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Wie entsteht eine Idee, die für die gesamte Menschheit von Bedeutung ist? Eines Tages trifft William Abelson sich mit seinem Vater zum Lunch. William besitzt zwar einen Doktortitel in Physik, doch sein Leben hat einen Riss bekommen, er arbeitet seit mehreren Jahren als Barista in einem trendigen Café. Sein Vater ist der Betreiber des Spielwarenladens »Stjerneplassen Leker«, und William glaubt, es handle sich um ein gewöhnliches Mittagessen, bei dem sein Vater ihm von seinen finanziellen Sorgen berichtet. Doch der Vater hat etwas anderes auf dem Herzen: Elizabeth, Williams Schwester, ist verschwunden. Der Vater glaubt, es könnte ihr etwas zugestoßen sein. Dass sie in Gefahr ist. William erhält den Auftrag, nach Hongkong zu reisen, wo seine Schwester sich aller Wahrscheinlichkeit nach aufhält. Wie schwierig kann das schon sein?, denkt William. Ich brauche bloß meine Schwester zu finden und sie nach Hause zurückzubringen. Am Flughafen in Hongkong erwartet ihn eine Überraschung: William wird mit einem Rolls-Royce abgeholt und ins Peninsula, eines der luxuriösesten Hotels der Stadt, gefahren. Völlig unvorbereitet macht er in den nächsten Tagen Bekanntschaft mit Menschen und einem Milieu, das alles auf den Kopf stellt und ihn auf die Fährte verblüffender Erkenntnisse führt. Mr. Woolf ist ein Loblied auf alle durchschnittlichen Väter, die vielleicht gar nicht so durchschnittlich sind wie gedacht. Jan Kjærstad zählt seit 40 Jahren zu den wichtigsten literarischen Stimmen Norwegens.
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Seitenzahl: 521
Cover
Impressum
Autor und Klappentext
Lieferbare Titel von Jan Kjaerstad
Titelseite
Buchanfang
I
II
III
IV
V
Quellennachweis
Originaltitel: Jan Kjærstad, Mr. Woolf
© 2019, Jan Kjærstad
First published by H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard) AS
Published in agreement with Oslo Literary Agency
Die Veröffentlichung dieser Übersetzung wurde ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung von NORLA, Norwegian Literature Abroad.
© 2022, Septime Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten.
EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer
ISBN: 978-3-903061-90-3
Lektorat: Teresa Profanter
Cover: Jürgen Schütz
Coverbild: © iStock – pavliha
Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen
ISBN: 978-3-99120-008-6
www.septime-verlag.at
www.facebook.com/septimeverlag
www.instagram.com/septimeverlag
Jan Kjærstad
zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Norwegens. Der 1953 in Oslo geborene Schriftsteller studierte Theologie, war Pastor und Jazzpianist, später Redakteur der norwegischen Literaturzeitschrift Vinduet. Er lebt in Oslo. Jan Kjærstad ist einer der bedeutendsten skandinavischen Schriftsteller der Gegenwart. Der Träger der wichtigsten literarischen Auszeichnung Skandinaviens, des »Literaturpreises des Nordischen Rates« zeichnet sich durch ein umfassendes Werk aus. Unter seinen Publikationen finden sich Essays, Kurzgeschichten, Artikel sowie Bilder- und Kinderbücher. Außerdem war er Herausgeber der wichtigen norwegischen Literaturzeitschrift Vinduet. Berühmtheit erlangte Jan Kjærstad jedoch durch seine Romane, von denen seit 1982 zwölf erschienen sind. Seine Bücher sind vor allem eines: großartige Literatur. Und spannend. Wie in einem Krimi wird man durch Erzählungen geleitet, die einen immer auf das große Ziel hinzuführen – zu der Antwort auf die einfache Frage: Warum? Die Ausgangssituationen sind dabei genauso mannigfaltig wie die überwachsenen Denkpfade, die uns Jan Kjærstad dabei literarisch freischlägt. Auch wenn sich der Autor dem Begriff der Postmoderne verwehrt, so ist er brandaktuell in seinen Themen und virtuos in den Spielarten seiner Romane. Jan Bürger meinte dazu 2004 in Literaturen: »Im Laufe der Jahre hat sich Kjærstad Formen erschrieben, in denen die unterschiedlichsten Themen und Stilebenen wie Zahnräder ineinandergreifen.«
Klappentext:
Wie entsteht eine Idee, die für die gesamte Menschheit von Bedeutung ist? Eines Tages trifft William Abelson sich mit seinem Vater zum Lunch. William besitzt zwar einen Doktortitel in Physik, doch sein Leben hat einen Riss bekommen, er arbeitet seit mehreren Jahren als Barista in einem trendigen Café. Sein Vater ist der Betreiber des Spielwarenladens »Stjerneplassen Leker«, und William glaubt, es handle sich um ein gewöhnliches Mittagessen, bei dem sein Vater ihm von seinen finanziellen Sorgen berichtet. Doch der Vater hat etwas anderes auf dem Herzen: Elizabeth, Williams Schwester, ist verschwunden. Der Vater glaubt, es könnte ihr etwas zugestoßen sein. Dass sie in Gefahr ist. William erhält den Auftrag, nach Hongkong zu reisen, wo seine Schwester sich aller Wahrscheinlichkeit nach aufhält.Wie schwierig kann das schon sein?, denkt William. Ich brauche bloß meine Schwester zu finden und sie nach Hause zurückzubringen. Am Flughafen in Hongkong erwartet ihn eine Überraschung: William wird mit einem Rolls-Royce abgeholt und ins Peninsula, eines der luxuriösesten Hotels der Stadt, gefahren. Völlig unvorbereitet macht er in den nächsten Tagen Bekanntschaft mit Menschen und einem Milieu, das alles auf den Kopf stellt und ihn auf die Fährte verblüffender Erkenntnisse führt. Mr. Woolf ist ein Loblied auf alle durchschnittlichen Väter, die vielleicht gar nicht so durchschnittlich sind wie gedacht. Jan Kjærstad zählt seit 40 Jahren zu den wichtigsten literarischen Stimmen Norwegens.
Lieferbare Titel von Jan Kjærstad
Folgende Titel sind bereits erschienen und lieferbar
Ich bin die Walker Brüder
Roman, 2013
Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel
656 Seiten,
ISBN Hardcover: 978-3-902711-11-3
Der König von Europa
Roman, 2016
Aus dem Norwegischen von Alexander Riha
688 Seiten,
ISBN Hardcover: 978-3-902711-49-6
ISBN Ebook: 978-3-903061-42-2
Das Norman-Areal
Roman, 2017
Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel
456 Seiten,
ISBN: 978-3-902711-65-6
ISBN Ebook: 978-3-903061-54-5
Berge
Roman, 2019
Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel
504 Seiten,
ISBN: 978-3-902711-84-7
ISBN Ebook: 978-3-903061-71-2
Femina erecta
Roman, 2020
Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel
832 Seiten,
ISBN: 978-3-902711-92-2
ISBN Ebook: 978-3-903061-79-8
Mr. Woolf
Roman, 2022
Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel
832 Seiten,
ISBN Hardcover: 978-3-99120-008-6
ISBN Ebook: 978-3-903061-90-3
Jan Kjærstad
Mr. Woolf
Roman | Septime Verlag
Für Leif Kjærstad (1919–2018)
»Man«, I cried, »how ignorant art thou in thy pride of wisdom!«
MARY WOLLSTONECRAFT SHELLEY,
Frankenstein; or, The Modern Prometheus
Go, go, go, said the bird; human kind
Cannot bear very much reality.
T.S. ELIOT, Four Quartets
I
Da bist du ja. Ich darf doch Nina sagen? Ich weiß nicht, ob ich mich auf diese Gespräche freue oder mir davor graut, aber willkommen – ich bin geneigt zu sagen: Willkommen im Herzen Europas.
Stimmt, ja, aber auf der Landkarte sieht es zumindest so aus. Vielleicht befinden wir uns in Wirklichkeit irgendwo ganz weit draußen. Bestimmt fühle ich mich deshalb so wohl hier, die Stadt vermittelt mir immer ein Gefühl für den Doppelcharakter des Lebens.
Ich dachte mir, wir könnten uns ins Wohnzimmer setzen, mit Aussicht auf den Mont Blanc. Wenn du dort Platz nehmen würdest … Perfekt. Möchtest du eine Tasse Kaffee? Oder Tee?
Gut, dann warten wir noch damit. Leg deine Sachen einfach hier auf den Tisch, wir wollen gleich loslegen, ich bin ungeduldig, ich habe viel zu erzählen, und ich muss mit meinem Vater beginnen, schließlich und endlich habe ich ihm wohl alles zu verdanken … Sieh mich nicht so an, du verstehst das falsch. Natürlich wird vielen, die eine Biografie schreiben, der Puls hochschnellen nach so einer Andeutung, das ist mir klar – ich fürchte, was du jetzt vor dir siehst, sind ein paar heftige, gut verkäufliche Szenen, die von Alkoholismus, von Prügel, von Psychoterror und noch Schlimmerem handeln, doch wenn ich sage, alles hat mit meinem Vater begonnen, geht es dabei um andere Dinge, denn vieles wurde erst in Bewegung gesetzt an dem Tag, als er mich zum Mittagessen einlud und mich mit jenem Auftrag betraute, der mich aus meinem Dämmerzustand herausreißen sollte … Nun ja, zu der Zeit war mir noch nicht klar, dass es ein—
Selbstverständlich habe ich das Manuskript gelesen, sonst wüsste ich ja nicht, was ich dir erzählen soll. Mit wenigen Ausnahmen habe ich keine Einwände gegen das, was du geschrieben hast, du hast hervorragende Arbeit geleistet, Nina. Hut ab. Wirklich. Aber etwas fehlt. Ausgerechnet das Wichtigste fehlt, und deshalb habe ich auch, nach langem Hin und Her, einem Treffen mit dir zugestimmt.
Mit dem, was du in deiner E-Mail schreibst, bin ich übrigens einverstanden, keine Bange, du brauchst dich nicht zu entschuldigen für die konventionellen Tricks, ich weiß, dass der Verlag … wenn schon keinen Pageturner, dann zumindest gern etwas leicht Lesbares, Mitreißendes hätte. Andererseits ist die Sache doch – wie es auch über die Liebe heißt – kompliziert. Die Kausalkette, die sich hinter meiner, wie du es nennst, »kopernikanischen Entdeckung« verbirgt, ist ungeheuer vielschichtig; ich weiß nicht, ob es überhaupt möglich sein wird, sie aufzuspüren.
Ich bin mir nicht sicher. Ich gebe zu, ich bin mir nicht sicher. Vielleicht sollte ich Stillschweigen bewahren. Ich fürchte, was ich erzählen werde, wird bloß Verwirrung stiften. Wo habe ich meinen Bleistift hingelegt?
Ja, du hast recht. Das wirst du selbst beurteilen, ich werde es deine Sorge sein lassen. Schön gesagt. Es wäre ja auch zu dumm, wenn du umsonst angereist wärst.
Versuchen wir’s. Versuchen wir es, Nina. Und dann sehen wir ja, wie weit wir heute kommen. Ich schätze, es wird dich überraschen, dass das Abelson-Modell, das uns, mit deinen eigenen Worten, »einen flüchtigen Einblick in die Dunkle Materie gewährt«, an einem Ort mit so viel Licht und Wärme entstanden ist.
Dann brauchen wir wohl nur noch dieses Ding da zum Laufen zu bringen.
Oh, es ist schon an. Uff. Ich hoffe, du findest es nicht erschreckend, dass ich mich nicht einmal mit so einfachen Dingen auskenne.
Also, begonnen hat es im Mai 2017, und zwar mit meinem Vater, er rief mich an und sagte, wir müssten uns treffen, das heißt, er fragte, ob ich im Dovrehallen mit ihm Mittagessen wolle – du weißt schon, dieses Kaffeehaus vom alten Schlag, das in unvordenklichen Zeiten in der Storgata lag und das, wenn man einen Blick in die Annalen wirft, eine sagenumwobene Geschichte vorzuweisen hat.
Generell glaube ich, dass die Orte wichtig sind in dieser Geschichte, genau wie der hier, ein Wohnzimmer, von dem aus wir den Mont Blanc sehen können, dieses weiße Dreieck in der Ferne, das mitunter wie ein Guckloch wirkt in etwas anderes, Unbekanntes … Ich will versuchen, nicht abzuschweifen, werde mich aber bei manchen Orten sicher ein wenig länger aufhalten. Warst du schon einmal im Dovrehallen? Manchmal denke ich, dass das Gespräch mit meinem Vater mich irgendwie ins Auge geritzt hat und ich danach angefangen habe, scheel zu sehen, oder wie immer ich es ausdrücken soll. Ein Gedanke, den ich nicht als etwas Negatives auffasse, wie Ibsen uns wohl glauben lassen will, denn ohne diesen Ritz wäre ich vermutlich nie bis zu dieser Idee vorgedrungen, die mich ihrerseits auf das Podium des Stockholmer Konzerthauses und vor den schwedischen König geführt hat.
Natürlich habe ich meinem Vater zugesagt, ich habe oft mit ihm im Dovrehallen zu Mittag gegessen, ich hatte nämlich etwas, was nur wenige haben, Nina, ich hatte ein normales Verhältnis zu meinem Vater. Ich habe ihn nicht bewundert, ihn aber geliebt, ich liebte ihn aus dem einfachen Grund, weil er mir eine glückliche Kindheit beschert hat. Sollte man mehr von einem Vater erwarten? Nun, diese Diskussion wollen wir hier nicht führen … Ich glaubte, es würde ein ganz normales Essen werden, bei dem mein Vater mir eine seiner kleineren Sorgen offenbaren würde – etwa eine Lieferverzögerung bei einer großen Bestellung der neuesten Barbiepuppen –, doch es entwickelte sich zu einem äußerst eigenartigen Treffen, wahrscheinlich erinnere ich mich deshalb an so viele Einzelheiten davon, sogar an den genauen Wortlaut, mit Tonfall und Pausen.
Wir nahmen nicht in einer der Nischen weiter hinten in dem halbdunklen Lokal Platz, sondern an einem Fenstertisch – ich glaube, Vater wollte sehen, ob Kunden ins Geschäft kamen, das schräg gegenüber lag und das er, wenn er sich nach vorn beugte, im Auge behalten konnte. Im Kaffeehaus war noch immer der Geruch nach Zigarettenrauch wahrzunehmen, der sich über mehrere Jahrzehnte eingebrannt hatte, und an einem Tisch mitten im Raum saßen drei Männer, die schon jetzt, zur Mittagszeit, auffallend heiter wirkten.
Obwohl er sie auswendig kannte, studierte Vater die Speisekarte immer sehr genau, las oder murmelte die Namen der Gerichte halblaut vor sich hin, so als plagten ihn plötzlich große Zweifel – weil sich eines köstlicher anhörte als das andere. Gratinierte Zwiebelsuppe? Mmh, sagte er. Oder soll ich ein Spanisches Omelett nehmen? Vielleicht Beef Tatar. Er schnalzte mit der Zunge.
Ich verstand nicht, was dieses Getue sollte. Kannst du dir nicht ausnahmsweise ein Wiener Schnitzel gönnen?, fragte ich. Rentier-Frikadellen hören sich auch gut an. Oder warum nicht bei der Spezialität des Hauses zuschlagen, Beef Spezial?
Das sagte ich, um ihn zu provozieren. Seit ich erwachsen war, hielt ich meinen Vater für ein bisschen geizig. Immer warf er einen verstohlenen Blick auf die Preise rechts auf der Karte, obwohl er auch die auswendig kannte.
Eigentlich dachte ich ja, dass er es sich einfach nicht leisten konnte. Weder meiner großen Schwester Liz noch mir hatte es in unserer Kindheit und Jugend an etwas gefehlt, aber ich hatte den Verdacht, dass er selbst sich deshalb nie etwas gönnte, weil er finanziell am Abgrund stand. Er hatte keine hohen Ansprüche, er konnte sich einen ganzen Sommer lang von seinem Lieblingsgericht ernähren, Frühkartoffeln mit Butter und ein wenig Räucherschinken. Bekam er dazu noch Zuckererbsen, fühlte er sich wie im Himmel.
Vater lächelte nur. Es wird wohl ein Frikadellen-Sandwich mit Spiegelei, sagte er, als die Kellnerin kam. Und ein Glas Wasser. Er nahm immer das Gleiche, ich weiß nicht, ob es daran lag, dass es nicht viel kostete, oder ob ihm Frikadellen mit Spiegelei wirklich nie zum Hals heraushingen. Das verständige Nicken, das die Kellnerin ihm schenkte, erweckte in mir den Eindruck, dass sie mir zu Ehren ein kleines Schauspiel veranstalteten – und er normalerweise, wenn er allein herkam, der Kellnerin nur ein kurzes Zeichen zu geben brauchte, die dann, wenige Minuten später, sein übliches Sandwich vor ihn hinstellte.
Ich nehme das Gleiche, sagte ich, wie um mich solidarisch zu zeigen oder eine Symmetrie herzustellen. Ich hatte Lust auf ein Glas Bier, hielt mich aber zurück. Vater verzichtete immer. Er wollte nicht nach Bier riechen, wenn er später noch Kunden bediente.
Es kommt durchaus vor, dass ich mir einmal ein Shrimps-Sandwich bestelle, sagte er, wie um mein Bild einer ungebrochenen Routine zu zerstören. Kurzes Lächeln. Es war warm im Lokal, und Vater zog sich die Jacke aus, saß da im weißen Hemd, perlweiß, wie er sagte, die Ärmel hochgekrempelt – wie um zu demonstrieren, dass er anzupacken bereit war. Er trug immerzu weiße Hemden, jeden Tag ein frisch gewaschenes, perlweißes Hemd, wie ein Börsenmakler oder ein Konzernchef.
Wie läuft’s?, fragte ich und nickte in Richtung des Ladens.
Oh, wie immer, sagte er. Nicht gerade viel los, jetzt Anfang Mai.
Also war es nicht das, worüber er mit mir reden wollte.
Aber diese Fidget Spinner waren ein phänomenaler Erfolg, sagte er. Ich habe lang kein so eigenartiges Spielzeug mehr gesehen. Sie sind überall ausverkauft, aber ich habe fünfmal so viel bestellt wie alle anderen. Ich verkaufe täglich Hunderte davon, die Leute kommen aus ganz Østlandet. Gestern haben sich zwei Kunden gegenseitig für das letzte Exemplar in einem speziellen Rotton überboten, wie in einem türkischen Bazar! Er lachte.
Die Sandwiches wurden serviert, und sofort machte Vater sich über seines her, laut schmatzend, die Augen vor Genuss geschlossen. Ich beneidete ihn um die Fähigkeit, dieser Art Speise eine solche Wertschätzung entgegenzubringen. Und es gefiel mir, hier zu sitzen, die ganze Szenerie, sein weißes Hemd, das Braun der Einrichtung, der gelbe Eidotter, die Tomatenschiffchen und das Salatblatt, das einsam und verlassen daneben lag. Es hatte etwas … Reales an sich.
Früher haben wir »Patentsmørbrød« zu diesem Sandwich gesagt, erklärte Vater. Das hatte er mir schon mehrmals erzählt. Mir gefällt das Wort, sagte er. Als könnten einem beim Essen Ideen zu neuen Erfindungen kommen. Einfache Dinge, die trotzdem so genial sind, dass sie mit einem Patent geschützt werden müssen. Er lachte, verschluckte sich an einem Bissen, räusperte sich, lachte wieder. Wie steht’s mit dieser jungen Frau, die du kennengelernt hast?, fragte er.
Du meinst Oriana, sagte ich. Ich zeigte ihm die Uhr, die ich von ihr bekommen hatte.
Wie hübsch, sagte Vater. Viel schöner als meine. Er zeigte mir die verbeulte Armbanduhr, die er seit seiner Konfirmation trug. Dann muss es wohl was Ernstes sein, fügte er hinzu.
Wir sind nicht zusammen, sagte ich.
Er nickte, leicht enttäuscht oder als verstünde er, fragte auch nicht weiter nach, er wollte eindeutig nicht über solche Dinge reden.
Irgendetwas war anders als sonst. Was genau, hätte ich nicht sagen können. Schweigend aßen wir weiter. Aus irgendeinem Grund schmeckte mir das Sandwich, die Frikadelle hatte ausnahmsweise nichts Gummiartiges an sich. Ich fragte ihn, ob ich mir ein Glas Bier bestellen dürfe. Er nickte, ohne Missbilligung. Irgendwas braut sich da zusammen, dachte ich im selben Moment, als das Glas vor mir abgestellt wurde.
Auch Vater wirkte überrascht, wie gut das Essen schmeckte, und das, obwohl er es schon Hunderte Male gegessen haben musste. Er sah traurig aus, als er das letzte Stück Brot mit der Gabel aufspießte und die Reste des Eidotters damit auftunkte. Er steckte es sich in den Mund und schloss die Augen. Mmh.
Er legte das Besteck zur Seite, richtete den Blick auf mich. Jetzt kommt es, dachte ich.
Es gibt da etwas, worüber ich mit dir reden muss, sagte er, während er mit dem Finger einen Krümel vom Teller aufpickte und lange an ihm herumkaute, als wäre es ein ganzer Mundvoll. Normalerweise drückte er sich nie so aus, er sprach generell eher wenig. Eigentlich war mein Vater ein Meister darin, die Dinge durch verschiedene Arten des Schweigens zu sagen. Es ist ein Problem aufgetreten, sagte er. Mein erster Gedanke war, dass der Laden in Konkurs gegangen war.
*
Nein. Absolut nicht. Du darfst dich nicht täuschen lassen von der Art meines Erzählens, Nina. Ich bin mittlerweile daran gewöhnt und versuche, mich in das Erzählte hineinzuversetzen, auch zur besseren Erinnerung; oft sage ich mir, dass ich kein Physiker bin, sondern Barde … Bevor ich aber verrate, was mein Vater sagte und was diese Ereignisse ins Rollen brachte, muss ich von seinem Laden erzählen, denn manchmal denke ich – wo wir ja gerade von Orten gesprochen haben –, dieses Geschäftslokal voller Spielzeug muss der wichtigste Raum in meinem Leben gewesen sein; obwohl du es in deinem Manuskript nebenbei erwähnt hast, kommt es doch nicht klar genug heraus, du müsstest dem Aspekt mehr Platz einräumen, auch mit einem Bild dazu, denn zumindest in der Geschichte, die ich erzählen will, der Geschichte, die in deiner Biografie fehlt und die in meinen Augen als eigentliche Voraussetzung für meine »Leistung« anzusehen ist, ist Spielwaren Stjerneplassen eines der maßgeblichsten Elemente.
Nun, der Laden lag in der Storgata, und wenn es mir erlaubt ist, eine von Oslos Straßen als die Straße zu küren, dann wäre es nicht die hochgejubelte, seelenlose Karl Johans gate oder eine von diesen schicken Straßen wie die Bygdøy allé oder der Bogstadveien oder so Hipsterstraßen wie der Markveien – nein, es wäre die gute alte Storgata, der mittlerweile ein wenig verkommene Verkehrsweg, der sich von der Nybrua und dem Fluss Akerselva zum Gebäude des Automobil-Verbands und der Kirkeristen-Markthalle erstreckt und wo haufenweise Namen zu finden sind, mit denen alle in Oslo etwas verbinden. Nehmen wir nur das Warenhaus Gunerius, eine Zierde bei seiner Eröffnung, oder das medizinische Herz der Stadt, das, wie alle wissen, weder das Krankenhaus Ullevål noch das Aker ist, sondern die immerzu dienstbereite Ärzteambulanz. Vielleicht hast du selbst ja vom Strøget gehört oder von der Bella Napoli, vom Cordial, ganz zu schweigen von Hornaas Musikladen, wo Liz ihre Protestsong-Gitarre gekauft hat – so, jetzt solltest du mich aber stoppen, ich könnte noch stundenlang über die Storgata reden. Auch zu Weihnachten, fand ich, hob sie sich immer vorteilhaft von den anderen ab, und mit seinen Dekorationen und Schaufensterauslagen, die im November und Dezember besonders kunstvoll gestaltet waren, trug mein Vater entschieden dazu bei, das Niveau zu heben. Manchmal bekam er dabei Hilfe von Liz, die sich als kaufmännisches Genie entpuppte.
Es hat mir immer gefallen, dass Vater seinen Laden nicht einfach Spielwaren Abelson getauft hat, sondern sich einen anderen Namen für ihn ausdachte. Das Geschäft lag an der Kreuzung, wo die Pløens gate herunterführt und auf der anderen Seite die Skippergata und die Nygata heraufkommen. Vielen ist gar nicht bewusst, dass der Platz seinen Namen vielleicht wegen dieser Straßen bekommen hat, die in alle Richtungen wegführen, wie ein Stern: Stjerneplassen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Storgata lagen wunderschön symmetrisch die zwei runden, funktionalistischen Eckgebäude, entworfen von dem nicht unbedeutenden Architekten Ole Sverre, beide gekrönt mit einem kupferverkleideten Helmdach. Ich war immer stolz darauf, dass Vater seinen Laden an diesem spannenden Platz hatte, fast Wand an Wand mit dem eindrucksvollen Volkstheater, der Opern-Passage und so weiter; den vielen Expeditionen, die man von hier aus antreten konnte, waren sozusagen keine Grenzen gesetzt – obendrein fuhren pausenlos Straßenbahnen vorbei, die einen jederzeit schnell bis an den Stadtrand bringen konnten. Doch für viele Kinder in Oslo war der Platz vielmehr ein Ziel als ein Ausgangspunkt, für sie waren weder das Theater noch McDonald’s die herausragendste Attraktion, sondern Spielwaren Stjerneplassen.
Es war kein großer Laden. Das Geschäftslokal war schmal, dafür erstreckte es sich weit nach hinten, und durch die fünf breiten Treppenstufen in der Mitte entstanden gewissermaßen zwei Ebenen. Weil der Laden also eher klein war, wurde jeder Quadratzentimeter genutzt, und weil es überall in Hülle und Fülle Spielwaren gab, fast bis unters Dach, herrschte eine Atmosphäre wie in einer Schatzhöhle – als ich noch klein war, musste ich immer an Aladdin und Ali Baba denken –, zugleich aber hatte das Geschäft auch etwas Lauschiges an sich, man bekam Lust dortzubleiben, es sich gemütlich zu machen; oft, konnte ich sehen, hatten die Eltern Schwierigkeiten, ihre Kinder wieder hinauszubekommen, das heißt, die Eltern hatten gar nichts dagegen, den Aufenthalt etwas länger zu gestalten; ich glaube, viele Erwachsene kehrten deshalb immer wieder zu Spielwaren Stjerneplassen zurück, weil es so gut mit ihrer Vorstellung eines Spielzeugladens übereinstimmte, für viele wurde es zu einem Wiedersehen mit ihrer Kindheit – eine riesige Madeleine, wenn du mir dieses Klischee gestattest.
Dort also regierte mein Vater. Und Mattson, sein »Assistent« – den zuerst Liz, und dann auch Vater, immer nur Dr. Watson nannte, sicher deshalb, weil er Vater auf so vorteilhafte Weise ergänzte und zudem die Fähigkeit besaß, Fragen zu stellen, durch die sich die Qual der Wahl bei den Kunden wie von selbst auflöste. Wenn wenige Leute im Geschäft waren, saß Vater einen Stock tiefer, in einem Untergeschoss, das auch als Lager fungierte. Dort hatte er sich ein Büro eingerichtet: ein Stuhl und ein winziges Pult, eingeklemmt zwischen den Warenstapeln, von wo aus er die gesamte Logistik abwickelte. Zum Glück hatte Vater einen Freund, Herrn Ebbing, einen Anwalt im dunklen Zweireiher, der sich um die Geschäftsbücher kümmerte und einmal im Monat vorbeikam, um sich im Untergeschoss inmitten des Schachtellabyrinths neben ihm niederzulassen. Ich hatte den Eindruck, dass Herr Ebbing sich sein Honorar in Lego ausbezahlen ließ: »Das kostet dich zwei Polizeiwachen und einen Flughafen.«
Vater trug keine Anzüge und auch keine Freizeitkleidung, seine Geschäftsuniform, oder wie man es nennen soll, war das weiße Hemd mit den hochgekrempelten Ärmeln, das heißt, in den kälteren Jahreszeiten zog er darüber einen blauen Arbeitskittel an, einen Mantel, wie er früher von Lehrpersonen getragen wurde und aus dessen Brusttasche verschiedenfarbige Kugelschreiber herausragten. Aus einer Idee heraus hatte Mutter einmal Sterne und Halbmonde daraufgenäht, sodass er von da an wie ein Merlin im Laden herumlief – zumindest wurde er von den Kindern so gesehen, wie ein Magier, ein Zauberer, der ihnen helfen konnte, Spielzeuge mit übernatürlichen Eigenschaften zu finden. Schau mal hier, kleiner Mann, eine magnetische Zeichentafel. Wenn du hier ein Haus zeichnest und dann an dem Hebel da ziehst – Simsalabim –, ist das Haus verschwunden. Damit wirst du Herrscher über die Welt!
Aber auch die Erwachsenen, auch die Eltern mochten den Inhaber von Spielwaren Stjerneplassen. Als Kind hatte es mich überrascht, was für eine Anziehungskraft mein Vater auf die Kundschaft ausübte. Lange Zeit war er für mich einfach nur »in die Arbeit« gegangen, doch im Alter von fünf Jahren, als ich einmal mit Mutter oder mit Liz im Laden vorbeischaute, entdeckte ich, dass seine »Arbeit« eine Spielwarenhandlung war. Am meisten jedoch begeisterte mich, wie anders er hier war, verglichen mit seinem sonstigen Verhalten. Zu Hause war er ein »gewöhnlicher« Vater, ruhig, schweigsam – das einzig Ungewöhnliche an ihm war sein Name, Erasmus, der allein Stoff für eine kurze Gutenachtgeschichte geboten hätte. Im Laden aber wurde er ein anderer Mensch, viel lebhafter und mit einer viel kräftigeren Stimme. Und einem anderen Lächeln – dem »Kundenlächeln«, wie Liz es nannte. Außerdem wirkte er hier viel größer, oder vielleicht ist aufrechter das richtige Wort, sogar seine Bewegungen waren anders. Nicht Liz, sondern mein Vater hat mir als Erster vor Augen geführt, welche Metamorphosen ein Mensch durchlaufen kann.
Eine weitere Eigenart von ihm war, dass er oft – wenn eine Kundschaft nicht bedient werden, sondern nach einem kurzen »Ich würde mich gern nur ein wenig umsehen« allein im Laden herumstöbern wollte – summend hinter dem Tresen stand und währenddessen andere Dinge erledigte. Spielwaren Stjerneplassen hatte keine Hintergrundmusik nötig, es genügte ein summender oder pfeifender Erasmus Abelson, und ich glaube, er tat es unbewusst. Und immer summte oder pfiff er Evergreens und alte Schlager, die er von Mutter gelernt hatte und die sie abends zu Hause manchmal zweistimmig sangen. Er selbst sah es vielleicht nicht, aber ich sah es, besonders in den Jahren, in denen ich als Sommeraushilfe arbeitete, oder wenn ich samstags oder während der Weihnachtszeit mithalf: Die Kunden liebten es, besonders die Mütter. Das war eine der Attraktionen des Ladens. Vater hatte eine angenehme Stimme. Du hättest Sänger oder Pfarrer werden können, sagte Mutter. Er war Spielwarenhändler geworden.
Um ehrlich zu sein, glaube ich, viele Kunden sahen in der Spielwarenhandlung am Stjerneplassen nicht nur ein Geschäft zum Einkaufen, sondern genauso sehr einen Zufluchtsort, der ihnen während einer anstrengenden Tour durch die Stadt eine dringend benötigte Verschnaufpause verschaffte. Vater war clever genug, sich das zunutze zu machen, es als Lockmittel zu verwenden. Während der Weihnachtszeit und an Tagen, an denen draußen sibirische Kälte herrschte, bereiteten er und Liz auf den zwei Kochplatten in der Ecke unten in dem kleinen Büro manchmal große Töpfe mit Suppe zu. Liz hängte draußen ein Plakat auf, das zu einem Bummel und einer »Gratis-Lego-Friends-Suppe« einlud – sofern es nicht gerade »My-Little-Pony-« oder »Super-Mario-Suppe« gab. Eine schlichte, aber kräftige Suppe, die in der Kälte bei den Leuten gut ankam, und sie hielten sich lange im Geschäft auf. Was die Kundenpflege betraf, war Vater die reinste Heilsarmee. Suppe, Spielzeug und Erlösung.
Langweile ich dich? Ich hoffe nicht, Nina, denn das ist wichtig. Du hast mich um einen Kommentar gebeten, ja, hast mich gefragt, ob ich etwas hinzuzufügen habe, und dafür musst du dich jetzt in Geduld üben. Vielleicht wirst du erst zu Hause, beim nochmaligen Anhören der Aufnahme, herausfinden, was von Bedeutung ist, was ich deutlich dargestellt haben möchte. Ich erzähle, was ich mir zu erzählen vorgenommen habe, und ich glaube, im Grunde ist nichts davon unwesentlich … Tut mir leid, ich höre mich an wie jemand, der einen Vortrag hält und Panik bekommt, weil keiner mitschreibt.
Zurück ins Dovrehallen und zu meinem Vater. Ganz offensichtlich wollte er mir etwas anvertrauen.
Ich machte mir Sorgen um ihn damals, denn er führte ein Leben nach Schema F, tagein, tagaus dasselbe: aufstehen, Frühstück, in den Laden gehen, den Laden abschließen, Abendessen, eine Zeitung, in Papierform wohlgemerkt, vielleicht eine Sendung im Fernsehen, und dann ab ins Bett. Sogar dieselben Phrasen wiederholte er immer wieder: Abwarten und Tee trinken. Kommt Zeit, kommt Rat. Es ist, wie es ist. Als ich zum ersten Mal das Wort »Standardmodell« hörte und noch nicht wusste, dass das meine Karriere bestimmen sollte, dachte ich an meinen Vater.
Soweit ich mich erinnere, sagte ich ihm sogar – nachdem er etwa die Hälfte seines Patentsmørbrøds gegessen hatte –, er solle sich ein paar Wochen freinehmen. Papa, du musst öfter verreisen!, sagte ich an diesem Tag im Dovrehallen zu ihm, als ob er wirklich eingesperrt wäre, gefangen wäre, und als wollte ich, dass er ausbrechen solle, etwas erleben, ins Ausland fahren, vielleicht sogar an einen exotischen Ort, irgendwohin, wo er Energie tanken könnte, geistig, ich wusste nicht genau, was ich mir erhoffte, und um ehrlich zu sein, glaubte ich nicht so wirklich daran, dass er sich dazu überreden lassen würde, er wollte hierbleiben, in seinem Laden, seinem sicheren Mikrokosmos, außerdem durfte er ja, um Gottes willen, kein Geld verschwenden.
Ich bin genug gereist, sagte er matt lächelnd oder als wüsste er etwas, was ich nicht wusste.
Ich denke dabei nicht an deine jährlichen Spritztouren nach Nürnberg, sagte ich. Ich meine etwas Waghalsigeres. Ein Abenteuer!
Kann man ein größeres Abenteuer erleben, als ich es in Nürnberg erlebt habe?, fragte er mit vorwurfsvollem Blick. Jedes Jahr, seit ich mich erinnern kann, war mein Vater Anfang Februar zur Spielwarenmesse nach Nürnberg gefahren, von wo er mit Koffern voll neuem Spielzeug zurückkehrte und voller Ideen, was er einkaufen wollte und was sich in den nächsten Monaten wie die warmen Semmeln verkaufen würde. In unserer Familie verbanden wir Nürnberg nicht mit den Nachkriegsprozessen gegen führende Naziverbrecher, in unserer Familie war Nürnberg gleichbedeutend mit Spiel und Spaß.
Außerdem war Nürnberg der Grund, weshalb wir existierten. Ohne Nürnberg keine Liz und kein Will. Dort nämlich haben unsere Eltern sich kennengelernt, »Ich hatte ja keine Ahnung, was für hübsche Mädchen es in England gibt«, wie mein Vater immer sagte. Bevor sie mit ihm nach Norwegen gegangen und Lehrerin geworden war, hatte meine Mutter bei Hamleys in der Londoner Regent Street gearbeitet, einem der größten Spielwarenhäuser der Welt. Wusstest du eigentlich, dass ich nach William Hamley, dem Gründer, benannt bin? Könntest du das als Leitfaden verwenden? War nur ein Scherz, aber manchmal kommt mir die Teilchenphysik, nicht zuletzt, wenn ich ans CERN und den großen Teilchenbeschleuniger hier draußen am Stadtrand denke, genauso verlockend vor wie das Hamleys in London. Wusstest du, dass Hamleys erstes Spielwarengeschäft Noah’s Ark hieß?
Entschuldige, ich träume vor mich hin. Zurück zu meinem Vater und seinem – wie es mir damals erschien, muss ich hinzufügen – bedrückenden Dasein. Wie hielt er das bloß aus? Immer die gleichen zwei Brote zum Frühstück, eines mit Räucherschinken und eines mit Himbeermarmelade – mein Herz setzte für ein paar Schläge aus, als ich eines Samstags beobachtete, wie er sich einen Streifen Mayonnaise auf dem Schinken gönnte –, dieselbe Kleidung jahrein, jahraus, dasselbe Auto, dieselben Nachrichtensendungen, dieselbe Kaffeetasse, jeder Tag eine Reihe aus unabänderlichen Ritualen. Nach Sonne kommt Regen. Morgen ist ein neuer Tag. Aber Papa, sagte ich im Dovrehallen zu ihm, als er in seinem weißen Hemd mit den hochgekrempelten Ärmeln dasaß, du bewegst dich immer nur innerhalb eines engen Kreises, wann bist du das letzte Mal über die Hausmanns gate oder Grensen hinausgekommen?
Vater warf mir einen unerwarteten Blick zu, fast ein wenig aggressiv: Ist dir klar, dass Emily Dickinson in ihrer zweiten Lebenshälfte nie mehr das Haus verlassen hat?, sagte er.
Liest du Lyrik, Papa? Was zum Teufel sollte das wieder, dachte ich, ich hatte ihn nie mit einem Gedichtband gesehen, und er hatte auch nie etwas in diese Richtung erwähnt.
Deine Mutter hat viel gelesen, weißt du, sagte er. Ich habe seinerzeit einige Gedichtsammlungen von ihr bekommen.
Wie blind kann man sein? Ja, ausnahmsweise ist dieser Stehsatz hier angebracht. Später erst habe ich begriffen, dass ich es war, der in einem Gebirge eingesperrt war. Oder richtiger: Ich selbst war es, der sein Leben auf ein Abstellgleis manövriert hatte. Wie so viele aus meiner Generation hatte ich die erste Gelegenheit genutzt, um aus Norwegen rauszukommen, doch nach den letzten Reisen hatte ich gemerkt, dass die Möglichkeiten aufgebraucht waren, alles wiederholte sich nur mehr, verblasste und wurde immer krampfhafter. Ganz egal, wie unterschiedlich die Destinationen sein mochten, Zagreb, Porto, Brügge, ich erlebte immer dasselbe. Oder nichts. Ich kam an Orte, in Länder, und dachte, hier war ich schon einmal, Armenien, Algerien, Argentinien. Ich war einunddreißig Jahre alt und fühlte bereits, dass ich im Kreis lief, dass auch ich mich, letzten Endes, nicht über die Hausmanns gate oder Grensen hinausbewegt hatte.
Dazu komme ich noch. Jetzt aber zu meinem Vater. Er hatte etwas auf dem Herzen, und es überraschte mich, worum es sich dabei handelte:
Deine Schwester ist verschwunden.
Wieder einmal?, fragte ich, oder meine ich mich zu erinnern, gefragt zu haben. Tut sie das nicht ständig? Warum sollte uns das kümmern? Ich wurde ärgerlich. Hatte er mich in diese dunkle Kaschemme mit ihrer Patina aus Tabakrauch und Bierdunst geschleift, um mich mit Liz’ Kapriolen zu nerven?
Sie ist deine Schwester, sagte er, während er den Arm ausstreckte und meine Hand in seine nahm. Für gewöhnlich tat er das nicht, auch als ich noch ein Kind war, hatte er nie meine Hand genommen. Jetzt tat er es, und erst nach einer ganzen Weile ließ er sie wieder los.
Machst du dir Sorgen um sie?, fragte ich. Sie konnte doch immer ganz gut auf sich selbst aufpassen.
Vater wand sich auf seinem Stuhl, er wusste, dass ich recht hatte. Doch dann: Ich habe irgendwie das Gefühl, es könnte ihr etwas zugestoßen sein, sagte er. Vielleicht geht ja die Fantasie mit mir durch, aber es beunruhigt mich. Ich kann nachts nicht schlafen. Ich will, dass du sie findest, damit sie Kontakt mit mir aufnimmt.
Hast du versucht, sie anzurufen?, fragte ich.
Natürlich, sagte er. Aber du kennst sie ja. Ich weiß nicht, wozu sie überhaupt ein Handy hat, sie geht nie ran, hat nicht einmal eine Mobilbox.
Ich holte mein Handy heraus und rief sie an. Ich nahm einen Schluck Bier, wie um meine Stimmbänder für ein kurzes Gespräch vorzubereiten.
Niemand meldete sich. Es klingelte und klingelte.
Sie konnte ihr Telefon verloren haben, sie konnte es weggeworfen haben, es konnte einen Grund geben, warum sie ungestört bleiben wollte. Eher der Form halber schrieb ich ihr eine kurze Nachricht.
So wie ich es sah, war das einer ihrer Wesenszüge: verschwinden. Sie mochte es, verschwunden zu sein, es geschah andauernd, ich hatte aufgehört, mir deshalb Sorgen zu machen. Als sie noch jünger gewesen war, war sie einmal eine ganze Nacht weggeblieben, als Erwachsene war sie mitunter mehrere Wochen fort, wie vom Erdboden verschluckt, wie es in der Redewendung heißt – bevor sie aus heiterem Himmel wieder auftauchte, mit einem Lächeln, das unseren Ängsten hohnsprach. Es war eine Lebensweise. Verschwinden. Um dann wieder in Erscheinung zu treten, als ob nichts gewesen wäre.
Wann hast du sie zuletzt gesehen?, fragte ich.
Vater zögerte, als wolle er nicht antworten. Vor ein paar Wochen, sagte er.
Ich mache mir keine Sorgen, sagte ich. Du weißt, wie sie ist.
Diesmal ist es anders, sagte er. Und dann fügte er etwas hinzu, das ich mir hätte zu Herzen nehmen sollen: Die Dinge sind nicht immer, wie sie scheinen.
*
Ja, ja, du hast Elizabeth kurz erwähnt – oder Liz, wie wir sie immer nannten –, aber sie spielt für meinen wissenschaftlichen Durchbruch eine viel größere Rolle, als du denkst, denn dass ich überhaupt—
Nein, ich weiß nicht, wer damit angefangen hat, sie Liz zu nennen, aber etwas war da schon dran, Liz wie lys, Licht, was ja irgendwie zu ihr passte.
Ich hoffe, du spitzt jetzt nicht die Ohren, weil du erwartest, etwas zu hören, das den Nährboden liefert für psychologische Spekulationen der eher unfruchtbaren Sorte … Aber später mehr zu Liz und ihrer Rolle … Ich habe vergessen, was ich sagen wollte … Ja, ich konnte gut verstehen, weshalb Vater beunruhigt war, denn Liz bedeutete ihm nicht nur als Tochter sehr viel, sie war auch die größte Ressource, über die Spielwaren Stjerneplassen verfügte. Liz war nämlich ein lebendes Messinstrument, mit dem Vater den Attraktionswert eines Spielzeugs bewertete. Soweit ich zurückdenken kann, war das schon so gewesen: Jedes Mal, wenn Vater ein neues Spielzeug bewerten sollte, insbesondere dann, wenn er vollbepackt von der jährlichen Messe in Nürnberg zurückkehrte, stellte er es vor Liz auf den Boden und wartete geduldig auf ihre Reaktion. Und es dauerte selten mehr als dreißig Sekunden, bis sie ihr Urteil fällte. Entweder nahm sie es hoch, schüttelte den Kopf und gab es schnell wieder zurück, oder aber sie lächelte und begann es zu erforschen, mitunter nahm sie es sogar mit auf ihr Zimmer. Deine Schwester besitzt ein besonderes Feingefühl, sagte Vater einmal. Sie hat einen inneren Detektor, der bei Gold anschlägt.
Auf ein Daumenhoch von Liz kaufte Vater ohne Zögern mehr von diesem Spielzeug ein als die anderen Händler. War das Produkt dann aufgrund seiner Beliebtheit in allen anderen Läden ausverkauft, wussten die Leute, dass sie zu Spielwaren Stjerneplassen gehen konnten. So hatte mein Vater sich seinen einzigartigen Ruf verschafft, seinen bemerkenswert großen Kundenkreis.
Genau so war es auch mit den erwähnten Fidget Spinnern gewesen, die in jenem Frühling auf den Markt gekommen waren und deren Popularität ungefähr drei Monate anhielt. Vater hatte schon früh ein Testexemplar bekommen, einen dreiarmigen Metallstern, der sich um ein mittig angeordnetes Kugellager drehte. Könnte dieses verblüffend einfache Ding etwas sein, womit Kinder spielen wollen?, hatte er Liz gefragt, als sie zufällig in der Büroecke im Laden vorbeigeschaut hatte, denn er selbst glaubte das ganz offensichtlich nicht.
Laut Vater hatte Liz das Ding zwischen Daumen und Mittelfinger gehalten, es irgendwie gewogen, bevor sie es mit einem Schnipsen der anderen Hand in Rotation versetzte. Das wird ein Kassenschlager bei Spielwaren Stjerneplassen, sagte sie. Ein Riesending.
Und das wurde es auch. Überall auf der Welt waren die Kinder ganz versessen auf diesen kleinen, ursprünglich zum Stressabbau entwickelten Gegenstand. Völlig unvorhersehbar. Bald waren die Fidget Spinner in allen Läden ausverkauft. Nur Vater verfügte noch über einen Extravorrat und ging mit dem Preis um zwanzig Kronen hinauf.
Übrigens war es schon einige Jahre her, seit Liz ihm auf diese Weise geholfen hatte, das letzte Mal vermutlich, nachdem er mit den ersten Mustern einer neuen Puppe mit dem etwas schaurigen Namen Monster High von der Messe zurückgekehrt war, einer Barbie-Puppe für Mädchen der 2000er-Jahre, viel rockigere, fantasievollere Puppen in vielen Varianten, mit frechen Beinamen.
Die werden megabeliebt, sagte sie nach zehn Sekunden. Das wird ein Knüller. Füll das Lager auf.
Natürlich wurde es ein Welterfolg, und am Ende konnte nur noch Spielwaren Stjerneplassen eine Heerschar verzweifelter Mädchen mit neuen Draculaura- und Cleo-de-Nile-Puppen versorgen.
So war es ein ums andere Mal gewesen in unserer Kindheit und Jugend. Murmeln mit »Diamanten» drin. Schildkrötenpanzer zum Aufeinanderstapeln. Dank Liz war Spielwaren Stjerneplassen das erste Geschäft in Norwegen, das Beyblade verkaufte, eine Serie spezieller Kreisel. Ich habe keinen Schimmer, wie sie das anstellte oder woher sie diese Fähigkeit hatte, aber sie hatte sie. Liz konnte »Must-haves« aufspüren, sie erkannte einfach, ob ein Spielzeug das Potenzial hatte, Begehren zu wecken. Lange war ich der Meinung, sie werde in der Werbebranche landen, als Influencerin oder etwas in der Art. Aber wie immer kam es anders, als ich gedacht hatte.
Du denkst an mich und die Teilchenphysik? Etwas weit hergeholt. Aber vielleicht hast du recht, vielleicht liegt das Erkennen von Mustern oder von reizvollen Dingen bei uns in der Familie.
Wie dem auch sei … Ich saß im Dovrehallen und murmelte, ich könne nicht einfach alles stehen und liegen lassen, um nach einer Schwester zu suchen, die höchstwahrscheinlich gar nicht gefunden werden wollte. Ich hätte einen Job, um den ich mich kümmern müsse.
Du meinst diesen Barista-Unsinn?, sagte Vater, während draußen eine Straßenbahn vorbeifuhr. Es wird sicher kein großes Problem darstellen, ein paar Tage freizubekommen. Vater hatte nie nachvollziehen können, weshalb ich hinter einem Tresen stehen und Kaffee zubereiten wollte, und genauso wenig, dass die Menschen bereit waren, Unsummen für eine Tasse Kaffee zu bezahlen, wo doch die Lebensmittelgeschäfte randvoll waren mit Billigangeboten von Ali und Evergood. Ihm wäre es lieber gewesen, ich wäre wieder an die Universität zurückgekehrt, um meine Karriere als vielversprechender Nachwuchswissenschaftler fortzusetzen. Verlorene Jahre, sagte er immer wieder. Du warst doch so gut in Physik, Will. Ich fasse es nicht, dass du nach dem Doktorat abgesprungen bist, ich war mir sicher, du würdest Professor werden und irgendwann erstaunliche Ergebnisse vorweisen. Warst du nicht sogar kurz davor, eine bedeutende Entdeckung zu machen? Wolltest du nicht diesem Standardmodell, oder wie du es genannt hast, zu Leibe rücken …? Was ist passiert? Du hast nie etwas darüber erzählt.
Ich spürte, dass es mich ärgerte, was er da sagte, dass ich—
Nein, ich will lieber an einem anderen Tag erzählen, warum ich das Studium hingeworfen habe – und es verhält sich durchaus nicht so, wie du schreibst –, im Augenblick muss ich mich auf das konzentrieren, was sich als Auftakt zu einem Wendepunkt in meinem Leben herausstellen sollte, Vater und ich im Dovrehallen, denn was meinen Job anging, hatte er natürlich recht. Aslak, mein Arbeitgeber, hätte im Handumdrehen eine neue Aushilfe gefunden, ich wusste, dass ich nicht unersetzlich war, obwohl eine sehr erlesene Auswahl an Gästen meinen Cortado oder meinen Caffè mocha wahrscheinlich vermissen würde. Noch etwas anderes aber, etwas an meinem Vater, sein Insistieren, brachte mich dazu, die Sache zu überdenken. Sollte ich ihm helfen, Liz zu finden? Ich konnte sehen, dass er Angst hatte. Er hatte sonst nie Angst.
Herrgott, wahrscheinlich war sie in Oslo, vielleicht sogar irgendwo zwischen der Hausmanns gate und Grensen.
Da musste es passiert sein. Jedenfalls irgendwann im Laufe dieser Minuten. Ich sah hinunter auf meinen Teller, ich war ein langsamerer Esser als Vater – ich glaube, er hatte es sich angewöhnt, schnell zu essen, weil er es immer eilig hatte, immer beunruhigt war, was Dr. Watson im Laden womöglich gerade anstellte –, und nun war ich an der Reihe, die letzten Frikadellen- und Brotstücke mit der Gabel aufzuspießen und die Reste des Eidotters aufzusaugen, indem ich ein Unendlichkeitszeichen auf den Teller malte. Als ich aufschaute – der Anblick kann nicht länger als ein paar Sekunden gedauert haben, vielleicht nur Zehntelsekunden –, sah ich meinen Vater in vier Versionen dort sitzen. Als hätte er sich aufgespaltet. Oder als wollte er, oder etwas, mir sagen, dass ich, obwohl er mein Vater war, nur einen Bruchteil von ihm kannte. Vier Väter an einem Tisch. Nur einen Augenblick lang. Dann war er wieder nur einer. Sofort redete ich mir ein, dass ich geschielt haben musste, dass ich bloß erschöpft war. Aber ich wusste, ich hatte richtig gesehen.
Weißt du, wo sie ist?, fragte ich und nahm einen Schluck Bier.
Ja, weiß ich, sagte Vater. Zumindest weiß ich, wo sie hinwollte, bevor ich den Kontakt zu ihr verloren habe.
Und wo ist sie?, fragte ich.
Im Osten.
Offenbar wollte er sich so vage wie möglich ausdrücken. Ich musste noch einen Schluck Bier nehmen.
In China, sagte er.
Ich weigere mich, rief eine Stimme tief in mir drin. Ich wollte wirklich nirgendwo hinfahren, ich wollte nicht ans andere Ende der Welt reisen; wenn ich die Augen schloss und mir meine Zukunft ausmalte, sah ich ein Café und eine endlose Reihe von Tassen vor mir, die mit schwarzer Flüssigkeit gefüllt wurden, roboterhafte, von leiser Jazzmusik begleitete Bewegungen: Ich war Barista, und ich war gern Barista. Zwar hatte ich dieses Dasein auch oft einmal satt, aber gegen die Aussicht, eine elendslange Reise antreten zu müssen, hätte ich meinen Alltag als Barista doch vorgezogen, damals wollte ich ja auch gar nichts anderes, doch jetzt saß mir mein Vater schräg gegenüber und fragte, ob ich so nett sein könnte, nach China zu reisen. Ich bekam quasi einen Auftrag.
Zuerst lehnte ich ab, versuchte es mit einem Lächeln abzutun, aber etwas war da in Vaters Blick. Das war eine Forderung. Er befahl mir, zu fahren.
Kriege ich einen Apfelkuchen als Nachtisch?, fragte ich.
Er nickte. In Ordnung, sagte er. Als wäre es tatsächlich ein kleines Opfer.
Okay, ich mach’s, sagte ich. Ich werde fahren.
Passenderweise kam die Kellnerin, um unsere Teller abzuräumen, und ich bat sie lächelnd um einen Apfelkuchen. Den Kaffee schlug ich aus. Ausgerechnet mein Barista-Dasein hatte mir die Freude an einem Kaffee im Dovrehallen genommen.
Du sollst auch etwas für deine Mühe bekommen, sagte Vater. Nicht viel. Und vielleicht wird es ja eine schöne Erfahrung. Obwohl es ein Job ist.
Wird es denn eine Mühe?, fragte ich.
Er antwortete nicht, und das war der Moment, als ich merkte, wie abgekämpft er aussah, abgekämpfter sogar noch als gegen Ende des Weihnachtsgeschäfts, wenn er nach einem Tag, an dem der Kundenstrom nicht abreißen wollte, abends nach Hause getorkelt kam. Es war – und das sage ich sicher nur deshalb, weil man hinterher immer klüger ist –, als hätte ich sehen können, dass es seinem Herz eine gewisse Anstrengung abverlangte, zu schlagen, oder als hätte ich erkannt, dass es keine Selbstverständlichkeit war, dass das Herz eines Vaters, der wie ein Perpetuum mobile wirkte, immer weiterschlagen würde.
Der Apfelkuchen kam. Ich hatte um zwei Gabeln gebeten. Ich teilte ihn in der Mitte, legte meinem Vater eine Gabel hin. Nein, danke, sagte er. Heute nicht.
Er musste wirklich besorgt sein.
Er schob einen Umschlag über den Tisch. Es war wie eine Szene aus einem alten Film.
Deine ausgedruckte Bordkarte, sagte er. Und die Hotelreservierung. Vergiss deinen Reisepass nicht. Er wirkte mit einem Mal verlegen oder als wolle er so wenig wie möglich sprechen.
Ich schaute mir die Papiere an. Aber Papa, du hast schon ein Ticket für mich gekauft? Für morgen! Was wäre gewesen, wenn ich Nein gesagt hätte?
Ich wusste, du würdest Ja sagen, wenn ich dich nett darum bitte, sagte er. Ich sah den Schatten jenes Lächelns, das Liz und ich Papalächeln nannten.
Kannst du dir das denn leisten?, musste ich fragen.
Ich hab ein bisschen was zusammengespart, weißt du, sagte er und warf mir einen Blick zu, der mir irgendwie kryptisch vorkam.
Ich hätte noch mehr Fragen gehabt, aber er schien meine Gedanken zu lesen und sagte, ich würde unterwegs Anweisungen bekommen. Er müsse noch einige Anrufe tätigen, E-Mails schreiben.
Ich hab das hier gefunden, sagte er und zog einen kleinen Gegenstand aus der Tasche. Vielleicht kann dir das helfen.
Es war eine Yoda-Figur. Sie hatte Liz gehört, aber sie hatte sie mir geschenkt, als ich fünf oder sechs Jahre alt war. Ich hatte oft damit gespielt, hatte viel mit diesen Star-Wars-Figuren gespielt, noch bevor ich etwas über das Star-Wars-Universum wusste. Ich hatte geglaubt, dass ich sie verloren hätte, dass sie für immer verschwunden wäre.
Ich nahm sie in die Hand, und es schien mir, als könne ich spüren, wie ich mit etwas in Kontakt kam. Mit meiner Kindheit. Mit verlorener Kindheit. Mit Geschichten.
Ich weiß nicht, warum Vater sie mir jetzt gab. Vielleicht glaubte er, sie könne etwas in Gang setzen. Wie wenn man einen Hund an einem Gegenstand einer vermissten Person riechen lässt.
Vater wurde ungeduldig, murmelte etwas von Frau Sagen, einer gut betuchten Dame mit zwölf Enkelkindern, die gerade den Laden betreten habe und deren speziellen Ansprüchen der Kundenbetreuung Dr. Watson kaum würde gerecht werden können. Als ob ein Blick genügte, stand die Kellnerin mit der Rechnung bereit. Vater zahlte, bedankte sich für das ausgezeichnete Mahl. Ein wichtiges Geschäftsessen, sagte er zu ihr und nickte in meine Richtung, als wäre ich ein Repräsentant des Hofstaates und es wäre gerade ein lukratives Abkommen unterzeichnet worden. Bevor wir die Treppe hinuntergingen, bemerkte ich, wie er den drei Bier trinkenden Männern weiter hinten im Lokal einen aufmunternden Blick zuwarf. Einer von ihnen hob das Glas und sagte so laut, dass ich es hörte: Gott segne dich, Erasmus. Und er sagte es mit Wärme in der Stimme.
Als wir uns auf dem Gehweg in der Storgata trennten, trat Vater einen Schritt auf mich zu, legte die Arme um mich und drückte mich kurz. Mir blieb keine Zeit, verdutzt zu sein, so schnell ging das Ganze vonstatten, er tat so etwas sonst nie, er war kein Mann, der zu Zärtlichkeiten neigte. Fast erwartete ich so eine Ratschlag-von-Vater-zu-Sohn-Predigt, die ewige Leier, woran ich denken oder wovor ich mich in Acht nehmen sollte. Sei vorsichtig, sagte er nur, den Mund dicht an meinem Ohr.
Ich weiß, das hört sich komisch an, doch diese kurze Umarmung hatte einen Hauch von etwas Mystischem. Mein Vater hatte sich geöffnet, und das meine ich ganz konkret, und ich war in ihn hineingeglitten. Einige Sekunden lang, dann war es vorbei.
Wir gingen in entgegengesetzte Richtungen davon. Erst als ich nach links in die Bernt Ankers gate abbog, merkte ich, wie verwirrt ich war.
Aber verflucht noch mal, wie schwierig konnte das schon sein. Ich brauchte bloß meine Schwester zu finden und sie nach Hause zu bringen.
So hat es begonnen, Nina, das war die erste Etappe. Hier hast du einen missing link für die Jahre zwischen dem Café Laboratorium und meinem Durchbruch in der Teilchenphysik, meinen ersten kurzen Einblick ins Abelson-Modell. Laut deiner Darstellung hat es teilweise mit meinem Barista-Dasein zu tun, das du als einen intellektuellen Dämmerschlaf und somit als eine Art Inkubationszeit interpretierst, was gar kein so dummer Gedanke ist, doch du hast diese Reise vergessen, die wie ein entscheidendes Glied, wie ein Katalysator fungiert zwischen einem Café und dem Auftakt zu dem, was mit dem Experiment am CERN enden sollte. Ich konnte nicht ahnen, dass der Auftrag, den ich im Dovrehallen bekommen hatte, der Startschuss sein würde zu Ereignissen, die alles auf den Kopf stellten.
Wirf jetzt mal einen Blick nach draußen, Nina. Ist das nicht schön? Wegen der tief hängenden Wolke sieht es so aus, als hätte der Mont Blanc sich vom Gebirgsmassiv losgerissen … wie ein pyramidenförmiges Raumschiff auf dem Weg zum Mond.
Er ist gerade noch zu sehen, dort links, wie eine Glaskugel.
Was ich sagen wollte … Es war ein abrupter Szenenwechsel. Ich, der tags zuvor noch Monate voller identischer, ereignisloser Tage im Café vor sich gesehen hatte, saß plötzlich in einem Flugzeug, das elf Stunden in der Luft sein würde. Wie gesagt, hatte ich keine große Lust zu verreisen, mir ging nichts ab, die Dramatik, die in der Spanne zwischen einem Espresso und einem Cappuccino steckte, genügte mir vollauf. In meinen Augen hatte ich mit meinen einunddreißig Jahren genug von der Welt gesehen – zumindest vorläufig –, doch nun befand ich mich in einem Metallzylinder, der mit einer Geschwindigkeit von neunhundert Stundenkilometern in der obersten Schicht der Troposphäre dahinbrauste, unterwegs nach Asien.
Schon beim Einsteigen ins Flugzeug, nach einem halbstündigen Zwischenstopp in Helsinki, erwartete mich die erste Überraschung. Weil ich nicht damit gerechnet hatte, lange fortzubleiben, hatte ich mich mit Handgepäck begnügt und nur das Allernötigste eingepackt. Als ich den kleinen, ziemlich ramponierten Koffer in dem Fach über dem Sitz verstaute, kam eine der Flugbegleiterinnen herbeigeeilt und fragte mich nach meiner Bordkarte. Ich glaubte schon, etwas sei nicht in Ordnung damit, ich wurde plötzlich nervös, obwohl es keinen Grund dafür gab.
Die Flugbegleiterin lächelte. Sie wurden auf Business Class upgegradet, sagte sie in klingendem Finnlandschwedisch. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.
Ich hielt das für einen Zufall, ich hatte schon von solchen Fällen gehört, es war wie ein Lotteriegewinn; mein Vater, der finanziell in der Patentsmørbrød-Klasse spielte, konnte jedenfalls nichts damit zu tun haben; also spielte ich das Spiel mit und ließ mich von der Flugbegleiterin an meinen neuen Platz vorne im Flugzeug bringen, ich hatte selbstverständlich nichts dagegen, mich in der Business Class auszustrecken, was nicht zuletzt bedeutete, dass ich schlafen können würde, ich gab nichts auf die Verköstigung oder darauf, dass das Wasser in Flaschen gebracht wurde, die den Traum aller Designer darstellten, und die Snackpackungen sahen so exquisit aus, dass ich es nicht übers Herz brachte, sie zu öffnen.
Genügsamkeit. Sie steckte mir in den Knochen. Mein Vater war ständig knapp bei Kasse gewesen, jedenfalls hatte es immer so gewirkt, als ob er jede Krone umdrehen musste. Oder war mir da etwas entgangen? Als kleiner Junge hatte ich es immer ganz toll gefunden, Spielwaren Stjerneplassen einen Besuch abzustatten, ich war stolz, wenn ich Freunde mitbrachte und Vater uns in seinem Merlinmantel empfing, doch nachdem ich mit zwölf Jahren aufgehört hatte, mich für Spielzeug zu interessieren, waren mir Zweifel gekommen. Spielwarenhändler – was für eine Berufsbezeichnung war das denn? Oft dachte ich, dass mein Vater das Zeug dazu gehabt hätte, etwas ganz anderes zu werden, dass irgendetwas in seinem Leben schiefgelaufen sein musste. Nicht, dass ich ihn deshalb verachtet hätte, eher tat er mir leid in dem Hamsterrad seines Alltags, ein Leben, das in seiner Gewöhnlichkeit erschreckend war. Wenn Klassenkameraden von den Berufen ihrer Väter erzählten, schämte ich mich manchmal, weil er keine größeren Ambitionen hatte. Und gleichzeitig, auf einer tieferen Ebene, schämte ich mich dafür, dass ich mich schämte. Wieso hast du angefangen, Spielzeug zu verkaufen?, erlaubte ich mir einmal zu fragen. Wegen der Cheyenne, sagte er daraufhin.
Er wird wohl langsam ein bisschen wunderlich, dachte ich und hütete mich, die Frage noch einmal zu stellen.
Trotzdem: Was für ein monotones Leben. Jahraus, jahrein in dem kleinen Laden in der Storgata stehen, bis spätabends Waren auspacken und Rechnungen schreiben, immer mit Kopfschmerzen nach Hause kommen. Hinter den Wolken scheint immer die Sonne. Morgen ist ein neuer Tag. Gelegentlich beobachtete ich ihn in seinem Eifer beim Bedienen der Kunden. Obwohl er in seinem Element zu sein schien, erkannte ich doch das leicht Pathetische an seinem blauen Arbeitskittel mit den weißen, aufgenähten Halbmonden und Sternen. Armer Papa, dachte ich, diese ganze Schufterei, und trotzdem reicht das Geld hinten und vorne nicht. Auch deshalb übernahm ich die Aufgabe, Liz zu suchen, ich schuldete es ihm, solange es ihn nur beruhigte. Er war immer eine Spur besorgter um uns, als es ein Vater zu sein brauchte.
Ich hatte, wie gesagt, ein gutes Verhältnis zu meinem Vater, was jedoch nicht verhinderte, dass ich ihn für ein wenig distanziert oder abwesend hielt. Nicht immer natürlich. Als ich sechs Jahre alt war, ereignete sich etwas, das sehr viel über ihn aussagt. Es war ein Samstag im Juni und ich durfte Dr. Watson beim Auspreisen der Kartons mit den neuen Brio-Eisenbahnen helfen. Unglücklicherweise stellte er mir eine der großen Kisten auf die Zehen, worauf ich zu weinen begann, sowohl vor Schreck als auch, weil es höllisch wehtat. In der Schlange an der Kasse, hinter der Vater saß, wartete ein Mann, der ganz eindeutig Kohle hatte, denn die vier Körbe, von denen er jeweils zwei in einer Hand hielt, waren vollgestopft mit den teuersten Spielsachen, die man im Laden finden konnte. Der Mann wurde ärgerlich. Herrgott, was für ein Geplärre, sagte er. Kann nicht irgendwer den verdammten Bengel hinauswerfen!
Da setzte Vater jenes Lächeln auf, das Liz und ich Wolfslächeln nannten. Es unterschied sich sowohl von seinem Papa- als auch von seinem Kundenlächeln. Sie sind es, den ich ersuchen muss, das Geschäft zu verlassen, sagte er mit einer Stimme, die man gemeinhin als volltönend bezeichnen würde. So spricht man nicht über Kinder.
Wütend, als könne er nicht glauben, was er soeben gehört hatte, blickte der Mann meinen Vater an, bevor er die vier Körbe demonstrativ auf den Boden fallen ließ und hinausmarschierte. Bestimmt war meinem Vater an diesem Samstag viel Geld durch die Lappen gegangen. Tut es weh?, fragte er und legte mir die Hand auf den Kopf. Wenn er mich auch selten bei der Hand nahm oder umarmte, legte er oft seine Hände auf mich. Immerhin hast du jetzt erfahren, dass Eisenbahnen von Brio von gewichtiger Qualität sind. Die Worte wurden von einem Lächeln begleitet. Dem Papalächeln.
Zum Glück nickte ich mehrmals ein im Laufe des langen Flugs, doch wenn ich wach war – und ständig kleine Goodies oder andere Angebote ablehnen musste, die einen Teil der aufwendigen Bedienung ausmachten –, dachte ich an meine Schwester. Ich fürchte, Nina, du wirst nie verstehen, wie Liz in jungen Jahren gewesen ist, oder richtiger: Es wird mir nie gelingen … Jedenfalls gehörte sie zu der Sorte Menschen, die alles, was sie anfangen, mit hundertprozentigem Einsatz betreiben. Nehmen wir beispielsweise das mit der Musik. Mit siebzehn schoss es ihr plötzlich ein, Protestsängerin zu werden. Das soll kein Scherz sein. Protestsängerin! Das war in dem Jahr, als der Krieg im Kosovo begann, und sie verfolgte voller Entsetzen die Nachrichten. Sie kaufte sich eine Gitarre, saß mehrere Monate in ihrem Zimmer und übte, übte, dass ihr fast die Fingerspitzen anschwollen; mir taten schon die Ohren weh von den alten Ohrwürmern, die ich sie singen hörte, »We Shall Overcome« oder »Blowin’ in the Wind« oder »If I Had a Hammer«, als wäre sie Joan Baez dreißig Jahre zu spät, aber sie wollte auch eigene Lieder schreiben. In unserer Zeit besteht ein ungestilltes Bedürfnis nach neuen Hymnen, sagte sie, kaum etwas kann es mit der Wirkung von Liedern aufnehmen, die von Tausenden Menschen gesungen werden. Ich glaube, in ihrer Fantasie sah sie sich oben bei der Markthalle am Youngstorget stehen, eine Heerschar von Menschen vor sich auf dem unterhalb gelegenen Platz, die sie bei einem ohrenbetäubenden kollektiven Singen anführte, während sie die Töne in den Himmel emporsteigen hörte wie bei einem gewaltigen säkularen Choral in einer Freiluftkirche; ich hatte ein paar Brocken aufgeschnappt von den Songs, an denen sie sich versuchte: »Rainbow Dream«, »Wake Up, Mr. President« oder das leicht humoristische »Balalaika Bazooka«, eigentlich klangen sie gar nicht so schlecht, das gebe ich zu, doch dann, eines Tages – ohne einen erkennbaren Anlass – stellte sie die Gitarre in die Ecke. Sie hatte eine neue Leidenschaft für sich entdeckt.
So war es immer gewesen. In der Phase davor, oder jedenfalls glaube ich, dass es die Phase davor war, mit zwölf oder dreizehn, wollte sie Künstlerin werden, zog sich Klamotten vom Flohmarkt an und malte und zeichnete den ganzen Tag, stolzierte mit komischen Mützen und Farbflecken im Gesicht und an den Händen herum, alle Wände ihres Zimmers waren mit Zeichnungen tapeziert: Bleistift, Tusche, Kohle, Aquarelle, sogar Ölgemälde, die ganze Wohnung roch nach Atelier. Dann, und mit einer Leidenschaft, die mich beinahe erschreckte, wollte sie Architektin werden, wobei nicht auszuschließen ist, dass das viele Legobauen letztlich den Ehrgeiz in ihr geweckt hatte, etwas in größerem Maßstab zu erschaffen. Glaub es oder nicht, Nina, aber als Kind habe ich mich wenig für Lego begeistert, ich fand es zu umständlich, außerdem besaß ich die unschöne Neigung, Steine zu verlieren – immer dann, ausgerechnet, wenn wir gerade gemeinsam etwas bauten oder ich Liz bei der Konstruktion ihrer komplexen Häuser half, als wäre ich für die Baumeisterin des Turms zu Babel eine Art Handlanger. Nein, Liz war die Lego-Konstrukteurin, und sie erschuf Dinge mit diesen kleinen Bausteinen, die in Norwegen ihresgleichen suchten. Schade, dass es keine Fotos davon gibt. Wäre sie im mathematischen Zweig gelandet, bei der Informatik, hätte sie problemlos ein Computerspiel entwickeln können, das Minecraft den Rang abgelaufen hätte.
Der Sprung von der Kunst zur Architektur ist ja nicht weit, und weil wir in Fredensborg wohnten, ging ich mehrmals mit ihr zum Telthusbakken, wo sie Aufstellung nahm und fleißig die vielen hübschen, alten Holzhäuser zeichnete, eins nach dem anderen. Und danach kam die Damstredet an die Reihe. Wenn sie nach der Schule nicht zu Hause war, wusste ich, dass sie mit dem Discman in der Tasche dort stand, mit ihrer ersten selbstgekauften CD, die sie sich gar nicht oft genug anhören konnte, Nevermind von Nirvana, falls es nicht gerade Enter the Wu-Tang vom Wu-Tang Clan war – schon damals hatte sie eine Affinität für Hip-Hop und chinesische Kampfsportmythologie –, und die leicht schiefen Holzhäuschen bis ins kleinste Detail aufs Papier übertrug. Wären die Häuser bei einem Brand zerstört worden, hätte man sie nach diesen Arbeiten rekonstruieren können. Dann legte sie alle Zeichensachen und Architekturskizzen zur Seite, um – genau, Nina – die Protestsängerin unserer Zeit zu werden. Aber ich möchte festhalten: Gerade ihre Leidenschaft für Architektur hat sie sich auch in späteren Jahren bewahrt. Da fällt mir ein, einmal hat sie eine besonders gelungene Installation, oder wie ich es nennen soll, für Spielwaren Stjerneplassen aufgebaut. Eine Schaufensterdekoration, die scharenweise Kundschaft anlockte. Sie hatte vier verschiedene Lego-Sets geöffnet und sie zu einem gemeinsamen Universum kombiniert. Viele Leute, die ins Geschäft kamen, waren davon so fasziniert, dass sie alle vier Sets für ihre Kinder kauften, damit sie zu Hause etwas Ähnliches bauen konnten. Als Erwachsener begriff ich, dass Vater viele Gründe hatte, Liz dankbar zu sein.
Jetzt verzettle ich mich aber, denn schon in der Ankunftshalle des Flughafens geschahen seltsame Dinge – ich habe vielleicht zu sagen vergessen, dass mein Reiseziel Hongkong war, aber das wusstest du ja bereits.
Als ich gerade meine Schritte verlangsamte und nach dem Schild mit dem Bus-, Zug- oder Taxisymbol Ausschau hielt, kam eine geschäftsmäßig und überdies superelegant gekleidete Frau auf mich zu und sagte etwas, das ich nicht verstand, vielleicht auf Kantonesisch oder Mandarin – ohnehin nahm ich an, sie müsse mich mit jemandem verwechseln. Sie war Chinesin, aber trotzdem groß gewachsen, modelartig. Auffällig war nur, dass sie stehen blieb und den Satz wiederholte – ich musste zu perplex gewesen sein, um ihn beim ersten Mal zu verstehen: »For your own sake, Sir: Please, turn. Buy a ticket and go home.« Kratzige Stimme. Rote Lippen. Es klang wie eine Warnung. Rotes Licht. Ich ging ruhig weiter, doch als ich mich umblickte, stand sie noch immer da und sah mir nach, ein gefährliches Funkeln in den Augen, zumindest interpretierte ich es als ein gefährliches Funkeln.
Meine Verwunderung wurde nicht geringer, als ich, um den Abstand zu dieser aufdringlichen Person zu vergrößern, schnell zum Ausgang ging und sie fünfzig Meter vor mir entdeckte. Ich warf einen Blick über die Schulter. Es stimmte, die Frau war verschwunden. Wie hatte sie in wenigen Sekunden so weit vor mich gelangen können? War das eine Art Wuxia-Kunst?
Genauso plötzlich war sie wieder weg. Puff, sie hatte sich in Luft aufgelöst. Ein weiteres Wuxia-Kunststück.
Ich bin in China, dachte ich. Hier kann alles geschehen.
Nein, vergiss es, du bist erschöpft von der Reise, es war ein Missverständnis, dachte ich, bestimmt handelt es sich um eine Liebesgeschichte. Ich lachte bei dem Gedanken.
Ich kam nicht dazu, mir noch länger den Kopf darüber zu zerbrechen, denn ein uniformierter Mann winkte mich zu sich. Er hielt ein Plakat hoch, auf dem stand: »Mr. Woolf.« Eifrig nickend deutete er zuerst auf mich, danach auf den Namen. Ich signalisierte ihm, damit könne nicht ich gemeint sein. Doch ganz offensichtlich war ich das. Er blätterte einige Papiere durch, wobei er vielleicht einen Blick auf ein Foto warf, bevor er auf mich zukam: Mr. William Woolf, ich habe einen Wagen, ich soll Sie zum Hotel fahren. Er trug ein weißes Hemd, ein schwarzes Sakko, dazu eine schwarze Krawatte und eine dunkelgraue Hose mit Kreidestreifen. Schirmmütze. Er wirkte steif und repräsentativ. »Chan« stand auf einem kleinen, rechteckigen Messingschild über seiner Brusttasche.