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Großbrand in Neuharlingersiel. Bei einem Feuer auf der Baustelle des neuen Entspannungszentrums «Meeresrauschen» kommt ein polnischer Arbeiter ums Leben. Der Investor Johann Gehrken tönt auf der Jahresversammlung des Boßelvereins laut herum, er wisse, wer den Brand gelegt hat. Nur wenige Stunden später ist er tot. Die Kripo in Wittmund verdächtigt den örtlichen Bauunternehmer, doch Lehrerin und Hobby-Detektivin Rosa Moll hat einen anderen Verdacht. Gemeinsam mit ihren Freunden, Dorfpolizist Rudi und Postbote Henner, krempelt sie die Ärmel hoch und macht sich daran, auch diesen Fall zu lösen.
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Seitenzahl: 391
Christiane Franke • Cornelia Kuhnert
Muscheln, Mord und Meeresrauschen
Ein Ostfriesen-Krimi
Großbrand in Neuharlingersiel. Bei einem Feuer auf der Baustelle des neuen Entspannungszentrums «Meeresrauschen» kommt ein polnischer Arbeiter ums Leben. Der Investor Johann Gehrken tönt auf der Jahresversammlung des Boßelvereins laut herum, er wisse, wer den Brand gelegt hat. Nur wenige Stunden später ist er tot. Die Kripo in Wittmund verdächtigt den örtlichen Bauunternehmer, doch Lehrerin und Hobby-Detektivin Rosa Moll hat einen anderen Verdacht. Gemeinsam mit ihren Freunden, Dorfpolizist Rudi und Postbote Henner, krempelt sie die Ärmel hoch und macht sich daran, auch diesen Fall zu lösen.
Cornelia Kuhnert lebt in Hannover und hat dort als Lehrerin gearbeitet. Sie hat bereits zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht und Anthologien herausgegeben.
Christiane Franke wurde an der Nordseeküste geboren und lebt immer noch gerne dort. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin und Herausgeberin arbeitet sie als Dozentin für kreatives Schreiben.
Wacław Drawo streichelt das schwarze Kätzchen auf seinem Schoß. Es ist besonders zutraulich, das Getigerte dagegen schleckt nur die Schale mit Milch aus, dann verkriecht es sich scheu in der Ecke. Es scheint Menschen nicht zu mögen. Katzen sind überall gleich. In seinem Heimatdorf in Polen gibt es auch viele Streuner. Seine Frau stellt ihnen morgens oft eine Schale mit Essensresten hin. Die Kinder stibitzen sogar Wurst aus dem Kühlschrank und füttern sie heimlich. Paweł und Klaudia, seine beiden Engel. Viel zu selten ist er bei seiner Familie. Aber er muss Geld verdienen. Und einen Job kriegt er in Polen nicht. Dieses Leben hier, zwölf Stunden Maloche, Luftmatratze und Gaskocher, das macht er alles nur für sie. Ihm wird warm ums Herz, wenn er an seine Frau und die Kinder denkt. Und das liegt nicht am Wodka.
Draußen ist es schon lange dunkel, im Zimmer flackert die Kerze im Luftzug des gekippten Fensters. Wacław sitzt im Schlafsack auf einer alten Matratze. Neben ihm köchelt die Dosensuppe auf dem Gaskocher. Er füllt das Wasserglas erneut mit Wodka und gähnt.
«Ich hab doch keine Wahl», murmelt er und streichelt den Kopf des Kätzchens. Er setzt das Glas an den Mund und leert es mit drei Schlucken, dann pustet er die Kerze aus.
Mit den Gedanken an sein Heimatdorf schläft er ein.
Das weiße Gespenst baumelt schlaff am Bogenarm der Wandlampe. Die rote Kordel stranguliert den Hals, der Mund ist eine gerade schwarze Linie. Traurig sieht es aus, wie es da schaukelt. Genau wie die drei anderen Spukgestalten daneben.
«Ich finde, der Strich für die Lippen sollte nach oben gehen», mäkelt Adelheid. «Wirkt irgendwie lustiger.»
«Dass du aber auch immer was zu meckern hast! Achte mal lieber darauf, dass du den Kürbis sorgfältig aushöhlst. Sonst leuchtet er nicht ordentlich, weil die Fruchtfasern vor den Kerzen rumhängen», kontert ihre Schwester Clara.
«Nun streitet mal nicht wie kleine Kinder», mischt sich Mudder Steffens ein. «Schon gar nicht wegen diesem Halloween. Bloß weil die in Amerika da so’n Hampelkram draus machen, müsst ihr den Blödsinn noch lange nicht nachäffen.» Die rüstige Bäuerin, deren lange weiße Haare auf dem Hinterkopf zu einem Dutt zusammengesteckt sind, nippt an ihrem Tee mit Rum und stellt die Tasse klappernd zurück auf die Untertasse.
«Ach, Muddern, reg dich nicht so auf», sagt Friederike. «Das war doch kein richtiges Streiten! Außerdem macht uns das Basteln Spaß. Und Theo freut sich, dass wir ihm die Deko fürs Dattein liefern und er nicht so’n gekauften Kram nehmen muss. Stimmt’s, Mädels?» Ihre Schwestern und die anderen Frauen des Häkelbüdel-Clubs nicken. Gisela Frerichs und Sigrid Twenge schneiden weiter eifrig die Stoffe für die Gespenster zu, ohne überhaupt den Kopf zu heben.
«Klar!» Dörte fummelt an der Lichterkette mit den schwarzen Fledermäusen aus Pappe rum.
Nur Rosa legt ihre Schere zur Seite. «Sagt mal, was ganz anderes: Habt ihr den Flyer von dem neuen Wellnesstempel gesehen?»
«Nee!», ruft Sigrid entrüstet. «Die verteilen schon Flyer? Und von wegen Wellnesstempel! Dass ich nicht lache! Ludwig hat gesagt, das soll ein Swinger-Club für versaute Städter werden – und der muss es schließlich wissen.» Ihr Mann ist der unermüdliche Online-Reporter der Neuharlingersieler Mitmachzeitung.
«Hier», Rosa greift in ihre Handtasche und zieht das Faltblatt hervor. «Seht selber, was die schreiben.»
Rumms! In diesem Moment knallt es draußen laut. Die gemütliche Atmosphäre der Bastelrunde verfliegt endgültig, als dem ersten Knall gleich darauf ein zweiter folgt.
Rosa springt auf. «Was ist das denn?» Sie rennt zum Fenster. «Ist da was explodiert?»
Schnell stehen auch die anderen Frauen am Fenster und starren hinaus in die Dunkelheit.
«Ach du Scheibenkleister», kreischt Doro. «Da brennt’s!» Sie guckt Muddern an. «Das ist doch der Resthof vom Geflügelbaron, oder?»
Gerda Steffens nickt. «Jo. Dat is Gehrken sien Hof.»
Während alle noch hektisch durcheinanderreden, fackelt Rosa nicht lange. Sie zieht ihr Handy aus der Hosentasche und wählt die 112. In knappen Worten meldet sie, dass es bei Gehrken brennt. Anschließend ruft sie Rudi an. Als Dorfpolizist muss er schließlich Bescheid wissen, wenn in Neuharlingersiel ein Feuer ausgebrochen ist. Vor allem, wo dieser Resthof gerade zu einem umstrittenen Entspannungszentrum umgebaut wird. Da sagt ihr ja schon ihre Nase, dass da was nicht stimmen kann.
Rudolph Hieronymus Bakker, kurz Rudi genannt, sitzt in Uniform bei seinen Hühnern im Stall und prostet ihnen mit dem ersten Bier des späten Feierabends zu. Es war ein langer Tag. Aber bevor er es sich beim Fußballspiel vor dem Fernseher gemütlich macht, muss er sich um die armen Viecher kümmern. Leben im Sperrbezirk. Wegen der verdammten Geflügelpest dürfen die Hühner seit Wochen nicht raus und langweilen sich den ganzen Tag im Stall. Er hat ihnen ein Radio hingestellt, damit sie wenigstens etwas Abwechslung haben. Gerade will er aufstehen, um ins Haus zu gehen, da klingelt sein Telefon. Rosa. Was will die denn, und um diese Zeit?
Mit den Worten «Drüben brennt’s, ich hab die Feuerwehr und Rudi schon angerufen!» stürzt Rosa ins Wohnzimmer des Steffens-Hofes, wo Henner gemütlich mit Vaddern vorm Fernseher sitzt und sich auf das Spiel Werder Bremen gegen Bayern München freut.
Oh nee, das hat Henner gerade noch gefehlt.
«Los, kommt mit, vielleicht können wir helfen.» Rosa steht immer noch in der Tür. Hinter ihr seine Schwestern. Jedenfalls ein Großteil davon.
Mist, dann verpasst er den Anpfiff. Aber wenn Not am Mann ist, muss man helfen. Keine Frage.
Vaddern sieht das genauso. Ohne ein Wort zu verlieren, schlüpft er bereits in die Holzpantinen und greift nach seiner Jacke. «Lass uns ein paar Eimer mitnehmen, vielleicht können wir beim Löschen helfen.»
Rudis alte Ente springt zum Glück ohne Murren an. Er setzt den Blinker und legt den ersten Gang ein, da hört er das Martinshorn der Freiwilligen Feuerwehr. Im nächsten Augenblick brettert ein Löschfahrzeug mit «Tatütata» an seinem Haus vorbei. Sofort tritt auch Rudi aufs Gaspedal.
Direkt hinter dem Feuerwehrfahrzeug biegt er auf die Zufahrt zur Baustelle des Resthofes ab, gleich hinter dem Steffens-Hof. Mit quietschenden Reifen kommt er vor einer Mauer zum Stehen, im sicheren Abstand zum brennenden Haus.
Rosa hat am Telefon ausnahmsweise nicht übertrieben. Aus den Fenstern des Erdgeschosses züngeln Flammen in den klaren Nachthimmel. Die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr sind längst aus dem Fahrzeug gesprungen. In ihren leuchtenden Uniformen – allen voran sein Boßelkumpel Dieter – rollen sie bereits den ersten Schlauch ab.
«Hierher!», ruft Dieter und läuft zum Hydranten. Als er sich umdreht, entdeckt er Rudi. Überrascht wirkt er nicht. «Ist noch jemand im Haus?», ruft er laut.
«Keine Ahnung!», brüllt Rudi zurück und marschiert auf Dieter zu. «Soweit ich weiß, ist das hier eine Baustelle. Da dürfte um diese Uhrzeit niemand drin sein.»
In diesem Moment schießt schon der erste Wasserstrahl auf die Flammen. Es zischt laut, Funken sprühen, und es riecht nach verbranntem Gummi.
Rudi wird mulmig zumute. Hoffentlich ist da wirklich niemand mehr drin.
Rosa und ihre Freundinnen stehen vor Kälte bibbernd beim alten Geräteschuppen in respektvollem Abstand zum brennenden Haus. Als Rosa Rudi entdeckt, drängelt sie sich nach vorne. Aber sie kommt nicht weit.
«Aus dem Weg», ranzt ein junger Feuerwehrmann sie barsch an. Gemeinsam mit einem anderen rollt er einen weiteren Wasserschlauch aus. «Schaulustige können wir hier nicht gebrauchen.»
Als wenn sie eine Schaulustige wäre! Ohne sie wären die noch gar nicht hier. Empört funkelt Rosa ihn an, dann macht sie auf dem Absatz kehrt und bahnt sich zwischen Sandhaufen und Ziegelsteinpaletten hindurch einen Weg zu Rudi.
Rudi beobachtet die routinierte Arbeit der Feuerwehrleute. Wasser spritzt in hohem Bogen durch zerborstene Fenster ins Innere des Hauses und auf den Dachstuhl. Funken steigen auf und verglimmen im Strahl des Wassers.
Erschrocken zuckt er zusammen, als ihm jemand auf die Schulter tippt. «Rosa», stammelt er und ärgert sich, dass er so schreckhaft ist. «Was machst du denn hier?»
«Das kannst du dir ja wohl denken», gibt Rosa schnippisch zurück und schaut auf das brennende Haus. «Wie kann das nur passiert sein?»
«Keine Ahnung, in dem Haus wohnt niemand mehr», sagt Rudi. Oder etwa doch? Sein Puls legt einen Gang zu, denn plötzlich fallen ihm die beiden Asiatinnen ein, die er in der Sparkasse gesehen hat. Er stand am Drucker, um seine Kontoauszüge zu holen. Das dauerte und dauerte. Dabei hat Rudi die beiden zierlichen Frauen beobachtet. Sie haben am Tresen mit Klaas Stein gesprochen, der seit einem Jahr die Filiale leitet. Ganz stolz haben die beiden ihm erzählt, dass sie ein Konto eröffnen wollen, weil sie demnächst das neue Entspannungszentrum «Meeresrauschen» hier in Neuharlingersiel leiten. Bei dem Stichwort hat Rudi aufgehorcht. Über dieses Projekt ist in den letzten Wochen viel geredet worden im Ort.
Er runzelt die Stirn. Ob die etwa schon im Haus wohnen?
«Dieter!», schreit Rudi hektisch. «Da könnten vielleicht doch noch Personen drin sein!»
«Alles klar!» Dieter dreht sich um und ruft einem seiner Kollegen zu: «Martin, Achtung, da kann noch wer drin sein!» Sofort setzt Martin sich in Bewegung.
In diesem Moment hört Rudi ein Wimmern und Husten. Verwundert blickt er sich um. Im schwachen Licht der flackernden Flammen entdeckt er zwei Gestalten, die unter einer alten Eiche hocken. Mit den Armen umschlingen sie ihre Beine, als wenn sie sich ganz klein machen wollten.
Von den Flammen ist nicht mehr viel zu sehen. Die Feuerwehr scheint den Brand im Griff zu haben, es qualmt bloß noch entsetzlich. Und es stinkt. Eine dicke Rauchwolke liegt wie eine wabernde Watteschicht über der Szenerie, immer wieder erhellt vom blinkenden Blaulicht. Geradezu gespenstisch sieht das aus. Zusammen mit Vaddern und den Mädels vom Häkelbüdel-Club steht Henner am Schuppen. Er kann sich nicht daran erinnern, dass die jemals so einsilbig gewesen sind wie jetzt.
Was hat Rudi denn vor, wundert sich Henner, als sein Kumpel zur alten Eiche läuft, dicht gefolgt von Rosa. Er kneift die Augen zusammen. Jetzt erkennt er zwei Personen, die sich aneinanderkauern. Wer das wohl ist? Auf dem Gehrken-Hof ist in letzter Zeit ja ordentlich Betrieb, hat Vaddern beim Abendbrot erzählt. Seit einer Woche wuseln da nicht nur die Bauarbeiter rum, sondern auch zwei Frauen. Aber dass die da wohnen, davon hat Vaddern nichts gesagt. Ob die das sind? Na, wenigstens scheint ihnen nichts passiert zu sein.
«Henner», ruft Rosa ihm aufgeregt von der Eiche her zu. «Habt ihr eine Jacke? Oder eine Decke? Die beiden frieren total.»
«Na klar!» Mit einem Mal kommt Bewegung in ihn. «Dörte, gib mir deine Strickjacke.»
Vaddern läuft unterdessen vor. Er zieht seine eigene Jacke aus und legt sie einer der Frauen um die Schulter. Ganz Kavalier alter Schule. Schnell spurtet Henner ihm hinterher und gibt der anderen Dörtes Jacke.
«Rudi, frag sie, ob sie uns verstehen», sagt Vaddern, doch bevor Rudi überhaupt den Mund aufmachen kann, antwortet eine der beiden mit zittriger Stimme: «Wir sprechen beide Deutsch. Wir sind in Bremen geboren.»
Das ist ja schon mal gut, denkt Henner und wendet sich an Rudi: «Was meinst du, sollen wir mit den Frauen rüber zu uns gehen? Da ist es mollig warm und Muddern kann ihnen einen ordentlichen Tee kochen. Mit Rum. Die holen sich ja hier ’ne Lungenentzündung weg, so dünn, wie die angezogen sind.» Die kurzen Trägernachthemden gehen grade mal über den Po.
«Jo. Macht das ruhig», entscheidet Rudi. «Ich weiß ja, wo ich euch finde. Sprechen muss ich mit denen auf jeden Fall nachher noch.»
«Allns klor», erwidert Vaddern und fasst eine der Frauen am Arm. «Dann gehen wir mal.» Henner könnte schwören, dass sein Vater ein bisschen rot dabei geworden ist, aber das sieht man bei diesem Licht nicht richtig.
Rosa legt den Arm um die andere und hakt sie stützend unter. «Kommt. Im Haus ist es schön warm.»
Vor dem qualmenden Gebäude hantieren die Feuerwehrleute mit ihren Gerätschaften. Ihre Stimmen werden lauter. Wortfetzen dringen zu Rudi rüber: «Polizei», «Toter».
Dieter macht ihm aufgeregt ein Zeichen. Alarmiert rennt Rudi los. Sein Magen zieht sich bei jedem Schritt ein bisschen mehr zusammen. Kaum steht er neben Dieter, sagt der angespannt: «Wir haben einen Toten entdeckt. Vermutlich ein Mann. Er muss bei dem Brand ums Leben gekommen sein. Genau kann man das aber nicht mehr erkennen, so, wie das in dem Zimmer aussieht.»
In Rudis Magen brodelt es heftiger. Eine verkohlte Leiche hat er noch nie gesehen. Bevor er Dieter folgt, greift er zu seinem Handy. In einem solchen Fall muss er seinen Chef informieren. Ganz klar. Das macht er lieber gleich, sonst wird er später wieder zusammengefaltet.
«Immer rein in die gute Stube», sagt Vaddern und öffnet die Haustür vom Steffens-Hof. Die beiden Frauen sehen immer noch ganz verschreckt aus, als Rosa sie in die Küche schiebt.
Drinnen ist es bullig warm. Das tut gut nach der Kälte dieser Oktobernacht. Mudder Steffens sitzt mit ihrer Kittelschürze am Tisch und schnippelt Äpfel klein, Gisela und Sigrid schneiden nach wie vor Gespenster aus. Das Feuer hat sie anscheinend nicht von ihrer Bastelarbeit abhalten können, was Rosa wundert, gerade Gisela kennt sie sonst als extrem neugierig. Als die drei die beiden halbnackten Frauen erblicken, legen sie dann aber doch die Scheren und das Schälmesser hin. Für einen Augenblick starren alle drei die Fremden an. Mudder Steffens reagiert als Erste.
«Wen habt ihr uns denn da mitgebracht?»
Vaddern zuckt mit den Schultern. «Die waren draußen bei der Baustelle. Sind dem Feuer gerade man so entkommen. Mach mal ’ne große Kanne Tee. Die Deerns sind völlig durchgefroren. Mir kannste ’nen Grog geben.»
«Unter Schock stehen sie auch.» Rosa führt die beiden Frauen zum Tisch. «Setzt euch», sagt sie fürsorglich. «Dauert nicht lang, bis der Tee fertig ist. Oder möchtet ihr was anderes?»
Die beiden schütteln den Kopf. «Danke. Tee wäre prima», sagt die eine. Der zweiten scheint es die Sprache verschlagen zu haben.
«Bei so viel nackter Haut fang ich ja gleich selbst an zu frieren.» Mudder Steffens nimmt aus der Truhe unter dem Fenster zwei Decken. Die legen Vaddern und sie sich sonst um ihre Schultern, wenn sie am Abend noch draußen sitzen und zuschauen, wie die Sonne hinter den Bäumen verschwindet.
Kaum sind die beiden eingewickelt, drängelt Rosa: «Nun erzählt mal, was ist denn passiert?»
«Das wissen wir nicht», sagt die mit Vadderns Jacke. «Wir haben im Bett gelegen und ferngesehen, als es knallte. Plötzlich roch es merkwürdig. Mai Lee ist nachschauen gegangen und kam ganz schnell wieder zurück. Auf der anderen Seite des Hauses brannte es schon lichterloh.»
«Warum haben Sie denn nicht die Feuerwehr gerufen?», fragt Rosa.
«Das haben wir. Aber der Brand war bereits gemeldet. Da habe ich mich gewundert.»
«Das war ich.» Rosa lächelt den beiden zu. «Ich heiße übrigens Rosa, Rosa Moll.» Dann deutet sie auf Henners Eltern. «Herr und Frau Steffens.» Nacheinander stellt sie auch die anderen Frauen des Häkelbüdel-Clubs vor.
«Mein Name ist Ann Pam Nguyen, und das ist meine Schwester Mai Lee», sagt die mit Vadderns Jacke.
Adelheid reicht beiden Schwestern eine dampfende Tasse Tee. «Auch einen kleinen Schuss mit rein?», fragt sie.
Ann Pam guckt sie irritiert an. «Schuss?»
Henners älteste Schwester grient. «Rum. Oder Amaretto.»
«Oh, danke, nein.» Ann Pam lächelt. Auch Mai Lee schüttelt den Kopf, sagt aber immer noch nichts.
«Die scheint vollkommen unter Schock zu stehen», raunt Rosa den anderen Mädels zu.
«Mir kannst du ruhig einen ordentlichen Schuss Amaretto in den Tee geben», bittet Gudrun, «ich bin so durchgefroren.»
Muddern brüht bereits die nächste Kanne Tee auf, auch wenn es schon auf elf zugeht. «Jetzt trinkt noch ein letztes Tässchen, und dann ab nach Hause», sagt sie.
Bei diesen Worten schluchzt Ann Pam unvermittelt auf. «Nun ist alles aus. Unser schöner Traum ist verbrannt. Wer weiß, ob Herr Gehrken weiter investiert.»
«Dann gibt es wenigstens keinen Swinger-Club», zischt Sigrid leise.
Rosa tritt ihr unter dem Tisch mit dem Fuß vors Schienbein und legt den Zeigefinger auf die Lippen. Dieses Gehetze mag sie gar nicht. «Das Haus ist ja nur zum Teil beschädigt. Das kann man bestimmt wieder instand setzen», versucht sie die Schwestern zu beruhigen. «Und, soweit ich das mitbekommen habe, ist Johann Gehrken ein großzügiger Investor. Den wird das Feuer sicher nicht abschrecken. Der hat garantiert eine gute Gebäudeversicherung.» Sie lächelt die beiden Frauen offenherzig an. «Was wollt ihr da eigentlich genau in diesem ‹Meeresrauschen› machen?»
Routiniert hat Rudi mit Henners Unterstützung ein Absperrband zwischen den Bäumen gezogen, da treffen Kriminalhauptkommissar Siegfried Haueisen und Kriminaloberkommissar Helmut Schnepel am Ort des Geschehens ein.
«N’Abend, Bakker», grüßt Haueisen, Henner nickt er wortlos zu. «Wo haben wir die Leiche?»
Rudi zeigt auf die qualmende Hausseite. «Ganz vorne in dem Raum im Erdgeschoss. Dort scheint das Feuer ausgebrochen zu sein, vermutet der Ortsbrandmeister.»
Hauptkommissar Haueisen lässt sich von Dieter den Raum zeigen. Schnepel, Rudi und Henner folgen ihm auf dem Fuße. Drinnen triefen die Wände vom Wasser, auf dem Fußboden steht es knöchelhoch. Die Freiwillige Feuerwehr hat beim Löschen alles gegeben.
Rudi schaut sich um. Alles ist schwarz. Verrußt und verraucht. In einer Ecke schwimmt eine durch die Hitze verformte Blechdose, daneben Scherben und geschmolzenes Plastik. Und der verbrannte Körper eines Menschen. Rudi muss sich wegdrehen. Den Anblick von Leichen kann er nicht ertragen. Nicht mal den von toten Hühnern.
«Wisst ihr schon, wer es ist?», fragt Schnepel.
Rudi schüttelt den Kopf.
«Guck mal genauer hin!», fordert Schnepel süffisant. «Du kennst doch sonst jeden in Neuharlingersiel.»
«Wie soll ich den denn wohl erkennen? Die Leiche ist ja ganz verkohlt.»
Schnepel grinst breit. «Rudi, du siehst ja ganz blass aus. Ist dir was auf den Magen geschlagen?»
Inzwischen ist Leben in die Gesichter der beiden vietnamesischen Schwestern gekommen. Sogar ihre Wangen sind gerötet. Längst zieht Rosa ihnen nicht mehr die Informationen wie Würmer aus der Nase. Ann Pam plappert aufgeregt und erzählt immer neue Details. Gisela und Sigrid starren sie mit offenem Mund an.
«Klangschalen-Massage, Yoga und Meditation wollt ihr also anbieten?», fasst Rosa zusammen und stupst Sigrid in die Seite.
«Thai-Massagen auch.» Ann Pams Augen strahlen. «Das ist eine ganz andere Massageform, als man sie hierzulande kennt. Da liegen die Patienten auf Matratzen auf dem Boden, und wir als Masseurinnen können unseren ganzen Körper einsetzen, um die Verspannungen zu lösen.»
«Was immer das heißen mag», zischt Gisela so leise, dass Ann Pam die Spitze nicht hört.
«Wir sind für ein paar Tage hier, um die Raumgestaltung abzustimmen. Es wird ein einheitliches Konzept geben. Die Leute sollen sich bei uns wohlfühlen und gerne wiederkommen. Gerade Städter lieben diese Entspannung.»
Sigrid pikst Rosa in die Seite. «Genau das sagt Ludwig.»
«Nun hör aber mal auf», weist Adelheid sie zurecht. «Das interessiert im Moment wirklich niemanden, was Ludwig schreibt. Interessanter ist die Frage, warum das Haus gebrannt hat.»
«Ich glaube, der Hof ist sogar bei uns versichert.» Dörte arbeitet bei der NV-Versicherung in Neuharlingersiel. Sie kennt sich aus mit jeder Form von Schadensregulierung. «So ein Hof brennt nicht einfach so ab.»
Den letzten Satz muss Vaddern aufgeschnappt haben. Er kratzt sich nachdenklich am Kopf. «Vorhin, also kurz vorm Spiel, bin ich raus, um eine zu schmöken.»
«Heinrich!», regt sich Mudder Steffens auf. «Das hat dir Doktor Müller doch verboten.»
«Is ja auch egal», wischt er ihren Einwurf beiseite. «Jedenfalls, als ich draußen stand, hab ich drüben beim Gehöft vom Geflügelbaron jemanden wegfahren sehen. Auf’m Fahrrad. Mit so’m funzeligen Vorderlicht. Hab ich mir nichts weiter bei gedacht. Da schleichen jetzt ja immer irgendwelche Arbeiter rum, die Kalikowsky anschleppt. Mit zwei von denen hab ich auch schon geschnackt. Die sind ganz nett. Aber jetzt kommt mir das doch komisch vor. Denn kurz darauf hat es geknallt.»
Die Polizisten aus Wittmund inspizieren noch das Gebäude, als ein VW-Bus vorfährt. Fast gleichzeitig hält ein Geländewagen daneben. Ein großgewachsener Mann springt heraus. Haueisen verlässt sofort das Gebäude, als er die Neuankömmlinge sieht. Der Hüne geht auf Haueisen zu. Er wirkt sichtlich erschüttert. «Johann Gehrken», stellt er sich vor. «Mir gehört das Haus. Ihre Kollegen haben mich informiert. Was ist denn passiert?»
«Das können wir Ihnen leider noch nicht sagen. Das Feuer scheint hier vorne ausgebrochen zu sein.» Haueisen räuspert sich. «Wir stellen über Nacht eine Feuerwache auf. Morgen werden die Kollegen der Brandursachenermittlung alles untersuchen, ich hab das mit der Staatsanwältin abgeklärt. Das Gebäude muss nur erst komplett erkaltet sein. Keine Glutnester mehr oder so.»
«Ich verstehe. Kann man abschätzen, wie hoch der Schaden ist und wann der Umbau weitergehen kann?»
Haueisen legt die Stirn in Falten. «Nein. Da werden Sie warten müssen. Außerdem geht es nicht nur um Sachschaden. Da muss ich die Kollegen von der Zentrale korrigieren. Die Feuerwehr hat einen Toten im Haus gefunden.»
«Einen Toten?» Johann Gehrken wirkt blass im Licht der Strahler. «Aber die Mädels sind rechtzeitig raus, oder?» Seine Stimme klingt angespannt.
«Mädels?» Haueisen wird hellhörig.
Rudi zeigt zum Steffens-Hof. «Jo. Denen geht’s den Umständen entsprechend gut. Ich hab sie zum Aufwärmen nach nebenan bringen lassen.»
«Ach», sagt Schnepel. Mittlerweile hat er sich zusammen mit Dieter zu ihnen gesellt.
Haueisen übergeht Schnepels Gestichel und wirft Gehrken einen verwunderten Blick zu. «Ich dachte, das ist hier eine Baustelle. Dass hier jemand wohnt, davon war bislang keine Rede.»
«Von Wohnen kann man auch nicht wirklich sprechen», wiegelt Gehrken ab. «Vor einer Woche sind die künftigen Betreiberinnen vom ‹Meeresrauschen› nach Neuharlingersiel gekommen. Der rechte Teil des Hauses bleibt ja als Wohnhaus bestehen, ein paar Möbel stehen sowieso noch drin, und Bad und Küche sind funktionstüchtig – da habe ich ihnen erlaubt, für die Zeit der Abschlussbesprechungen hier zu wohnen. Dann müssen die kein Geld für eine Pension oder ein Hotel ausgeben.»
Langsam schiebt sich der Mond hinter der dichtbelaubten Eiche hervor und taucht alles in sein bleiches Licht. Haueisen, Schnepel und Rudi starren Gehrken an. Henner kommt es vor, als wenn dem Investor jetzt erst dämmert, dass Probleme auf ihn zukommen könnten.
«Und haben Sie eine Idee, wer der oder die Tote sein könnte?» Haueisen klingt ungehalten.
«Vielleicht einer der Bauarbeiter.» Gehrken verschränkt die Arme vor der Brust. Das soll souverän wirken, ist aber reine Abwehr. Henner kennt das von sich selbst.
«Haben die denn auch hier gewohnt?» Haueisen sieht Gehrken überrascht an.
«Nein. Also, nicht dass ich wüsste. Ich hab die ja nicht selbst angestellt, das ist Sache von Kalikowsky.»
«Kalikowsky?», hakt Schnepel nach. «Welcher Kalikowsky?»
Rosa staunt nicht schlecht, als die Küchentür aufgeht und nicht nur Henner und Rudi, sondern auch Haueisen, Schnepel und ein hochgewachsener Mann eintreten. Langsam wird es richtig voll in der großen Küche. Neugierig schauen Adelheid, Gudrun, Dörte, Sigrid und Gisela die Neuankömmlinge an. Keine von ihnen macht Anstalten zu gehen, auch wenn die angekündigte letzte Tasse Tee längst ausgetrunken ist. Vadder Steffens stopft sich einen Priem in die Backe, Muddern greift wortlos zum Kessel und füllt ihn zum dritten Mal an diesem Abend mit Wasser.
«Moin», grüßt Haueisen höflich, um gleich darauf in seinen Kommandoton zu wechseln: «So. Alle, die hier nichts zu suchen haben, machen sich auf den Weg nach Hause. Das ist eine polizeiliche Befragung.»
Die Mädels vom Häkelbüdel-Club erheben sich murrend, Adelheid und Gudrun ziehen einen Flunsch. Nur Rosa bleibt unbeirrt neben den beiden Vietnamesinnen sitzen.
Der hünenhafte Mann tritt an den Tisch und beugt sich zu ihnen vor. «Geht’s euch gut?»
«Ja, Herr Gehrken, uns ist nichts passiert.» Wieder ist es Ann Pam, die redet.
Aufmerksam betrachtet Rosa den Geflügelbaron und versucht in seinem Gesicht zu lesen. Während die anderen Frauen aufstehen und sich von Henners Eltern verabschieden, bleibt Rosa sitzen.
Haueisen poltert los: «Frau Moll, Sie sind auch gemeint!»
«Nein, Herr Haueisen. Ich nicht. Ich muss mich um die beiden Damen kümmern, ich bin quasi die Frauenbeauftragte in dieser Angelegenheit.» Rosa registriert aus dem Augenwinkel, dass Rudi breit grinst, und zwinkert ihm zu. Ist ja wohl klar wie Kloßbrühe, dass sie nicht geht. Jetzt, wo es gerade spannend wird!
«Na gut», gibt sich Haueisen überraschend geschlagen. Vermutlich wagt er es auf dem Steffens-Hof nicht, den ganz großen Max herauszukehren. Eine diebische Freude macht sich in Rosa breit.
«Nehmen Sie doch Platz», bietet Vadder Steffens an, «ist so ungemütlich, wenn Sie alle stehen.»
Johann Gehrken setzt sich gegenüber von Rosa an den Tisch. Der Mittsechziger ist eine stattliche Erscheinung. Weiße, zurückgekämmte Haare mit dezenten Geheimratsecken. Ebenmäßige Gesichtszüge, für Ende Oktober erstaunlich gebräunt. Dazu die spitze Nase und der arrogante Gesichtsausdruck. Er erinnert Rosa eindeutig an jemanden. Vor allem, als er die Schwestern jetzt mit besorgter Miene fragt: «Kann ich irgendwas für euch tun?»
«Nein, alles gut. Wir sind ja froh, dass uns nichts passiert ist», sagt Ann Pam leise, aber ihr Blick wirkt ängstlich.
«Soll ich euch ein Hotelzimmer besorgen?»
Die beiden Mädchen antworten nicht, hilflos schauen sie Gehrken an. «Nicht nötig», brummt Mudder Steffens vom Herd aus, wo sie gerade das kochende Wasser über die Teeblätter gießt. «Wir haben hier Platz genug. Und Klamotten für die Deerns werden wir auch auftreiben. Wozu hab ich schließlich acht Töchter.»
Gehrken sieht überrascht aus. «Meinen Sie das ernst?»
«Wenn ich das sage, meine ich das auch so!» Muddern stellt den Teekessel energisch zurück auf den Herd.
«Seid ihr damit einverstanden?», fragt Gehrken.
Der Typ kommt Rosa nicht ganz koscher vor. Allein, wie er seine randlose Brille immer wieder mit dem Zeigefinger auf die Nasenwurzel schiebt und sich seine Lippen dabei kräuseln.
Ann Pam dreht den Kopf zu ihrer Schwester, dann nickt sie. «Ja, danke. Das ist sehr nett von Ihnen.»
«Das ist doch jetzt alles nebensächlich», mischt sich Haueisen ein. Er hat mittlerweile den Schwestern gegenüber Platz genommen. «Uns interessiert, ob Sie was gesehen oder gehört haben. Können Sie sich erklären, wie es zu dem Brand gekommen ist?»
Ann Pam schüttelt den Kopf. Mai Lee starrt auf die Tischplatte und rührt sich nicht. «Nein, dazu können wir nichts sagen. Wir haben uns ja auf der anderen Seite des Hauses aufgehalten. Die ist nicht mit dem Anbau verbunden. Und nur dort wird umgebaut.» Sie sieht zu ihrer Schwester. Mai Lee reagiert aber nicht. «Wir sind hier, um die Feinarbeiten abzusprechen. Wir haben den Fußboden ausgesucht, die Lichtgestaltung mit dem Elektriker und Herrn Kalikowsky besprochen, schließlich soll alles warm und freundlich und auf keinen Fall zu nüchtern sein …»
«Ja, ja, sehr interessant», unterbricht Haueisen sie. «Herrn Kalikowsky haben wir aufs Band gesprochen, dass er sich umgehend bei uns melden soll. Es gibt ein ganz anderes Problem. Wir haben nach dem Löschen des Brandes eine verkohlte Leiche im Haus gefunden.»
In die eintretende Stille hinein stellt Mudder Steffens Teebecher vor Henner und Rudi. «Woll’n Sie auch?», fragt sie in die Runde. Haueisen verneint, Schnepel nickt erfreut, Gehrken verzieht angewidert den Mund. Klarer Fall. Jetzt weiß Rosa, an wen er sie erinnert. Sky du Mont.
«Also?», hakt Haueisen nach. Rosa kommt es vor, als wenn er die Befragung schnell hinter sich bringen will.
«Es könnte Wacław sein.» Ann Pam schickt einen um Verzeihung bittenden Blick in Richtung Gehrken.
«Welcher Wacław?», fragt Haueisen und schaut die Vietnamesin an.
Auch Gehrken wirkt überrascht, das entgeht Rosa nicht. Jetzt nickt er der jungen Frau sogar aufmunternd zu, als bräuchte sie zum Reden seine Erlaubnis.
«Wacław Drawo. Er gehört zu den Arbeitern», sagt Ann Pam mit leiser Stimme. «Seine Kollegen schlafen in einer Pension, aber Wacław wollte das Geld dafür sparen. Darum hat er auf der Baustelle gewohnt. Heimlich. Er hat uns angefleht, ihn nicht zu verraten.»
«Und seine Sachen? Wo sind die?», fragt Haueisen.
«Die sind in unserem Teil des Hauses, da, wo später unsere Wohnung sein wird.»
«Ah», murmelt Haueisen. Er scheint nachzudenken.
Diesen Moment nutzt Schnepel. «Können Sie sich vorstellen, dass er den Brand absichtlich gelegt hat?» Seine Augen flackern bei der Frage.
«Nein.» Beide Vietnamesinnen schütteln den Kopf.
«Er hat sich gefreut, bald wieder Geld nach Hause schicken zu können», sagt Mai Lee. Sie scheint endlich ihren Schock überwunden zu haben.
«Und unabsichtlich?»
«Meine Schwester hat doch schon gesagt, dass wir nichts mitbekommen haben. Erst als es laut knallte, haben wir den Brandgeruch bemerkt.» Mai Lee ist zu Rosas Freude gar nicht so schüchtern, wie sie auf den ersten Blick gewirkt hat.
«Hat er sich vielleicht mit seinen Kollegen gestritten?», legt Schnepel nach.
«Das wissen wir nicht, wir sind den ganzen Tag unterwegs gewesen. Als wir gestern Abend auf den Hof kamen, sind wir gleich in unseren Bereich gegangen. Warum hätten wir nachgucken sollen, ob er da ist? Wir hatten ja nichts mit ihm zu tun. Außer, dass wir dasselbe Badezimmer benutzen.»
«Keine Hinweise. Keine Zeugen. Schade», murmelt Haueisen.
«Nicht ganz», sagt Rosa. Sie zeigt auf Henners Vater.
«Vadder Steffens, Sie haben doch vorhin was gesehen!» Alle Augen richten sich auf den Alten.
«Stimmt das?», fragt Haueisen.
«Jo.»
«Und was?»
«Da drüben ist kurz vor Anpfiff des Spiels ein Radfahrer vom Hof gefahren. Das Vorderlicht flackerte. Deswegen hab ich das gesehen.»
Sofort kommt Bewegung in den Hauptkommissar. «Schnepel, flitzen Sie rüber, und sagen Sie der KTU Bescheid. Die sollen Ausschau nach Reifenspuren halten.»
Na, damit hätte Vadder Steffens auch gleich rausrücken können, findet Rudi. Der kann sich doch denken, dass das wichtig ist. Oder wird der inzwischen ein bisschen tüdelig?
«Brauchen Sie die Deerns noch?», fragt Muddern im Kommandoton. «Is besser, wenn die jetzt ins Bett gehen und Ruhe finden. War ja ein heftiger Tag für sie.»
Haueisen schüttelt den Kopf.
«Na, dann kommt mal mit», sagt Muddern, und die Vietnamesinnen stehen auf. Dankbar sehen sie die Alte an.
«Halten Sie sich morgen bitte zu unserer Verfügung», ruft Haueisen ihnen nach, als die drei die Küche verlassen. Das hätte er sich auch sparen können, denkt Rudi. Wo sollen die denn schon groß hin?
«Ist gut. Machen wir Schluss für heute.» Haueisen wirft einen Blick auf die Uhr. «Spät genug ist es. Wenn Kalikowsky bis jetzt nicht zurückgerufen hat, wird er wohl seine Mailbox nicht mehr abgehört haben. Wir kümmern uns gleich morgen früh um ihn. Schnepel, gehen Sie noch mal zu den Kollegen von der Feuerwehr, die heute Nacht Wache halten. Die sollen bleiben, bis die Leute von der Brandursachenermittlung ihre Arbeit aufnehmen. Dann können die sich gleich absprechen, und wir verlieren keine Zeit.» Schnepel springt auf, aber Haueisen hält ihn zurück. «Und die können auch die anderen Bauarbeiter in Empfang nehmen, falls wir Kalikowsky vorher nicht zu fassen kriegen.» Haueisen wendet sich an Rudi: «Bakker, Sie und Schnepel werden direkt um sieben bei Kalikowsky sein. Ach Schnepel, und denken Sie dran, drüben gleich Material für einen DNA-Abgleich sicherzustellen. Emterbäumler soll sich das vornehmen. Pöppelmeyer bringt den Leichnam morgen früh als Erstes zu ihm ins Rechtsmedizinische Institut.» Zufrieden klatscht er in die Hände. «Packen wir’s an!»
Am nächsten Morgen klingelt Rudis Wecker um halb sechs. Schlaftrunken schlägt er mit der flachen Hand auf die Schlummertaste. Die Nacht war entschieden zu kurz. Und nicht, weil er sich auf dem Sportkanal noch die Zusammenfassung des Spiels angesehen hat. Das hat er sich gespart, weil sein Sohn Sven ihm das Ergebnis samt saftigem Kommentar per SMS gesendet hat. Aber er hat so nach Rauch und Qualm gestunken, da musste er ewig lange duschen. Allein dreimal hat er sich die Haare gewaschen und gleich im Anschluss rasiert. Damit heute früh die Katzenwäsche reicht. Rudi schließt die Augen, dreht sich auf die andere Seite und dämmert im nächsten Moment wieder weg. Bevor er jedoch richtig einschläft, meldet sich der Wecker erneut mit dem schrillen Piepsen, das er so sehr hasst. Es nützt nix, er muss aufstehen.
Mit Schwung kommt Rudi in die Senkrechte, reibt sich den Schlaf aus den Augen und angelt mit den nackten Füßen nach seinen Pantoffeln. Im Bademantel schlurft er in die Küche und setzt Teewasser auf. Dann holt er die Zeitung aus dem Briefkasten. Und wo er schon draußen ist, nimmt er gleich noch seine Uniform mit rein, die draußen zum Lüften hängt.
Pünktlich um halb sieben ist Rudi fertig mit dem Frühstück. Aus alter Gewohnheit will er seinem Sohn Tee in die Thermoskanne gießen, da fällt ihm ein, dass Sven bei seinem Kumpel Olaf schläft. Sind schließlich Herbstferien. Rudi muss sich wohl oder übel daran gewöhnen, dass sein Sohn erwachsen wird. Vermutlich muss er sich auch daran gewöhnen, immer öfter alleine zu frühstücken. Ein kurzer Gedanke huscht zu seiner Ex-Frau Denise. Aber wirklich nur ein ganz kurzer.
Draußen hupt wer. Schnepel steht mit dem Einsatzwagen vorm Zaun. Der Tag könnte wirklich besser anfangen.
Zwanzig Minuten später fahren sie bei Kalikowsky auf den Hof. Das Baugeschäft liegt am Rande von Esens zwischen älteren Gewerbebauten und versprenkelt stehenden Einfamilienhäusern. Das spitzgiebelige Haus aus den fünfziger Jahren wirkt heruntergekommen und bräuchte dringend einen neuen Anstrich. Nach einer Visitenkarte für ein florierendes Bauunternehmen sieht das nicht aus.
Unter einer Kastanie stapeln sich Paletten mit unterschiedlichsten Dachziegeln, dicht daneben große Plastiktragesäcke mit Kieselsteinen. Dahinter dünne und dicke Stahlrohre, kreuz und quer auf einem Haufen wie beim Mikado. In der einen Ecke reihen sich alte Fensterrahmen aneinander, gegenüber Metallteile, wie sie Gerüstbauer verwenden. Drei Fertiggaragen stehen direkt neben dem Haus. Die Rolltore sind geöffnet, aber weit und breit ist niemand zu sehen. Mit ihren vielen Regalen scheinen sie als Lager zu dienen.
Schnepel schüttelt verständnislos den Kopf, als er das sieht. «Wie bei Hempels unterm Sofa.»
Ausnahmsweise muss Rudi seinem Kollegen recht geben. Andererseits sind sie nicht hier, um die Betriebsführung der Firma Kalikowsky unter die Lupe zu nehmen.
«Lass uns rübergehen», sagt Rudi. «Im Haus brennt Licht.»
«Aber du hältst dich zurück, das Gespräch führe ich. Ist das klar?», faucht Schnepel.
Der Wind kommt von Norden, und er treibt das bunte Laub in aufsteigenden Wirbeln über den Hof. Fasziniert beobachtet Rudi den Tanz der Blätter. Schnepel hat keinen Blick dafür. Er steht an der Haustür und drückt auf den einzigen Klingelknopf. Lang und ausdauernd. Drinnen sind schwere Schritte zu hören. Die Tür wird mit einem kräftigen Ruck geöffnet.
«Ja, bitte?»
Vor ihnen steht ein vierschrötiger Kerl mit enormem Bauchumfang. Aber nicht die Plauze des Mannes fällt Rudi als Erstes auf, sondern das fleischige Gesicht mit den verschlagen dreinschauenden Augen und der glänzenden Warze auf der Wange. Dazu kräftige Lippen und nach hinten gekämmte Haare. Sind die noch nass, oder ist das Pomade?
«Guten Morgen, Herr Kalikowsky.» Schnepel hält dem Mann seinen Dienstausweis hin. «Wir kommen von der Kripo Wittmund und müssen mit Ihnen sprechen.»
«Kripo? Wieso das denn? Ich hab nix verbockt.» Sofort geht der Bauunternehmer in Verteidigungsstellung. Er ballt sogar seine Hände zu Fäusten.
«Hat auch niemand gesagt, dass Sie was verbockt haben. Wir haben Ihnen gestern Abend aufs Band gesprochen und um Rückruf gebeten. Aber das haben Sie nicht gemacht, und darum sind wir jetzt hier.»
«Aufs Band gesprochen?» Kalikowsky guckt verdutzt. «Das hab ich gar nicht mitgekriegt. Kommen Sie doch erst einmal rein. Um was geht es denn genau?»
Sie folgen ihm durch einen dunklen Flur in eine unaufgeräumte Küche. «Setzen Sie sich. Kaffee?» Kalikowsky greift zu einem Becher mit Bayern-München-Logo. Das macht ihn Rudi nach dem verlorenen Spiel von gestern Abend nicht unbedingt sympathischer.
«Es hat den Anschein, dass einer Ihrer Bauarbeiter gestern bei einem Brand in Neuharlingersiel ums Leben gekommen ist», sagt Schnepel.
«Ach du Scheiße! Auf dem Resthof vom Gehrken?» Das kommt wie aus der Pistole geschossen.
«Jo.»
«Ach du lieber Gott.» Kalikowsky zieht die Stirn in Falten. «Wen hat es denn erwischt?»
«Vermutlich einen Mann mit Namen Wacław Drawo. Aber wir müssen die rechtsmedizinischen Untersuchungen abwarten», antwortet Rudi.
Ein tiefer Seufzer entweicht Kalikowskys Brust. «Wacław. Der ist ein prima Kerl. Arbeitet für zwei. Und denkt mit. Die anderen drei Jungs sind längst nicht so pfiffig.»
«Hat eigentlich die ganze Kolonne auf der Baustelle geschlafen?» Schnepel macht eine kurze Pause. «Ist das überhaupt erlaubt?»
Schnepel schon wieder. Rudi atmet schwer durch.
Kalikowskys Bauch streckt sich mit einem Ruck vor, so empört zieht er die Luft ein. «Was heißt hier auf der Baustelle schlafen? Meine Jungs pennen in der Pension Seemöwe, da bringe ich all meine polnischen Trupps unter. Außerdem kenne ich die Wirtin gut. Ich hab das eine oder andere an ihrem Haus repariert. Die macht meinen Leuten immer einen guten Preis.»
«Es scheint, dass zumindest Wacław Drawo auf der Baustelle gewohnt hat. Er hat Zeugen das Versprechen abgenommen, darüber Stillschweigen zu wahren. Deswegen gehen wir davon aus, dass er das Brandopfer ist.»
Schnepel hat ein Talent dafür, Sachen kompliziert auszudrücken.
«Was reden Sie denn da? Die wohnen in der Seemöwe. Punkt. Aus. Wenn einer ’ne Extratour macht, hab ich nix damit zu tun.» Wieder legt er die Stirn in Falten.
«Wir haben gehört, dass er das Geld für die Übernachtungen sparen wollte, um mehr in seine Heimat zu überweisen», sagt Rudi in versöhnlichem Ton. Er ist es gewohnt, die Wogen zu glätten, die Schnepels polterige Auftritte hervorrufen.
«Das würde zu Wacław passen. Für seine Kinder und seine Frau tut er alles.» Kalikowsky wischt sich mit dem Unterarm über die Nase. Der schnodderige Kerl scheint tatsächlich gerührt zu sein. In diesem Moment klingelt sein Handy.
«Kalikowsky», bellt er in den Hörer. Er hört kurz zu, dann fragt er: «Ist Wacław bei euch?» Der Bauunternehmer blickt in Rudis Richtung. «Bleibt, wo ihr seid. Ich komme gleich.» Er beendet das Gespräch. «Das war Jarosław. Wacław ist nicht bei ihnen. Sie stehen beim Gehrken-Hof.» Seine Schultern straffen sich. «Ich denke, wir haben genug geredet. Lassen Sie uns rüberfahren.» Zusammenhangslos fügt er hinzu: «Ich hab vorhin schon den Transporter mit den Materialien gepackt, die sie heute brauchen. Aber das hat sich ja jetzt wohl erledigt. Muss mal gucken, wo ich die einsetze, wenn die Baustelle wegfällt. Oder können wir da morgen weiterarbeiten?»
Rudi zuckt mit den Schultern. «Eher nicht. Die Brandermittler müssen noch rein. Und ein Gutachter muss prüfen, ob das Haus einsturzgefährdet ist.»
«Au Mann, als ob ich nicht genug Mist an den Hacken hätte», stöhnt Kalikowsky und schnappt sich seinen Autoschlüssel.
«Halt die Klappe!», schreit Pepe zum dritten Mal und springt im Käfig hin und her, dass die Gitterstäbe nur so scheppern. Den Lärm aus dem Arbeitszimmer hört Rosa sogar durch die geschlossene Tür bis ins Schlafzimmer. Ihrem Beo ist vermutlich langweilig, und sicher hat er Hunger.
Verschlafen tappst Rosa hinüber und öffnet den Käfig. «Halt die Klappe!», kreischt Pepe erneut und flattert durch den Raum, während Rosa ihm in der Küche einen Apfel in Spalten zurechtschneidet und sich selbst Teewasser aufsetzt.
Mit dem frisch aufgebrühten grünen Tee auf dem Nachttisch macht Rosa es sich noch einmal im Bett gemütlich. Acht Uhr. Viel zu früh zum Aufstehen. Vor allem nach der Aufregung gestern Abend. Sie hat gar nicht einschlafen können und sich deshalb ein Glas Holundersaft heiß gemacht. Der soll angeblich müde machen. Hat aber nicht viel genutzt. Immer wieder gingen ihr die Bilder von dem brennenden Haus durch den Kopf, die verschreckten Gesichter der beiden Frauen. Und der Tote. Nein, von dem hat sie kein Bild vor Augen. Den hat sie ja gar nicht gesehen. Und das ist auch gut so. Solch einen Anblick vergisst man nie wieder, hat Feuerwehr-Dieter zu ihr gesagt. Und dann der Geruch von verbranntem Fleisch! Dieter hat gemeint, sie kann sich freuen, dass sie nicht mit ins Haus reinmusste. Da hat er recht.
Mit Grausen erinnert sich Rosa daran, dass sie im Sommer ein Huhn im Suppentopf vergessen hat. Während sie gemütlich mit einem Buch im Garten saß, stand das Huhn bei voller Flamme auf dem Herd. Als es ihr endlich wieder einfiel und sie in die Küche stürzte, war das Huhn vollkommen verkohlt. Und gestunken hat es! Bestialisch! Diesen Geruch hat sie heute noch manchmal in der Nase. Allein bei dem Gedanken daran schüttelt Rosa sich, und Bildfetzen von gestern Abend drängen sich ihr wieder auf. Vor allem die Flammen, die aus dem Raum schlugen.
Der arme Kerl.
Ob er selbst für den Brand verantwortlich war?
Rosa beißt sich auf die Unterlippe. Vadder Steffens ist sich sicher, ein Fahrrad gesehen zu haben. Und das bedeutet – Rosas Nase vibriert vor Aufregung –, das bedeutet, dass da jemand gewesen ist. Ann Pam und Mai Lee haben nichts davon gesagt, dass sie Besuch hatten. Hatte Wacław welchen? Rosas Herz schlägt aufgeregt. Gab es vielleicht einen heftigen Streit, bei dem Wacław zu Boden ging und das Feuer ausbrach? Wenn ja, warum hat der andere den Brand nicht gemeldet?
Ihr Puls schlägt schneller, doch Rosa zwingt sich zur Ruhe und greift zu ihrem Becher. Langsam trinkt sie den Tee in kleinen Schlucken. Vielleicht hatte der Pole wirklich nur harmlosen Besuch, und das Feuer ist durch eine Unachtsamkeit ausgebrochen, als er wieder allein war. Eine brennende Zigarette im Bett. Eine umgekippte Kerze. Zur Adventszeit gehen ganze Wohnungen in Flammen auf. Henners Vater hat ja nichts davon gesagt, dass es schon gebrannt hat, als der Radfahrer davonfuhr.
Wenn es allerdings keine Unachtsamkeit war – Rosas Herz wummert –, hat dann dieser Jemand das Haus absichtlich angezündet?
Rosa sitzt plötzlich kerzengerade im Bett. Vielleicht weil das Haus kein Entspannungszentrum mehr werden kann, wenn es abgebrannt ist.
Das ist es!
Rosa schmeißt die Beine aus dem Bett und fasst sich ins Haar. Auch wenn es erst eine gute Woche her ist, dass sie beim Friseur war, wird es hochnotdringend Zeit für eine leichte Korrektur. Und wenn es nur Wimpern- und Augenbrauenfärben ist. Im Salon Anita schlägt der Puls Neuharlingersiels. Hier erfährt man alles, was in der Gegend wichtig ist. Genau da muss sie jetzt hin.
Die Fahrt von Esens nach Neuharlingersiel dauert nicht lang. Schnepel sitzt am Steuer und Rudi nutzt die Zeit, um seinen Kollegen Bernie Bütefisch in der Polizeidienststelle anzurufen. Dort sollte er eigentlich auch schon längst sitzen.
«Moin, Bernie, du, mit mir brauchst du heute erst mal nicht zu rechnen. Haueisen hat mich beauftragt, mit Schnepel ein paar Befragungen wegen des Brandes in Neuharlingersiel durchzuführen.»
«Is gut», sagt Bernie. Dem Genuschel nach zu urteilen, hat er gerade wieder eines seiner geliebten Mettbrötchen am Wickel. «Wo hat’s denn gebrannt? Stand gar nichts von in der Zeitung.»
«Auf dem Gehrken-Hof. Am Abend. Ist ein Mensch bei ums Leben gekommen.»
«Oje. Wie schrecklich.» Trotzdem kaut Bernie ungerührt weiter.
«Jo. Du kommst allein klar?», fragt Rudi mehr so rhetorisch.
«Natürlich.» Krachend beißt Bernie ein weiteres Mal ins Brötchen.
«War wohl einer von Kalikowskys Leuten. Kennst du den?»
«Jo. Der schleppt hier seine Landsleute an und schnappt den Alteingesessenen durch Dumpingpreise die Geschäfte weg», antwortet Bernie mit vollem Mund.
Schnepel parkt den Streifenwagen an der Stelle, die auch Rudi gestern Abend gewählt hat. Die Kollegen der Spurensicherung sind fleißig am Arbeiten. Wüst sieht es aus, ein Eimer weißer Farbe ist umgekippt, überall sind Farbspritzer zu sehen.
«Habt ihr die Reifenspuren schon gesichert?», fragt Schnepel.
«Was glaubst du denn?» Sein Kollege verdreht die Augen. «Meinst du, wir halten hier Maulaffen feil?»
Die Rauchschwaden sind längst verzogen, mittlerweile qualmt es auch nicht mehr. Aber Brandgeruch hängt trotz des Windes wie eine Dunstglocke über dem Anbau des alten Bauernhofes, dem Geburtshaus von Gehrkens Großvater. Bis zu ihrem Tod haben die beiden Alten hier gewohnt. Als kleine Jungs sind Henner und Rudi gerne mal hierhergekommen, wenn sie durch die Gegend stromerten. Oma Gehrken hat immer leckere Kekse gehabt. «Ostfriesische Hungerkuchen». Rudi und Henner fanden den Namen total klasse. Oma Gehrken hat sie das ganze Jahr über gebacken und in einer Blechdose verwahrt. Rudi lächelt bei der Erinnerung daran.
«Grins nicht so blöd.» Schnepel stößt ihn in die Seite. «Wir müssen die Polen befragen.» Sie gehen auf die Männer zu, die um Kalikowsky herumstehen, und haben ihn fast erreicht, als ein Brandermittler sich bemerkbar macht.
«Es war ein Brandanschlag. Wir haben die Überreste eines Molotow-Cocktails gefunden. Gleich neben einem verkohlten Campingkocher. Zwei tote Katzen lagen übrigens in einer anderen Ecke des Raums. Die haben die Kollegen gestern Abend wohl übersehen.»
Strahlend blauer Himmel und keine Wolke weit und breit. Die Sonne zeigt, was sie kann. Henner hat den ersten Teil seiner Postrunde hinter sich und radelt mit Berta, wie er sein gelbes Dienstpostfahrrad liebevoll nennt, durch den Sielhof-Park. In den letzten Tagen haben sich die Blätter der Bäume verfärbt, stetig fallen welche ab und segeln zu Boden. Henner liebt diese goldenen Oktobertage, auch wenn er sich heute nicht so darüber freuen kann wie sonst. Der Brand geistert durch seinen Kopf. Warum um Himmels willen ist der Mann nicht rechtzeitig aus dem Zimmer gerannt und hat sich in Sicherheit gebracht? Er wirft einen Blick auf die Uhr. Er liegt verdammt gut in der Zeit. Perfekt, so wird er am Ende seiner zweiten Runde ein wenig früher als sonst auf dem elterlichen Hof eintreffen. Dann hat Muddern das Mittagessen zwar noch nicht fertig, aber vielleicht weiß Vaddern, ob es was Neues gibt.
Aus dem Verteilerkästchen bei der Pizzeria nimmt Henner die zweite Fuhre Post. Heute hat er jede Menge Rechnungen vom Schornsteinfeger dabei. Auch eine für Tante Hildegard.
«Henner, komm man rin in die gute Stube», sagt sie, lotst ihn aber in die Küche. Dort schenkt sie ihm ohne zu fragen eine Tasse Tee ein. «Nun erzähl. Was ist da gestern auf dem Gehrken-Hof los gewesen? Die Marga hat mir gesagt, dass eine Polenbande das Haus angezündet hat.»
Was genau passiert ist, weiß Henner bislang zwar nicht, aber dieses Gerücht kann er zerstreuen. «Da hat jemand was in den falschen Hals bekommen. Ein Pole war es, der verbrannt ist. Jedenfalls vermutlich.»
«Och, vermutlich … das heißt vieles.» Tante Hildegard wirft ihrem einzigen Neffen einen verschwörerischen Blick zu. «Aus dem Ostblock kommen ja ganze Banden und klauen Autos. Kaum gestohlen, schon in Polen. Sagt man ja nicht ohne Grund.»
«Tante Hildegard, jetzt hör aber auf!» Henner ärgert sich nicht zum ersten Mal über die Vorurteile seiner Tante. «Die Polen machen den Umbau für Gehrken.»
«Und warum nimmt der keine Handwerker von hier?»
Henner hat keine Lust, sich mit seiner Tante zu streiten. Er lässt die halbvolle Tasse stehen und verabschiedet sich. «Ich muss dann mal weiter. Die Leute wollen ihre Post gerne vorm Mittagessen haben.»
Er arbeitet sich von Briefkasten zu Briefkasten vor, schließlich steht er vor Ludwigs Tür. Für den hat er außer einer Rechnung vom Schornsteinfeger auch einen DIN-A4-Umschlag aus Hamburg.
Henner klingelt.
«Is offen!», schallt es sofort von oben herunter. Als Henner ins Wohnzimmer kommt, sitzt Ludwig am Tisch beim Fenster, vor ihm das eingeschaltete Tablet.
«Moin, Henner, möchtest du einen Tee?»
«Nein, danke.» Erstens hatte Henner gerade erst einen bei Tante Hildegard, und außerdem müsste er sich den bei Ludwig selbst aufbrühen. Seit der Frührentner ist und sich nur noch schwer auf den Beinen fortbewegen kann, spannt er alle Leute für Hilfsdienste ein. Mit dem Mund und den Fingern ist er allerdings flink. Die flitzen in beachtlichem Tempo über sein Tablet, wenn er einen Artikel für die Mitmachzeitung verfasst.