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Hauptkommissar Schneider und seine Frau Mathilde sind mit Freunden übers Wochenende zum Wandern im Harz, um sich für eine Alpenüberquerung im September fit zu machen. Der Pächter des Naturfreundehauses, in dem sie übernachten, erzählt ihnen von Sägekursen und anderen Aktivitäten, die seit kurzem angeboten werden. Er ist erschüttert, als er erfährt, dass sein Kursleiter, ein Förster aus Duderstadt, vor kurzem von einem Baum erschlagen wurde. Doch nicht genug. Kollege Pfützenreuter wird bei der Beerdigung dieses Försters Zeuge von etwas Unglaublichem. Kurz darauf fällt die Polizistin Susanne Große von der Bundespolizei nach einem Sturz mit dem Fahrrad ins Koma. War es ein Mordanschlag? Oder ein Unfall? Schneiders Bauchgefühl sagt, dass es in beiden Fällen nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Als in Braunlage Jugendliche mit der Droge Crack aufgegriffen werden und dieses Rauschgift kurz darauf auch in Duderstadt auftaucht, wird es brenzlich, denn der Kommissar ist mit seinen Freunden zur Wanderung von Füssen nach Meran aufgebrochen. Unterwegs erleben sie ihr blaues Wunder und müssen schon bald zurück ...
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Seitenzahl: 311
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Barbara Merten
Mordsmäßig getroffen
EICHSFELD-HARZ-KRIMI
Mordsmäßig getroffen
ISBN 978-3-96901-098-3
ePub Edition
V1.0 (07/2024)
© 2024 by Barbara Merten
Abbildungsnachweise:
Umschlag © VadimVasenin | #203639514 | depositphotos.com
Porträt der Autorin © Ania Schulz | as-fotografie.com
Lektorat:
Sascha Exner
Verlag:
EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH
Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland
Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21
E-Mail: [email protected]
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
Allgemeiner Hinweis:
Bei den Schauplätzen dieses Romans handelt es sich um reale Orte. Die Handlung und die Charaktere hingegen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.
Titelseite
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 27
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Was ich unbedingt noch loswerden muss
Über die Autorin
Mehr von Barbara Merten
Eine kleine Bitte
Du bist nicht mehr da, wo du warst,
aber du bist überall, wo wir sind.
– Victor Hugo –
Dudelsackmusik schallte vom St. Paulus Friedhof herüber zur Ohmbergstraße. Wachtmeister Pfützenreuter, von seinen Freunden Fuzzi genannt, lief vor Ergriffenheit eine Gänsehaut über den Körper. Er war auf dem Heimweg, stieg vom Rad, um zuzuhören. Voll Inbrunst setzte eine Bassstimme ein: »Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss ist alle Wiederkehr. Die Zukunft liegt in Finsternis und macht das Herz uns schwer …«
Meine Güte, der Text zieht die Trauergesellschaft ja noch mehr runter, dachte er stirnrunzelnd und stieg wieder aufs Rad. Doch die Melodie, die als Übergang zur nächsten Strophe vom Dudelsack gespielt wurde, berührte ihn. Neugierig, wem der Abschied galt, bog er durch das eiserne Tor auf den Friedhof ab.
An der Kapelle standen die Türen weit offen. Der Wachtmeister stellte sein Rad ab und ging hinein. Der Raum war leer. Die trauernde Gemeinde war schon gegangen, um den Sarg mit dem Verstorbenen zur letzten Ruhestätte zu begleiten. Auf silbernen Leuchtern brannten noch die Kerzen. Bunte Blumenkränze und Gebinde lagen im Oval vor dem Lesungspult. Zusammen mit dem Duft von Blumen, Tannengrün und Kerzenwachs strömte ihm ein festliches, ja feierliches Ambiente entgegen. Als Pfützenreuter die Namen auf den Schleifen der Kränze las, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Ach ja! Lennox Craig wird beerdigt! Der hat schottische Wurzeln. Darum die Dudelsackmusik. Bevor er wieder hinaustrat, genoss Fuzzi die friedliche Atmosphäre.
Draußen schaute er sich suchend um. An der Ostseite des Friedhofs entdeckte er die Trauernden. Er schätzte an die achtzig Personen, die mit geneigtem Kopf der Musik lauschten. Sein Fahrrad schiebend näherte er sich der Trauergemeinde, bis er den Sänger und den Dudelsackspieler sehen konnte. Beide trugen einen schottischen Kilt und hoben sich in ihrer Farbenpracht von den dunkel gekleideten Angehörigen ab.
»... Nehmt Abschied, Brüder, schließt den Kreis. Das Leben ist ein Spiel. Und wer es recht zu spielen weiß, gelangt ans große Ziel«, endete das Lied. Der Dudelsackspieler setzte zum Nachspiel ein.
Nach dem Musikstück traten sechs, in schwarze Umhänge gehüllte Sargträger ans Grab. Sie nahmen ihre Zylinder vom Kopf, verneigten sich vor dem Toten, griffen dann nach den Enden der Stricke, die unter dem Sarg durchgezogen waren. Angehörige wischten sich Tränen ab, schnieften. Fuzzi beobachtete Sandra, die Ehefrau. Sie stand direkt vor dem Sarg, hielt die fünfjährige Tochter und den etwas älteren Sohn krampfhaft an den Händen. Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Die Arme, dachte er mitfühlend. So jung und schon Witwe. Er mochte Sandra. Sie war sein Jahrgang und sein erster Jugendschwarm gewesen. Später hatten sie sich aus den Augen verloren. Jetzt kommt der Moment der endgültigen Verabschiedung, dachte Fuzzi. Trauer erfasste ihn, seine feuchten Hände umklammerten die Lenkstange des Fahrrades. Den Kindern geht es wie mir damals. Furchtbar. Er hatte seinen Vater im Alter von sechs Jahren bei einem Autounfall verloren. Seine Mutter war nie darüber hinweggekommen, und auch er selbst vermisste ihn nach über dreißig Jahren noch. Im Geiste sah er sich als Kind mit seiner Mutter am Grab des Vaters stehen.
Die Stimme des kleinen Mädchens riss ihn aus der Vergangenheit zurück ins Heute.
»Mama, nicht weinen!« Flehend klopfte das Mädchen gegen den Bauch Mutter. Sie nahm das Kind auf den Arm, während der Junge mit versteinertem Gesicht finster auf den Sarg stierte. Die Männer hielten die Seile stramm. Der Bestatter bückte sich, entfernte die Bretter unter dem Sarg, damit der Sarg hinabgelassen werden konnte. Doch ein Geräusch ließ die Träger innehalten. Es klang wie das Aufheulen einer Motorsäge. Auch die Trauernden horchten auf. Unruhig begannen sie zu murmeln, schauten sich um.
»Manche haben einfach schreckliche Klingeltöne auf ihrem Handy«, raunte jemand.
»Das geht ja durch Mark und Bein.«
»Kann man sein Handy nicht lautlos stellen, wenn man zu einer Beerdigung geht? Einfach pietätlos«, schimpfte ein anderer, musterte die Leute, um den Verursacher mit bösen Blicken zu strafen.
Die Sargträger hatten das Geräusch längst lokalisiert. Sie starrten auf die Eichentruhe. Ups! Das kommt aus dem Sarg! Was machen wir jetzt? Mit Blicken versuchten sie sich zu verständigen. Den Sarg schnell hinunterlassen? ‒ Warten?
Penetrant heulte der Klang der Säge wieder und wieder. Hilfesuchend schauten die Träger zum Pfarrer. Der Geistliche erfasste die prekäre Situation, hob die Augenbrauen und gab mit den Händen Anweisung, den Sarg langsam hinabzulassen. Doch noch ehe die Träger zur Tat schritten, verstummte das Geräusch. Stattdessen ertönte eine raue Männerstimme: »Sorry, ich bin momentan nicht zu sprechen, rufe später zurück!«
Nicht weich zu sitzen, das ist hart.
– Heinz Ehrhardt –
Samstagmorgen, Naturfreundehaus St. Andreasberg
Über den Höhen des Harzes strahlte die Morgensonne vom sattblauen Himmel. Weißer Dunst, der aus den Tälern aufstieg, ließ die Bergspitzen wie auf Watte thronen. Es versprach ein wundervoller Sommertag zu werden, ideal zum Wandern.
Gut gelaunt und voller Elan sprang Christian Schneider aus dem oberen Etagenbett herunter. »Guten Morgen, mein Schatz. Ausgeschlafen?« Er bückte sich zu seiner Frau Mathilde, die im unteren Bett lag und gab ihr einen Kuss.
Die krauste die Stirn, blinzelte verschlafen, räkelte sich. Im nächsten Moment hielt sie, mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht, in der Bewegung inne.
»Oh Gott! Ich spüre jeden Knochen. Alles tut mir weh!« Stöhnend setzte sie sich auf die Bettkante und rieb sich übers Gesicht. »Nach dem gestrigen Marsch kann ich mir nicht vorstellen, dass ich die Alpenüberquerung nächsten Monat schaffe. Was haben wir uns da bloß ausgedacht? Meine Güte! Mir tut alles weh!«
Christian grinste. »Das wird schon wieder. Wir sind ja hier zum Training. Dein Körper muss sich erst darauf einstellen. Wirst sehen, bis zum Urlaub bist du fit wie ein Turnschuh. Renate und Greta geht es bestimmt ähnlich. Komm!« Er reichte ihr die Hand, die sie aber kopfschüttelnd ablehnte. Aufmunternd meinte er: »Nach einem guten Frühstück sieht die Welt wieder besser aus.«
Mit zerknirschtem Gesicht schaute sie ihn an. »Gutes Frühstück? Hier? Im Naturfreundehaus? Bei dem Komfort, mit Stockbetten und Duschraum? Das glaubst du doch selbst nicht. Ich fühle mich an meine Schulzeit erinnert, rieche förmlich den Hagebuttentee und den Muckefuck. Auch wenn es jetzt ›Naturfreundehaus‹ heißt.« Missmutig schielte sie zu ihm rüber, grummelte vor sich hin: »Ich möchte in einem feinen Hotel absteigen, mich verwöhnen lassen, in den Pool gehen, ein Glas Sekt zum Frühstück trinken. Aber nein, ich bin ja mit einem wanderwütigen, geizigen Kripomann verheiratet. Hoffentlich gibt’s hier nicht auch noch Mord und Totschlag, Herr Hauptkommissar. So wie letztes Jahr im Wiesenbek. Das wäre der Hammer.«
Schneider hob die Augenbrauen, presste die Lippen zusammen, schnaufte. »Hmpf. Nimm den rechten Fuß beim Aufstehen, Mathilde«, sagte er verstimmt.
Stirnrunzelnd sah sie ihn an. »Wieso das denn?«
»Na, ich möchte den Tag nicht mit dir verbringen, wenn du mit dem falschen Fuß aufgestanden bist. Das ist nervig. Außerdem kam der Vorschlag der Alpenüberquerung von euch Frauen. Hast du das schon vergessen?«
Er drehte sich weg. Augenrollend erhob sich Mathilde, trat einen Schritt auf ihn zu, knuffte ihn in die Seite.
»Hey, du Leberwurst. Es tut mir leid. Mit dem Vorschlag wollten wir euch Männern entgegenkommen. Weil ihr immer die Herausforderung sucht, dachten wir, die Alpenüberquerung wäre was für euch und hinterher für uns Frauen eine Woche Meran im schicken Hotel. So hatten wir es uns vorgestellt. Dass Bergsteigen so anstrengend ist ...« Sie zuckte die Achseln. »Eigentlich verstehe ich meinen Körper nicht. Mir macht es doch sonst nichts aus.«
Christian drehte sich zu ihr um, schaute sie achselzuckend an. Sie küsste ihn versöhnlich. Doch als er sie in den Arm nahm und an sich drückte, schrie sie auf.
»Au! Bist du wahnsinnig? Willst du mir das Rückgrat brechen?«
Grinsend ließ er los, sah, wie sie schmerzgekrümmt vor ihm stand.
»Ausgewachsener Muskelkater würde ich sagen. Die zehn Kilo gestern im Rucksack, waren definitiv zu viel für dich. Aber es war ein guter Tipp von Peter, zu testen, ob wir unser Gepäck über die Alpen tragen oder nur das täglich Notwendige. Das hat dich so geschafft, Mathilde. Jetzt bin ich auf jeden Fall für den Gepäcktransfer. Meinst du nicht auch?« Sie nickte. »Nimm heute deine Bauchtasche mit dem Kleinkram und ich packe deinen Proviant zu meinem in den Rucksack. Dann kann sich dein Rücken erholen«, schlug Christian vor.
»Machst du das auch über die Alpen für mich?«, fragte sie spitzbübisch.
Er schüttelte lachend den Kopf. »Mathilde, Mathilde. Nee, das kannst du vergessen. Deinen Proviant wirst du selbst über die Alpen tragen. Ich bin doch nicht dein Esel!«
Grinsend meinte sie: »Wir werden sehen. Ich bin gespannt, wie es Renate geht.« Sie schaute auf die Uhr. »Schon gleich acht! Oh Gott! Bierwirths sitzen bestimmt schon beim Frühstück.«
»Na dann, komm in die Strümpfe!«
Als sie den Speisesaal betraten, saßen ihre Freunde tatsächlich schon am Tisch und speisten.
»Seid ihr nicht aus den Federn gekommen? War ein bisschen komisch, übereinander zu schlafen, ne? Ihr musstet wohl vor dem Bett noch kuscheln?«, frotzelte Peter.
»Genau!« Christian schmunzelte. »Du verstehst das. Ich wundere mich nur, warum ihr schon da seid.«
Säuerlich schaute Peter zu seiner Frau. »Wenn’s nach mir gegangen wäre … aber meine Frau ist heute nicht gut drauf. Ich darf sie nicht mal berühren, dann schreit sie schon«, beklagte er sich.
Mathilde lächelte amüsiert, sagte aber nichts. Stattdessen betrachtete sie wohlwollend das reichhaltige Frühstücksbuffet und nahm sich einen Teller vom Stapel. »Hm, lecker! Komm, Christian, frühstücken!«, lenkte sie ab. Sie mochte Peters Anzüglichkeiten nicht. Nur ihrer Freundin Renate zuliebe, die nach dem frühen Tod ihres Mannes in Peter einen neuen Partner gefunden hatte, versuchte sie, mit ihm auszukommen. Sie waren Nachbarn, spielten jeden ersten Dienstag im Monat zusammen mit Renates Vater, der in der oberen Etage des Hauses wohnte, Doppelkopf.
»Sieht sehr ansprechend aus, im Gegensatz zu früher. Mir läuft regelrecht das Wasser im Munde zusammen«, schluckte sie erfreut.
Greta und Cop tauchten auf, was Peter gleich zu neuen Sticheleien veranlasste. Aber Cop grinste nur: »Bist wohl neidisch?«
Die beiden hatten sich kurzfristig eingeklinkt. Christian hatte ihm auf dem Revier erzählt, dass er mit seiner Frau und einem befreundeten Ehepaar ein paar Wanderwochenenden im Harz verbringen würde, um sich auf eine Alpenüberquerung im September vorzubereiten. Weil Cop sich mit Christian nicht nur dienstlich gut verstand, hatte er sofort nachgefragt, ob er sich mit seiner Lebensgefährtin der Gruppe anschließen könnte, denn Greta war in ihrer Studienzeit mit Freunden über die Alpen gewandert und erzählte noch immer davon.
»Klar! Warum nicht? Wenn du das mit Bause klarkriegst? Du weißt, dass er das nicht gern sieht, wenn wir gleichzeitig Urlaub nehmen. Ich habe nichts dagegen, Mathilde wird es freuen und Renate und Peter sind bestimmt auch einverstanden. Dann haben wir wenigstens einen durchtrainierten Mann, der unsere Frauen Huckepack nimmt, wenn sie am Berg schwächeln«, hatte Christian grienend geantwortet.
Den EPHK, den Ersten Polizeihauptkommissar, Bause, Chef des Duderstädter Polizeireviers, zu einem Einverständnis zu überreden, war tatsächlich nicht einfach gewesen. Cop hatte alle Register an Überzeugungsarbeit gezogen: »Herr Bause, nehmen Sie es als Schulterklopfen für unseren letzten Fall. Da haben wir doch außergewöhnlich gute Arbeit geleistet und eine Menge Überstunden angehäuft. Außerdem legen Sie doch Wert darauf, dass wir Kollegen uns untereinander gut verstehen«, hatte er ihm schmeichlerisch erklärt.
»Ja, gute Arbeit. Eben drum. Was ist, wenn hier was passiert und Sie beide sitzen in den Bergen? Soll ich etwa dem Kollegen Pfützenreuter einen Fall übertragen? Sie wissen selbst, dass das in die Hose geht.« Bause hatte sich kopfschüttelnd über die Stirn gestrichen und Cop sah, dass es wohl nichts würde mit dem Urlaub. Enttäuscht wollte er schon den Raum verlassen, als ihm der Chef erklärte: »Wissen Sie, ich geh zum Ende des Jahres in Pension und will einen guten Abschluss, keinen Skandal mehr nach vierzig Jahren Arbeit im Polizeidienst. Das müssen Sie verstehen.«
War das ein Anknüpfungspunkt? Cop hatte kurz überlegt. Bauchpinseln! Das ist die einzige Chance. Von mir ablenken und sein Ego füttern. So krieg ich ihn. Siegessicher war er zurück an den Schreibtisch getreten.
»Vierzig Dienstjahre ohne Skandale! Hut ab, Herr Hauptkommissar. Wer das Amt nach Ihnen übernimmt, tritt in große Fußstapfen. Sie haben den Laden wirklich vorwärtsgebracht und gut zusammengehalten.« Den Zeigefinger auf Bause gerichtet, hatte er der Rede Nachdruck verliehen. »Durch Ihren Einsatz stehen wir nicht nur mit der Digitalisierung, sondern auch bei der Strafverfolgung im Landkreis prozentual ganz oben. Dank Ihnen leben die Duderstädter sicher. Wollen Sie meinen Rat hören, Herr Hauptkommissar?«
Wohlwollend interessiert hatte ihm Bause zugehört.
»Nur zu, Oberwachtmeister Paschke. Bin auf Ihren Rat gespannt.«
Cop hatte sich blitzschnell seine Worte im Geist zurechtgelegt. »Also, wenn ich mal in Pension gehe, würde ich gern noch einen ganz großen Coup aufklären. Verstehen Sie? Damit sich alle, auch nach Jahren noch, an mich erinnern! Ich möchte auf keinen Fall in der Bedeutungslosigkeit eines Pensionärs verschwinden. Das fände ich traurig. Nach so vielen Dienstjahren.« Mit gespitztem Mund hatte er dem Chef ernst zugenickt und mit Herzklopfen auf seine Reaktion gewartet. Hatte er zu dick aufgetragen? Ging der Schuss gleich nach hinten los?
Bause hatte ihn fixiert, schien zu überlegen, abzuwägen. Dann hatte er sich geräuspert.
»Sie haben nicht unrecht, Herr Paschke. Heutzutage, in dieser schnelllebigen Zeit, wird man ruckzuck vergessen. Da erinnert sich später niemand mehr, was man im Arbeitsleben für die Gesellschaft geleistet hat. Traurig ist das, wirklich traurig.«
Cop triumphierte innerlich. Bause hatte angebissen.
»Was meinen Sie, Herr Paschke, ob ich für Schneider zur Not einspringen kann, wenn Sie beide im Urlaub sind? Das wäre durchaus eine Möglichkeit.« Er hatte seinen Terminkalender, der auf dem Schreibtisch lag, inspiziert. »In den ersten beiden Septemberwochen wollen Sie los? Hm. Da liegt nichts Besonderes an. Das Schützenfest ist vorbei, die Sommerferien auch … könnte passen.« Mehr zu sich selbst hatte er nickend gesagt: »Allen noch einmal zeigen, dass ich es nicht verlernt habe. Als Erster Polizeihauptkommissar habe ich ja andere, wichtige Aufgaben übernommen und konnte persönlich keinen Fall, so wie früher, bearbeiten. Die Schreibtischarbeit und die Sitzungen in den verschiedenen Gremien fressen einen auf, glauben Sie mir. Obwohl ...« Er hatte eine Pause gemacht, sich das Kinn gerieben. »Mit dem Kollegen Pfützenreuter eng zusammenzuarbeiten, hätte ich aber so meine Probleme. Er ist, ganz im Vertrauen gesagt, manchmal schon sehr … na ja, sehr speziell, würde ich sagen. Sein Spitzname ›Fuzzi‹ scheint ein Synonym für seine Person zu sein. Das bleibt aber unter uns. Haben Sie mich verstanden?« Bause hatte nun auch, aber warnend, den Zeigefinger gehoben und Cops Blick gesucht.
Dienernd hatte Cop geantwortet: »Ja natürlich, Chef«, wobei er sein Grinsen verbergen musste.
»Also gut, in Gottes Namen wandern Sie zusammen über die Alpen! Aber kommen Sie bloß gesund wieder zurück. Ich habe davon gelesen, dass diese Marathonwanderungen körperliche Schäden nach sich ziehen können. Knieschäden, Hüft- und Rückenleiden sind nicht selten die Folgen von Überanstrengung«, hatte er mit schmerzverzerrten Gesicht gemeint und sich dabei die Oberschenkel gerieben.
»Wir tun, was in unserer Macht steht, Herr Hauptkommissar. Machen Sie sich keine Sorgen. Unsere Frauen sind doch dabei. Die passen schon auf, dass wir uns nicht übernehmen. Ich danke Ihnen!«
Daraufhin war Cop eilends aus dem Zimmer verschwunden, hatte auf dem Flur einen Luftsprung gemacht. In Christians Zimmer hatte er den Daumen gehoben und ihm zugejubelt: »Grünes Licht vom Chef!«
Schneider hatte anerkennend genickt. »Prima, dann melde ich euch fürs Wochenende noch im Naturfreundehaus an.«
Voll Tatendrang war Cop daraufhin an die Arbeit gegangen, konnte das gemeinsame Wochenende im Harz kaum erwarten.
Nun saßen die sechs beim Frühstück, frotzelten und lachten, packten danach ihr Lunchpaket, schnürten die Rucksäcke und traten vor die Herberge. Christian, der die Planung der Wanderungen übernommen hatte, breitete die Wanderkarte auf der Haube seines Wagens aus und erklärte die heutige Route. Es sollte entlang des Rehberger Grabens, am Goetheplatz vorbei und von dort zum Sonnenberg gehen. Über den Rehbergsattel zum Schlufter Kopf, weiter auf dem Wagener Planweg zu den Dreibrodesteinen und von dort zurück zur Herberge. Eine Strecke von 15 Kilometern mit unerheblichen Steigungen.
Der Leiter kam vom Naturfreundehaus herüber, schaute auf das Autokennzeichen und sprach sie an.
»Ah! Sie kommen aus Duderstadt? Ein schönes Städtchen. Mein Großonkel kam von dort. Ich erinnere mich noch gern an die Geburtstagsfeiern bei ihm zuhause. Es gab Eichsfelder Schmandkuchen und Frankfurter Kranz und abends wurde ’ne Kälberblase angeschnitten. Mit frischem Brot. Dazu haben die Erwachsenen Nordhäuser Schnaps getrunken. Lange her.« Er lächelte in sich hinein, ehe er fortfuhr: »Nach vielen Jahren als Weltenbummler bin ich nun in die alte Heimat zurückgekehrt und hab meinen Lebenspartner gleich mitgebracht. Er schmeißt hier im Haus die Küche und ich bin für den Rest zuständig. Es macht uns richtig Spaß mit den Gästen und dem ganzen Drumherum. Hätte ich mir nie träumen lassen.«
Schneider nickte ihm zu: »Das ist ja interessant. Wir erinnern uns noch gut an die Zeit, als das Haus Schullandheim gewesen ist. Die meisten Duderstädter sind in ihrer Schulzeit mindestens einmal hier gewesen.«
Renate und Peter, Cop und Mathilde nickten. Greta, die erst durchs Studium in Göttingen nach Niedersachsen gezogen war, hörte aufmerksam zu.
»Vieles erkennt man wieder«, fand Renate.
»Ja! Aber ich muss sagen, das Frühstück hat sich sehr zum Positiven verändert. Es war richtig lecker. Richten Sie es bitte Ihrem Lebenspartner aus«, ergänzte Mathilde anerkennend, während Cop meinte: »Die Waschräume waren damals ziemlich spartanisch. Jetzt sind sie okay. Hauptsache sauber. Versuchen Sie, mit Ihrem Konzept die Leute für das einfache Leben in der Natur zu begeistern?«
»Ja, man muss mit der Zeit gehen. Heute lautet die Devise: Weniger ist mehr.«
»Das finde ich gut.« Seit Cop Greta kannte, hatte er sich zum ›Ökofreak‹ gemausert.
»Natürlich und einfach, nicht schicki-micki. Wir halten den Preis niedrig, damit auch finanzschwache Leute Urlaub machen können. Das geht natürlich auf Kosten des Komforts. Viele wollen heute aber bewusst einfach leben. Und! Wir bieten seit einiger Zeit verschiedene Kurse an, zum Beispiel Wandern, Ski fahren, viele Sportarten, usw.. Schon der zehnte Motorsägen-Lehrgang hat hier stattgefunden. Im Herbst geht’s weiter. Sehen Sie! Die Bänke und Tische da hinten, die haben Teilnehmer aus Baumstämmen gesägt. Urig, praktisch und schön. Auch die Tierskulpturen und Pilze stammen von einigen Männern, die hier Spaß am Sägen gekriegt haben. Viele kommen natürlich auch, weil sie zuhause einen Kamin haben und ihr Holz im Gemeindewald selbst sägen wollen. Der Bedarf ist groß. Und gut geführte Kurse sprechen sich schnell rum. Wir haben inzwischen eine Warteliste für Teilnehmer. Unser Ausbilder ist Forstwirtschaftsmeister, allerdings kein Harzer. Er kommt, wenn ich mich nicht irre, auch aus Duderstadt. Sie sehen, die Verbindungen ins Eichsfeld bestehen immer noch«, grinste er.
Cop hob den Zeigefinger. »Lennox? Lennox Craig?«, fragte er mit skeptisch dreinblickender Mimik. Der Leiter nickte.
»Genau. Lennox Craig. Ich hab mit den Kursleitern ja nicht viel zu tun. Es sind schon einige. Aber so ungewöhnliche Namen bleiben auch mir im Kopf hängen. Kennen Sie ihn? Ein toller Kerl. Er hat mir erzählt, dass sein Großvater aus Schottland kam und nach dem 2. Weltkrieg wegen der Liebe zu einem deutschen Mädchen hiergeblieben ist. Darum der außergewöhnliche Name.«
Cop nickte betreten, wischte mit dem Schuh auf dem Boden.
»Dann wissen Sie noch gar nicht, dass Lennox tot ist? Letzte Woche ist er im Wald von einem Baum erschlagen worden. Ich glaube, gestern war die Beerdigung.«
Ungläubig stierte der Hausleiter Cop an. »Nee, das kann nicht sein.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Wollen Sie mir einen Bären aufbinden?«
»Leider nicht. Lennox hinterlässt eine Frau und zwei Kinder.«
Der Zweifel ist der Sarg des Glaubens und die Wiege der Wissenschaft.
– unbekannter Verfasser –
Montagmorgen, auf dem Revier
Als Christian Schneider am Montagmorgen das Revier betrat, standen mehrere Polizisten im Foyer beisammen. Er hob die Hand zum Gruß. Die anderen nickten zwar, waren aber im Gespräch vertieft. Er schnappte einige Gesprächsfetzen auf.
»War wohl der Tote.« Gelächter. »Quatsch.« »Schon ziemlich makaber.«
Wochenendtratsch im Treppenhaus, dachte er gut gelaunt und lief die Treppe hinauf. Bevor er in sein Büro ging, schaute er bei den Kollegen Cop und Fuzzi vorbei.
»Guten Morgen!«, rief er beschwingt. »Gibt’s was Neues?«
Cop grinste. »Und ob. Wir beide haben am Wochenende was verpasst. Auf dem Friedhof melden sich neuerdings Tote aus dem Jenseits per Handy!«
Skeptisch guckte Schneider ihn an.
Der Oberwachtmeister verzog ironisch sein Gesicht.
»Vielleicht war der Mann im Sarg ja noch nicht so ganz tot, musste noch was regeln, bevor sie das Loch zuschaufeln.«
Fuzzi reagierte aufgebracht. »Mach dich nur lustig. Du warst ja nicht dabei. Ich hab’s genau gehört und die Sargträger und die Angehörigen können es auch bezeugen.«
»Was können die bezeugen?«, hakte Schneider irritiert nach.
»Dass ein Handy im Sarg lag. Es hat geklingelt. Gerade, als sie den Sarg ins Loch runterlassen wollten, meldete sich die Stimme von dem Toten.«
Schneider krauste die Stirn, zweifelte an der Korrektheit der Darstellung, die Kollege Pfützenreuter, von sich gab. Manchmal hatte der Wachtmeister eine sehr spezielle Art, Dinge zu beschreiben oder zu erklären. Darum fragte Schneider mit ungläubiger Miene.
»Aus dem Sarg? Was hat der Tote denn gesagt?«
Verzweifelt hob Fuzzi die Arme. »Ja, was soll er schon gesagt haben? Dass er jetzt nicht dran gehen kann, später aber zurückruft.«
Schneiders Bauch hob und senkte sich. Er hielt sich die Hand vor den Mund, rieb sich das Kinn, versuchte das Lachen zu unterdrücken und fragte betont ernst: »Und? Hat er zurückgerufen?«
Fuzzi lief rot an, stemmte seine Hände in die Seite, schnappte nach Luft. Nie nehmen sie mich ernst, machen sich lustig! Verärgert versuchte er, sich zu verteidigen. »Glaubt ihr, ich bin total blöd? Ich weiß selbst, dass Tote nicht mehr telefonieren können. Das war sein Anrufbeantworter. Aber wer legt denn einem Toten sein Handy mit in den Sarg? Das ist doch meschugge. Mir lief eine Gänsehaut über den Körper, als ich die Stimme hörte!«
»Das kann ich mir vorstellen«, meinte Cop, presste dann die Lippen fest aufeinander, um den Kollegen nicht noch mehr zu provozieren. Er spürte, dass Fuzzi die ganze Sache schwer mitgenommen hatte.
Auch Schneider bemerkte die Spannung, versuchte seine Lachmuskeln im Zaum zu halten, wischte sich über die Augen, schniefte. »Hmpf. Was haben denn die anderen Leute gemacht?«, fragte er nach.
Der Wachtmeister zuckte die Schultern.
»Was wohl? Die waren genauso irritiert wie ich. Für Sandra, die Ehefrau, muss es grausam gewesen sein. Als sie die Stimme ihres Mannes gehört hat, stand sie zuerst wie versteinert da. Dann ist sie laut schluchzend davongelaufen. Ein schrecklicher Abschied.« Fuzzi schüttelte noch immer gerührt den Kopf. »Die Beerdigung werde ich nie vergessen.«
Betreten stand Schneider nun in der Tür. Durch die Schilderung des Wachtmeisters war ihm das Lachen vergangen.
»Das kann doch nur ein übler Scherz gewesen sein. Bist du sicher, dass das Handy im Sarg gelegen hat? Und dass es dem Toten gehört hat?«
Mit verkniffenem Mund zuckte Fuzzi die Schulter. »Klar, ich habe die Stimme erkannt. Ich kannte Lennox aus der Musikwerkstatt. Der hatte so eine raue, tiefe Stimme, konnte supergut singen, besonders zu später Stunde, wenn er schon einiges intus hatte. Erinnerst du dich nicht, wie der manchmal die Bude aufgemischt hat?«, wandte er sich an seinen Kollegen.
Cop nickte. »Ja, stimmt. Da ging die Post ab. Highland-Feeling. Lennox war Fan von der Band Wolfstone, konnte deren Songs echt stark vortragen. Lag wohl an seinen schottischen Wurzeln«, meinte er.
»Genau. Darum haben bei der Beerdigung auch der Dudelsackspieler und sein Freund Carl Sommer ein Lied zum Besten gegeben. Sein Spitzname ist ›Caruso‹. Aber die Stimme aus dem Sarg war zweifellos die von Lennox Craig. Wir haben oft miteinander gequatscht, auf der Marktstraße, oder wenn man sich irgendwo begegnet ist. Ich bin mit Sandra, seiner Frau, zur Schule gegangen.« Fuzzi zog die Augenbrauen hoch, schaute sinnierend aus dem Fenster, knabberte an seinen Fingernägeln. »Wenn ich mir das jetzt überlege, war das Handy ziemlich laut, klang aber genau wie eine Motorsäge. Es hätte sich dumpfer anhören müssen, wenn es im Sarg gelegen hätte«, überlegte er laut. »Aber der Ton kam direkt von da. Ganz sicher! Die Sargträger haben in dem Moment sich wie versteinert angeglotzt, weil sie nicht wussten, was sie machen sollten.«
»Motorsäge als Klingelton? Das passt schon. Lennox war ja Förster. Aber irgendwie ist es schon makaber, wenn sich ein Toter bei seiner eigenen Beerdigung meldet«, meinte Cop, tippte sich nachdenklich an die Stirn und wandte sich Schneider zu. »Erinnerst du dich? Der Chef vom Naturfreundehaus hat uns erzählt, dass Lennox Craig in Andreasberg Lehrgänge für Baumfällarbeiten angeboten hat.« Er verzog das Gesicht. »Ob bei seinem Tod wirklich alles mit rechten Dingen zugegangen ist? Ich mein ja nur. Der war doch Profi, was den Umgang mit der Motorsäge angeht. Hat bestimmt schon hunderte von Bäumen ins Jenseits befördert.« Skeptisch schaute Schneider seinen Kollegen an, schniefte.
»Hmpf. Du hast ja eine komische Vorstellung von seinem Beruf. Wenn er Tiere abschießt, ist das mit dem Jenseits ja noch irgendwie vertretbar. Aber Bäume ins Jenseits befördern?«
Cop ereiferte sich. »Bäume sind Lebewesen. Wenn man sie absägt, sind sie tot. Na ja«, räumte er ein, »›ins Jenseits‹ war wohl nicht das richtige Wort. Aber trotz allem ist es eine Schande, dass unsere Wälder fast nur wirtschaftlichen Zwecken dienen. Das wird uns noch auf die Füße fallen. Wann begreifen die Menschen endlich, was ein Baum wert ist? Warum machen wir alles kaputt?«, stellte er die Frage in den Raum.
Schneider ging nicht darauf ein. Wenn man mit Cop über das Thema ins Gespräch kam, wurde schnell eine heiße Diskussion daraus und die Arbeit kam zu kurz. Deshalb fragte er: »Wer hat den Unfall denn untersucht? Ich hab nichts darüber gelesen und finde es schon ungewöhnlich, dass mitten im Sommer Bäume gesägt werden. Eigentlich wird das doch im Winter gemacht.«
Cop und Fuzzi zuckten die Achseln.
»Keine Ahnung. Ich erkundige mich«, sagte Cop.
»Okay, dann geh ich mal rüber an meine Arbeit. Vom letzten Fall sind noch einige Dinge abzuarbeiten«, meinte Schneider missmutig und verließ das Zimmer.
Nach einer Stunde klopfte Cop an Schneiders Tür.
»Ich hab mich schlaugemacht wegen dem Tod des Baumfällers. Ein Gutachter hat sich das angeguckt und bescheinigt, dass es ein Unfall war. Angeblich aufgrund von Sturmschäden waren einige Bäume nicht mehr standfest. Aus Sicherheitsgründen sollten sie gefällt werden. Thomas Hohnstern und Hilmar Große heißen die Männer, die dabei waren. Beides gebürtige Breitenberger. Die haben Waldrechte im Hübenthal von ihren Großeltern geerbt. Und Lennox Craig war als Förster von der Stadt dort zuständig. Von den Erschütterungen durch das Sägen und Fällen ist eine Esche, die ein paar Meter weiter stand, mitsamt dem Wurzelteller schon umgestürzt, ehe sie gefällt wurde. Der Baum hat Lennox von hinten erwischt und ihm das Rückgrat gebrochen. Er war sofort tot. In dem Gutachten steht, dass die Esche durch das Eschentriebsterben geschädigt und die Wurzeln schon von Pilzen zersetzt waren.«
Cop reichte Schneider eine Kopie des Gutachtens. Der Kommissar überflog die Seiten, blätterte vor und zurück, wog den Kopf.
»Das ist tragisch. Na gut. Trotzdem. Zufrieden stimmt mich das nicht. Ein Förster sieht doch, wenn der Nachbarbaum stark geschädigt ist und eine Gefahr darstellt? Hätte er nicht die Esche im Blick haben müssen? Oder hätten sie die nicht zuerst fällen müssen? Zumindest fahrlässig war das, würde ich sagen«, grübelte Schneider zweifelnd. »Wahrscheinlich ist nichts mehr nachzuweisen. Also, lassen wir ihn in Frieden ruhen.«
»Amen«, sagte Cop, nahm die Zettel, hob die Hand und verließ das Zimmer.
Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.
– Bertolt Brecht –
Mittwochmorgen, sechs Uhr am Euzenberg
Voll Wut knallte Suse ihren Spind bei der Bundespolizei auf dem Duderstädter Euzenberg zu. Nach der Nachtschicht wollte sie nur noch eines: nach Hause. Diesen Ort so schnell wie möglich verlassen.
»Das versuchst du nicht noch einmal, du Arsch. Was denkst du eigentlich, wer du bist?«, zischte sie noch immer aufgebracht und zornig. Um ihren Frust loszuwerden, trat sie wütend mit dem Fuß gegen den Spind, biss sich aber sogleich vor Schmerzen auf die Lippen. Sie sog Luft ein, schnappte ihren Rucksack, schwang ihn über den Rücken und marschierte mit festen Schritten, den angeschlagenen Zeh ignorierend, nach draußen zu ihrem Fahrrad. Der Helm hing am Lenker. Sie ließ ihn baumeln, schob ihr Rad an dem wachhabenden Beamten am Tor vorbei. »Tschüss.«
»Was ist denn mit dir los? Wieso machst du jetzt schon Schluss? Es ist nicht mal sechs. Hast du nicht bis sieben Dienst?«, rief der Kollege hinter ihr her.
Sie hörte es nicht mehr, stieg aufs Rad und sauste die ›Heerstätte‹ hinunter.
Die Morgensonne strahlte vom Ohmgebirge herüber, friedlich und golden, ganz im Gegensatz zu ihrer aufgewühlten Stimmung. ›Burger King‹ war noch geschlossen. Trotzdem lag vom Vortag eine Menge Unrat auf der Straße und dem Grünstreifen. Erst gegen sieben würden die Angestellten die Tüten und Verpackungen aufsammeln. Manchmal kaufte sich Suse nach Dienstschluss zwei Veggieburger. Das ersparte ihr das Frühstückmachen zuhause. Außerdem schmeckte es besonders gut, wenn sie heißhungrig und übermüdet war. Heute würde sie keinen Bissen hinunterkriegen und die herumfliegenden Tüten und Becher, denen sie ausweichen musste, machten sie nur noch aggressiver.
Ein Sportwagen kam hinter ihr her. Das Motorengeräusch war unverkennbar, provozierend. Sie drehte sich kurz um, erkannte den Mann in seinem offenen Cabrio, zeigte ihm wütend den Mittelfinger, trat dann energisch in die Pedale. Der Fahrer fuhr neben sie auf gleiche Höhe, schrie ihr etwas zu, rückte ihr dichter auf die Pelle. Wollte er sie von der Fahrbahn drängen? Ihr Herz raste. Mit festem Griff umklammerte sie den Lenker, versuchte die Spur zu halten, bog mit hohem Tempo in den Kreisel ein, versuchte dem Wagen zu entkommen. Doch noch ehe sie auf den Grünstreifen ausweichen konnte, rammte er ihr Hinterrad. Sie kam ins Schlingern, holperte über eine Bordsteinkante an der vorgesehenen vierten Ausfahrt des Kreisels. Im Gras lagen vereinzelt Steine. Sie versuchte ihnen auszuweichen, drehte sich kurz zu ihrem Verfolger um. War er vorbeigefahren? Hatte sie sich in Sicherheit gebracht? Zu spät sah sie den Haufen mit den Basaltsteinen, der von der Pflasterung der Fahrwegbegrenzung übriggeblieben war. Sie krachte frontal davor. Der heftige Ruck katapultierte sie über die Lenkstange. Mit dem Kopf knallte sie gegen die Baustellenbarke, schlug dann rücklings aufs Schottergestein und verlor das Bewusstsein. Das Sportcoupé schoss röhrend davon.
Die Autofahrer, die wenige Minuten später vorbeikamen, übersahen die Verunglückte. Sie konzentrierten sich auf den einsetzenden Berufsverkehr, das Ein- oder Ausfahren im Kreisel. Außerdem lag Suse zwischen der umgestürzten Barke im hohen Gras außerhalb ihres Sichtfeldes.
Erst eine halbe Stunde später joggte Karla mit ihrem Hund an der Unglücksstelle vorbei. Sie blieb erschrocken stehen, starrte wie in Trance auf die Verletzte, wandte sich dann schnell ab. Geschockt von dem schrecklichen Anblick schlotterten ihr die Beine. Ihr wurde übel, sie meinte, gleich in Ohnmacht zu fallen. Den Hund krampfhaft festhaltend, lehnte sie sich an einen Zaunpfosten, schloss die Augen, war weder in der Lage, nach der Verletzten zu sehen, noch ein Auto anzuhalten und um Hilfe zu bitten. Nach ein paar Minuten hatte sie sich so weit wieder unter Kontrolle, dass sie den Notarzt und die Polizei alarmieren konnte. Tief ein- und ausatmend versuchte sie sich zu beruhigen, aber die Bilder in ihrem Kopf, wie sie selbst als Jugendliche nach einem Autounfall um ihr Leben gekämpft hatte, vereinnahmten sie ganz. Erst als sie Autosirenen näherkommen hörte, wischte sie sich erleichtert den kalten Schweiß von der Stirn. Eine Last wich von ihr. Sie wies die Polizisten ein, wartete dann abseits. Die Ordnungshüter stoppten den Verkehr, bis der Notarztwagen auf dem Radweg geparkt hatte. Danach leiteten sie die Fahrzeuge an der Unfallstelle vorbei. Der Notarzt und die Sanitäter kümmerten sich um die Verunglückte. Mit unnatürlich abgeknicktem linken Arm lag Suse bewusstlos zwischen den rotweiß gestreiften Brettern der Absperrung. Ihr Kopf war auf eine Eisenstange geprallt, die etwa zehn Zentimeter aus dem Boden guckte. Das aus ihrer Kopfwunde ausgetretene Blut hatte ihre kurzen blonden Haare und die Schottersteine rundum rot gefärbt, während aus ihrem Gesicht jegliche Farbe gewichen war. In der rechten Armbeuge hing der Rucksack. Der Fahrradhelm war ein paar Meter weiter zwischen den gelben Knöpfen des Rainfarns gelandet.
»Lass uns im Rucksack nachschauen, ob da ihre Papiere drin sind«, sagte eine Polizistin und hob ihn auf. In der Vortasche fanden sie Ausweispapiere und das Handy. »Susanne Große, wohnhaft in Duderstadt, Westertorstraße«, las sie dem Kollegen vor. »Hier, guck mal! Das ist eine Kollegin von uns. Polizeiobermeisterin. Von der Bundespolizei!«
Die Sanitäter schrieben Namen und Adresse sowie Telefonnummer für ihren Bericht und das Krankenhaus auf und überließen den Polizeibeamten den Rucksack. Daraufhin ließ der Arzt die Verletzte unter besonderer Vorsicht ins Uniklinikum nach Göttingen bringen.
»Ihr übernehmt das und unterrichtet die Angehörigen?«, fragte der Arzt eher rhetorisch die Polizisten.
»Klar. Ist unser Job. Was sollen wir sagen, wegen der Verletzungen? Wird sie überleben?«
»Bin ich Jesus? Sie wird schwerstverletzt ins Uniklinikum eingeliefert. Da weiß jeder, dass es keine Bagatelle ist. Die Angehörigen können sich an die dortigen Kollegen wenden«, meinte der Arzt. Er fürchtete, dass ihr Kopf und auch die Wirbelsäule von der Wucht des Aufschlags irreparable Schäden aufwiesen. Ihr Leben hing an einem seidenen Faden. Aber das würde er zu dieser Zeit nicht den Angehörigen sagen. Zuerst die Untersuchung in der Klinik, dann die Diagnose.
Die Polizistin befragte Karla. Sie konnte keine Angaben zu dem Unfallhergang machen, hinterließ ihre Adresse und die Telefonnummer und durfte dann nach Hause gehen. Da sich die Streifenbeamten den Unfallhergang nicht erklären konnten, sperrten sie noch einmal die Fahrbahn ab, suchten nach Bremsspuren, nach irgendeinem Hinweis, fanden aber nichts.
»Wieso lag die Radfahrerin so weit da hinten?«, fragte ein Polizist. »Wäre sie zu schnell gefahren und aus der Kurve geflogen, müsste sie doch da vorn liegen.« Er wies auf die Stelle. Die Kollegin nickte.
»Das sehe ich auch so. Entweder stand sie unter Drogen oder jemand war ihr auf den Fersen. Lass uns das Rad noch mal genauer anschauen. Vielleicht bringt uns das weiter.«
Sie begutachteten das Mountainbike. Das Vorderrad war verbogen, die Luft entwichen, der Lenker verdreht. Ansonsten schien das Rad, bis auf das Rücklicht, in Ordnung zu sein. Die Polizistin besah sich das zersplitterte Plastik.
»Guck mal. Richtig kaputt ist es nicht. Das Gehäuse hängt etwas schief. Das kann jedenfalls nicht vom Sturz gekommen sein. Vielleicht ist es ein alter Schaden«, mutmaßte sie.
»Oder ein Auto hat von hinten geschubst und sie abgedrängt«, meinte der andere.
»Möglich. Vielleicht finden die von der KTU Lackspuren daran. Das Rad nehmen wir auf jeden Fall mit. Trotzdem sehe ich kaum eine Chance, den Verursacher zu finden.«
Um sicherzugehen, suchten sie auch im Gras und auf dem Radweg nach Hinweisen. Vergeblich.
»Warten wir’s ab. Hoffentlich kann die Frau, wenn sie aufwacht, Angaben machen.«
Es ist besser, unvollkommen anzupacken,als perfekt zu zögern.
– Thomas Alva Edison –
Das letzte Trainingswochenende in St. Andreasberg lief für das Ehepaar Schneider und die Freunde perfekt. Noch vor Sonnenaufgang waren sie am Samstagmorgen von Oderbrück über den Kaiser- und den Goetheweg hinauf zum Brocken gewandert, hatten die Aussicht, das schöne Wetter und den Anblick der Brockenbahn, die dampfend um den Berg zum Gipfel schnaubte, genossen. Sie hatten viel gelacht, Spaß miteinander gehabt. Nun freuten sie sich auf das große Urlaubserlebnis in den Alpen. Am Samstag sollte es losgehen. Sie hatten sich für eine gemeinsame Fahrt mit dem Zug entschieden, wollten am Sonntag in der Früh von Füssen auf dem Lechweg bis nach Reutte wandern, von dort weiter über den Fernpass auf dem Starkenberger Panoramaweg bis Imst. Schneider hatte die Planung übernommen und hoffte, dass das Wetter mitspielte und keiner überfordert war. Die Hotels und der Gepäcktransfer versprachen ein wenig Komfort. Nach acht Tagen Wanderung wollten sie, hoffentlich gesund und munter, in Meran ankommen. Was sie dort unternehmen würden, wusste außer Peter niemand. Diesen Part hatte er übernommen. Schneider traute ihm nicht so recht, war skeptisch, weil Peters Vorstellungen von Freizeitgestaltung nicht immer seinen entsprach. Er versuchte, es gelassen zu sehen, fühlte sich für den Weg nach Meran verantwortlich und hatte alles akribisch durchdacht und geplant.
Nun war er dabei, die letzten Akten von seinem Schreibtisch abzuarbeiten. Vor dem Urlaub sollte das erledigt sein. Er hasste es, Dinge unbearbeitet liegen zu lassen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Und wenn ich Nachtschicht einlegen muss, dachte er sich.
Es klopfte an der Tür und der Leiter des Streifendienstes, Hauptkommissar Andreas Ahrend, trat ein. Ein gewissenhafter Polizist, der, wie Schneider selbst, in dem Beruf seine Berufung gefunden hatte. Der große, schlanke Mann machte in seiner Uniform eine gute Figur, fand Schneider.