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Mostviertel, Niederösterreich: Beim Schautriften im Mendlingtal wird ein lebloser Körper im Wasser entdeckt, zermalmt von Baumstämmen. Doch der Mann wurde zuvor mit einem geschmiedeten Nagel erstochen. Es handelt sich um den „Schmiedepapst“ Gottfried Lugbauer, eine angesehene Persönlichkeit der Mostviertler Eisenstraße. Der Kreis der Verdächtigen lässt sich rasch auf die Teilnehmer seiner Schmiedekurse eingrenzen. Doch auch Lugbauers Konkurrenz profitiert von seinem Ableben. Als ein weiterer Mord geschieht, beginnt für Major Brandner ein Wettlauf gegen die Zeit.
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Seitenzahl: 292
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Helmut Scharner
Mostviertler Grafen
Kriminalroman
Schwarze Grafen Beim Schautriften im niederösterreichischen Mendlingtal, in der Nähe von Göstling, wird ein toter Mann im Wasser entdeckt. Sein Körper ist von Baumstämmen zermalmt worden, doch die Todesursache ist eine andere: Er wurde mit einem geschmiedeten Nagel erstochen! Major Brandner ermittelt im Mostviertel, dabei wird er von der jungen Inspektorin Lindner unterstützt.
Schnell wird der Tote als »Schmiedepapst« Gottfried Lugbauer identifiziert, eine einflussreiche Persönlichkeit der Mostviertler Eisenstraße. Seine Nachfolge ist umkämpft. Kurz vor seinem Tod hatte Lugbauer zudem in einer revitalisierten Schmiede im Mendlingtal einen Schmiedekurs abgehalten. Als dort die Tatwaffe und darauf die Fingerabdrücke eines der fünf Kursteilnehmer sichergestellt werden, scheint die Lösung des Falls zum Greifen nahe. Doch ein wasserdichtes Alibi und ein weiterer Mord stellen die Ermittlungen auf den Kopf. Als erneut Menschenleben in Gefahr geraten, beginnt für Brandner und Lindner ein Wettlauf gegen die Zeit.
Helmut Scharner wurde 1975 in Ybbsitz in Niederösterreich geboren, der heimlichen Schmiedehauptstadt Mitteleuropas. Er arbeitet als Sales Manager für den größten österreichischen Stahlkonzern. Beruflich wie privat reist er viel um die Welt, doch sein Dreh- und Angelpunkt ist das niederösterreichische Mostviertel, in dem er mit seiner Familie lebt. Helmut Scharner hat bereits mehrere erfolgreiche Kriminalromane geschrieben, die in seiner Heimat verankert sind. Er ist Mitglied der Autorenvereinigungen »Das Syndikat« und der österreichischen Krimiautoren.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Ricarda Dück
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Grafvision / shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-7542-9
Mendlingtal, Niederösterreich
Sonntag, 2. Oktober
Alfred Wimmer fuhr sich mit seiner vom Alkohol pelzigen Zunge über die Zähne, er blinzelte einmal, dann öffnete er seine Augen vollständig. Nur das Rauschen des Wassers und das Rascheln der Blätter drangen von draußen ins Innere des Zeltes. Sonst hörte er keine Geräusche, obwohl die Nacht bereits von der Sonne vertrieben worden war. Trotzdem schliefen die anderen anscheinend noch.
Er zog seine linke Hand aus dem Schlafsack und schaute auf seine Armbanduhr. Ein billiges Modell mit schwarzem Lederband. Wimmer kannte nicht einmal das Fabrikat. Seine edleren Exemplare waren allesamt sicher daheim verwahrt. Der Blick aufs Ziffernblatt verriet ihm, dass es tatsächlich Zeit war, aufzustehen. Seine Hand roch nach Rauch, aber auch der Geruch von Eisen und Stahl haftete an ihr, den er so liebte, da er ihn an seine ersten Schritte in der Arbeitswelt erinnerte. Lange war es her, und er hatte seither viel erreicht.
Er streckte die Finger und schloss sie mehrmals hintereinander zur Faust. Sein Handgelenk schmerzte, und seine Finger waren steif von der ungewohnten Belastung des Vortages. Wimmer schüttelte seine Hand, zog den Reißverschluss auf und rollte sich mühselig aus dem Schlafsack. Sein gesamter Körper fühlte sich verspannt an. In seinem Alter sollte er deutlich mehr als nur eine Isomatte zwischen sich und harte Erde legen, um einige Stunden erholsam zu schlafen.
Er kroch auf allen vieren nach vorne, setzte sich hin und zog sich seine festen Schuhe an. Erst als er aus dem Zelt gekrabbelt war, streckte er seine Beine durch und atmete die frische Herbstluft ein.
Herrlich! Dafür allein haben sich die Strapazen gelohnt.
Wimmer sah sich um. Das Feuer, an dem sie in der Nacht gegrillt hatten, war noch nicht wieder entfacht worden. Aus den anderen fünf Zelten, in denen seine Kurskollegen und die Kursleiter schliefen, drang kein Laut. Auch die Schmiede und die Säge waren nicht in Betrieb, rund um das Schmiedegesellenhaus war alles ruhig. Nur der Bach plätscherte, und vereinzelt fielen gelbe und rotbraune Blätter zu Boden. Das Gras war noch feucht.
Egal, wenn sie nicht aufstehen, gehe ich ohne sie los. Ich lasse mir das Schauspiel nicht entgehen.
Mit beiden Händen glättete Wimmer seine Haare, putzte sich rasch die Zähne und spülte seinen Mund mit Bachwasser aus. Er spritzte sich ein paar Tropfen ins Gesicht und trank mehrere Schlucke Kaffee aus der Thermoskanne, die er noch am Vorabend aufgefüllt hatte. Erst jetzt fühlte er sich vollkommen wach, und auch der letzte Geschmack von Bier und Schnaps war aus seinem Mund verschwunden.
Noch immer rührte sich niemand in den anderen Zelten, aber es kam eine Familie mit zwei Buben den Waldweg heruntergestiegen, der zum Parkplatz führte. Sie marschierten zielstrebig flussaufwärts, vorbei an Hammerschmiede, Venezianer-Säge und dem Holzlagerplatz, der Lende. Wimmer griff nach seiner Thermoskanne und folgte ihnen mit schnellen Schritten. Er wollte keinen Moment des Spektakels verpassen. Erst am frühen Nachmittag würde er wieder mit den anderen unter Anleitung Gottfried Lugbauers, dem Schmiedepapst höchstpersönlich, den Hammer schwingen. Auch darauf freute sich Wimmer, trotz schmerzender Handgelenke.
Er lief zum Holzsteg über die Wehranlage, wo das Getöse des Wassers am lautesten war. Er überquerte den Steg, entlang von Felswänden in der engen Schlucht. Gleich neben dem Steg verlief die hölzerne Triftanlage, auf der später mithilfe des aufgestauten Wassers die Baumstämme sicher durchs enge Tal zur Lende transportiert werden würden. Eine Triftvorführung, wie sie heute stattfinden würde, hatte Wimmer noch nie gesehen. Er schritt rasch vorwärts, mehrmals rutschte er auf den feuchten Holzbrettern aus und musste sich am Geländer festhalten, um nicht zu stürzen. Trotzdem reduzierte er sein Tempo nicht, denn das Marschieren und der erhöhte Puls taten ihm gut. Als er am Sammelplatz bei der Klaushütte ankam, fühlte er keinerlei Nachwehen mehr vom Alkohol des Vorabends und unruhigen Schlaf auf dem harten Boden.
Am Sammelplatz hatte sich schon ein Grüppchen Schaulustiger eingefunden, das stetig wuchs. Die meisten kamen vom zweiten Zugang ins Mendlingtal, der flussaufwärts lag. Am Ufer lagerten Holzstämme, die bereits entastet und von der Rinde befreit worden waren. Der Klausmeister, ein Mann um die 60 in Lederhose und Lodenjacke, begrüßte die Zuschauer und führte sie weiter ein Stück bachaufwärts zu einer Schlucht. An dieser Stelle verlief ein weiterer Holzsteg entlang der Felswand, dahinter, am Eingang zur Schlucht, befand sich die Klause. Der dort aufgestaute See schimmerte grünlich, da sich die Nadelbäume am umliegenden Berghang darin spiegelten.
Der Klausmeister öffnete mit einem kräftigen Hammerschlag die Klause, rauschend schoss das Wasser hinunter in die Schlucht und bahnte sich schäumend seinen Weg durch das Tal. Wimmer lief nun mit den anderen zurück Richtung Klaushütte. Vier junge Männer hatten dort bereits Fischereihosen über ihre Lederhosen gezogen, die Oberkörper durch Lodenjacken vor der Kälte geschützt. Sie hieben nun mit den gebogenen Stahlspitzen ihrer Handsappies auf die am Ufer liegenden Baumstämme ein und zogen sie nacheinander in den reißenden Fluss. Die Strömung riss die Stämme sofort mit sich. Einer nach dem anderen verschwand aus Wimmers Blickfeld.
Wimmer schätzte, dass circa 20 Stämme auf den Weg gebracht worden waren, als die vier Holzfäller ihre Arbeit einstellten und flussabwärts marschierten. Er folgte ihnen auf dem neben dem Wasser verlaufenden Pfad, gemeinsam mit den anderen Schaulustigen und dem Klausmeister. Die vier Männer mussten immer wieder einen ans Ufer gespülten Stamm mit ihren Sappies kraftvoll ins Wasser zurückziehen. Allesamt waren sie körperlich in einer deutlich besseren Verfassung, als es Wimmer je gewesen war.
Vom Telefonieren und Diktieren bekommt man eben keine stählernen Muskeln! Dafür muss ich aber auch nicht im eiskalten Wasser stehen …
Vor ihnen verengte sich jetzt das Tal, links und rechts ragten wieder Felswände empor. Das Wasser wurde leicht aufgestaut, ein Holzrechen hielt die Stämme davon ab, über die Wehranlage in die Tiefe zu stürzen. Die Holzfäller nahmen sich nun die bereitliegenden Fletzhageln, lange Stangen mit Eisenspitzen, und versuchten damit, vom Damm aus die Stämme zum Ausleitkanal der Triftanlage zu bewegen. Am Ende des circa 110 Meter langen Kanals landeten die Stämme an der Lende.
»Was ist denn das?«, rief ein blonder Holzarbeiter und beugte sich weit über das Geländer.
»Um Himmels willen … Nein, schau nicht hin!« Die Mutter, die neben dem Holzfäller stand, drückte panisch den Kopf ihrer Tochter gegen ihre Hüfte. Das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Sepp! Hans! Hierher!«, alarmierte der blonde Holzfäller seine Kollegen.
Was ist da los?
Wimmer drängte sich nach vorne. Zwischen zwei Holzstämmen erblickte er zuerst etwas Dunkles, das wie der Stoff einer Jacke aussah. Zwei Arbeiter liefen seitlich über den Steg hinunter zum geschotterten Ufer, sie griffen nach ihren Sappies und wateten im Wasser in Richtung des Rechens der Wehranlage. Nur ganz leicht hieben sie mit ihren Sappies auf die beiden Stämme ein und zogen sie vorsichtig auseinander.
Wimmer stellte sich auf die Zehenspitzen. Jetzt erkannte er es deutlich: Im Wasser trieb ein Körper, das Gesicht nach unten im Wasser. Es schien sich um einen Mann zu handeln. Der blonde Holzfäller ließ seinen Sappie los und watete zwischen die beiden Stämme. Entschlossen zog er den leblosen Körper mit beiden Händen zu sich und drehte ihn um.
Das Gesicht der Leiche war anscheinend zwischen die Baumstämme geraten. Obwohl es entstellt war, wusste Wimmer, wer da tot im Wasser lag.
Und das war ein Problem für ihn.
Wien
Sonntag, 2. Oktober
Brandner nippte an seiner Tasse, die mit schwarzem Filterkaffee gefüllt war. Er liebte vor allem den Geruch, den die altmodische Maschine verströmte, wenn das heiße Wasser den gemahlenen Kaffee aufbrühte und dann in die gläserne Kanne plätscherte. Den Geschmack hatte er wieder lieb gewonnen, auch wenn er durchaus einem frisch zubereiteten Espresso viel abgewinnen konnte.
Eva reichte ihm den färbigen Extrateil der Tageszeitung, der immer nur am Wochenende beigefügt wurde. Von Brandner erhielt sie im Gegenzug die Zeitung mitsamt der Titelseite. Stumm lächelten sie sich kurz zu und begannen zu lesen. Vivaldis Vier Jahreszeiten liefen so leise im CD-Player, dass Brandner trotz der Musik aus Isabellas Zimmer gedämpfte Stimmen durch den Vorraum bis ins Wohnzimmer hörte. Verstehen konnte er allerdings nicht, was seine Tochter mit ihrem Freund redete. Wie meist am Wochenende hatte er bei ihr übernachtet, nachdem sie gemeinsam das Nachtleben in Wien genossen hatten. Brandners jüngste Tochter, Selina, hatte bei einer Freundin geschlafen.
In der Sonntagsbeilage wurden auf einer Doppelseite ein österreichischer Autor und sein neuester Krimi vorgestellt. Anscheinend wurden dessen bisherige Romane gerade von einem der großen Streaming-Anbieter für ein weltweites Publikum verfilmt.
Sehr beeindruckend, trotzdem werde ich keiner von deinen Lesern. Ich habe genug Mord und Totschlag in der realen Welt.
Der Klingelton von Brandners Mobiltelefon ertönte aus dem Vorraum. Eva verdrehte ihre Augen.
»Da muss ich rangehen.«
»Bereitschaft, ich weiß.«
Brandner legte die Beilage auf den Couchtisch, stand auf, verließ das Zimmer und nahm das Gespräch an.
»Herr Direktor Böck, was ist passiert?«
»Im Mendlingtal, bei Göstling, ist ein Toter im wahrsten Sinn des Wortes aus dem Wasser aufgetaucht.«
»Fremdeinwirkung?«
»Wissen wir noch nicht. Die Gerichtsmedizin und die Kriminaltechnik sind unterwegs.«
»Dann sollte ich mich wohl auf den Weg machen?«
Es war eine rein rhetorische Frage Brandners, ihm war klar, dass ihn sein Vorgesetzter sonst nicht angerufen hätte.
»Sie nehmen Lindner mit.«
Muss das sein?, lag es Brandner auf der Zunge, doch er verkniff sich den Kommentar, da es sinnlos war, darüber mit Böck zu diskutieren.
Sein Vorgesetzter hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass sein bester Mann sich persönlich dem Neuzugang im Ermittlerteam des LKA annehmen sollte. »Der beste Mann, das sind Sie, Major Brandner, da bestehen gar keine Zweifel!«, hatte Böck vor wenigen Tagen verlautbart. Worin sich Böcks ungewöhnlich deutliches Lob tatsächlich begründet hatte, war Brandner rasch klar gewesen: Böck hatte darauf abgezielt, es Brandner unmöglich zu machen, Nein zu sagen.
»Ich rufe die Neue sofort an«, erwiderte Brandner daher jetzt.
»Tun Sie das! Sie kann sich gleich daran gewöhnen, dass in unserem Beruf Sonn- und Feiertage nicht heilig sind. Die Lindner wollte es ja nicht anders«, fügte Böck hinzu und legte dann auf, ohne sich zu verabschieden.
Eine junge Frau als Kollegin, nicht viel älter als Isabella, damit werde ich schon zurechtkommen.
Sicherheitshalber packte er seine Toilettensachen, Unterwäsche und Hemden in eine Tasche.
»Kann länger dauern«, informierte er Eva.
Die nickte nur, danach küssten sie sich zum Abschied. »Pass auf dich auf!«, hörte er noch, als er die Tür hinter sich schloss.
Ybbsitz, Niederösterreich
Freitag, 17. Juni
Endlich ist wieder etwas los in Ybbsitz!
In Nicoles Bauch kribbelte es regelrecht. Sie liebte das Ferraculum und hatte es kaum erwarten können. Dabei war es durchaus nicht so, dass sich in ihrem Heimatort nie etwas rührte. Die Ybbsitzer waren eine eingeschworene Gemeinschaft, die gerne Feste jedweder Art feierte. Von der Feuerwehr über die Musikkapelle und den Sportverein bis hin zur katholischen Jugend und Landjugend organisierte jeder Verein mindestens eine Veranstaltung im Jahr, die dann auch von einem Großteil der Einheimischen besucht wurde. Dort traf Nicole allerdings immerzu auf dieselben Gesichter. Keinerlei Überraschendes erwartete sie bei einem dieser Wald- und Wiesenfeste oder den Frühschoppen.
Mit dem Ferraculum war es anderes. Zum internationalen Schmiedetreffen reisten Fachleute aus allen Teilen der Erde an und präsentierten ihr Können. Auch das Publikum setzte sich nicht nur aus Ybbsitzern und Ansässigen der Nachbargemeinden zusammen, sondern aus Bewohnern des gesamten Mostviertels. Über die Jahre hatte sich das Ferraculum einen Namen gemacht. Abends, wenn die Kohlen in den offenen Feuerstellen orangerot glühten, wurde es romantisch.
Nicole hungerte nach Nähe. Ihre Scheidung lag lange zurück, für eine feste Bindung war sie trotzdem nicht bereit. Blicke, die sie bewunderten, Hände, die sie an sich zogen, Küsse, die heiß auf ihren Lippen brannten, das alles brauchte sie jedoch. Sie wollte sich wieder wie eine Frau fühlen, die begehrt wurde. Sie lechzte seit Wochen, wenn nicht Monaten, nach den Berührungen eines Mannes. An diesem Wochenende würde ihre Sehnsucht gestillt werden, ohne dass sie sich mit einem der Einheimischen einlassen musste. Da war sie sich sicher. Es musste einfach klappen!
Seit Tagen überlegte Nicole, was sie an diesem Abend anziehen sollte. Sie wollte, ja, sie durfte nicht wie eine Schlampe daherkommen. Schließlich lebte und arbeitete sie in dem Ort und musste auf ihr Ansehen achten, das zugegebenermaßen mit der Scheidung bereits einige Schrammen abbekommen hatte. Doch ihr Ruf war noch nicht vollkommen ruiniert. Zumindest galt sie noch nicht als Aussätzige.
Heutzutage war eine Scheidung etwas vollkommen Normales. Nicht ganz ins Bild der einheimischen Männer – und der einen oder anderen Frau – wollte es jedoch passen, dass auch sie damals fremdgegangen war. Nachdem Lukas sie nach Strich und Faden mit ihrer besten Freundin betrogen hatte, war Nicole mit seinem besten Kumpel in die Kiste gesprungen. Es hatte ihr nichts bedeutet, sie hatte es nur getan, um Lukas eins auszuwischen. Der Waschlappen hatte sich danach in sämtlichen Wirtshäusern des Ortes, und davon gab es in Ybbsitz nach wie vor viele, über ihre Untreue ausgeweint. Nicole reichte daraufhin die Scheidung ein, für sie war damit das Kapitel endgültig beendet. Nun sollte bald genug Gras darüber gewachsen sein, damit sie wieder durch den Ort schlendern konnte, ohne in ihrem Rücken das Getuschel der alten Weiber und das anzügliche Lachen der verheirateten Männer zu hören.
Nicole betrachtete sich nochmals in ihrer schwarzen Seidenunterwäsche im Spiegel, dann schlüpfte sie in den dunkelroten Rock, der knapp unterhalb ihrer Knie endete. Auch ohne ihre Vorgeschichte würde sie heute keinen Minirock zu ihren Strümpfen tragen. Der würde ihr zwar gut stehen, aber solch ein Outfit passte einfach besser zu den ganz jungen Mädels. Ein etwas erfahrenerer Mann würde ohnehin unter ihrer blauen Bluse und dem dezenteren Rock ihren attraktiven Körper erkennen. Am wichtigsten waren sowieso die Augen, die Haare und die Schuhe.
Die Friseurin hatte ganze Arbeit geleistet: Die Hochsteckfrisur hielt ihre kastanienbraunen Locken im Zaum und legte ihren Hals frei. Genau dort wollte sie seinen ersten Kuss spüren.
Wer auch immer du sein wirst.
Nicoles braune Augen strahlten und wurden perfekt von den schwarzen langen Wimpern umrandet. Sie schlüpfte in ihre Stöckelschuhe und griff nach ihrer Handtasche.
»Na, da will wohl heute Nacht jemand was erleben!«
Ausgerechnet Steiner, ihr Nachbar, der nicht nur hier wohnte, sondern auch die Schmiede nebenan betrieb, war der Erste, der ihr vor der Tür begegnete. Früher oder später wäre sie ihm aber an diesem Abend ohnehin über den Weg gelaufen.
»Ich habe mich nur geduscht und frische Kleidung angezogen, würde dir auch einmal guttun!«, entgegnete sie frech und stöckelte in Richtung Marktplatz davon.
Steiner pfiff ihr nach. Nicole reagierte nicht darauf, doch sie spürte, wie sie errötete.
Sankt Pölten, Niederösterreich
Sonntag, 2. Oktober
»Endlich, mein erster Toter, darauf freue ich mich schon lange!«
Inspektorin Annika Lindner strahlte, als sie in Brandners Audi stieg und sich auf den Beifahrersitz setzte.
Immerhin ist sie schon fast perfekt für eine Beerdigung gekleidet.
Auch die Haare seiner neuen Kollegin waren pechschwarz, ihr Gesicht wirkte jedoch so blass, als wäre ihre Haut noch nie direkt der Sonne ausgesetzt gewesen. Die linke Seite ihres Kopfs war kahl rasiert, eine schwarze Rose zierte die Kopfhaut, der Stängel der Blume schlängelte sich hinterm Ohr den Nacken hinunter und verschwand unter ihrer Lederjacke.
Sie muss schon herausragende Bewertungen gehabt haben, wenn sie Böck trotzdem eingestellt hat.
Noch einmal schaute Brandner zu seiner Kollegin nach rechts, bevor er losfuhr. Annika Lindner war noch schlanker als Isabella und Selina, und das, obwohl seine beiden Töchter kein Kilo zu viel an den Hüften hatten.
»Wissen wir schon, ob er ermordet wurde? Mein erster Mordfall, das wäre krass!«
Mal schauen, ob du den Anblick der Leiche verkraftest, wärst nicht die Erste, die auf cool macht und sich dann die Seele aus dem Leib kotzt.
»Abwarten«, antwortete Brandner und fuhr los. »Noch wissen wir nichts Genaueres. Die Gerichtsmedizin und Kriminaltechnik sind so wie wir auf dem Weg zum Fundort.«
Brandner nahm bereits die Autobahnauffahrt, Lindners Privat-PKW blieb auf dem Parkplatz der Raststation zurück.
»Warst du schon einmal im Mendlingtal?«
Lindner schüttelte ihren Kopf. »Nicht direkt, aber ich war schon Skifahren am Hochkar, Mountainbiken auf den Siebenhütten und Raften in Palfau. Die Orte sind alle gleich um die Ecke.«
Brandner blickte sie kurz an, dann schaute er wieder auf die Fahrbahn.
»Was?«, wollte sie wissen. »Nur weil ich nicht jeden Tag mit einer Jogginghose oder mit einem Fahrradhelm durch die Gegend laufe, heißt das nicht, dass ich überhaupt keinen Freiluftsport betreibe.«
Soviel dazu, dass diese Haut noch nie Sonne abbekommen hat. Wie macht sie das bloß? Lichtschutzfaktor 200? Oder hat sie alles mit Schminke überdeckt? Egal, nicht dein Problem, konzentriere dich lieber aufs Autofahren.
»In eineinhalb Stunden solltest du jedenfalls deinen ersten Toten zu Gesicht bekommen.«
Ohne Blaulicht würden sie es kaum schneller von Sankt Pölten ins Mendlingtal schaffen, als sein Navi es berechnet hatte. Er rief den Inspektionskommandanten Leitner vor Ort an und stellte klar, dass nur der Fundort großräumig abgesperrt werden sollte. Sonst hatten die Polizisten sich zurückzuhalten und auf ihn und die Kriminaltechnik zu warten. Danach kontaktierte er Elfriede Auer. Die Kriminaltechnikerin befand sich mit ihren Kollegen circa eine halbe Fahrstunde vor Brandner und Lindner. Sie bildeten einen kleinen Konvoi mit der Gerichtsmedizinerin Doktor Heiß.
Das kommt halt davon, wenn ich immer von Wien aus wegstarten muss, aber ein Umzug nach Sankt Pölten kommt für meine Damen nach wie vor nicht infrage.
Er beendete das Telefonat und setzte den Blinker, um bei Ybbs von der Autobahn abzufahren.
Zeit für mehr Small Talk mit der Lindner?
Brandner hatte im Moment keine Lust darauf, dafür war sicher in den nächsten Tagen noch genug Zeit. Als sie Wieselburg durchquerten, schaltete er daher das Autoradio ein, sodass seine Kollegin nicht von sich aus auf die Idee kam, ein Gespräch mit ihm zu beginnen. In den Nachrichten wurde, wenig überraschend, noch nichts von dem Fund im Mendlingtal berichtet.
Als sie durch den Ort Gaming fuhren, bewunderte Brandner den Bau der Kartause, und ihm fiel erstmals das braune Hinweisschild mit der Aufschrift »Eisenstraße« auf. Gleich darüber war ein Zusatzschild mit einem Pfeil befestigt, der die Richtung zu einer Schauschmiede zeigte.
Sie verließen Gaming und fuhren einen Pass hinauf, oben bog links eine Straße nach Lackenhof ab, dort befand sich das bekannte Skigebiet am Ötscher. Brandner lenkte seinen Audi bergab, unten im Tal kamen sie an Lunz am See vorbei, dann folgte Göstling und schließlich passierten sie die Auffahrt, die ins Skigebiet Hochkar führte. Brandner erinnerte sich an seinen ersten gemeinsamen Urlaub mit Eva, den sie dort oben vor vielen Jahren im Winter verbracht hatten. Und er dachte daran, was viele Jahre später passiert war, als er mit Eva wieder am Hochkar einen Kurzurlaub – erstmals ohne die beiden Mädels – hatte verbringen wollen. Damals war er noch beim Bundeskriminalamt gewesen und er war zu einem Mord auf die Schusteralm gerufen worden, die nur geschätzte 20, 25 Fahrminuten entfernt lag.
Brandners Gedanken kreisten um die Vergangenheit, er lenkte den Audi automatisch, ohne darüber nachzudenken, daher überraschte ihn die weibliche Stimme des Navis mit der Ansage: »Sie sind am Ziel angekommen. Das Ziel liegt rechts.«
Am Straßenrand stand eine große Skulptur, die einen Holzfäller mit Hut und Flößerhaken darstellte. Auf dem großen Parkplatz dahinter standen bereits drei Polizeiautos, das Fahrzeug der Kriminaltechnik und das der Gerichtsmedizin. Ein Uniformierter lehnte an einem der drei Wagen und schaute sie interessiert an. Mehrere Privatautos waren abgestellt. Fahnenmasten zierten den Platz, auf einer Fahne prangten der graue Schriftzug »Eisenstraße« auf weißem Hintergrund und das dreieckige Symbol mit der Unterschrift »Kulturpark«. Auf einer anderen stand: »Niederösterreich top Ausflugsziel, besonders sehenswert«.
»Wir arbeiten, wo andere Urlaub machen, was will man mehr an einem Sonntag!«, merkte Lindner an. Brandner ersparte sich eine Antwort.
Ybbsitz, Niederösterreich
Freitag, 17. Juni
Nicole griff nach dem Flyer, der gleich neben dem Eingang ins Ferrum auf einem der Tische lag. Hier trafen sich heute Abend die einheimischen mit den ausländischen Schmieden, um mit den Funktionären der Eisenstraße über ihre Arbeiten und die noch bevorstehenden zwei Tage des Schmiedefests Ferraculum zu diskutieren. Das Ferrum war eigentlich ein Museum der Eisenstraße, im Shop konnten interessierte Kunden Kunsthandwerksstücke erwerben, während in den oberen Stockwerken Veranstaltungen wie diese stattfanden.
Nicole wollte nur kurz vorbeischauen, bevor sie sich ins Partygetümmel stürzte. Später würde in und außerhalb einer der alten Schmieden neben dem Prollingbach gefeiert, getanzt und getrunken werden. Der Flyer, den Nicole in der Hand hielt, machte Werbung für einen Schmiedekurs.
»Na, interessiert?«
Die dunkle Stimme kam ihr nicht bekannt vor, bewusst ließ sie ihren Blick noch zwei Sekunden auf dem Flyer ruhen, bevor sie aufschaute. Sie staunte, als sie erkannte, wer vor ihr stand. Gottfried Lugbauer, der Schmiedepapst höchstpersönlich. Das an einem Abend wie diesem, an dem er sicher mehr als genug zu tun hatte.
Lugbauer trug natürlich die Festtagstracht der Eisenstraße mit den Metallgussknöpfen und der eisernen Anstecknadel am Sakko, und darunter leuchtete das Gilet wie dunkelrot glühendes Eisen.
Nicole wiegte ihren Kopf und verlagerte ihr Gewicht auf das linke Bein. »Ich weiß nicht so recht«, entgegnete sie. »Nehmen daran auch andere Frauen teil?«
Lugbauer schmunzelte. »Also, das kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht versprechen.« Jetzt lächelte er sie offen an, makellose Zähne kamen zum Vorschein. »Ich würde mich aber persönlich um dich kümmern und dafür sorgen, dass es dir an nichts fehlt. Du würdest es sicher genießen und keinesfalls bereuen, wenn du teilnimmst!«
»Na, ich weiß nicht«, wiederholte sie und stemmte ihre beiden Hände in die Hüften.
»Ganz sicher, du wirst es lieben!« Er zwinkerte ihr zu. »Zwei Schwarze Grafen, heiße Kohlen, romantisches Lagerfeuer, Übernachtung im Zelt, was will das Herz mehr?«
Flirtet er tatsächlich mit mir? Dass er sich und offensichtlich einen anderen Schmied als Schwarzer Graf bezeichnet, hat nichts zu bedeuten, das machen sie alle, aber der Rest … Er ist zu alt für mich, und er ist verheiratet. Das ist nicht gerade das, was ich mir heute vorgestellt habe … Seine Frau sehe ich allerdings nirgends, und er ist für sein Alter gut in Form. Das Schwingen des Vorschlaghammers hält ihn wohl fit.
»Ich überlege es mir«, antwortete sie.
»Der Kurs ist erst im Herbst, bis dahin rinnt noch viel Wasser den Prollingbach hinunter.« Lugbauer zeigte nach rechts hinter den Kassabereich. »Da vorne sehe ich Alfred Wimmer, mit ihm muss ich dringend etwas besprechen. Lauf mir ja nicht weg! Ich lade dich noch auf ein Achterl Rot ein.«
»Musst du nicht zu den Schmieden und mit ihnen über ihre Werkstücke und Pläne für die nächsten Tage reden?«
»Dafür ist noch genug Zeit. Erst das Vergnügen, dann die Arbeit, lautet meine Devise!« Lugbauer legte Nicole freundschaftlich die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft, dann wandte er sich dem Industriellen Wimmer zu.
Nicole wusste nicht recht, was sie von Lugbauer halten sollte. Sie betrachtete erneut den Flyer in ihrer Hand. Der Kurs würde in der revitalisierten Schmiede im Mendlingtal stattfinden und vom Schmiedepapst begleitet werden.
Das wäre vielleicht doch etwas für mich. Das Mendlingtal ist weit genug entfernt, und es werden schon gestandene Männer daran teilnehmen, denen ich zeigen kann, was ich draufhabe.
Sie schaute sich um: Lugbauer redete noch immer mit Wimmer, doch er suchte währenddessen immer wieder den Blickkontakt mit ihr, daher verwarf sie ihren ursprünglichen Plan. Obwohl auf der Party in und vor der alten Schmiede Livemusik gespielt wurde, blieb sie im Ferrum. Je länger Nicole Lugbauer aus der Ferne betrachtete, desto attraktiver fand sie ihn.
Ich suche nichts Festes, ein verheirateter Mann ist da vielleicht gar nicht so verkehrt …
Mendlingtal, Niederösterreich
Sonntag, 2. Oktober
Brandner lief hinter dem Polizisten her, der am Parkplatz auf sie gewartet hatte. Sie waren über einen Weg mit Stufen nach unten ins Tal marschiert, von dort weiter flussaufwärts. Der Uniformierte legte ein hohes Tempo vor, sodass Brandner Mühe hatte, ihm zu folgen. Lindner, die knapp hinter ihm ging, schien hingegen mühelos mitzuhalten.
Nun wurde der Polizist langsamer, erstmals konnte Brandner wieder ruhig atmen und sich umsehen. Die Stege und die Holztriftanlage entlang des engen felsigen Tals beeindruckten ihn.
Schön ist es hier, eine Wildnis, die der Mensch seit jeher zu beherrschen versucht. Die sich jedoch nur schwer zähmen lässt.
»Gleich sind wir da!«, ließ sie der Uniformierte wissen.
Im Schatten und in der Nähe des Wassers schien die Luft noch kühler zu sein als ohnehin. Vor ihnen öffnete sich das Tal, der Fluss war zu einem kleinen See aufgestaut, der Zugang war mit einem rot-weißen Band gesperrt.
Fünf Polizisten in Uniform hielten die Schaulustigen an der gegenüberliegenden Seite im Zaum, ein Mann genügte an der schmalen Seite, von der sie sich näherten. Hinter der Absperrung befand sich Elfriede Auer mit ihren drei männlichen Kollegen von der Spurensicherung. Doktor Heiß richtete sich auf und winkte Brandner zu sich ans Ufer. Neben ihr auf dem Boden lag die Leiche.
Jetzt werden wir gleich sehen, ob dir dein erster Toter wirklich so viel Freude bereitet.
Sie schlüpften unter der Absperrung hindurch, stiegen über die Stufen des Steges hinunter und liefen über Schotter bis zum Ufer.
»Doktor Heiß, darf ich vorstellen: Inspektorin Lindner, meine neue Kollegin.«
»Guten Tag und herzlich willkommen im Team!« Doktor Heiß hielt Lindner die geschlossene Faust entgegen, die diese ihrerseits mit ihrer Faust touchierte.
»Todesursache?«, wollte Brandner wissen.
»Es sieht nicht danach aus, als wäre er ertrunken«, stellte Heiß fest. »Die Verletzungen im Gesicht sind post mortem entstanden und rühren wahrscheinlich alle von den Baumstämmen her, die durch das Schautriften heute Morgen hier im Becken gelandet sind.«
Heiß zeigte ins Wasser zum Damm mit dem Holzrechen, vor dem sich die Stämme im hüfttiefen Wasser stauten. Brandner zählte über 15.
»Dazwischen eingekeilt wurde der Tote gefunden, von den Holzfällern, die das Schautriften durchgeführt haben«, erklärte Elfriede Auer. Die Technikerin war zu ihnen getreten.
Brandner nickte. »Todesursache?«, wiederholte er.
»Lassen wir doch unserer neuen Kollegin den Vortritt«, schlug Heiß vor und hielt Lindner eine Packung Handschuhe entgegen.
Lindner schaute kurz zu Brandner. Als der mit einem Nicken zustimmte, nahm sie die Verpackung, öffnete sie und zog die Handschuhe über die Finger. Danach hockte sie sich neben den Leichnam. »Jacke, Hose, Schuhe und Haare sind noch immer feucht«, stellte sie fest. »Nase und das rechte Jochbein scheinen gebrochen zu sein. Der rechte Unterschenkel ist derart verdreht, dass der Knochen auch nicht mehr heil sein dürfte.«
Der Tote lag auf dem Rücken, Lindner schob die dunkelgraue Stoffjacke links und rechts zur Seite, was leicht vonstattenging, da der Reißverschluss nicht geschlossen war. Das Hemd darunter war vermutlich einmal weiß gewesen, nun war es zerrissen und schmutzig.
»Fotos sind gemacht?«, fragte Lindner.
»Alles im Kasten«, bestätigte Auer.
Lindner knöpfte daraufhin das Hemd auf und legte Brust und Bauch frei. Unterhalb des Brustkorbs klaffte links eine hässliche Wunde. Lindner zeigte darauf. »Schaut nach Fremdeinwirkung aus. Ein spitzer Gegenstand, von unten direkt ins Herz.«
Heiß nickte. »Genaueres über die Tatwaffe kann ich erst nach der Obduktion sagen.«
»Todeszeitpunkt?«, erkundigte sich Brandner.
»Lange ist er nicht im Wasser gelegen, irgendwann heute Nacht, viel genauer geht es leider nicht.«
»Ist er unmittelbar nach seinem Tod im Wasser gelandet?«
»Wahrscheinlich, aber absolut sicher können wir uns nicht sein.«
»Habt ihr den Tatort schon gefunden?«, hakte Brandner nach.
Die Kriminaltechnikerin schüttelte den Kopf.
»Der muss irgendwo in der Nähe oder flussaufwärts liegen«, merkte Lindner an.
Auer zog die Augenbrauen zusammen. »Wir sind dran«, erwiderte sie. »Allerdings war der Wasserpegel durch das Schautriften höher als sonst, dadurch wurde der Leichnam wahrscheinlich weggespült und es könnten Spuren vom Wasser vernichtet worden sein.«
»Wissen wir schon, wer der Tote ist?«, fragte Brandner in die Runde.
Auer deutete mit dem Kopf zu einem der Polizisten bei den Absperrungen, neben dem ein Mann stand, der das Geschehen genau verfolgte.
»Der Herr da drüben wollte unbedingt mit uns reden, sagt, er kennt den Toten. Ich habe ihn gebeten, auf euch zu warten, dann muss er nicht alles doppelt erzählen.«
»Danke!« Brandner wandte sich zu seiner Kollegin. »Komm mit, kannst auch gleich deine erste Zeugenbefragung durchführen. Das mit dem Leichnam hat ja ganz gut geklappt!«
»Jederzeit wieder«, erwiderte Lindner.
Allerdings war in den letzten Minuten jedwede Farbe aus ihrem Gesicht gewichen, die zuvor während des strammen Marsches doch für kurze Zeit zu erkennen gewesen war. Nach der Leichenbeschau war Lindner wieder so blass wie immer.
Ybbsitz, Niederösterreich
Freitag, 17. Juni
Lugbauer ist nicht bei der Sache.
»Vielleicht reden wir doch lieber ein anderes Mal«, schlug Alfred Wimmer dem Schmiedepapst vor.
Immer wieder schaute Lugbauer an Wimmer vorbei, und das, obwohl es für ihn das Wichtigste auf der Welt sein sollte, sich mit ihm zu unterhalten. Immerhin ging es um den Auftrag des Jahres! Wimmer konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass den einheimischen Schmieden irgendjemand sonst ein vergleichbares Großprojekt anbot: eine neue Aussichtsplattform, direkt über der Felswand am Prochenberg, dem Hausberg der Ybbsitzer. Ein edles Stahlgerüst mit kunstvoll geschmiedetem Stahl und natürlich mitsamt dem Prunkstück – einem Geländer, das der Schmiedemetropole gerecht werden sollte.
Eine Referenz für jede Schmiede, die daran mitarbeitet, und ein Denkmal für denjenigen, der das Design entwerfen darf!
Als Kopf und Architekten hinter dem Projekt wollte sich Wimmer den Schmiedepapst ins Boot holen. Niemand anderer als Gottfried Lugbauer höchstpersönlich sollte die kunstfertige Konstruktion planen. Sie sollte einmalig werden. Wimmer selbst würde das Prestige für sich beanspruchen, die Idee gehabt und das Projekt in Auftrag gegeben zu haben.
»Also am Prochenberg oben soll es stehen?«, fragte Lugbauer nun.
»Ja, es gibt zwar neben der Hütte bereits einen Aussichtsturm, aber eine geschmiedete Plattform gleich über oder in der Felswand – das wäre geradezu atemberaubend und eine vollkommen neue Dimension!«
Lugbauer rieb sich mit der linken Hand am Kinn. »Das müssen wir uns gemeinsam oben am Berg anschauen. Mir geistern aber schon ein paar Ideen dazu im Kopf herum.«
»Na, was heckt ihr beiden denn aus?«
Wimmer sah denjenigen nicht, der sie unterbrochen hatte. Er musste gerade hinter ihm das Ferrum betreten haben.
»Steiner, das geht dich einen feuchten Dreck an!«, entgegnete Lugbauer schroff.
»Musst mich nicht gleich so anschnauzen! Ich lasse euch schon in Ruhe.«
Wimmer wartete, bis ihn der Ybbsitzer Schmied nicht mehr hören konnte. »Auf den Steiner scheinst du nicht gut zu sprechen zu sein.«
»Der taugt nur zum Hufschmied, erhofft sich aber jedes Mal eine Auszeichnung beim Ferraculum.«
»Daher weht der Wind also! Ist sicher nicht immer einfach, bei den Juroren dabei zu sein.«
»Hallo, Gottfried!« Ein weiterer Schmied begrüßte Lugbauer.
»Servus, Martin!«, antwortete der Schmiedepapst. »Schön, dich zu sehen!«
Zu ihm ist er viel freundlicher.
»Ich gehe schon mal nach oben«, sagte der andere.
»Bis gleich!«, rief Lugbauer ihm hinterher.
»Wie heißt er noch mal?«, erkundigte sich Wimmer.
»Martin Meinhart. Der hat wirklich was auf dem Kasten, jedenfalls deutlich mehr als der Steiner. Würde mich nicht wundern, wenn er diesmal eine Auszeichnung bekommt.«
Lugbauers Blick schweifte wieder ab. Hinter Wimmer schien irgendetwas oder irgendjemand ständig seine Aufmerksamkeit zu beanspruchen.
Wenn jetzt ein Schmied nach dem anderen hereinkommt und mit ihm reden will, kommen wir gar nicht mehr weiter.
»Gottfried, wir vertagen unser Gespräch besser. Schauen wir uns doch nächste Woche die Stelle am Berg gemeinsam an, was meinst du?«
»Den Ybbsitzer Hausberg besteigen, warum eigentlich nicht? Ich melde mich bei dir!« Lugbauer klopfte ihm auf die Schulter und ging an ihm vorbei.
Wimmer drehte sich um und sah dem Schmiedepapst nach.
Schau einer an, die Nicole, das hätte ich jetzt nicht gedacht!
Mendlingtal, Niederösterreich
Sonntag, 2. Oktober
Der Mann in Uniform gleich neben der Absperrung stellte sich als Inspektionskommandant Leitner vor. Mit ihm also hatte er während der Autofahrt telefoniert. Der Polizist zeigte sich sichtlich verwundert über das Erscheinungsbild von Brandners Kollegin.
»Sie können ihren Mund gerne wieder schließen, nicht dass noch eine Biene eines unnatürlichen Todes stirbt«, merkte Lindner spitz an.
Auf den Mund gefallen ist sie jedenfalls nicht.
Leitner schaute pikiert zu ihrem Vorgesetzten, der zuckte mit seinen Achseln.
Der Mann neben dem Inspektionskommandanten räusperte sich. »Entschuldigung!«
»Richtig«, sagte Leitner rasch, »Herr Major Brandner, darf ich vorstellen: Herr Alfred Wimmer. Er konnte den Leichnam bereits eindeutig identifizieren.«
»Wie heißt der Tote?«, begann Lindner mit der Befragung, wie sie es besprochen hatten.
Wimmer schaute zuerst irritiert zu Leitner, dann zu Brandner. Annika Lindner seufzte daraufhin für alle hörbar und verdrehte die Augen.
»Raus mit der Sprache!«, forderte Brandner. »Die Fragen meiner Kollegin sind genauso zu beantworten wie meine.«
»Sie sind aber ihr Vorgesetzter, Herr Major, oder?«, erkundigte sich der Zeuge.
»Das ist korrekt, aber Inspektorin Lindner ermittelt ebenfalls in diesem Fall.«
»Nichts für ungut!« Wimmer schaute nun Brandners Kollegin in die Augen. »Alle Achtung«, sagte er zu ihr, »so jung und schon Inspektorin beim Landeskriminalamt. Sie könnten es noch weit bringen, wenn …« Den Rest des Satzes vollendete er nicht.
Lindner presste ihre Lippen aufeinander. »Wir wissen noch immer nicht, wie der Tote heißt«, stellte sie schließlich fest.
»Der Tote, ja, richtig, das ist der Gottfried Lugbauer, der Schmiedepapst.«
»Schmiedepapst? Dann sitzt er jetzt im Himmel sicher neben Jesus und Gott«, bemerkte Lindner mit todernster Miene.
Das darf doch nicht wahr sein!
Wimmer schaute Hilfe suchend zum Inspektionskommandanten, dann zu Brandner. Ganz offensichtlich wusste er nicht, wie er reagieren sollte.
»Sind Sie sicher?«, übernahm Brandner das Gespräch. Innerlich kämpfte er dagegen an, Lindner nicht vor aller Augen zu rügen.
»Aber ja, ich bin doch vergangene Nacht mit den anderen und dem Gottfried noch beim Lagerfeuer gesessen!«
»Welche anderen, und wo genau haben Sie sich aufgehalten?«, fragte Lindner.
Brandner trat daraufhin einen Schritt zurück.
Ist schon in Ordnung, wenn sie das Heft wieder in die Hand nimmt. Schließlich habe ich ihr vorhin genau das vorgeschlagen.