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Eine Gebrauchsanleitung in Sachen Liebe sollte wirklich endlich mal jemand schreiben!, findet die 16-jährige Penelope, als sie mit Karacho in ihre erste große Liebesgeschichte reinrauscht und, ohne über Los zu gehen, erst wieder an der Abfahrt »Herzensleid« zum Stehen kommt. Darauf bereitet einen wirklich keiner vor, weder Eltern noch Lehrer noch sonst wer von den angeblich so Erwachsenen. Genau betrachtet haben die nämlich auch kein Patentrezept in Sachen Liebe parat. Also beschließt Penelope, selbst dieses Buch zu schreiben, die Geschichte ihrer großen Liebe und deren Scheitern, entlang an all den kleinen Erinnerungsstücken, die sich durch Penelopes Liebesleben ziehen: vom ersten Händchenhalten im Kindergarten über den ersten kumpelig-peinlichen Kuss mit 11, bis hin zum ultimativen Date mit Mr Right.
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Seitenzahl: 341
Meg Leder
Aus dem amerikanischen Englischvon Henriette Zeltner
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1. Auflage 2016© 2016 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlagin der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenAlle deutschsprachigen Rechte vorbehalten© 2016 Meg LederDie amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel:»Museum of Heartbreak« bei Simon & Schuster Books for Young Readers,einem Imprint von Simon & Schuster Children’s Publishing DivisionÜbersetzung: Catrin FrischerUmschlagkonzeption: *zeichenpool, Münchenunter Verwendung der Fotos von: © Shutterstock (Karkas, Victor Naumik, nuwatphoto, severija, Stratos Giannikos, ssuaphotos, Stiggy Photo, Alex Staroseltsev, Wayne0216, photastic, Artur Marfin, mtlapcevic, Digiselector)MP · Herstellung: UKSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-16313-6V001www.cbj-verlag.de
Für Tom Geier, der mir beibrachte, dass ich’s kann, und Michael Bourret, der mir sagte, ich soll’s tun.
Ich will nicht, dass sie gehen.
Denn ich weiß, dass ich sie vergessen werde, wenn sie uns nun verlassen.
Ich überlege über die Treppe die 86 Stockwerke des Empire State Buildings bis auf die Straße hinunterzurennen, mich ihnen in den Weg zu stellen und zu schreien: »Geht nicht!«.
Aber wenn ich das tue, wird mich zweifellos einer von ihnen auffressen – vielleicht der T-rex. Er wird meinen Körper mit seinen Krallen packen, meine Knochen mit seinen mächtigen Kiefern zermalmen, meine Sehnen mit seinen Schneidezähnen durchtrennen.
Ich kann sie nicht aufhalten: Die Dinosaurier verlassen New York City.
Ich beobachte Hunderte und Aberhunderte, in allen Formen und Größen, die in den Holland Tunnel, über die Brooklyn Bridge, durch den Hudson River wandern.
Sie ziehen in Gruppen und allein: eine Familie Triceratops, die Mutter stupst ein Junges mit der Nase und stampft ungeduldig mit dem Vorderfuß auf.
Ein T-rex schlägt mit seinen Ärmchen wütend nach Autos.
Ein Pterodaktylus fegt den Broadway hinunter.
Ich beobachte sie von der Aussichtsplattform des Empire State Building, werfe Münzen in das Touristenfernglas, damit ich sie ganz nah sehen kann – den schönen metallisch grün-grauen Schimmer der Schuppen, wie sich die Brust hebt, wenn sie Sauerstoff einsaugen und ausstoßen, das beiläufige gewaltige Schlagen eines Schwanzes.
Sie quellen alle aus den Türen des American Museum of Natural History, ein Strom schwerfälliger Reptilien, der Sachen umstößt und Fenster zerbricht.
Eph hat recht gehabt, denke ich. Es gibt sie wirklich.
Eine Sekunde lang überlege ich, ob ich meinen Eltern sagen soll, dass die Dinosaurier fliehen, aber ich kann mich nicht bewegen, und obwohl es gar nicht sein kann, dass all die Dinosaurier aus einem Gebäude strömen, scheint es mir trotzdem logisch – und da weiß ich, dass ich träume.
Doch ich wache nicht auf.
Die Dinosaurier quellen in dicken Trauben nach draußen. In Wellen, mit wütendem Gebrüll und heftig schlagenden Flügeln drängeln sie aneinander vorbei.
Einige haben sich Gepäck um den Leib geschnallt, Koffer, die sich zu beängstigend wackelnden Türmen stapeln. Andere sind Ungeheuer, bloß Ungeheuer, die einander anfauchen und den wolkenlosen Himmel.
Ein Brontosaurier senkt den langen Hals, weil er sich nicht in den Telefonleitungen verheddern will.
Ein Brachiosaurus platscht in den Fluss, sein Kopf wippt ein ganzes Stück über der Wasseroberfläche.
Ein Gigantosaurus duckt sich, damit er in den Holland Tunnel passt, er presst den Kopf auf den Boden.
Als lange Karawane ziehen sie hinaus aus der Stadt, lassen Fußspuren zurück im schmelzenden Asphalt, umgestürzte Bäume, platt getretene Taxis. Ihr Gewicht bringt die vertraute Welt aus dem Lot. Die Pfeiler der Brooklyn Bridge knicken ein. Der Hudson River schwappt über seine Ufer. Der Gigantosaurus verursacht einen Stau im Holland Tunnel. (Ein Stegosaurus brüllt wegen der Verzögerung.)
Sie kämpfen, knurren, stapfen und stampfen, aber sie gehen.
Und in diesem Moment wache ich mit einem Ruck auf, kalter Schweiß in den Kniekehlen, ins Laken verheddert, das Kissen tränennass – und ich spüre den vertrauten hohlen Schmerz in der Herzgegend.
Es ist 4 Uhr 13.
Meine Hand zuckt zum Hals. Meine Kette ist da, wo sie sein soll, mit jedem langsamer werdenden Atemzug bewegt sie sich ein bisschen auf meiner Haut.
Vielleicht gibt es im wahren Leben keine Happy Ends.
Aber vielleicht ist genau das die Lösung.
Ich atme tief ein und aus.
Und weiß, was ich zu tun habe.
Ich springe auf, knipse die Lampe an. Am Fußende des Bettes blinzelt mein Kater Earl unwillig in das helle Licht.
Ich krame in meinem Schreibtisch nach einem Block und einem Stift, kuschle mich dann wieder ins Bett mit hochgezogener Decke und einem warmen Schal um die Schultern. Earl schließt glücklich die Augen, froh sich wieder seinen Katzenträumen hinzugeben.
Ich kaue auf der Kappe meines Stiftes, dann beginne ich zu schreiben.
Willkommen im Museum of Heartbreak …
Im dritten Highschooljahr widerfuhr Penelope Madeira Marx im Alter von sechzehn Jahren zum ersten Mal in ihrem jungen Leben das vernichtende, einsam machende, Menschen aus der Bahn werfende Phänomen, das als gebrochenes Herz bekannt ist.
Das geschah folgendermaßen:
Sie verliebte sich.
Alles wurde anders.
Und genau wie das Ereignis, das die Dinosaurier ausgelöscht hatte, traf Penelope Marx das Herzeleid mit der Wucht eines Meteoriten: gewaltig, unvermeidlich, endgültig.
Das Museum of Heartbreak (MoH) ist die amerikanische Institution, die sich der Dokumentation, Erforschung und Deutung des Herzeleids von Penelope Madeira Marx verschrieben hat. Es strebt zudem an, das Phänomen auch als Ganzes zu umreißen und zu erklären, im Bestreben, es in Zukunft und für alle Zeiten zu verhindern und von diesem Planeten zu verbannen.
Gegründet wurde es in New York City und steht unter der Leitung seiner Kuratorin Penelope Madeira Marx und ihrem Mitarbeiter dem bedeutenden Kater Earl. Es hat sich verpflichtet, das tiefere Verständnis für gebrochene Herzen zu befördern durch das Sammeln und Dokumentieren einer alle Aspekte des Herzeleids umfassenden Sammlung von Ausstellungsstücken und Erinnerungen.
Das MoH umreißt seinen Gegenstand »Herzschmerz« folgendermaßen:
❤ Er definiert sich durch eine Abwesenheit, d. h., etwas, das man liebte, ist fort (z. B. ein Mensch, ein Ort, ein Ding, dein liebstes Stofftier, ein glühwürmchengesättigter Sommerurlaub, das Restaurant mit diesen köstlichen Pancakes),
❤ er geht einher mit Einsamkeit, denn man hat etwas verloren (s. o.) und dieser Verlust erzeugt Gefühle wie Trauer und Hoffnungslosigkeit,
❤ er definiert sich durch absolute Hoffnungslosigkeit, die daraus resultiert, dass man weiß, was man verloren hat und mit jeder Faser seines Körpers vermisst, wird man nie-niemals mehr zurückbekommen,
❤ er ist, obwohl primär ein emotionales, auch ein physisches Phänomen, das man als schmerzliches Gefühl der Leere in der Brust fühlt, schon beim kleinsten Gedanken daran, was man verloren hat,
❤ er erzeugt Nostalgie, d. h., sobald man gewissen Klängen, Geschmäckern oder Erinnerungen begegnet, zwingen sie einen in die Knie,
❤ er kommt in allen Formen und Größen daher: riesige, wellenartige Verwüstungen, die einen taumelnd zurücklassen; winzige Traurigkeiten, die schmerzen bis in die Knochen,
❤ der größte von allen wird dadurch verursacht, dass man all das loslassen muss, was war, bevor man auch nur ahnte, dass es zu Bruch gehen würde.
Das MoH möchte seine geschätzten Betrachter dringendst dazu ermahnen, wachsam zu sein. Denn selbst der umfassend Informierte kann, bei aller Vorsicht, jederzeit vom herabsausenden Meteoriten namens Herzschmerz niedergestreckt werden.
Genießen Sie Ihren Aufenthalt im Museum!
Ergebenst,die Kuratorin und Kater Earl
Am ersten Tag meines dritten Jahrs an der Highschool setzte sich in den ersten zwei Minuten der Schulversammlung der hübscheste Junge, den ich in meinen sechzehn ungeküssten Jahren je gesehen hatte, in meine Nähe, sah mich an und zog eine Augenbraue hoch.
Er hatte graugrüne Augen, so kühl wie ein Kieselstein.
Er trug ein Fänger im Roggen-T-Shirt und einen dunkelblauen Cordblazer mit Flicken an den Ellbogen.
Und er roch nach Zimt.
Hätte ich mir den perfekten Jungen zaubern sollen, ich hätte es nicht besser machen können.
»Hey«, sagte er und nickte in meine Richtung. »Wie gefällt dir das?«
Ohne zu überlegen, schaute ich auf den Platz neben mir. Aber nein, Eph hatte sich auf seinen Stuhl gefläzt und kritzelte irgendwas Kompliziertes in ein Notizbuch. Ich schaute auch vor mich, aber da unterhielt sich Audrey mit dem Rücken zu uns gerade mit Cherisse.
Der Junge redete anscheinend mit mir.
Der Junge mit den kräftigen Augenbrauen und dem hübschen Kopf voller brauner Locken redete mit mir.
»Ohhhh?«, sagte ich verblüfft, und es klang, als ob jemand auf eine Maus getreten sei. Ich zeigte mit dem Finger auf meine Brust. Ich?
Er nickte und grinste ironisch. »Klar, du, Scout.«
Mein Herz machte einen Satz, schoss durch meine Rippen bis hinauf in die Kehle, blieb dort einen Atemzug lang und plumpste sogar noch schneller wieder an seinen Platz zurück.
Als hätte ich mit dem Finger in eine Steckdose gegriffen.
Als sei ich vom Blitz getroffen worden.
Irgendwas in mir rührte sich.
»Wie gefällt mir was?« Dabei strich ich mit den Handflächen über meine Oberschenkel und bemühte mich, cool zu sein und lässig.
»Dein Comic«, sagte er und zeigte auf das Exemplar von Watchmen, das aus meiner Tasche ragte. »Magst du es?«
Der süße Junge auf der anderen Seite des Mittelgangs fing ohne ersichtlichen Grund ein Gespräch mit mir an, und flüchtig kam mir dieser schwindelerregende Gedanke: Wow, vielleicht passiert es endlich. Und: Danke, liebes Jesuskind, dass du Eph dazu gebracht hast, mir sein Exemplar von Watchmen zu leihen.
Dann machte ich den Mund auf.
»Oh, du meinst diese Graphic Novel? Die gehört mir nicht, mein Freund hat sie mir geliehen …« Ich deutete mit dem Kopf in Ephs Richtung, vermied es aber, den Blick von dem Jungen abzuwenden. »Was ziemlich cool ist, weil es eine Erstausgabe ist und er ein Megafan. Wahrscheinlich wird er irgendwann auch Comiczeichner …« Der wunderschöne Junge nickte amüsiert, also legte ich nach. »Hast du es gelesen? Ich bin noch nicht durch, aber ich hab den Film gesehen, und der war ziemlich gut, obwohl Eph meinte, im Film hätten sie eine Menge versaut …«
Der Junge wollte gerade etwas sagen, aber planlos aus meinem Mund purzelnde Worte hinderten ihn daran. »Obwohl ich mich eigentlich schwertue, dieses Graphic-Novel-Zeugs zu lesen, also fange ich einen Dialog von oben nach unten oder von links nach rechts an …« Dazu fuchtelte ich mit den Händen wie verrückt herum, als hätte ich einen Comic vor mir. »Oder vielleicht ist das ja auch egal – keine Ahnung. Aber ich lese jedenfalls total gern.«
Mit Müh und Not kam ich zum Ende, weil mir die Luft ausgegangen war, aber auch weil der Junge diesen unergründlichen Gesichtsausdruck angenommen hatte, von dem ich nur vermuten konnte, was er bedeutete. Nämlich dass er über die nächstmögliche Fluchtroute nachdachte, damit er mir nie wieder begegnen müsste.
Ich zuckte zusammen. »Oh Gott, tut mir leid.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich wollte mich nur ein bisschen unterhalten …«
Er wollte sich nur ein bisschen unterhalten. Er versuchte nur, höflich zu sein.
Ich spürte, wie ich vom Hals aufwärts rot wurde, und ein großer Teil von mir wäre am liebsten aufgesprungen und hätte gekreischt: Ich bin schrecklich darin, mich mit Jungs zu unterhalten! Ich bin schrecklich darin zu leben! Und danach einfach wegrennen, so weit es geht, bis zu einer einsamen Forschungsstation am Nord- oder Südpol (also zu dem mit den Pinguinen), wo ich für den Rest meines Lebens nie mehr in Kontakt mit anderen menschlichen Wesen kommen müsste.
(Ein anderer Teil von mir – ein klitzekleiner – wünschte sich verzweifelt, eine Minute zurückzuspulen. Bis dahin, bevor ich meinen Mund öffnete, bevor ich wusste, dass er nur höflich sein wollte. Zu dem Moment, als mein Herz noch voller Hoffnung und wie elektrisiert gewesen war.)
»Manchmal rede ich zu viel …«, fing ich eben an zu erklären, als Cherisse – eine aus der Top Ten aller Leute weltweit, die ich am wenigsten mag (und zwar inklusive Diktatoren und Leuten, die Hundekämpfe veranstalten) – keuchte: »Oh mein Gott, Keats!«
Der wunderschöne Junge – offensichtlich Keats – errötete und zog die Augenbrauen hoch. »Hey, Cherisse. Ich habe mich schon gefragt, wann ich dich hier sehen würde.«
Er schob die Ärmel seiner Jacke hoch und beugte sich rüber, um Cherisse einen Kuss auf die Wange zu geben. Dabei sah ich einen rot-weiß geringelten Socken unter dem Saum seiner Cordhose hervorschauen. Der andere war dunkelblau mit Giraffen drauf.
Jetzt wurde Cherisse rot, warf ihr Haar über die Schulter und spielte mit dem Anhänger ihrer goldenen Halskette. Gleichzeitig lehnte sie sich weit zu Audrey rüber und nutzte ihren Rücken sehr effektiv, um mich von der Unterhaltung auszuschließen.
»Aud, das hier ist der Junge, von dem ich dir erzählt habe! Sein Dad und mein Dad kennen sich schon ewig.«
»Wow, schon ewig also«, murmelte Audrey höflich, fing meinen Blick auf und lächelte entschuldigend.
Ich zuckte mit den Achseln und schaute in mein Notizbuch.
»Ich kannte Keats schon, als wir noch nicht mal sprechen konnten«, fuhr Cherisse fort und lächelte ihn affektiert an. Ich spürte, dass Enttäuschung sich wie ein Seufzer der Erschöpfung in mir ausbreitete. Selbst wenn ich es mit meinem epischen Monolog über Watchmen nicht verbockt hätte, sobald Cherisse und ihr glänzendes Haar und ihre Konversationsfähigkeiten ins Spiel kamen, war ich chancenlos.
Cherisse zeigte auf Audrey. »Keats, das ist meine Besti, Audrey. Du wirst sie lieben.«
Am liebsten hätte ich gesagt, Audrey ist meine beste Freundin, aber ich war ja keine sieben mehr, also biss ich mir nur auf die Lippe und sah zu, wie sie sich miteinander bekannt machten.
»Nett, dich kennenzulernen«, sagte Keats und beugte sich über den Mittelgang, um Audreys Hand zu schütteln. Das kam mir echt gentlemanlike und höflich vor, und sie schüttelte seine Hand und sagte: »Freut mich sehr.« Nicht zum ersten Mal wünschte ich mir, nur halb so charmant plaudern zu können wie Audrey.
Cherisse zeigte auf Eph. »Und der groß gewachsene, gut aussehende Hottie da ist unser Freund Eph.«
Groß gewachsener, gut aussehender Hottie? Wer redete denn so?
Eph schaute von seiner Zeichnung hoch. »Hey, Mann«, sagte er, hob das Kinn in Keats Richtung und beugte sich dann wieder über sein Bild.
Cherisse lächelte. Offensichtlich war sie mit Vorstellen fertig. Ich spürte die vertraute Mischung aus Peinlichkeit und allgemeiner Übelkeit, die mich jedes Mal überkam, wenn klar wurde, dass sie sich mit mir nur abgab, weil meine Anwesenheit der Nebeneffekt ihrer Freundschaft mit Audrey war. Warum kümmerte es mich überhaupt, was Cherisse dachte? Mir doch egal, oder?
Äußerlich wurde ich rot, innerlich zog sich alles in mir zusammen, weil es einfach schrecklich ist, absichtlich übersehen zu werden, wenn ein süßer Junge in der Nähe ist. Dazu kam noch das grauenhafte Flirtversagen von vorhin – streichen wir das, und sagen wir: das epische Lebensversagen. Die Flucht zu der einsamen Forschungsstation auf dem Pol mit den Pinguinen schien mir immer verlockender.
Aber dann legte Audrey ihre Hand auf seinen Arm und zeigte auf mich. »Keats, du musst meine Freundin Penelope kennenlernen.«
Hätte ich Audrey als Highschool-Heilige nominieren können, ich hätte es auf der Stelle getan.
Cherisse warf einen abschätzigen Blick über ihre Schulter, und zwar so kurz, dass ich mir sicher war, ihn als Einzige bemerkt zu haben.
Zaghaft lächelte ich Keats an. »Äh, wir haben uns schon kennengelernt«, sagte ich.
Audrey hob eine Augenbraue und taxierte mich, als wolle sie sagen: Hallo, was soll das?, während Keats mir in die Augen schaute und mein Herz zu flattern begann, als erwache es aus einem Zauberschlaf.
Er machte Anstalten, etwas zu mir zu sagen – war also vielleicht doch noch nicht alles verloren? –, aber da unterbrach Cherisse ihn auch schon. »Was für Kurse hast du denn? Du bist im Advanced Placement, stimmt’s?«
Seine Augen hielten noch eine Sekunde lang meinen Blick fest, bevor er bedauernd mit den Schultern zuckte und sich Cherisse zuwandte. »Carroll in Chemie.«
Ich wollte eben sagen: »Die habe ich auch«, aber da kreischte Cherisse auch schon theatralisch: »Die ist irre! Audrey, ist sie nicht letztes Jahr bei dir in Bio durchgedreht?«
Ich lehnte mich zurück, während Audrey von Mrs Carrolls denkwürdigem Zusammenbruch berichtete: einer von der totalen Sorte mit Heulen und Aus-dem-Klassenzimmer-Rennen, nachdem jemand bei einem Experiment angefangen hatte Tiny Bubbles zu singen.
Jemand tippte auf meine Schulter.
»Wie findest du das?«, fragte Eph, schob sein Notizbuch auf meinen Schoß und strich sich die Haare hinters Ohr.
Er hatte sich selbst gezeichnet, schlaksig und hingelümmelt, Pony in den Augen, kinnlanges Haar, dazu ein Namensschild, auf dem stand, Hi, ich heiße groß gewachsener, gut aussehender Hottie. Der Gesichtsausdruck war definitiv gelangweilt und er bohrte in der Nase.
Drunter hatte er in Großbuchstaben und ohne richtiges Hashtagzeichen geschrieben: HASHTAG GrossgewachsenerGutaussehenderHottieAlarm.
Manchmal bewirkt schon die bloße Tatsache, Ephraim O’Connor zu kennen, dass ich mir vorkomme wie das glücklichste Mädchen der ganzen Milchstraße.
»Verflucht geil, was?« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf.
»Achte auf deine Sprache, Ephraim.« Ich betrachtete die Zeichnung genauer und bewunderte, wie er in einer so schnell hingeworfenen Skizze sein verwaschenes Superman-T-Shirt und die mit Kuli auf die Gummiränder seiner karierten Vans gemalten Blasen hingekriegt hatte. »Das ist ziemlich genial.«
Eph ignorierte meine gemäßigtere Wortwahl. »Ziemlich genial? Ach komm, Pen. Es ist absolut verflucht geil.« Er beugte sich grinsend näher zu mir. »Du weißt doch, dass ich ein groß gewachsener, gut aussehender Hottie bin. Sag es.«
Ich unterdrückte einen Lacher, der sich dadurch in einen Schnarchlaut verwandelte, der tragischerweise klang wie von einem Wildschwein mit schlimmer Verstopfung.
Nein.
Mein Gesicht wurde knallrot. Ich wagte nicht, über meine Schulter zu schauen, um zu sehen, ob der neue Junge das gehört hatte.
Eph starrte mich an und verzog den Mund. »Was war das denn?«
Ich entschied, so zu tun, als sei das Geräusch nicht von mir gekommen. »Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muss, aber ich kann deinen Status als groß gewachsener, gut aussehender Hottie nicht bestätigen. Das ist Summers Job.«
»Sie heißt Autumn.«
»Immer bringe ich deine Mädchen durcheinander«, sagte ich und versuchte, mich zu erinnern, ob Autumn jetzt die mit den Dreadlocks oder die mit dem Nasenring war.
Irgendwas Neonpinkfarbenes in meinem Augenwinkel bewegte sich. Dann sah ich Cherisse aus ihrem Pulli schlüpfen und sich wie eine Katze in ihrem winzigen weißen T-Shirt rekeln, das sie darunter trug. Sie kicherte, dann beugte sie sich hinüber, um Keats Knie zu drücken und ihm was ins Ohr zu flüstern.
Ich könnte niemals so flirten. Keats lächelte über das, was Cherisse sagte. Sein Grinsen war gerissen und attraktiv, wie von einem Fuchs oder einer Figur aus einem Wes-Anderson-Film. In diesem Moment hätte ich all meine künftigen Geburtstage und Wünsche bei vierblättrigen Kleeblättern, ausgefallenen Wimpern und Sternschnuppen hergegeben, nur um jemand wie ihn dazu zu bringen, mich so anzustrahlen.
Ich hätte alles gegeben, um endlich diejenige zu sein, deren Zuneigung erwidert wurde.
Ich kaute auf meiner Lippe – meine schlimmste, ekligste Angewohnheit – und spähte zu Eph rüber.
Der musterte mich, wobei seine Augen blitzschnell zwischen Keats und mir hin und her gingen, als wüsste er irgendwas, das ich nicht wusste. Er hob fragend eine Augenbraue.
»Nichts«, sagte ich und wühlte in meiner Tasche nach dem Lippenbalsam, während ich mich bemühte, total lässig und easypisi zu klingen. »Es ist rein gar nichts.«
Am Nachmittag, während ich mich mit all den anderen durchs Schultor nach draußen schob, hielt ich in der Menge nach Keats Ausschau, in der Hoffnung, ihn »zufällig« zu treffen. Da rülpste jemand von hinten laut in mein Ohr.
Ich roch Doritos.
Eph tauchte neben mir auf. Er trug seine dunkelblaue Lieblingsmütze, unter der sein glattes braunes Haar hervorschaute, und grinste mit Spuren von orangefarbenen Käseresten in den Mundwinkeln.
»Hast du etwa gerade ein Bäuerchen in mein Ohr gemacht?«
Er grinste noch breiter, zuckte die Achseln und kaute absichtlich mit offenem Mund weiter Doritos.
»Warum machst du das? Du bist ekelhaft. Entschuldige dich gefälligst.«
»Komm mit in den Park.«
»Entschuldige dich.«
»Komm mit in den Park.«
Ich war nicht in Stimmung dafür, wandte mich ab und ging weiter die Stufen hinunter.
»Komm schon, Pen. Heute ist ein perfekter Tag, um mit einem groß gewachsenen, gut aussehenden Hottie in den Park zu gehen …«
Sein Skateboard landete auf dem Asphalt und ich hörte die Räder direkt hinter mir surren.
Ich ignorierte ihn, lief demonstrativ weiter geradeaus.
»Also, was war heute Morgen mit dir los? Dein Hals war ziemlich voll mit hektischen Flecken.«
Großartig.
Die Arme in die Hüften gestemmt drehte ich mich zu Eph um. Er kippte sein Board seitlich und fing es auf, damit es nicht in mich reinrauschte.
»Entschuldige dich.«
»Komm mit in den Park«, sagte er nur und schenkte mir sein gewinnendstes Lächeln.
Ich runzelte die Stirn und wanderte weiter die Central Park West hoch.
»Ich habe gehört, Joss wird bei der nächsten Verfilmung der Buffy-Comics eine größere Rolle spielen«, sagte er.
Er lehnte sich über meine Schulter – ich roch die Doritos und den Verschwitzter-Typ-Gestank und dahinter den Geruch, der zu Eph gehörte: Minze, frisch gemähtes Gras und das Meer.
Er musste sich entschuldigen.
»Ich glaube, dass vielleicht einer der Schauspieler was damit zu tun hat. Und stell dir vor: Der Typ aus dem Comic-Buchladen hat gesagt, er hätte das Gerücht gehört, dass sie endlich wieder Marcy, das unsichtbare Mädchen, zurückholen wollen. Fantastisch, was?«
Ich konnte gerade noch das Bedürfnis unterdrücken, darauf hinzuweisen, dass Marcy zwar gut war, sie aber vor allem die Hexe Tara wieder auftauchen lassen sollten. Das wäre wirklich fantastisch.
Eph redete immer weiter, während ich wartete, um die 69. Straße zu überqueren, und eine Frau mit Locken beobachtete, wie sie auf einen kahlen Mann einredete. Ihr kleiner schwarz-weißer Hund sprang dabei aufgeregt um dessen großen, grauen Wuschelhund herum, sodass mir ganz schwindelig wurde. Earl würde dafür absolut 0 Prozent Verständnis haben.
»… und ich denke, jetzt ist es endlich so weit, dass sie mit diesem Angel-und-Buffy-Kram ein für alle Mal aufhören.«
WAS?
Eph wusste genau, wie ich über Buffys und Angels kosmisches Schicksal dachte, und dass sie für einander bestimmt waren. Er wollte 110-prozentig Streit anfangen.
Ich biss mir auf die Lippe, zwang mich, geradeaus zu starren, ließ mich nicht ködern und sah den Hunden nach, die in den Park rannten.
»Weil Angel? Er ist der Allermieseste. Mr Existenzkrise. Ich bin froh, dass sie ihn in den verdammten Höllenschlund geschubst hat. Und Spike? Das ist ihr wahrer Freund. Er ist derjenige, den Buffy vögeln sollte.«
Ich wirbelte herum, um Eph den Stinkefinger zu zeigen. Er kickte das Skateboard hoch, fing es auf und sah wirklich mächtig groß gewachsen aus, wie er da mit der Sonne im Rücken auf mich herabsah.
Aber ich verweigerte ihm diese Genugtuung.
Mein ausgestreckter Mittelfinger berührte seine Rippen. »Buffy hat Angel in den Höllenschlund geschubst, um die Welt zu retten. Und sei nicht so vulgär. Das ist widerlich.«
Ephs Board landete erneut auf dem Boden, er stellte einen Fuß darauf und rollte es vor und zurück. »Sie hätte die Welt nicht retten müssen, wenn er sich nicht zum Bösen entwickelt hätte, weil die Schlampe mit ihm geschlafen hat.«
Seine Gestalt vor mir war ganz dunkel, und die Sonnenstrahlen, die um ihn herumblitzten, machten mich schwindelig. Er ruinierte mir den Nachmittag. »Hör auf, Buffy eine Schlampe zu nennen«, sagte ich und stieß mit meiner Hand gegen seine Brust, um dem Ganzen Nachdruck zu verleihen.
Ich erwischte ihn fester, als ich es geplant hatte.
Mit verblüfftem Gesicht torkelte er rückwärts, das Board schoss unter seinem Fuß hervor und knallte hart gegen den Gehweg, seine Ellenbogen krachten auf den Asphalt, und aus seinem nur halb geschlossenen Rucksack fiel alles Mögliche raus.
»Eph!«
Ich ging in die Hocke, beugte mich vor, war aber zu ängstlich, ihn zu berühren, falls er sich etwas gebrochen haben sollte.
»Es tut mir so leid«, sagte ich atemlos und zählte die drei Sommersprossen auf seiner Nase, seinen Oriongürtel, scannte mit meinen Augen seine Arme und Beine, ob etwas gerissen oder gebrochen schien, zählte erneut seine Sommersprossen. Sein Nasenrücken war seit der vierten Klasse krumm, weil ich ihm damals draufgeschlagen hatte, als er mir auf dem Spielplatz den Rock hochhob.
Was, wenn er sich etwas gebrochen hatte?
»Bist du okay? Ich wollte dich nicht so fest schubsen, ich … es tut mir leid.«
Seine Wimpern flatterten, als würde er träumen, aber der Rest von ihm blieb regungslos.
Was, wenn er eine Gehirnerschütterung hatte?
»Eph …«
Langsam öffnete er ein Auge; das andere zitterte, blieb aber fest geschlossen.
»Pen«, flüsterte er. »Gibst du …«
Ich beugte mich tiefer, um ihn zu verstehen.
»Gibst du nun zu, dass du bezüglich Buffys einzig wahrer Liebe unrecht hast?«
Moment mal. WAS? Ich stand wieder auf, während er beide Augen öffnete, sich aufrichtete, seine Ellenbogen untersuchte und ein ärgerlich dreistes Grinsen aufsetzte.
Ein paar der Zuschauer (denn inzwischen hatten wir schon mehrere, als wäre die ganze Angelegenheit nicht schon peinlich genug) begannen, Applaus zu klatschen, während eine kleine, schäbig gekleidete, missbilligend dreinblickende Frau ihrem Freund für alle hörbar zuraunte: »Sie hat ihn geschubst.«
In diesem Moment kniete sich ein supergroßes, rotblondes, gertenschlankes Mädchen, das wahrscheinlich gerade auf ihrem Einhorn aus irgendeiner mystischen Stadt der Elfen kommend vorbeigeritten war, neben Eph und reichte ihm sein Skateboard, als wäre es ein Geschenk an einen König. Mir kam ein bisschen Galle hoch.
»Geht es dir gut?«, fragte sie, und selbst ihre hohen Wangenknochen drückten Besorgnis aus. »Ich bin Mia.«
»Ephraim«, antwortete er. »Und jetzt geht es mir gut.«
»Oh mein Gott«, murmelte ich genervt.
Sie lächelte mit flatternden Wimpern und zitternden Lippen, und voller selbstgerechter Empörung spürte ich, wie sich meine Nackenhaare sträubten. Sie baggerte ihn direkt vor meinen Augen an. Was, wenn Eph und ich zusammen wären? War das so schwer vorstellbar? Ich war alt genug für Dates, trug keinen Teddybär mit mir herum und es wuchs auch kein dritter Arm aus meiner Stirn.
Sie reichte ihm die Hand – ich schwöre, dass die Elfenkönigin in Der Herr der Ringe sich genauso bewegt hat –, und er nahm sie, lächelte auf dümmlichste und charmanteste Art sein Eph-Lächeln, stand auf und war exakt die perfekten drei Zentimeter größer als sie.
Einige der zuschauenden älteren Damen gurrten zustimmend.
Ich rutschte auf den Knien herum, um den Kram, der aus seinem Rucksack gefallen war, einzusammeln: eine alte Ausgabe von Der Hobbit – die er immer bei sich hatte –, ein funkelnagelneues Rechenheft, einen Wust von Schlüsseln an einem Karabinerhaken, ein Moleskine-Notizbuch …
Ohne einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden, öffnete ich das Moleskine und erwartete, mehr von den Comics zu sehen, die er immer zeichnete: grobe und Cartoon-ähnliche, reichlich dumme Jungs-Witze und eine Menge der Bösewichte aus seinem Lieblingscomic.
Aber diese Seiten waren anders.
Blatt für Blatt war mit komplizierten Stadt-Szenen gefüllt: winzige Metropolen mit klaren blauen Tintenkonturen, in denen kleine Menschen ihrer Wege gingen.
Ich erkannte Hauptstädte – London mit Big Ben und dem London Eye, Paris mit Notre Dame und dem Eiffelturm. Und dann gab es Städte, die aller Logik trotzten: Hochhäuser wuchsen aus Wolken, Wasserfälle ergossen sich unter Straßen.
Ich wagte einen Blick über meine Schulter. Eph war ins Gespräch mit der Elfenkönigin vertieft.
Ich blieb am Boden hocken und schlug die nächste Seite von Ephs Zeichenheft auf.
Diese Szene zeigte den Times Square, hektisch und chaotisch, mit einer riesigen Phantom der Oper-Reklametafel, Börsenkursen, die über einen Liveticker liefen, einer Bude für günstige Theatertickets mit einer langen Warteschlange davor, einen kleinen Musiker in Unterhosen und Cowboyhut, der in einer Ecke einen Hotdog aß, und jemanden in einem Elmo-Kostüm, der seine Umgebung finster betrachtete.
Ich schaute noch genauer hin. Da in einer Ecke des Bilds wartete an einer Ampel ein Stegosaurus, der ein I ❤ NYC-T-Shirt trug. Die kleinen Stacheln auf seinem Rücken zeichneten sich unter dem Shirt ab.
Das war so irre und unverständlich, aber gleichzeitig absolut perfekt, dass ich Gänsehaut an den Armen bekam.
Schon als ich Eph kennenlernte, war er von Dinosauriern begeistert gewesen. Damals war ich gerade in die erste Klasse gekommen, direkt nachdem meine Familie nach New York City gezogen war, weil mein Dad einen neuen Job im American Museum of Natural History antrat. Auch Ephs Dad arbeitete dort, und unsere Eltern stellten uns einander in der Eingangshalle des Museums vor, wo ein bedrohlicher Tyrannosaurus Rex neben uns aufragte. Trotz aller Einwände seiner Eltern stand Eph zu der Zeit nur auf Superman (und trug ununterbrochen ein Superman-Cape, um das zu verdeutlichen). Außerdem schwor er, dass es im Museum einen echten, lebendigen T-rex gäbe, der nachts durch die Gänge wanderte.
ENDE DER LESEPROBE