn alle weiterschliefen.«

»Glaube ich Ihnen gern.« Kurti klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. Dann gingen sie nach oben.

»Da sind Sie ja.« Der Kollege von der Spurensicherung deutete aufs Bett.

»Ich bin kein Rechtsmediziner, aber so was Ähnliches hatte ich mal am linken Unterarm, als ich meinen Spiegelschrank im Bad angeschlossen habe und versehentlich ans Kabel gekommen bin. Bei ihm da am Hals sind gleich zwei solche Flecken. Sehr auffällig. Wetten, das war Strom?«

»Man hat uns dringend gebeten, leise zu sein, um niemanden zu wecken«, warnte ihn Kurti. »Aber in diesem Flügel ist ohnehin nur eine weitere Suite belegt. Unser Glück.«

»Dieses Gebäude ist ungefähr fünfhundert Jahre alt«, erklärte der Spusi-Kollege. »Solche dicken Mauern gibt es heute gar nicht mehr. Die halten einiges an Geräuschen ab. Keine Bange.«

»Im dritten Stock befinden sich hauptsächlich Mitglieder einer Reisegruppe«, sagte Dodo. »Und die hatten, wie ich gehört habe, einen feuchtfröhlichen Abend. Mit ein bisschen Glück und wenn wir uns beeilen, merkt niemand etwas. Gesetzt den Fall, ihr seid schnell.«

Der Kollege lächelte. »Sind wir doch immer. Für Sie sowieso, Frau Haug.«

»Hast du so was schon mal gesehen?« Kurti betrachtete den Toten. »Zwei auffällige weiße Stellen am Hals. Einen Vampir schließe ich aus.«

»Kannst du auch. Da sind Schilder an den Türen mit den Namen der Berühmtheiten, die hier schon genächtigt haben«, antwortete Dodo trocken. »Auf keinem steht ›Graf Dracula‹.«

»Nirgendwo Spuren gewaltsamen Eindringens.« Kurti zeigte auf die Tür. »Das Schloss ist nicht beschädigt. Eventuell hat er seinen Mörder selbst eingelassen.«

»Oder die Mörderin«, korrigierte ihn Dodo. »Frauen töten auch.«

Sie ging in die Hocke. »Der Läufer hier ist leicht verrutscht. Wir oder die Kollegen waren das nicht, denn wir sind alle Profis. Sie werden den Bereich auf Schleifspuren prüfen. Gut möglich, dass es hier passiert ist. Und anschließend wurde er auf dem Bett deponiert, spekuliere ich jetzt mal. Meiner Vermutung nach hat er die Tür geöffnet und wurde an Ort und Stelle ermordet. Kann in diesem Hotel eigentlich jeder raus und rein?«

»Der Portier meinte, es sei die Hölle los gewesen heute«, sagte Kurti. »Diese Busladung Chorsänger aus Castrop-Rauxel ist nachmittags angekommen. Und ich schätze mal, es ging auch am Abend zu wie im Taubenschlag. In diesem Trubel könnte sich jeder hereinschleichen, ohne aufzufallen. Er müsste dann nur irgendwo warten, bis die Gelegenheit günstig wäre. Das Hotel ist groß genug. Und Videoüberwachung habe ich nirgendwo gesehen. Vielleicht will man mit so was die Gäste nicht irritieren.«

Dodo ging zurück zum Bett. Dort hob sie mit behandschuhten Fingern das Smartphone neben dem Toten hoch. »Toll, ein iPhone mit Gesichtserkennung«, konstatierte sie verdrossen. »Das zu knacken, schafft nicht mal unser Genie Peter.« Sachte strich sie über den Bildschirm und hielt das Display dann über den Kopf des Opfers. Nichts geschah. »Tja, mal verliert man, mal gewinnen die anderen.« Enttäuscht packte sie das Smartphone in eine Tüte.

»Sieh mal.« Sie zeigte auf den linken Arm des Toten. »Über dem Handgelenk ist ein Streifen hellerer Haut. Er trug wohl eine Armbanduhr. Tun im Handy-Zeitalter auch nicht mehr viele. Die muss irgendwo sein.«

Kurti öffnete die Schublade des Nachttisches. »Hier nicht. Aber es liegen heutzutage tatsächlich noch Bibeln in Hotelzimmern. Würde dir nicht schaden, mal in eine reinzuschauen, Kollegin. Jesus war nämlich bestimmt Vegetarier.«

»Nein, der hat Lamm gemocht, da bin ich mir sicher«, widersprach ihm Dodo. »Der war garantiert nicht so heikel wie du, sondern froh, wenn er überhaupt was zu essen hatte.«