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Warschau 1939: Leutnant Konstanty Willemann, vor dem Krieg ein Bonvivant und Dandy, streift durch die zerbombte, soeben noch blühende Stadt, in der die deutsche Besatzung alle Freiheit erstickt. Konstanty, väterlicherseits selbst Deutscher, betäubt sich mit Alkohol und Morphin – denn er ist zerrissen zwischen seinem versehrten Vater und seiner fanatischen Mutter, und er ist noch mehr zerrissen zwischen seinem unsteten Leben mit rauschhaften Nächten bei der jüdischen Edelprostituierten Salomé und der Sorge um die Zukunft seiner Familie, um seine Ehefrau und den vergötterten kleinen Sohn. Doch dann schließt Konstanty sich dem Widerstand an. Getarnt mit der väterlichen Uniform und tadellos Deutsch sprechend, wagt er immer riskantere Aktionen und lernt sich bald besser kennen – als einen erschreckend anderen. Eine konspirative Reise mit der undurchschaubaren Adeligen Dzidzia führt ihn durch eine Vorhölle verwüsteter Landschaften in das noch heile Budapest. Die Fahrt wird für Konstanty zur Prüfung, ob er sich dem Untergang, der Warschau ergriffen hat und ihn selbst mitzureißen droht, noch entziehen kann ... Sinnlich und radikal erzählt Szczepan Twardoch die Geschichte eines faszinierenden, schillernden Helden und entwirft ein großes Panorama der vom ersten Beben des Zweiten Weltkriegs erschütterten Zeit – voller Erinnerungen an die unwiederbringlich zerstörte Schönheit, voll unvergesslicher Szenen, wie Konstanty Willemann durch ein Fegefeuer zu sich selbst findet. Ein virtuoser, atemloser und gewaltiger Roman.
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Seitenzahl: 777
Veröffentlichungsjahr: 2014
Szczepan Twardoch
Morphin
Roman
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl
Ihr Verlagsname
Warschau 1939: Leutnant Konstanty Willemann, vor dem Krieg ein Bonvivant, streift durch die zerbombte, soeben noch blühende Stadt, in der die deutsche Besatzung alle Freiheit erstickt. Konstanty, väterlicherseits selbst Deutscher, betäubt sich mit Alkohol und Morphin – zerrissen zwischen seinem unsteten Leben mit rauschhaften Nächten bei der jüdischen Edelprostituierten Salomé und der Sorge um seine Familie, seine Frau und den kleinen Sohn. Doch dann schließt Konstanty sich dem Widerstand an. Getarnt mit der väterlichen Uniform und tadellos Deutsch sprechend, wagt er immer riskantere Aktionen und lernt sich bald als ein erschreckend anderer kennen. Eine konspirative Reise führt ihn durch eine Vorhölle verwüsteter Landschaften in das noch heile Budapest – die Fahrt wird für Konstanty zur Prüfung, ob er sich dem Untergang der Welt, wie er sie kannte, der ihn mitzureißen droht, noch entziehen kann …
Sinnlich und radikal erzählt Szczepan Twardoch die Geschichte eines faszinierenden, schillernden Helden und entwirft ein großes Panorama vom Vorabend des Zweiten Weltkriegs – voller Erinnerungen an unwiederbringlich zerstörte Schönheit, voll unvergesslicher Szenen, wie Konstanty Willemann gleichsam durch ein Fegefeuer zu sich selbst findet. Ein virtuoser, gewaltiger Roman.
Szczepan Twardoch, geboren 1979, gilt als die herausragende neue Stimme der polnischen Literatur. Mit der Veröffentlichung von «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, der Roman war in Polen ein Bestseller und wurde mit dem renommierten Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet. Szczepan Twardoch lebt in Pilchowice/Schlesien.
And the days are not full enough
And the nights are not full enough
And life slips by like a field mouse
Not shaking the grass
Ezra Pound
Schädel. Gestank.
Der Schädel will platzen. Die Zunge eine dürre, tote Schnecke, rau. Der Gaumen verkrustet von angetrocknetem Schleim. Der Schädel will platzen. Wüste. Gestank.
Also ist er wach geworden? Nein, noch nicht wach. Weiterschlafen? Schlaf, vergeht das Leiden im Schlaf? Nein.
Doch im Schlaf …
Also wird er wach. Wach. Bin wach geworden. Die Augen brennen, ich pule Schleimklümpchen heraus, mit dem Finger, die Wimpern sind verklebt. Ich öffne die Lider. Wo bin ich? Nicht bei mir.
Aufstehen, auf die Toilette gehen. Keine Lust aufzustehen. Noch liegen bleiben, liegen. Wo? Nicht bei mir.
Aufgestanden. Schwindel. Setze mich auf den Bettrand.
Ich sitze, Schwindel, erbrechen, deshalb plötzlich hoch und vorangestürmt wie ein Fechter, wie ein Schwimmer, nur voran, immer voran, aus der Wohnung, die nicht meine ist, auf den Flur, zum Abort.
Ich erleichtere mich, mein praller Bauch erschlafft. Der Schädel will platzen. Wasser da? Ich drehe den vierarmigen Griff des Hahns mit der blauen Plakette, wie ein Orden, wie der Virtuti Militari, kein Wasser, immer noch nicht. Im Eimer ist welches, Aniela hat es gebracht oder wer anders.
Die Kloschlüssel mit dem Eimer spülen. Dann das Waschbecken, den Stöpsel drücken, der Strahl geht in die Porzellanmuschel, Wasser, trinkst du? Ich trinke. Wir trinken.
Gestern veröffentlichte die Stadtverwaltung eine Liste mit zweiundzwanzig Stellen zur Wasserversorgung. Das dort geholte Wasser ist umsonst und vor Gebrauch abzukochen. Scheiß drauf. Ich benetze mein Gesicht, gieße den Rest über den geschwollenen Schädel, die Hirnschale knirscht, ich höre, wie es knirscht, von innen drückt das verquollene Hirn gegen den Knochen, von außen lässt ihn das eisige Wasser gefrieren.
Er hebt den Kopf. Sieht mich im dreckigen Spiegel.
Das bin ich. Konstanty Willemann.
Sowie die Folgen des Wodkatrinkens. In diesem Fall Wein, die letzten vier Flaschen, einsam, am Küchentisch, dazu Brot, das Aniela auf dem Blech angeröstet hat, gesalzen und mit geriebenem Knoblauch. Die letzten Flaschen. Nachschub gab’s nicht. Vielleicht wird es nie wieder Wein geben? Blödsinn, Wein wird es immer geben. Aber nicht für mich.
Den dreiundfünfzigsten Tag nüchtern vom Morphin. Vierzehnter Tag der Deutschen in Warschau. Einsames Trinken, nach der halben zweiten Flasche Singen ausschweifender Lieder, bei der dritten patriotische Lieder, bei der vierten Weinen, Weinen, Weinen. In der angelehnten Küchentür Anielas verschlafenes Gesicht, braucht der Herr etwas? Fort mit dir, du Schlampe, alte Puderdose, Einsamkeit brauche ich, in meiner Tragödie und der meiner Stadt brauch ich nur Einsamkeit und die fünfte Flasche Burgunder und kriege doch nichts!
Ich muss mich heute nicht bei Aniela entschuldigen, sie hat sich daran gewöhnt. Wenn er getrunken hat, verhöhnt der Herr Gott und die Welt. So ist der Herr eben, Herren sind nun mal so.
Ich erinnere mich an dieses Gebrüll, als ich mich im Spiegel betrachte. Erinnere mich an sie: Aniela, die alte Näherin, Schwester der Bediensteten meines Schwiegervaters. Ich verstecke mich in ihrer Kammer. Sie schläft in der Küche. Die Vermieter sind nicht da. Geflohen. Ich bin nicht geflohen. Und jetzt schaue ich in den Spiegel.
Das bin ich. Zerwühltes Haar, blasses Gesicht, Zweitagebart.
Erst jetzt kommt mir alles wieder, oder eher, kommt es zurück: die demolierte Stadt, die nicht mehr meine ist, Hela und Jureczek in unserer Wohnung im Haus des Schokoladenfabrikanten Wedel in der Madalińskistraße, die Mobilmachung, die Belagerung, Kapitulation, Starzyński redet etwas vom Schandfleck in der deutschen Armee, die mit der armen Bevölkerung von Praga kämpft, Orden, ausstehender Sold, Ksyks Irrsinnstat und sein schwarzer Schnurrbart, nach der Kapitulation der Wechsel von unseren Positionen am Sieleckipark zu den Chevaulegers-Kasernen, wo wir die Gefangennahme abwarten sollten. Aber ich gehe nicht in Gefangenschaft; Gefasel, dass man weiterkämpfen soll, der Oberst lässt mich gehen, geh, hast ja recht, weiterkämpfen, meine Pistole vergraben wir im Garten bei den Nazarethschwestern in der Czerniakowska, zusammen mit den Waffen einiger Kameraden, die Uniform verbrennen wir danach im Ofen, sogar die Stiefel, obwohl es um die schade ist und wahnsinnig stinkt; Gefangenschaft kommt nicht in Frage. Und vorher, vor der Mobilmachung – das Gelöbnis. Nüchternheit. Nach der Kapitulation hab ich mich auf Abstinenz von Morphin beschränkt, deshalb gestern die letzten Flaschen Wein, wo kriegt man jetzt Wein her? Nirgends.
Rauch über der lodernden Zitadelle, erhaben und schön. Brüderliche Grüße senden wir den auf Hel kämpfenden Soldaten, sagt der Radiosprecher mit brechender Stimme, es lebe Polen, noch ist Polen nicht verloren. Und dennoch.
Ich gebe auf.
Trinke noch Wasser, direkt aus dem Eimer, hebe ihn hoch, trinke, bis der Magen wieder voll ist. Spiegel. Das bin ich, das bin ich, das bin ich.
Ich hasse diesen Ort.
«Aniela, mach sie mir Kaffee!», rufe ich, das Rufen durchschlägt meine Schläfen wie mit fingerdicken Nägeln.
«Kaffee gibt’s keinen nich!», ruft Aniela geduldig zurück, gestern hat sie genauso gerufen.
Ich weiß doch, dass es keinen gibt, wozu frage ich?
«Dann mach sie mir Tee.»
«Tee gibt’s keinen nich. Ich heize erst den Herd.»
«Aber zu Essen ist was da?»
«Nee. Gehen Sie was kaufen. Brot kriegt man in der Mirowska, dreißig Groszy das Kilo, Viertellaibe», grummelt Aniela aus der Küche, der kleinen Küche in dieser kleinen Wohnung, wo sie noch ein Zimmerchen vermietet, ein Zimmerchen, in dem es nach alter Frau stinkt, nach gekochtem Kohl und Zwiebeln, obwohl sie bestimmt seit einem Monat weder Zwiebel noch Kohl gekocht hat, es stinkt auch so, oder bilde ich mir diese Gerüche ein, um mich aufzumuntern?
In die Stadt, ich muss raus in die Stadt. Raus aus dieser Wohnung. Draußen Regen, unangenehme Kälte. Zurück ins Bad. Rasieren oder nicht? Rasieren, mit kaltem Wasser? Ja, trotzdem. Und die Haare zurechtmachen. Aber ohne Brillantine, obwohl welche da ist, in der Dose auf dem Regal, doch jetzt ist keine Zeit für Brillantine, Kriegszeit, deshalb nur der Kamm, nur nicht zerzaust herumlaufen. Eine Aspirin, besser zwei. Gehen auch zu Ende. Dann Unterhemd, Unterhosen, Strümpfe. Danach ziehe ich dicke schottische Wolle an, unter das Jackett einen warmen Pullover. Hut. Schal. Den Mantel nehme ich nicht, ist noch keine Mantelzeit. Das reicht nicht, Tweed hält warm, reicht aber nicht. Einen Anzug, der schützt vor dem Zerfall der Welt, der soll zeigen, dass ich nicht irgendwer bin.
Ich bin ich. Ich bin Konstanty Willemann, ich mag Autos und elegante Anzüge, ich mag keine Pferde, keine Uniformen, keine Versager. Ich – das ist nicht irgendwer. Und dennoch.
Das hilft nicht, reicht nicht. Ich betrachte mich im Spiegel, ich, das bin ich, aber die Welt ist nicht mehr da, und ohne die Welt bin ich nicht mehr ich, und selbst wenn, dann bin ich nur noch irgendwer. Sogar im teuren Anzug, in teuren Schuhen. Irgendwer: Ich gehe raus. Verächtlich fällt die Tür hinter mir zu. Verhöhnt mich, diese Altweibertür, Anielatür, die nicht mir gehört und zu der ich doch gehöre. Ich komme nicht mehr zurück. Ich weiß noch nicht, wohin ich gehe, aber zurück komme ich nicht.
Ich bin draußen, die Stadt ist nicht meine. Keine Scheiben in den Fenstern, stattdessen ist Papier eingeklebt, über Latten wie Andreaskreuze, an diese Kreuze wurde unser Leben geschlagen; öfter noch als Papier blindes Sperrholz und die schwarzen Augenhöhlen leerer Rahmen, herausgeschlagener Scheiben. Die Läden geschlossen, mit Brettern vernagelt oder zertrümmert, stattdessen Straßenhandel, die Leute verhökern alles: englische Reitstiefel, Lampen und Essen zu Preisen, für die man erschossen gehört. Und was für Leute – Marktweiber aus den Warschauer Vorstädten, die irgendwo was aufgetrieben haben, elegante Damen, Schieber, Betrüger, Halbstarke. Die Gesellschaft zerfallen, es gibt jetzt weder Juden noch Griechen, weder Damen noch Huren, weder Professor noch Dieb. Ware aus aufgebrochenen Läden, geraubt, geplündert, auch eigene Pelze, die alte Welt wird flüssig gemacht, ausgelegt auf Zeitungen und Kartons, die Ordnung der Dinge zerläuft wie schmelzendes Kristallglas, Pelze, die der kalte Oktober aus ihren Schränken auf die Straße ruft und von dort in falsche Hände. Ein Weib versucht, einen Herrensattel zu verkaufen – von welchem Pferd gerissen, unter welchem Arsch weggezogen, und was fängt man jetzt mit einem Ulanensattel an? Man könnte ihn sich auf den Rücken schnallen, um Deutsche über die Straßen zu tragen.
Sie erschießen noch.
«Dafür können Sie erschossen werden, Frau», sage ich.
«Geh weg, wenn Sie nicht kaufen, weg!»
Also gehe ich. Wie gut, dass ich Geld habe, dass ich gescheit genug war. Ich gehe die Krochmalna entlang, die vor Juden wimmelt, sie wollen mir alles Mögliche verhökern, ausschließlich für Dollar und Gold, sie haben es eilig und höllische Angst, und ich gehe, keinen Blick schenke ich ihnen, gehe zur Hala Mirowska, Brot kaufen, Speck und Eier. Die Hälfte der Marktbuden besetzt. Wahnsinnspreise, ein Kilo Brot für einen Złoty siebzig. Brot aus der Magistratszuteilung für dreißig Groszy ist alle, ausverkauft. Nur zum Marktpreis, schlimmer als beim Juden. Ich nehme ein Kilo. Dazu kaufe ich einen Becher Dickmilch, die trinkt man aus einem ekligen Becher an der Schnur, jedem Durstigen schöpft das Marktweib für zehn Groszy etwas aus der Kanne ab, ich zahle, zum Teufel, widerlicher Lippenabdruck auf dem Becherblech, ich trinke, das hilft.
Hat nicht geholfen. Ein Weib mit Schokolade, Vorkriegsware, die Tafel zwölf Złoty. Zwölf! Ich nehm für Jureczek für drei Złoty, die Alte bricht mit schmutzigen Fingern aufs Geratewohl was ab und wickelt es in Zeitungspapier.
Mit dem Essen in der Aktentasche, ich laufe schließlich nicht mit einem Einkaufsnetz herum wie eine Dienstmagd, gehe ich weiter. Wenn der Mensch Geld hat, ist alles für ihn da, da kann er alles erleben.
Und ich habe welches. Noch im August, eine Woche vor der Mobilmachung, hab ich das Konto bei der PKO abgeräumt, viel war es nicht, aber immerhin, also runter damit, so weitsichtig ist man, ich kaufte Gold zu Schieber-, aber Vorkriegspreisen, kaufte Dollar. Und jetzt hat man was, und auch Hela hat was, um Jureczek zu ernähren, daran dachte ich stolz, als ich jetzt an der Schlange vor der PKO vorbeikam. Den Umweg habe ich nur gemacht, um mir diese Schlange anzusehen, die bis zur Philharmonie reicht, bis zu fünfzig Złoty kriegt man ausgezahlt, die Leute lauern mit Wolfsblicken unter dem Hutrand, und diese Blicke sagen: Sanacja, Diebe, Obristengesindel, wo ist unser Geld, mein Geld!
Ich hab welches. Denn ich bin gescheit und die anderen Idioten.
Denn du bist klug, die Leute Idioten.
Den Umweg habe ich aber auch gemacht, weil ich in der PKO das letzte Mal mit dem Obristen und Major Tomaszewski gewesen bin, dem Vertreter und Rittmeister Chochoł von der schweren MG-Schwadron, am Tag der Kapitulation, noch bevor sie es verkündeten: Tomaszewski hatte den Virtuti bekommen, Chochoł ebenfalls Virtuti, ich den Tapferkeitsorden für gar nichts, also waren wir in den Kellerräumen der PKO. Ich hielt mich taktvoll zurück, kein Wort, denn dort standen die Generäle. Rómmel, Kutrzeba, Tokarzewski, Czuma gebeugt über die Karten, rauchten Zigaretten, besiegt, geschlagen, Kapitulanten, sie haben Polen verschissen und standen jetzt über den Karten, hochgeknöpft, Silberkrägen, Generalspistolen in kleinen Halftern auf der Arschbacke, Damenpistolen, Kaliber sechs oder sieben, genau richtig, um sich ins Maul zu schießen, nur tat das niemand, obwohl sie weggegeben hatten, was wegzugeben war, mehr als den Mantelknopf.
Unser Oberst redete mit Stabschef Rómmel, ja, definitive Kapitulation, und ich hatte große Lust, die Pistole zu ziehen und ihnen die Generalsköpfe runterzuschießen, einen nach dem anderen.
Heute keine Spur von Generälen, nur die Leute in der Schlange, die auf ihre fünfzig Złoty warten.
Mit dem Essen in der Aktentasche gehe ich ins Hotel Europejski, in die Konditorei Lours, mal hören, was die Leute sagen, was sie quatschen, stammeln, mit den Kiefern klappern wie die Bettelfiguren auf dem Bürgersteig mit ihrer Dose. Aber egal, ich gehe, gehe ins Lours, um noch ein bisschen aufzuschieben, was später kommt.
Drinnen ein unglaubliches Gedränge, die meisten sind Offiziere. Ein Teil tut so, als wäre man ganz jemand anders, doch man sieht ihrer Fresse den Suppensöldner schon von weitem an, ihrer Fresse, denn sie alle haben ein und dieselbe Berufssoldatenfresse, Obristen-, Majors-, Kapitänsfresse, die Herren Adligen, so hübsch machte sich ihre glattrasierte Fresse über den Tressen in ihren Stehkrägen, beschattet von lackierten Mützenschirmen, und jetzt sitzen diese Fressen traurig auf mageren oder fetten Hälsen, über den dreckigen Krägen der Zivilhemden, den grauen oder braunen Anzügen, die sie Gott weiß wo aufgetrieben haben. Der lange Faliński in einem Anzug, den er wohl vom Trödel hat, die Jackenärmel enden auf halber Strecke zwischen Ellbogen und Handgelenk, über der weißen Spur der verschwundenen Armbanduhr. Dem Fettsack in der Ecke drohen die Jackenschöße auf der feisten Brust aufzuplatzen, wie die Hülle einer Blutwurst, das mit Mühe zugeknöpfte Hemd lässt in regelmäßigen Ellipsen zwischen den Knöpfen den Bauch als haarigen Teig durchblicken.
Andere in Uniformen oder Halbuniformen, zivilen Jacketts und Jagdbreeches, Militärmänteln, aber von Hüten gekrönt. Die müssen sich nicht verstecken, das sind Soldaten aus der Festung Modlin. Vor wem auch verstecken, hier gibt’s keine Deutschen, die gehen nicht in Cafés.
Alle wollen natürlich per Du mit mir sein, aber nicht wegen mir. Hier wollen alle mit allen per Du sein und glauben, auch ich zähle mich zu diesen «allen».
Und sie spucken Töne: Frankreich! Die Sikorski-Regierung, unser Sikorski, Ministerpräsident im Pariser Exil! Und Rydz interniert! Sanacja dies, Sanacja das. Ein Idiot am Fenstertischchen, Idiot im klinischen Sinn, hält große Reden: Polen müsse eine geistige Form annehmen, müsse zu einem Staat des Geistes, aus dem Geist heraus neugeboren werden, als ein Land ohne Ungleichheit und Verfolgungen, als Land aufgeklärter Bürger, die ihre Liebe zum Guten und Schönen, zu Fortschritt, Gott, Gerechtigkeit und Freundschaft vereint.
Und Anisbonbons, unbedingt. Das fällt mir gerade ein, Anisbonbons gehören unbedingt dazu, Rosenlikör und Kokain umsonst. Ich suche mir einen Tisch am anderen Ende des Saales, sonst müsste ich dem Idioten eine reinhauen, dort sitzen Rudzik und Malinkowski bei einer Flasche Wodka, ich setze mich dazu.
Sie sind voll in Fahrt. Sich melden oder nicht? Die Bekanntmachung von Cochenhausen vorgestern, hast du gelesen? Ja. Gestern die Namen von A bis K. Morgen von L bis Z. Rudzik sagt, er geht nicht, Malinowski zögert, Tendenz auch eher nicht. Wenn man sich registriert, hat man keine Wahl mehr, nur das Lager. Oder vielleicht nicht? Und dennoch: Frankreich, Frankreich, und die Deutschen schlagen.
«Habt ihr nicht genug auf die Nase gekriegt in den drei Wochen?», frage ich. «Wollt ihr noch mehr Dresche?»
Sie spulen ihr Ding ab. Sanacja, bestrafen, abrechnen.
«Wen wollt ihr bestrafen?», fragte ich. «Den Marschall? Wollt ihr ihm aufs Grab pissen?»
«Geht nicht, ist bewacht», antwortet Rudzik – mit vollem Ernst!
Sie hören gar nicht zu.
«Hör mal, Kostek, ist doch einfach, erst nach Krakau, von Krakau nach Budapest und so weiter, über die Tatra auf Skiern oder so, und in Budapest, hilft angeblich das Honvéd-Ministerium sehr, Minister Bartha hilft, wenn sie dich internieren, lassen sie dich auch gleich wieder frei, und wenn du frei bist, gehst du nach Constanza und dort hopp auf ein Schiff und ins Mittelmeer bis nach Marseille. Dort sind frische Kräfte, der Alliierte gibt uns Panzer, wir werden den Deutschen schlagen, den Bolschewiken werden wir schlagen, alle werden wir schlagen, für eure Freiheit, hurra, auf nach Berlin, so sind wir! Vivat! Vivat!»
«Wäre es dann nicht einfacher gewesen, sie hätten uns schon im August welche gegeben?», frage ich.
Sie schenken mir böse Blicke, empört hochgezogene Brauen, und ich frage mich, ob sie das Wort schon auf der Zunge haben oder noch nicht, ihre Augen ähneln den mit Papierstreifen verklebten Fenstern. Auf der Zunge liegt es ihnen, aber sie halten sich zurück, haben Angst, das Leben ist auch so schon zu kompliziert, muss man sich nicht noch ein Kameradschaftsgericht einhandeln. Also lassen sie’s.
Rudzik nimmt eine Zeitung.
«Was ist das?», frage ich.
Rudzik zuckt mit den Schultern. Was schon? Der neue «Kurjer Warszawski». Den alten «Kurjer Warszawski» gibt’s nicht mehr, aber hier, bitte, die erste Ausgabe des neuen. Auf der Titelseite gibt es «Wichtige Erklärungen zu den Ereignissen, die dem deutsch-polnischen Konflikt vorausgingen» und daneben: «Churchillismus. Ein interessanter Artikel von Bernard Shaw». Ich lese den Verfassernamen. Franciszek Sowiński, kenne ich nicht. Bestimmt ein Pseudonym: Das Jüngelchen hat Angst, dass niemand ihm mehr die Hand gibt, weil er sich den Deutschen andient.
Ein Kerl im Mantel setzt sich zu uns, Rudzik und er begrüßen sich wie alte Freunde. Ein Offizier, alles Offiziere.
Er guckt mich an. Klein, Bauch wie ein Fußball, aber das Gesicht hager.
«Gestatten, Kalabiński. Oberst.»
Und streckt die Pfote aus, also drücke ich sie.
«Willemann. Trinker», erwidere ich.
Sie lachen beide, Kalabiński und Rudzik.
«Der Leutnant ist ein Witzbold», sagt Rudzik, damit der bescheuerte Oberst ja nicht einen Augenblick daran zweifelt, dass er mit einem Offizier redet, auch wenn man mir den Unteroffizier doch sofort ansieht, zwar nur Reserve, aber Offizier bleibt Offizier.
«Der Herr Oberst ist auch aus Schlesien», fügt er hinzu.
«Aus Sosnowiec», korrigiert Kalabiński. «Sie sind Schlesier?»
«Nein», bestreite ich. «Warschauer. In Schlesien nur geboren.»
Er bohrt nicht nach, glücklicherweise.
«Furchtbar haben wir uns in Schlesien geschlagen», sagt er stattdessen, sagt es in den Raum hinein, nicht zu mir. «Und danach die ganze Zeit. Haben Sie gekämpft?»
Ich schaue ihn so an, dass er meinen Widerwillen sieht.
«Nur in Kneipen mit dem Zuhälter, wenn die Nutte mich nicht umsonst ranlassen wollte», erwidere ich.
«Och, Herr Willemann hat im Neunten Ulanen-Regiment gekämpft!», erklärt Rudzik eilig und lacht unsicher.
Und schenkt Kalabiński nach. Der kippt es runter.
«Da fällt mir eine lustige Sache ein», sagt er, wie vom Wodka befeuert, dämpft aber plötzlich die Stimme. «Wir waren in so einem Städtchen, Stopnica, voller Juden, und da kommt ein Bus mit Deutschen, wir halten drauf, und nachher kommt raus – das waren Musiker! Militärkapelle, alle in Uniform. Der Bus durchsiebt, die Musikanten auch, die Trompeten durchlöchert, Mensch. Dumm gelaufen, Gewehre hatten sie keine, bloß ihre Tröten.»
Mir ist zum Kotzen.
Ich trinke den Wodka aus, habe die Ehre, mich hält hier nichts.
Ich gehe. Muss nachsehen, wie es Hela und Jurek geht, mich erkundigen, Zuwendung schenken, Zärtlichkeiten. Aber erst mal etwas für den Geist. Also ins Ujazdowski-Krankenhaus.
Ich verlasse das Lours, ich werde sonst krank von der Niederlage.
Meine Stadt, nicht mehr die meine, durchlöchert, ich gehe die Krakowskie Przedmieście entlang, da läuft ein Trupp Kaftanjuden mit Spaten, in Dreiergruppen, mit Bart und Käppele, etwa dreißig. Gehen zu irgendeiner Arbeit, eskortiert von drei Deutschen in Uniformen, aber keine Wehrmacht, der Oberst hat mir erklärt: Nur die Wehrmacht trägt den deutschen Adler auf der linken Brust, die anderen bewaffneten Formationen nicht. Und solche Formationen gibt es viele. Diese hier haben keine Adler. Weiß der Teufel, eine Art Polizei oder SS. Die Leute treten beiseite, wenden sich ab, die Juden unter deutscher Eskorte laufen mitten auf der zerstörten Straße.
Und ich gehe weiter, den Nowy Świat entlang, auf dem Nowy Świat habe ich noch kürzlich ähnliche Kolonnen mit Spaten gesehen, in Anzug und Hut. Freiwillige gingen für die Verteidigung Warschaus Gräben ausheben. Jetzt sind nur noch Gräber, wo einst die Fahrbahn war, auch keine Busse, Bauernfuhrwerke statt Straßenbahnen, da fährt so eins, auf dem Wagen sitzen ganz ruhig fünfzehn Warschauer in Mantel und Hut, die Aktentasche auf den Knien, es fehlt wenig, und so einer schlägt die Knie übereinander und liest Zeitung, als fahre er mit dem Taxi zur Premiere des neuen Szaniawski ins Atheneum. An den Mauern hängen statt Flugblättern handgeschriebene Zettel:
«An Józef Marecki. Deine Frau und Kinder. Józeczek, das Haus ist zerstört, wir sind bei Staś’s in Grochów. Warten!» – «Verkaufe Ausstellungstauben, Wierzbowa 14, nach Andrzej fragen.»
Die Wierzbowa ist abgebrannt, ich war kurz vor der Kapitulation noch dort. Hunderte von solchen Zetteln. Vor den Zetteln stehen Leute, suchen, fragen. Fangen Sie hier an, ich dort, falls Sie den Namen Marian Kowalczyk sehen, sagen Sie mir Bescheid, gute Frau, und wen suchen Sie, dann schau ich danach. Und wie alt? Ein Unglück, ach, so ein Unglück.»
Weiter gehe ich, die Wiejska hoch. Ich suche niemanden, keiner geht mich etwas an, nur Hela und Jureczek, und sie sind sicher in unserer Wohnung. Die Bodenplatten teils herausgerissen, für die Barrikaden, auf dem Bürgersteig Schlamm, meine Halbschuhe sofort verdreckt, auf der Straße Schmodder und Fuhrwerke, in zwei Wochen haben sie uns um zweihundert Jahre zurückgeworfen. Die Barrikaden sind schon wieder aufgebrochen, beiseitegeräumt, aber das Trottoir hat noch niemand neu gepflastert.
Wieder zwei Deutsche, Soldaten. Mäntel, Gurte, Feldmützen. Die Leute glotzen sie an, als hätten die gerade ihre Mutter vergewaltigt, umgebracht und aufgegessen. Vielleicht haben sie ja auch wen umgebracht oder vergewaltigt, wer weiß. Aufgegessen wohl kaum, und die beiden haben vermutlich nicht einmal getötet, eher hat ihr Flieger getötet, das Flugzeug mit seinen Bomben.
Junge Soldaten, sie schauen etwas verschreckt aus der Wäsche, unbewaffnet, was lauft ihr hier durch die Stadt, die euer General erobert hat, schließlich hast nicht du sie erobert, Soldat, erobern ist Sache des Generals, du bist nur auf dem Lkw gefahren oder gelatscht, hast dich versteckt, geschossen, auf wen hast du geschossen? Auf den, den sie dir gezeigt haben, weil dann das Schießen von der anderen Seite aufhört. Der General hat euch Schnaps gegeben, und jetzt gibt dir gleich einer was aufs Maul – dem General Cochenhausen, Stadtkommandant von Warschau, oder dem Brauchitsch kann er ja keins geben, irgendeiner hält’s gleich nicht mehr aus und haut den Soldaten eine rein, und schon gibt’s Ärger.
Ich gehe weiter. An der Mauer: «Bekanntmachung!» Links in alles auf Deutsch, in Schwabacher Schrift, rechts: «Obwieszczenie!» In der Mitte ein kleiner schwarzer Adler, wie geschmackvoll. Ich bleibe wie angewurzelt vor der Bekanntmachung stehen. Lese den Teil auf Deutsch, dann kommt mir die Erkenntnis. «Wird mit dem Tode bestraft» – so redete mein Vater, das ist seine Sprache, nicht nur, weil es Deutsch ist, nicht wegen der Todesstrafe, sondern wegen des Tons, mein junger Vati hat genauso geredet: Konstantin, wenn du unartig bist, wenn du dich schlecht benimmst, dann wirst du bestraft! Konstantin, sprich Deutsch!»
Mir wird übel. Weiter, nur weiter, etwas für den Geist besorgen.
Zwei Viertelstunden Spaziergang, schon bin ich beim Ujazdowski-Krankenhaus. Die Pavillons sind voll: Da liegen die Verwundeten, dämmern und stöhnen, es fehlt an Medikamenten, die von Kugeln und Splittern gerissenen Löcher schmerzen, es sieht schlimm aus. Ich weiß selbst nicht, was mir mehr Sorgen macht: dass all diese braven Jungs hier solche Qualen erleiden, und auch die weniger braven, oder doch eher, dass Jacek mir nichts geben könnte, weil es ihm ein schlechtes Gewissen macht, wenn er mir etwas zum Entspannen gibt, statt den Jungs Erleichterung zu verschaffen.
Vielleicht habe ich selbst Gewissensbisse? Na, eher nicht. Ich sehe mich nach meinem Doktor um, frage eine hübsche blonde Schwester mit einem Arsch so rund, als wäre kein Krieg. Sie mustert mich, ist aber zu erschöpft, um sich noch für Männer zu interessieren, schade um ihren Arsch, kommt durch den Krieg zuschanden. Streicheln, Drücken, einen Klaps und einen liebestollen Biss braucht es doch auch, nicht immer nur Gerenne mit Urinflaschen und Verbandsstoff. Aber es ist Krieg. Ich frage die Schwester, sie weiß nicht, wo Dr. Rostański ist, geht weiter, halb wie von Sinnen.
Ich lehne mich an ein hohes Fensterbrett und ertaste zu meiner Überraschung etwas Hartes in der Jackentasche: die Zigarettenschachtel, die habe ich vergessen! Ich öffne sie voller Hoffnung – drei Zigaretten drin! Einen vorbeigehenden Verwundeten bitte ich um Streichhölzer und rauche. Der Tabak ist ausgetrocknet und kratzt in der Kehle, aber er ist gut, aus einer anderen Welt, drei Tage hab ich nicht geraucht, weil ich dachte, ich hätte keine Zigaretten mehr. Und ich denke: Hätte ich Gewissensbisse?
Das steht doch den angeschossenen Jungs hier zu, bei mir haben die braven Deutschen keine Löcher reingekriegt, obwohl die ganze Stahl- und Bleilawine, gezielt und abgeschossen, sich als metallischer Strom über mich ergoss, sie traf bloß nicht, erreichte mich nicht, sie haben es nicht geschafft. Ich hab also wohl ein schlechtes Gewissen. Nach der Zigarette mache ich mich in den Krankenhausfluren auf die Suche nach Dr. Rostański. Und finde Rostańskis Gespenst. Ausgemergelt, bestimmt zehn Kilo abgemagert, dunkle Augenringe, ganz bläulich weiß, doch erfreut, mich zu sehen. Jacek, mein Jacek.
Er freut sich nur in der ersten Sekunde, beim ersten Blick, dann begreift er, sträubt sich sogleich, vermauert sich in Empörung.
«Ausgeschlossen», wirft er mir so kalt hin, wie er kann, sehr kalt, aber nicht genug, um mich zu entmutigen.
«Guten Tag, Jacek.»
«Lass das Guten-Tag-Getue und das Geplänkel, Kostek. Ich weiß, was du willst. Du kriegst nichts, ausgeschlossen. Ich habe kein bisschen.»
«Hast du.»
«Nein.»
Er dreht sich um und geht, als wolle er nicht mehr mit mir reden. Er weiß, dass ich bleiben werde, er wird mir was geben, das weiß ich. Ich also ihm nach, in sein kleines Arbeitszimmer, er will mir die Tür vor der Nase zumachen, aber ich verschaffe mir Zutritt. Ich weiß, dass er was hat, irgendeine eiserne Reserve, unregistrierte, süße Fläschchen, die auf keiner Liste stehen. Scheiß auch auf die Liste, wen interessiert das noch, die Deutschen sind da.
«Gib mir was, bitte. Ich kann nicht mehr, ich halt es nicht mehr aus, ich erschieß mich.»
Er sieht mich prüfend an. Jacek, mein Jacek. Jacuś. Rostański. Mein Lieber. Überlegt er, ob ich das wirklich könnte, mich erschießen?
«Versteckst du irgendwo eine Pistole, du Idiot?»
Ich schweige. Vielsagend.
«Ich gebe dir nichts, mach keine Panik, du hast Frau und Sohn. Selbst wenn ich was hätte, würde ich dir nichts geben, aber ich habe nichts. Alles wird hier gebraucht. Für die Verwundeten, verdammter Mist.»
«Wenigstens zwei Fläschchen, Jacuś, mein Lieber, ich flehe dich an», sage ich, ohne mich zu erniedrigen, flehend, aber hartnäckig.
Er seufzt. «Pervitin kann ich dir geben.»
Da weiß ich, dass er nachgibt.
«Von den Deutschen gekauft, schwarz.»
«Ich will kein verdammtes Pervitin.»
«Ich hab aber nur Pervitin.»
«Du lügst. Was soll ich mit Pervitin? Wozu brauchst du Pervitin?»
«Sie haben es billig verkauft, da hab ich’s genommen. Was anderes habe ich nicht!»
«Doch, hast du!»
Er seufzt. Schweigt. Schüttelt den Kopf.
«Idiot. Eine gebe ich dir. Das letzte Mal. Bis der Krieg vorüber ist.»
Ich drücke ihn, er windet sich, ich küsse ihn auf beide Wangen, Jacek holt das Wunderfläschchen aus dem Safe, ich stecke es sofort in die Tasche und herze ihn noch einmal, dann drehe ich mich um und will gehen.
«Kostek …», fängt er an, die Stimme hebend, als ich schon in der Tür stehe.
Ich drehe mich um, er sieht mich an, der begonnene Satz hängt in der Luft.
«Kostek …»
«Ja, was denn?»
Er hat Angst. Bringt es nicht fertig, den Satz zu beenden, und winkt ab.
«Ich werde mich nach ihr umschauen, alter Freund, das verspreche ich dir», sage ich energisch wie ein Soldat beim Appell. «Und ich werde sie finden, ich finde sie bestimmt. Ständig werden jetzt Leute gefunden.»
Jacek winkt noch einmal ab, ich geh raus und höre vor der Tür, wie er sich auf die Liege niederlässt, die Federn quietschen nicht von der Last seines ausgemergelten Kleinjungenkörpers, sondern von der Last der Angst und Sorge, des Wehs. Und der Sehnsucht.
Ich gelobe mir hoch und heilig, das Versprechen zu halten, ich werde meine Fühler ausstrecken, hätte ich schon vorhin im Lours machen können, es war mir nur irgendwie entfallen. Ich war vom Morgen an drauf bedacht gewesen, dass nun endlich Schluss ist mit Nüchternheit, deshalb. Eine Schande, die Frau meines Freundes, Iga, einfach vergessen …
Aber ich werde mich umsehen und suchen.
Deshalb spüre ich leichte Gewissensbisse, doch als ich in die Stadt komme, hat diese, nicht mehr meine Stadt, schon andere Farben angenommen: Das Fläschchen in meiner Tasche war es, das die hohläugigen Häuser schon etwas bunter strahlen lässt, Häuser mit skalpierten Dächern, ausgeweideten Wohnungen. Ich weiß: Noch heute werde ich all das Grau verlassen, werde dorthin fliehen, wo mich kein Deutscher und kein Bolschewik erreicht, wo weder unser Oberst noch patriotische Matronen mich kriegen und auch keine Greise, die sich noch an den Januaraufstand erinnern, mich kriegt dort keiner, da können sie mir im Galopp auf ihren Stöcken, in Pekeschen und Konfederatkas nachhinken, die Zukunft des Volkes erreicht mich so wenig wie seine Vergangenheit, die Elektrifizierung nicht, keine Kristallradios und auf Dorfbäumen aufgespannte Antennen, weder die Bauernfrage kriegt mich noch die Demokratie, nichts und niemand. Auch mein Vater kriegt mich dort nicht, ich erinnere mich an ihn vor dem Krieg, an seinen hellen, schütteren Schnurrbart und wie er meinen Namen durch seine zusammengekniffenen Lippen zischt.
«Konstantin!», zischelt mein junger Vater.
Er wird mich nicht kriegen dort, wird mich nicht fassen können aus seinem Grab.
Leichten Schritts gehe ich die Szucha und die Puławska entlang, ganz in der Nähe haben wir vor zwei Wochen gekämpft, heute laufe ich über die Gräber der Kameraden und über das Blut unserer Pferde und pfeife beinahe. Ein Fahrrad wäre jetzt gut, denke ich und komme schließlich in Mokotów an, bei Hela und Jureczek, an unserem Wedel-Mietshaus, Neuzeit und Moderne, glatte Wände und Gesims, ohne Dekor und Voluten, modern wie das Aeroplan und der Luxtorpeda-Zug. Ich schaue auf die Uhr, die meines Vaters, eine Electa mit roter Zwölf, aus dem vorherigen Krieg: Das Zifferblatt zeigt siebzehn.
Auf einem Rad könnte ich jetzt eine Weile sitzen und käme rechtzeitig zurück. Vor unserem Haus bleibe ich stehen und denke daran, dass Hela vielleicht meine Taschen abtasten wird. Ich könnte das Fläschchen irgendwo verstecken, im Tor oder im Treppenhaus, doch ich habe den Mut nicht, mich von ihm zu trennen, nicht jetzt. Ich sehe nach oben, im zweiten Stock brennt Licht, warmes Licht, in diesem Licht sitzt Jureczek auf dem Sofa und schaut sich ein Album mit Tieren an oder baut eine Klötzchenburg. Wenn ich an die Tür klopfe, wird Hela wissen, dass ich es bin, jemand anders würde klingeln, sie wird empört sein, dass ich komme, das sei gefährlich. Für sie bin ich ein Flüchtling, und jeder einzelne Deutsche in der Stadt sucht speziell nach mir, Hitler und Himmler brüllen ins Telefon: «Schnappt diesen Kostek Willemann, aber schnell, ihr Ochsen! Kerls! Schnappt ihn, foltert ihn, erschießt ihn und dann hängt ihn auf!» Ich lächle in mich hinein. Hela also wird erst empört sein, dass ich überhaupt gekommen bin, dann wird sie denken, ich sei betrunken oder im Rausch, wird durch den Spion gucken und erkennen, dass ich nüchtern bin, und dann wird sie sich freuen und rufen: «Jureczek, der Papa, der Papa ist da!»
Und Jureczek wird zur Tür laufen, Hela wird öffnen und mich rasch in die Wohnung ziehen, damit ja kein Nachbar mich sieht, Jureczek wird mich an der Hand nehmen, sie küssen, ich frage nach allem, er erzählt mir, kindlich-durcheinander, sicher von Teddybären, von der Mama und was sie heute zu Mittag gegessen haben, ich werde ihm die Schokolade geben, und Jureczek wird sie ganz aufessen und sich den Mund vollschmieren.
In der Wohnung ist es warm, ich habe noch im August dafür gesorgt, dass für das ganze Haus ein ausreichender Kohlenvorrat angelegt wird, woanders frieren sie, bei uns wird die Zentralheizung befeuert und macht in allen Wohnungen warm. Weil ich dafür gesorgt habe. Ich.
Und wenn es warm ist, werde ich meine Jacke, meinen Pullover ausziehen müssen. Ich könnte das Fläschchen in die Hosentasche stecken, aber Hela, wenn Jureczek ins andere Zimmer gelaufen ist, wird sich gewiss mit ihrem ganzen Körper an mich schmiegen, wird mir die Hand auf die Brust legen, sie dann nach unten wandern lassen, am Gürtel vorbei, über den Bauch und tiefer. Und wird das Fläschchen ertasten.
Jureczek. Hela. Geliebte Hela. Eine Woche habe ich sie nicht gesehen, genau eine Woche. Schokolade für den Jungen habe ich, Schokolade tut ihm gut, er ist so mager. Jureczek wird den Papa knuddeln. Ein Gedicht aufsagen. Hela bringt ihm «Wer bist du?» bei, ich hatte nicht mal Lust zu protestieren, obwohl es schrecklich dumm ist, richtig verantwortungslos in solchen Zeiten, einem Dreijährigen so furchtbaren Kitsch einzutrichtern. Ein Dreijähriger ist noch kein Pole, ein Dreijähriger ist kaum ein halber Mensch, ein halbes Tierchen, verrücktes Äffchen, kein Pole. Aber Hela meint, das sei wichtig. Soll sie es ihm beibringen, soll es beim Großvater oder der Großmutter hören, die jeden zweiten Tag zu Besuch kommen und ihn mit ihrem patriotischen Geseiche volllabern. Pflicht. Polnische Frau, Mutter, Hygiene. Künftige Generationen. Die Kinder sind das Wichtigste, sind die Zukunft des Volkes. Physik, Eugenik und Schwarzafrika. Es geht nicht um Jureczek, das blonde, Cherubimenkelchen, nein – um Kinder, polnische Kinder. Gekotzt darauf.
Ich fühle in der Tasche nach. Da ist es, mein Gold, mein Leben.
Und mache auf der Stelle kehrt. Vor sieben schaffe ich es noch nach Powiśle, so kurz vor der Polizeistunde wird sie mich nicht auf die Straße werfen. So lange war ich nicht dort, zwei Monate, wie ein halbes Leben, ich wollte nicht hin und gehe jetzt endlich doch.
Und wieder: Warschau, nicht mehr meine Stadt, gut, dass es nicht gießt, sonst wären nicht nur die Schuhe, sondern auch die Hose bis zu den Knien verdreckt. Mit verdreckten Hosen kann man sich nirgendwo zeigen.
Blumen sollte ich mitbringen, aber woher kriege ich jetzt Blumen? Ohne Blumen zu ihr geht schlecht. Wenigstens Chrysanthemen.
Ja, warum keine Chrysanthemen? Sie wird das zu schätzen wissen, in doppelter Hinsicht. Erstens, weil ich überhaupt mit Blumen komme, zweitens, weil es Friedhofsblumen sind, düstere Blumen, das hätte sie schon früher zu schätzen gewusst, bevor alles zu Bruch ging, jetzt wird sie es umso mehr schätzen.
Nachdem ich durch den Schlamm gewatet bin, stehe ich schließlich vor ihrem Haus. Mit Chrysanthemen, von einem Grab gestohlen, ein Holzkreuz aus Latten, gekrönt von einem französischen Helm Typ Adrian, auf der Tafel ungeschickt eingekratzt: Hier ruht Gefreiter Głowiński vom Dreißigsten Infanterieregiment. Was soll der noch mit Blumen? Der Herr Gefreite ist tot.
«Sie Dreckskerl», hat mir eine Dame mit empörter, zitternder Stimme zugeflüstert, sie wirkte schon ein wenig runtergekommen, der Mantel mit Pelzkragen aus billigem Nutria. Aus ihrem verhärmten Gesicht schloss ich, dass ihr auch der Kragen nicht mehr lange bleiben wird. Ich lächelte sie breit an, damit sie kapiert, dass sie, wenn ich mir nur ein bisschen Mühe gäbe, bis zum Abend mein wäre. Wenn ich meinen Charme mit dem Versprechen eines üppigen Abendessens verbinden würde, sowieso. Könnte ich mir leisten, auch jetzt noch, sie nicht unbedingt.
Doch ich ging weiter und stehe jetzt vor dem hundertjährigen Mietshaus in der Dobra, Ecke Radna, stehe vor dem Haus, äußerlich ansprechend dekoriert, im Innern dagegen Decken, Treppen und Geländer aus moderndem Holz, ein weiß verputztes Mietshaus, im Innern durchlöchert von Holzwürmern, Menschenwurmlöcher die Flure in der muffigen Luft, gleichwohl steige ich die morsche Treppe hoch in den zweiten Stock und stehe vor der Tür. Ich klopfe und zerdrücke ein paar Krümel abblätternder Farbe.
Ich klingle nie, elektrische Klingeln widern mich an, sie sind gut für die Feuerwehr oder Flugalarm, nicht für einen kultivierten Menschen, der zu Besuch kommt. Zu Besuch bei seiner Geliebten.
Als ich geklopft habe, hundert Fragen: Wohnt sie denn noch hier? Bei Gott, lebt sie überhaupt noch? Wir haben uns im August gesehen, zwei Monate, das ist lange her. Sie könnte tot sein. Und wenn sie lebt, wohnt sie dann noch hier? Und wenn ja, ist sie zu Hause? Und wenn sie da ist, ist sie allein? Und selbst wenn, erwartet sie dann vielleicht jemanden?
Stille.
Und wenn sie durch den Spion guckt – sie bringt das fertig, so leise, dass ich nichts höre –, wenn sie mich sieht und nicht öffnen will? Ich klopfe noch einmal, und beim zweiten Schlag geht die Tür einen Spalt auf.
«Kostia, du bist gekommen …», flüstert sie.
Begehren, Versprechen, Freude liegen in diesem Flüstern, wie immer, wenn ich zu ihr komme. Aber es ist noch etwas mehr, und das ist Liebe.
Leider. Zum ersten Mal Liebe. So wenig war dazu nötig: zwei Monate Trennung und Hitlers Idee, Polen zu überfallen, unsere Niederlage innerhalb von zwei Wochen, so wenig – schon hat Sala mich liebgewonnen. Wie sie die Worte mit tiefer Stimme hinhaucht, ja, das ist Liebe. Eine überflüssige Liebe. Doch jetzt habe ich weder die Kraft noch die Zeit, mich diesem überflüssigen Gefühl zu widmen, es zu ersticken. Jetzt brauche ich nur Trost.
«Sala», flüstere ich. Sie lässt mich ein. So oft habe ich diese Tür zugeschlagen, so oft hat sie mich aus der Wohnung geworfen, so oft hatte ich um Einlass gewinselt, während irgendein Freier bei ihr saß, dem ich dann, armer Kerl, mit dem Schlagring die Fresse polierte und ihn die Treppe hinunterwarf, nur weil er den gleichen Geschmack hatte wie ich und in Salas großen Augen versank, den Augen meiner Salomé. Und gewiss nicht nur in ihren Augen.
Ich gebe ihr die Blumen.
«Grabblumen», sagt sie.
«Wir leben auf einem Friedhof», erwidere ich.
«Schön sind sie. Komm, setz dich.»
Ich trete ein. Die Blumen stellt sie in eine schwarze Vase, blickt auf die Uhr, versteht.
«Du bleibst, du bleibst über Nacht!» Sie klatscht in die Hände.
Ich setze mich. Zieh das Fläschchen heraus, lege es auf den Tisch. Für zwei etwas wenig, aber Sala wird nicht so viel nehmen, es wird schon reichen. Allein will ich nicht. Einsam ja, mit Morphin ist man immer einsam, aber nicht allein.
Sie lächelt.
«U menja jest butylka starogo burgunda. Aber zeichnest du mich erst?»
Ich würde den Inhalt von Jaceks Fläschchen am liebsten sofort in meinen Venen aufgehen lassen, will aber nicht nein sagen, es steht ihr zu.
«Woher hast du Burgunder, du Luder?», frage ich dann doch, plötzlich erbost, Burgunder kann ihr nur irgendein Verehrer gebracht haben.
«Gute Menschen haben mir das aus den Schlosskellern gebracht. Präsidentenburgunder. Besser, wir trinken ihn, als die Germanzy, oder?»
Es ist mir egal, als sie das erzählt in ihrem Alt, ist es mir sofort egal, wir hatten in den Chevaulegers-Kasernen auch schon Wein aus den Präsidentenkellern getrunken, und Madeira, so alt, dass man ihn mit dem Messer schneiden konnte. Dass ein Verehrer ihr ihn gebracht hat, was macht das schon? Der hat ihn gebracht, Kostek trinkt ihn aus.
«Aber du zeichnest mich?» Ihr Tonfall, weich wie die Steppen vom Dnjestr bis zum Don. «Ja?» Sie zeigt auf die Skizze über der Tür, die erste meiner Zeichnungen von Sala, am ersten Tag unserer Bekanntschaft gemacht, kurz bevor sie meine Geliebte wurde.
«Dunkel hier.»
«Damals war es hier auch dunkel.»
Stimmt. Wir hatten uns im Adria kennengelernt, am Tisch von Jarosław, sie lud mich auf der Stelle zu sich ein, ich solle sie zeichnen. Ich hielt das natürlich für einen reinen Vorwand, lief ihr gleich nach, schon wegen ihrer kupferroten Locken, aber als ich in ihrer Wohnung war und ohne Umschweife zur Sache kommen wollte, hielt sie mich lachend auf, warte, gleich. Dann setzte sie mich auf einen Stuhl, gab mir ein Brett mit einem mit Reißzwecken befestigten Karton, drückte mir einen Rötelstift in die Hand und machte es sich auf dem Sofa bequem. Sie zog sich nicht ganz aus, knöpfte lediglich die Bluse auf, streifte den BH nach unten, machte die Brüste frei und zog den kurzen Rock so weit hoch in die Hüften, dass ihr Damm zu sehen war, ein Höschen trug sie nicht, da war nur der Riemen von den Strümpfen. Als wäre sie leibhaftig den Blättern Egon Schieles entstiegen. Und ich sah gar nicht sie selbst an, nicht diese merkwürdige, rothaarige Jüdin oder Russin, ich weiß nicht genau, nicht sie sah ich an, diese Quasikünstlerin, Muse und Bacchantin, Mänade, von der Witkacy mir einmal gesagt hat, sie sei eine heilige Nutte und über ihren Körper laufe der Champagner wie über keinen, nicht sie saß vor mir, sondern die kondensierte Weiblichkeit. Nicht der Schatten der Idee von Weiblichkeit wie bei all den anderen Frauen, sondern die Weiblichkeit an sich, verdichtet zu körperlicher Gestalt.
Ich zeichnete sie damals mit rostroter Kreide, so vulgär breitbeinig, so schön, alle Grenzen der Vulgarität hinter sich lassend, das war nicht Schamlosigkeit, sondern Unscham, und in dieser Unscham war sie so schön, als kennte sie überhaupt keine Scham, als wäre allein sie nicht aus dem Paradies vertrieben worden, als wäre sie ihr eigener, gesonderter Frauenstamm, Evas Schwester, die im Paradies geblieben ist. Später ließ sie die Zeichnung rahmen und hängte sie über die Tür, geraffter Rock, die dunkle Stelle darunter, Urheimat der Männer, die Hände auf den weißen Schenkeln, nah am Schritt, als würde sie sich selbst die trägen Beine auseinanderdrücken, die schweren Brüste ungeschickt aus dem Halter geschält wie aus einer aufgeplatzten Schote, alles weich, das Gesicht fast unsichtbar, den Kopf wie in Ekstase zurückgeworfen.
Es ist keine gute Zeichnung, weder kompositorisch noch im Detail, kein guter Strich – aber sie erzählt die Wahrheit über Sala. Und die Wahrheit über Sala ist die Wahrheit über die Frauen überhaupt.
Hela ist auch irgendwie in dieser Zeichnung. Sogar meine Liebe zu Hela, zu ihrem Leib, gesund wie eine griechische Skulptur. Alle meine Geliebten sind auf dieser Zeichnung, alle, auch wenn es gar nicht so viele waren, wie die Gerüchte der Vorkriegszeit sagen, vor denen ich meine Frau schützen musste und vermutlich nicht schützen konnte. Auf Sala wirkten zutreffende wie falsche Gerüchte über meine Abenteuer als Aphrodisiakum, Sala hält nichts von männlicher Treue, wenn sie auch weibliche Treue, die sie natürlich selbst nicht praktiziert, zu schätzen weiß. Männer, die nur eine Frau hatten, sind für sie Nichtmänner, Invaliden der Männlichkeit, reizen sie nicht, und nie versucht sie, sie zu verführen, die Avancen solcher Männer weist sie mit herablassender Nachsicht ab, wie ein Geigenlehrer, dessen Schüler schon in der zweiten Stunde nach der Stradivari greifen will. Dafür verkuppelte sie sie oft mit ihren Freundinnen, von denen sie viele hat und die sie verachtet.
Anders Hela, die ihre Vorstellung von der Liebe aus Lyzeumslektüren hat. Für sie ist ein Liebhaber der Frauen ein Tier, sie akzeptiert noch nicht einmal die Zweitehen von Witwern, zur Weißglut treiben sie allein schon Gerüchte, dass dieser oder jener Familienvater ins Bordell gegangen sei – mit Geld, das seiner Frau und den Kindern zusteht.
Hätte sie von meinen Geliebten erfahren, was dann? Ich wäre ein Vieh für sie, aber ich weiß, dass erst dann die wahre Leidenschaft für mich in ihr entflammt wäre, um die Wunde nach der gestorbenen Liebe auszufüllen. Ich glaube, alle Frauen sind gleich, Salas Abneigung gegen die Treue und Helas Hass auf die Untreue sind ein und dieselbe Emotion, dasselbe Prinzip, die Essenz der großen Allfrau. Die Männer sind im Übrigen auch alle gleich. Ich tat also alles, damit Hela nichts von meinen Geliebten erfuhr. Sala musste ich einmal ins Gesicht schlagen, als sie bei einem Streit schon unsere Nummer über die Zentrale bestellt hatte, um Hela am Telefon alles zu gestehen. Sie stürzte sich mit Fäusten auf mich, und als ich ihre Unterarme packte, drückte sie sich mit dem Körper gegen mich, heiß wie eine läufige Katze, und biss mir in die Lippen. Ich konnte nicht nach Hause, wie hätte ich die blutenden Lippen erklären sollen?
Sala hat jetzt Kohle und einen Karton geholt, die Requisiten unserer Leidenschaft. Und sie wartet, ich sehe, sie ist schon erregt, ihre Augen blitzen, die geleckten Lippen glänzen.
«Zieh dich aus, dreh dich um und bück dich», sage ich.
Ich habe nie ihr Gesicht gezeichnet, höchstens die Kontur einer Wange oder die Nasenspitze im weggedrehten Halbprofil, das Kinn des zurückgeworfenen Kopfes.
Salas Gesicht. Schön wie die Schönheit Beiruts, Jerusalems und Damaskus’, auch wenn ihr Teint hell ist, also vielleicht eher Kalabriens, Siziliens und Kretas Schönheit, aber ihr Gesicht macht in diesen unseren Zeichnungen nichts aus. Ich zeichne es nicht, mag den Anblick ihres Gesichts nicht einmal, es interessiert mich nicht. Und heute, nach der langen Trennung, befehle ich ihr gerade dies, denn Sala mag nicht, wenn man sie fragt, sie bittet oder es ihr bequem machen will. Sala will Weisungen, Sala kann nur mit einem Mann sein, dessen Willen und Macht sie in Befehlen hört. Ein bittender, flehender Mann ist für Sala ein Unmann.
«Lass Pantoffeln, Gürtel und Strümpfe an», sage ich.
In der Wohnung ist es kalt, das Zeichnen dauert, aber Sala erträgt es ohne Murren. Und ich mag es, wenn ihre Haut so kühl ist, als streichelte ich einen Stein.
Sie steht reglos, die Füße weit auseinander. Die runden Oberschenkel mit den Zacken des Spitzenstoffs darüber, die zierlichen Unterschenkel, große Hüften, schwere Gesäßbacken, die Rinne des Rückgrats wie mit dem Meißel gehauen, reglos erstarrt, so wie sie im Saal der Akademie erstarrte, umgeben von Studenten und Studentinnen. Aber die zeichneten eine Frau, ich zeichne das Weib an sich.
Wenn die Kohle auf dem Karton anders zu quietschen beginnt, wenn ich die Zeichnung zu Ende bringe, hört sie das, und ihre Hüften werden regsam, und mein Blut beginnt zu perlen, und für einen Augenblick vergesse ich das Fläschchen voller Güte und Glück, denn ein Stück davon, sein Vorzeichen, erwartet mich dort, zwischen ihren weißen, fülligen Schenkeln.
Dann, wenn alles vorbei ist, steckt die nackte, vollbusige Sala sich selbst in die dicke Mappe, auf die sie in Druckbuchstaben meinen Namen geschrieben hat: Konstanty. Es gibt mehrere solcher Mappen, ich habe nie hineingeschaut. Der Papp-Kostek ist voller verschiedener Salomés: Die gebückte Sala, mit Strümpfen und herausgestrecktem Hintern, kam zu der wie der Blaue Engel auf dem Stuhl posierenden Sala, nackt, aber mit meinem Hut; die Sala im Profil, auf dem Rücken liegend und die Hüften anhebend, die Brüste fließen zu den Seiten, die Linie des erhobenen Gesäßes, das Haargestrüpp weist auf Sinn und Thema dieser Zeichnung hin, kam zu der Sala in dramatischer Perspektive, mit den Fußsohlen im Vordergrund, dahinter die geöffneten Schenkel, zwischen ihnen das Urtor und dann die Gesäßbacken, die fernen Schultern und die Bögen der im Nacken verschränkten Finger. Die verschiedenen Salomés, mit Kohle oder Rötelstift, eine in Tusche, ich erinnere mich an alle.
Die körperliche, fleischliche Salomé dagegen, diese mehr oder echte Salomé nimmt eine Aluminiumdose, ich kenne sie gut, darin ruht auf rotem Samt eine gläserne Spritze mit einem Korb aus rostfreiem Stahl, dazu vergoldete Nadeln. Wir teilen das Morphin im Fläschchen nach Gewicht auf, zwei Fünftel für Sala, drei Fünftel für mich, für mich zuerst, denn Sala setzt sich ihre Spritze selbst, ich mag das nicht. Vorher öffnet sie noch den Burgunder, bettet mir Kissen unter den Rücken, fragt, ob mir bequem sei, ich trinke, nackt, und sie zieht das Gummiband an meinem Unterarm fest, findet wie eine gute Krankenschwester die Vene, beklopft sie, setzt die goldene Nadel unter die Haut und drückt langsam den Kolben herunter. Ich sehe noch, wie ihre Lippen mich umschließen, wie sie mich küsst, so wie ich mich von Hela nie habe küssen lassen.
Danach. Ich tauche in Wärme ein. Der Burgunder verdunstet. Neben mir mein Salakörper. Meine beiden Körper nackt. Meine Salazunge leckt die Nadel ab. Immer leckt sie die Nadel ab. Flüssige Wärme verbreitet sich in meinem Salakörper. Flüssiges Glück, und mein Salakörper kehrt zum Kuss zurück.
Und ich drifte ab. Sala deckt meine zwei Körper mit Federbetten zu, schmiegt sich an mich, und ich treibe in warme, weiche Dunkelheit, Dunkelheit wie ein Liebeskrampf, zerdehnt wie eine Uhr von Dalí, Dunkelheit wie warmes, weichwerdendes Blei, unten an meinem Körper dringt Lust in die Welt, schwillt an und platzt, ergießt sich in Kaskaden von glänzender Dunkelheit, in die Lungen, in die Kehle, in den Schoß, den Schwanz, die Beine, bis in die Fingerspitzen, ergießt sich in mich und beklebt die Welt. Und alles leuchtet auf, und alles erlischt.
Warschau erlischt. Mein Leben erlischt. Meine Mutter erlischt, Jacek, Hela, Jureczek erlöschen. Die Erinnerung an das väterliche «Konstantin!» erlischt, der Vater, mein erstes Bild von ihm, seine graue Uniform vergeht und der Helm mit dem viereckigen Ulanen-Deckel, die Ulanenstiefel, das zerschmetterte Gesicht, auch die Mutter erlischt, ihr lauter Streit in zwei Sprachen, aus der Zeit, als sie sich noch liebten, die höflichen, natternzischenden Invektiven aus der Zeit, als sie sich hassten, Warschau, zum ersten Mal gesehen, erlischt, aus einem Zugabteil erster Klasse, der erste Gang zur neuen Schule und Warschau, zum letzten Mal gesehen, erlischt, vor einer Stunde, all das vergeht, was dazwischen ist, die Oberschule, das Abitur, Studium und Grudziądz, Pferde, Säbel und das Praktikum in Trembowla, der mit ruthenischen Mädchen vor dem Denkmal Zofia Chrzanowskas auf dem Trembowler Schlossberg getrunkene Wein erlischt, und alle Regimentsplänkeleien, als es noch Komorowski unterstand, erlöschen, sogar der beim Versuch, auf die Mauern des Schlosses von Trembowla zu reiten, gebrochene Unterarm erlischt, der silberne Sektpokal mit meinem eingravierten Namen, die Cafés, das Oaza, Paradis, Ziemiańska und das Adria erlöschen, berühmte Menschen, die ich kannte, also Jarosław, der mir bei Simon schöne Augen machte, und Witkacy, der Sala lüsterne Augen machte, das blöde Duell mit Rostański erlischt und die Farce, zu der es geriet, Iga, die Rostański mir abspenstig gemacht hat oder die ich ihm abgetreten habe, ich weiß nicht mehr, erlöschen, und meine Trauung mit Hela, die blöden Säbel, unter denen wir hindurchgehen, und unser erster Streit, weil ich mir dieses Säbelritual verbitten wollte, während Hela es hinter meinem Rücken mit den Kameraden vereinbarte, die Kameraden erlöschen und der Reis, der auf uns gestreut wurde, Jureczeks Geburt und der Augenblick, da ich ihn zum ersten Mal auf den Arm nehme und in dieses bläuliche, runzlige Schnäuzchen blicke wie in mein eigenes Gesicht, die neue Wohnung im Mietshaus erlischt, das Treffen der Neuner in Trembowla letztes Jahr erlischt, das Trinken und überhaupt das Regimentsfest zur Zwanzigjahrfeier seiner Wiederaufstellung erlischt, wie schön war das damals, wer war man schon damals, nichts deutete darauf hin, was kommen würde, und auch dieses Nichthindeuten ist erloschen, die Mobilmachung vor gut einem Monat, die Nüchternheit erloschen, der Krieg, die Kapitulation, die Okkupation, die Resignation. Erloschen.
Erloschen. Nichts mehr da, ich in der Mitte der Dunkelheit, ohne Körper, ohne Gedanken, ohne alles, das reine, passive Ich, das Nicht-Ich, das nicht da ist. Nicht-Ich löse mich in der Dunkelheit auf wie ein Regentropfen im Ozean. Und Nicht-Ich fühle, ohne zu denken: Nicht-Mir ist wohl vom Nichtsein, so süß ist Nicht-Mir, warm, weich, warm von lustvoller Feuchtigkeit, samten, matt, weißhäutig, Salomé ist und ist nicht, denn Nicht-Ich bin nicht da, meine Hände von Sala auf meiner eigenen Haut, Nicht-Ich bin leer innen drin.
Nicht-Ich.
Nicht-Ich öffne die Augen. Ich öffne die Augen.
Die Uhr. Zweiundzwanzig. Schnell vergangen. Neben mir Sala.
Ich muss raus hier. Sofort. Trotz der Polizeistunde. Ich schaue Sala an, scheinbar meine Sala, und sie kommt mir abstoßend vor: Sie schläft, so weiß, mit offenem Mund, die Höhle dieses Mundes ist eine abscheuliche Wunde, die Zähne Knochenstümpfe. Ich stehe auf, ziehe mich an. Als ich mir schon an der Tür die Schuhe zubinde, kommt Sala aus dem Schlafzimmer. Nackt, die Augen Spalten, die Lider wie mit dem Messer aufgeschlitzt, nackt, mit zerzaustem Haar, sie versucht gar nicht erst, die Brust oder den Schritt zu bedecken. Mich widert der Anblick ihrer Brüste an, dralle Hautkugeln, die Warzen darauf wie die Köpfchen von Geschwüren, und mich widert der Anblick des haarigen Urwalds an, der bis auf die Schenkel reicht und sich in dunkler Linie gefährlich dem abscheulichen Knäuel des Nabels nähert. Sie schaut mich leicht berauscht an, versteht nicht und sieht plötzlich, dass ich gehe.
Sie fällt mich an wie ein Raubtier.
«Kostia, wo willst du jetzt hin?», winselt sie, bohrt ihre Fingernägel in meinen Ärmel. «Kuda pajdjosch, Kostia, kuda?»
Sie ekelt mich an, meine Sala ekelt mich, ich will sie nicht mehr sehen.
«Ich gehe», knurre ich.
«Das erlaube ich nicht! Nelsja! Du gehst nicht!», heult sie, hält mich fest, zieht an der Jacke, zerreißt sie fast, und ich kann mich nicht losreißen, öffne schon die Tür, sie, nackt auf den Knien, krallt sich in meine Hosenbeine.
«Sie werden dich töten, Kostja, töten!», weint sie. «Geh nicht!»
Ich gebe ihr eins mit der flachen Hand auf die Wange, ein Schlag wie mein eigener Sturz. Salomé auf dem Boden, das kupferne Haar dramatisch auf ihre Schultern und das Parkett wallend, als hätte sie diesen Sturz geübt, nackte Frau, bekleideter Mann, ich gehe.
«Ich liebe dich, Kostia …», flüstert sie.
Ich schlage die Tür zu. Im offenen Türspalt gegenüber die Nachbarin, ein nach fremden Dramen lechzendes Weibsstück, für so eine ist die Nachbarschaft meiner Salomé besser als jedes Theaterabonnement, denn hier sind die Tragödien echt.
«Was glotzt du, altes Fotzenmaul», spucke ich der Alten galant ins Gesicht. Sie verschwindet.
Ich trete in die Nacht. Jesus.
Jesus?
Das sagt man so.
Nach der Polizeistunde darf ohne Warnung geschossen werden. Sagen sie in der Stadt. Sollen mich erschießen. Nur Jureczek, nur für Jureczek lohnt es, am Leben zu bleiben, nur ihm kann ich lebendig etwas nutzen. Nur ihm. Vielleicht nicht einmal ihm.
Ich gehe, gehe, in den Ruinen werde ich mich nicht verstecken, nein, auch nicht durch die Nebenstraßen schleichen. Ich gehe den 3. Mai, biege in die Marszałkowska ab, gehe die Hauptstraßen. Ich schreite. Er schreitet. Warschau, nicht mein Warschau, Warschau durchlöchert, Warschau in Kälte, Dreck und Schneeregen, Warschau vergewaltigt. Warschau der Gräber, der Pferdewagen und Aushänge an den Zäunen, Warschau wie meine Salomé, geohrfeigt, am Boden, Warschau spreizbeinig, mit zottligem Haardickicht.
Jemand geht mir nach, ich kenne ihn.
Kostek kennt mich, weiß, wer ich bin, dreht sich nicht um. Hat Angst, mich zu sehen, aber er kann mich gar nicht sehen. Ich gehe Konstanty nach, ich, seine einzige Freundin, seine wahre Geliebte. Später, später wird er weggehen, immer geht er am Ende weg und kommt dann immer wieder, mein Bruder, Kamerad, Gefährte.
Ich laufe zu Hela, zu Jureczek, nur rasch zu ihnen, so weit wie möglich weg von Salomé und von dem, das mir folgt, wie ein brüllender Löwe.
Ich gerate außer Atem, höre auf zu laufen, gehe wieder ruhig.
Eine Streife kommt mir entgegen. Die aufgesetzten Bajonette drohen dem Himmel, Helme breiten Schatten über die Gesichter und Mäntel. Sie können mich kontrollieren, verhaften, erschießen, was werden sie tun?
Ich spüre, ich weiß: Der, der hinter mir geht, nähert sich, gleicht seinen Schritt meinem an, als würden wir defilieren, nähert sich, legt mir die Hände auf die Schultern, den Arm über die Schultern, und so gehen wir, meine Linke, seine Linke, meine Rechte, seine Rechte, wie bei einem Kinderspiel, auf Armlänge, und er umgibt mich mit diesen Armen, und wir gehen, er geht direkt auf die Streife zu, direkt auf sie zu, der da hinter mir geht, macht, dass sie vor mir auseinandertreten, vor ihm, stehen bleiben, ich frage mich, ob sie salutieren? Sie salutieren nicht, stehen nur verblüfft da, ich gehe vorbei, der hinter mir geht, verliert sich irgendwo, und ich gehe wieder allein und doch nie allein, einsam, nicht allein.
Die Tür, ich klingele, warte auf den Concierge, er öffnet, ich gebe ihm fünf Złoty, er grummelt was, ich steige die Treppe hoch, unsere Tür, ich klopfe leise.
Hela. Sie schaut in meine wie mit der Nadel gestochenen Pupillen. Lässt mich wortlos ein, schließt die Tür, sorgfältig, Schlösser, Riegel, Ketten. Erst dann sagt sie etwas.
«Du hattest es versprochen. Bis zum Kriegsende.»
«Der Krieg ist zu Ende», antworte ich stammelnd. «Wir haben verloren.»
«Man hätte dich verhaften können!»
Ich drehe mich um, gehe zum Zimmer.
«Du weckst ihn auf!», protestiert Hela.
Ich will, muss ihn sehen, das kleine, hellhaarige Ich im Kinderbett. Da ist er, schläft, Pausbäckchen, das Händchen unter der Wange, lange Wimpern. Ich sehe ihn, beginne ihn zu streicheln, gleich wird dieses kleine Ich erwachen.
Hela zieht mich aus dem Zimmer, führt mich in die Küche zum Tisch, und so sitzen wir da, schweigend. Kurz darauf sage sie: «Weißt du was von Iga?»
«Nein, nichts.»
Jacek, Jacek, mein Gewissensbiss, Jacek, Quell meines in die Wunderfläschchen gebannten Glücks.
«Papa war gestern hier.»
«Und?»
«Er sagt, man könnte uns nach Schweden bringen und von dort direkt nach New York, zu Onkel Albert.»
«Und?»
«Lass uns fahren, alle, wir drei. Nur weg von diesem Krieg und der Angst.»
Ich weiß, was Hela erwartet. Dass ich jetzt nein sage. Dass ich sage: Fahrt allein. Du und Jureczek. Nimm deinen Vater oder deine Mutter und fahrt, nimm Geld. Ich muss hierbleiben, für mich geht der Krieg noch weiter, ich muss bleiben und kämpfen, mich nach Frankreich durchschlagen oder in den Untergrund gehen und kämpfen, für Polen. So heißt das jetzt.
Dann wird Hela mir ins Gewissen reden, die Familie sei wichtiger, in der Hoffnung, dass ich widerspreche, dass ich sage, ich liebe euch mehr als alles auf der Welt, aber Polen ist meine Pflicht, und wenn ich diese Pflicht verletze, dann wäre ich nicht mehr der Kostek, den sie einst geliebt hat. Deshalb muss ich. Und sie könnte dann eine Pose einnehmen wie auf einem Gemälde von Grottger: Wenn du bleibst, dann ist mein Platz an deiner Seite. Ich werde bei dir ausharren. Sie wird sich berauschen an diesem dummen weiblichen Heldengetue, das eigentlich nicht weiblich, sondern nur bizarr, weil polnisch ist und überhaupt nichts ändert, außer dass Hela sich besser fühlt.
Ich zuckte nur mit den Schultern.
«Was?» Hela schaut mich prüfend an.
«Nichts. Wir können fahren, wenn du willst. Jureczek wird Englisch lernen und als Amerikaner aufwachsen, er wird Kaugummi kauen und in die Klubs gehen, Negermusik hören», erwidere ich.
«Kostek, was soll denn das … Wir hören doch nicht auf, Polen zu sein, wir kehren sofort zurück, sobald der Krieg aus ist.»
Arme Hela. Sie weiß nichts über mich, die arme Hela kennt mich nicht, sie glaubt, sie hätte jemand ganz anderen geheiratet.
«Aber mir wäre es wirklich lieber, Jureczek würde ein netter amerikanischer Junge», antworte ich. «Was ist denn schlecht an Jazz?»
Hela sieht mich mit ihrem Helablick an, dem gewöhnlichen Helablick, als hätte nichts sich geändert, als wäre kein Krieg und ich hätte einfach nur ein Paradox vorgeführt, allen Ernstes ein kontroverses Urteil geäußert, von dem Hela nicht wusste, was davon halten, also sieht sie mich an, wie sie es gelernt hat, mit diesem Blick: nicht zustimmen und sich nicht widersetzen.
«Ich muss mich hinlegen.»
«Papa hat eine Bitte an dich. Einer gewissen Łubieńska am Erlöserplatz ein Paket zu bringen. Ich habe Angst, mir wäre lieber, du tust es nicht. Das ist so eine Sache … wenn sie dich erwischen, erschießen sie dich. Verstehst du? Du sagst nein, ja? Ich habe Papa schon abgesagt, aber er ist ja hartnäckig.»
Und wieder, wieder: Helas kleine Versuche. Wird mein Kostuś sich der großartigen Unabhängigkeitstraditionen unserer Familie als würdig erweisen? Wird er sich so tapfer zeigen, wie der Ehemann von Helena Willemann de domo Peszkowska aus der Linie Jastrzębiec zu sein hat? Wird er den Tod nicht fürchten?
Ist mein Kostuś würdig, sich einen Polen zu nennen? Dummes Geschwätz.
Ich denke, Hela wünscht mir den Tod. Sie würde gern