Mutig und stark - Meine Schwester Elli - Mirjam Löwen - E-Book

Mutig und stark - Meine Schwester Elli E-Book

Mirjam Löwen

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Beschreibung

Mirjam Löwen erzählt in diesem bewegenden Buch vom Leben mit ihrer großen Schwester Elli, die 2018 nach langer schwerer Krankheit mit 32 Jahren starb. Es ist die berührende Geschichte einer Familie, die trotz immer dunkler werdender Schatten fest entschlossen ist, das Leben zu genießen. Mit 14 Jahren erkrankt Elli an einer Hirnhautentzündung. Die nächsten 18 Jahre sind geprägt von den immer stärker werdenden Symptomen: Gedächtnisverlust, epileptische Anfälle, Psychosen. Aus ihrer Perspektive als kleine Schwester erzählt Mirjam von dieser Zeit. Von den schweren Zeiten, aber auch von ganz besonderen Glücksmomenten. Authentisch, ehrlich manchmal auch humorvoll und immer mit einer wunderbar liebevollen Leichtigkeit, schreibt sie über Themen wie Leid und Tod, Krankheit, aber auch über Mut, Hoffnung und Zuversicht. Das Buch nimmt uns mit in den Alltag einer Familie, die durch die Krankheit der Tochter körperlich und seelisch aber auch im Blick auf ihren Glauben an einen guten Gott massiv herausgefordert ist und die trotz allem ihre Hoffnung und Zuversicht nicht verliert. "Ich erzähle von dem tiefen Glauben und Gottvertrauen meiner Schwester Elli und wie mich ihre Treue, an Jesus festzuhalten, prägte. Mehr noch als das, zeige ich aber all die unschönen und brutalen Augenblicke unserer Reise, die meinen Glauben und meine Welt gewaltig erschütterten." Mirjam Löwen

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Seitenzahl: 169

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Mirjam Löwen

MUTIG & STARK

Meine Schwester Elli

Die Geschichte, die wir noch erzählen wollten

Mirjam Löwen, geboren 1991 in Gütersloh, verheiratet mit Andreas.

Gemeinsam haben sie drei Kinder. Mit ihrer Familie lebt sie in einem Mehrgenerationenhaus in der Nähe von Bielefeld.

Die zitierten Bibelstellen sind der Übersetzung „Hoffnung für alle“ entnommen. © 1983, 1996, 2002 by Biblica, Inc.®.

Verwendet mit freundlicher Genehmigung von Fontis – Brunnen Basel.

© 2024 Brunnen Verlag GmbH, Gießen

Lektorat: Stefan Loß

Umschlagmotiv: Foto privat

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

ISBN Buch 978-3-7655-2184-3

ISBN E-Book 978-3-7655-7859-5

www.brunnen-verlag.de

Für meine Familie – verbunden in den Geschichten dieser Reise.

Ich liebe euch!

Inhalt

Ellis Reise

1. Tag eins

2. Das Kurzzeitgedächtnis

3. Fallen

4. Anfälle

5. Die Operation

6. Die Psychosen

7. Zehn Tage

8. Winter

Meine Reise

9. Stille

10. Der Esel und die Flut

Danksagung

Ellis Reise

Als viertes Kind

am 8. September 1986 geboren, Elvira.

Für mich einfach nur Elli.

Meine große Schwester.

Als Kind wollte ich

um alles in der Welt sein wie sie.

Wie sie lächelte und so kühn

und selbstbewusst durchs Leben ging –

sich immer so entzückend schwungvoll

durch die Haare fuhr.

Elli.

Ein wildes, verrücktes,

wunderschönes Mädchen.

1. Tag eins

„Was ist heute für ein Tag?“, fragte sie mich und der etwas strenge Unterton in ihrer Stimme war nicht neu, denn sie hatte definitiv das Sagen. Zumindest, was uns beide anging. Das mag auch nicht verwunderlich sein, ich bin ja die Jüngere. Genau genommen bin ich sogar die Jüngste. Das fünfte Kind in einer gläubigen, sehr normalen Familie. Vater, Mutter und vier Kinder. Und dann kam ich. Das deutsche Kind. Alle anderen waren – ja, was waren sie eigentlich? Geboren sind sie alle in Russland. Kaum sind sie 1990 in Deutschland angekommen, als Heimkehrer zurück in ihrer Heimat oder das, was es nun werden sollte, bereicherte mein Erscheinen das traute Familienglück. So wurde ich zu einem kleinen Nachzügler nach vier dicht aufeinanderfolgenden Geschwistern. Fünf Jahre älter war meine große und selbstbewusste Schwester Elli.

So saß ich da also an diesem Abend auf dem Boden in ein friedliches Playmobil-Geschehen vertieft. Elli war Willensstärke pur. Geballt in einem gerade einmal 14-jährigen Mädchen. Sie kam mir so viel älter vor. Heute wundere ich mich, wie jung sie war und wie viel Anmut und Kraft sie zugleich auf mich ausstrahlte. Wenn sie mir etwas sagte, legte ich es nicht darauf an, ihr in die Quere zu kommen. Streiten wollte ich mit ihr nicht. Da ruhte so ein tiefer Respekt meinerseits in unserem Miteinander. Beinahe vielleicht sogar etwas Angst – zumindest was mich betrifft. Jedenfalls Bewunderung in seiner höchsten Form. Auf mich machte sie Eindruck, wie sie sich mit der Hand die dichten Haare nach hinten strich. Ihr Lächeln war so unverkennbar einmalig. Es hatte etwas Kantiges, etwas Großes und Gewinnendes. In dem Alter aber nicht allzu verschwenderisch verschenkt. Vielleicht auch nur für mich nicht, wer weiß das schon.

Ich liebte es, sie zu beobachten. In meiner Auffassung hatte sie es voll drauf. Sie schien ihre Welt zu beherrschen und ich wagte es nicht, mich ihr zu widersetzen – und irgendwie wollte ich dennoch sein wie sie.

Sie fackelte nie lang. Wenn ein Zahn nur den leisesten Anschein machte, in Kürze wackeln zu wollen, hatte sie ihn längst kurzerhand eigenständig gezogen. Ich stand mal daneben, während sie mit einem Zahn kurzen Prozess machte. Das hatte richtig Eindruck auf mich gemacht.

Nach dem Datum hatte sie mich gefragt. Wen wundert es, dass ich also umgehend und ohne Widerrede aufstand und in die Küche ging, um ihr eine korrekte Auskunft zu geben, wenn sie ja danach fragte.

Es war der 11. Oktober 2001.

Ich setzte mich an diesem Abend im leicht abgedunkelten Wohnzimmer also wieder zurück zu meinen kleinen Spielfiguren auf den Boden, während Elli mit angezogenen Knien auf dem Sessel saß und in ihrem Buch weiterlas.

„Was ist heute für ein Tag?“, hörte ich ihre Stimme erneut über mir. Es waren erst wenige Minuten vergangen und ich war mir sicher, sie erlaubte sich einen ihrer frechen Scherze. Denn Humor war ihr in die Wiege gelegt worden. Sie hatte eine charmante, etwas kecke Art, witzig zu sein, und blieb selbst dabei recht ausdruckslos. Ich erwartete also einen ihrer lustigen Momente und ließ etwas genervt mit einem schrägen Blick meine Schultern nach vorne fallen.

Doch etwas war komisch, als ich zu ihr aufblickte. Ihre Augen waren nicht lustig. Ihr Blick verriet keinen Funken Spaß und ich antwortete zaghaft, während meine Augen ihrem ungeduldigen Ausdruck begegneten. Sie verstand nicht, warum ich nicht einfach direkt antworten konnte, wenn sie mich doch fragte, und ich – ich verstand gar nichts.

Nicht einmal zwei Minuten darauf erklang ihre Frage erneut im Raum.

Nichts auf der Welt war mir in diesem einen Moment klarer als die Gewissheit: Etwas stimmt hier nicht. Wie ein Damm, der nur an einer kleinen Stelle bröckelt und tropfend ganz allmählich das Wasser hindurchlässt. Die Flut, die bald gnadenlos und ohne Rücksicht alles unter sich begraben wird, scheint unaufhaltsam. Niemand hatte mich gewarnt. Noch könnte man es leugnen, aber da ist dieses ganz flaue Gefühl im Magen, dass da hinter dieser vermeintlichen Sicherheit von Mauer eine große Gefahr droht. Das ist nicht wie bei einem Unfall, bei dem ein einziger Moment alles ändern kann. Es ist nicht der Hurrikan, der augenblicklich alles mit sich reißt. Es ist viel mehr die Unsicherheit, die Katastrophe noch nicht zu sehen, aber alles in dir schreit „Alarm!“, weil man da so eine bittere Ahnung hat, dass das gerade der Anfang von etwas ist.

Der nächste Tag brachte Klarheit. Nach einem aufgewühlten Abend voller Tränen, weil Elli selber spürte, dass etwas in ihrem Kopf nicht stimmte, beantwortete der Arzttermin am Morgen alle unsere Fragen. „Hirnhautentzündung“ lautete die Erklärung im Krankenhaus und unsere Reise begann.

Eine Reise, die wir zu dem Zeitpunkt datiert hatten auf einige sicherlich sehr harte Wochen. Der Schock saß uns in den Gliedern, doch schnell fassten wir Mut – für sie.

„Halte durch, Elli!“, ermutigten wir sie. Das ist ja nicht für immer. Ganz bestimmt wirst du gesund und bald siehst du alle deine Freunde und deine Klasse wieder. Eine Woche nach der anderen verging.

Halte durch, Elli! Liebevolle Päckchen erreichten sie, voll mit Postkarten aus ihrer Schulklasse und von einigen Lehrern. Postkarten liebte sie und das sollte erst der Anfang einer großen Sammelliebe werden. Die Jugendgruppe, Freunde, alle nahmen teil an dieser harten Diagnose und fieberten dem Ende der Krankheit entgegen.

Halte durch, Elli! Kaum aus der Schule zu Hause, hüpfte ich direkt ins Auto für die eintönige Stunde Autofahrt bis in die Uniklinik nach Münster, wohin sie nach den ersten 8 Wochen verlegt worden war. Wochen, Monate verbrachte sie dort. Auf der Suche nach der Ursache und einer entsprechenden Behandlung investierten großartige Ärzte ihre Zeit in den etwas sonderbaren und außergewöhnlichen Krankheitsverlauf des inzwischen 15-jährigen Mädchens.

Halte durch, Elli! Irgendwann war es Alltag, sie im Krankenhaus zu besuchen, und immer noch glaubte man hoffnungsvoll an ein Ende.

„Das geht ja vorüber. So etwas bleibt ja nicht. Krankheiten passieren. Sie kommen. Sie belagern ahnungslose Menschen, hinterlassen ihre ekelhaften Spuren und verschwinden dann wieder.“

Ich war mir sicher, das kann nicht bleiben. Wir haben es nicht eingeladen. Es kann uns schulen, es kann uns prüfen und gestärkt zurücklassen. Aber am Ende wird es gehen. Muss es gehen.

Halte durch, Elli! Irgendwann wurde es ein Gebet voll großer Angst. Wer weiß, wie lange das noch so geht. Halte bitte durch, du tapferes Mädchen. Gib nicht auf, sicherlich wird es irgendwann vorüber sein. Wie gut, dass man die Dinge nicht losgelöst von Raum und Zeit von oben betrachten kann. Wer weiß, was wir tun würden, wüssten wir immer, wie der Weg weitergeht.

In unserem Fall gab es den einen Moment, so schwer wie endlose Tonnen Zement. Kompetente Ärzte begleiteten diese aufwühlende Anfangszeit und schließlich fanden sich meine Eltern in diesem einen Gespräch wieder, das man ein Leben lang nicht vergisst und das man so fürchtet.

„Das ist leider nicht heilbar. Wir können Ihrer Tochter nicht helfen. Was kaputt ist, ist kaputt, das kann man nicht mehr reparieren.“

Bam. Der große Richterhammer knallt auf das Holz. Jetzt hat er es gesagt. Solange man es nur ahnt und beobachtet, dass die Richtung allmählich bedrohlich wird, ist die Hoffnung der engste Begleiter. Aber diese bitteren Augenblicke nimmt einem keiner mehr weg, wenn Diagnosen laut ausgesprochen werden. Sie knallen einfach so in deinen Kopf und lassen sich dann nur sehr schwer bewegen. Unter ihnen begraben liegt die Hoffnung, der einst so treue Berater. Jeder weiß, wie mühevoll man den da wieder hervorzieht. Der ist so fest eingeklemmt unter diesem harten Wort, das beansprucht, die Wahrheit zu sein. Und bis man die Hoffnung darunter befreit hat, klingt „Halte durch“ wie eine Ermutigung voller Hohn und Spott.

Es ist dieser Moment, wenn der Damm bricht und die tonnenschwere Wasserflut bedrohlich schnell auf dich zurast. Jetzt leugnet es niemand mehr. Diese bittere Ahnung. Lange hatte sie sich versteckt. Vielleicht ungefähr so erfolgreich, wie sich manch ein Kind hinter einem viel zu dünnen Baum versteckt. Und wir alle tun so, als könnten wir es nicht sehen.

Jetzt wussten wir also: Das ist nicht einfach bald vorüber. Nun braucht es eine andere Strategie. Vor allem braucht es jetzt einen langen Atem.

Und Elli? Die stand draußen vor dem Krankenhaus an einen Baum gelehnt. „Das ist jetzt noch nicht vorüber“, hatten Mama und Papa ihr gerade erklärt. Es geht nun in ein anderes Krankenhaus, noch mehr Untersuchungen, noch mehr Ärzte, noch mehr Wochen, Monate, Jahre, die gefüllt sind von dem immer Gleichen. Von der Krankheit, die nun dein Begleiter ist.

Morgens beim Aufstehen und abends beim Schlafengehen. Sie bleibt. Es ist nicht einfach eine harte Zeit gewesen. Nun ist es wohl die Zukunft.

Nass bis in die innersten Winkel des Herzens lässt dich die Flut zurück. Das starke Mädchen vor dem Krankenhaus weint bitterlich. So viele Träume, so viele Ziele und Hoffnungen. Alles erst mal zerstört. Begraben.

„Halte durch!“ ist auf einer Karte geschrieben, die unsere älteste Schwester Helena Elli zu Beginn mit ins Krankenhaus brachte. Darauf zu sehen sind einige Tiere, die über einen Esel gehen. Dieser Esel muss als Brücke über einen tiefen Abgrund herhalten. Und mit der Leichtigkeit solch niedlicher Zeichentrick-Figuren amüsierten wir uns über das urkomische Bild. „Halte durch, Elli!“, lachten wir, „wir gehen alle über dich drüber, weil du ja die Stärkste von uns bist!“

„Familie“ wird bei uns ganz großgeschrieben. Füreinander da zu sein, ist tief in uns verankert. Wir hatten keinen Zweifel daran, dass das ein WIR ist und kein DU. Und trotzdem war sie es, die im Krankenhaus blieb, als wir alle wieder nach Hause fuhren.

Das Bild von der Postkarte sollte uns noch lange begleiten und uns manche tiefe, ehrfürchtige Augenblicke bescheren.

Aus Monaten wurden Jahre

und wir alle begriffen,

dass sich jetzt irgendwie

einfach alles verändert hat

und nichts mehr war wie vorher.

Krankheit, Krankenhäuser, Diagnosen

und endlos viele Fragen

waren präsent und unausweichlich.

So viele Stunden hat sie ausgehalten

und hingenommen.

Mal resigniert und beweint,

mal tapfer durchgestanden

und mutig vorwärtsgeschaut.

Es wurde zu ihrer Geschichte.

Und ihre Geschichte war nichts

für schwache Nerven.

2. Das Kurzzeitgedächtnis

Nachdem Elli mit lauter Diagnosen überhäuft wurde und epileptische Anfälle inzwischen ihren Tag begleiteten, wurden viele Tabletten ausprobiert und wieder abgesetzt. Keine Therapie und kein Medikament schien zu helfen und die Ärzte waren etwas ratlos, was den Verursacher der Krankheit und die Behandlung anging.

In dieser Zeit zeichneten sich einige Dinge deutlich ab, die uns ab jetzt begleiten sollten.

Der Verlust des Kurzzeitgedächtnisses war eins davon.

Ein Erinnerungsmechanismus, der es uns erlaubt, eine gewisse Menge an Informationen über einen kurzen Zeitraum zu speichern. Es hält verarbeitete Informationen vorübergehend fest, die danach entweder vergessen werden oder ins Langzeitgedächtnis übergehen.

Prima einfach erklärt. Wenn das jedoch nicht so funktioniert, wie es sollte, wird es kompliziert. Dies war einer der prägnantesten Einschnitte in ihr junges Leben. Die Entzündungen und Beschädigungen in ihrem Gehirn zerstörten ganz massiv ihr Kurzzeitgedächtnis. Sie verlor das Gefühl für Jahreszeiten, für Monate und natürlich für Tage. So ein Tag kommt und ist zügig wieder vorüber, da bleibt nicht viel Zeit für das Abspeichern im Langzeitgedächtnis.

Jahreszeiten-Raten war ein häufiges Spiel bei uns. Sie schaute raus und versuchte sich anhand der Wetterlage und dem Anblick von Bäumen zu orientieren. Es war irgendwie so niedlich, wie zaghaft sie antwortete, und alles an ihrer Antwort klang wie eine Frage. Selbst wenn sie morgens das Datum gelesen hatte, würde ihr das mittags nicht weiterhelfen. Aus diesem Grund verbrachte sie unendlich viele Stunden an ihrem Schreibtisch. Sie agierte von dort wie von einer kleinen Zentrale aus. Dort fühlte sie sich sicher.

Papst Johannes Paul der Zweite. Dieser Name ist mir so wunderbar vertraut. Nicht etwa weil ich ein Anhänger der katholischen Kirche bin, sondern weil dieser nette Herr es irgendwie geschafft hat, in Ellis wertvolles Langzeitgedächtnis einzuziehen. Es gab einige Informationen, Nachrichten und Menschen, die sehr verankert waren in ihren Erinnerungen. Und so eben auch Johannes. Immer wieder sprach sie über ihn, fragte, ob wir denn wohl wüssten, wie der aktuelle Papst hieße. Ja, doch, wir wussten es. Wir hatten so oft darüber gesprochen, wirklich – nun wussten wir es alle. Ich gewann ihn fast ein wenig lieb, wo er doch so viele unserer Unterhaltungen füllte. Wie sie seinen langen Namen immer sehr korrekt aussprach, ein amüsiertes Lächeln im Gesicht. Ich frage mich, warum sie ausgerechnet seinen Namen in voller Länge abspeicherte und relevante Namen aus dem nahen Umfeld einfach nicht hängen blieben. Was soll’s, Papst Johannes Paul der Zweite ist durchaus unterhaltsamer als bloß ein einziger langweiliger Vorname.

Wir wussten auch, dass sie uns lieb hatte. Das wiederholte sie unzählige Male am Tag. Und leider – wie grausam kann es sein – hat es irgendwann nicht mehr zu der fröhlichen Reaktion geführt, die es bezweckt hatte. Es hat uns müde gemacht, im Minutentakt das immer Gleiche zu beantworten und voraussagen zu können, welche Fragen sie als Nächstes stellen und über welche Themen sie sprechen würde. Ich höre heute noch ihre Stimme, wie sie die vier Namen der Söhne unseres Onkels aufsagt. Nacheinander und in korrekter Reihenfolge. Wenn ich jemals etwas vergesse, das sicherlich nicht. Und wenn ich kurz überlegen muss, wie einer der Jungs heißt, sage ich ihre Namen treu in der Reihenfolge auf, wie Elli es gemacht hat. Keine Ahnung, was sie daran so amüsiert hat. Auch fragte sie fast täglich nach den neuen Nachnamen der frisch verheirateten gleichaltrigen Cousinen oder nach der Anzahl ihrer Kinder. Jedes Mal tat sie mir leid, wie offensichtlich ihr Herz sie hier überführte und ihre Gedanken und ihre Traurigkeit preisgab. Es machte ihr etwas aus, all dieses Glück nicht erleben zu können. Festzusitzen. Irgendwie betrogen um die Freude, die sie alle gleichermaßen anstrebten und die ihr nun verwehrt blieb.

Ziemlich oft verriet ihr defektes Kurzzeitgedächtnis uns mehr, als sie vielleicht zu sagen beabsichtigte. Wir hörten anhand der häufigen Fragen, was sie beschäftigte, was ihr Sorgen machte und ihr Herz bewegte. Sie redete so viel über ihre fehlende Selbstständigkeit. Die ständige Abhängigkeit von anderen war eine immens große Hürde, die sie wahrscheinlich nie wirklich akzeptieren konnte. Irgendwann resignierte sie.

Aber in den ersten Jahren hatten wir deswegen noch einige hitzige Diskussionen zu führen. Lass mal jemanden mit einem Gedächtnis, wie dem ihrem, einfach alleine durch die Straßen laufen – absolut undenkbar. Aber genau das wollte sie. Sie war ja das selbstständige Mädchen, krank hin oder her, ihr Charakter war grundsätzlich erhalten geblieben. Selbst Lehrer hatten vermehrt bemerkt, wie unfassbar erwachsen und außerordentlich selbstständig sie war. Sie sollte nun also keinen einzigen Schritt mehr alleine machen, ohne in irgendeiner Form begleitet zu werden? Sei es nun das Erledigen von Aufgaben oder das Geld. Sie wollte eigenes Geld haben und es selbst verwalten. Aber ständig brachte sie Dinge durcheinander, weil sie eine winzige Sache kurz nicht notiert oder Geld verloren hatte. Es dauerte lange, bis sich das einigermaßen einspielte. Aber dennoch war sie nie fähig, wirklich alleine und vollkommen selbstständig zurechtzukommen.

Ihr eigenes Alter war ihr bewusst. Niemand um sie herum wohnte noch zu Hause bei den Eltern. Warum also sie? Wieder und wieder forderte uns dieses Thema heraus. Phasenweise verlangte es uns alles ab, diese Diskussionen mit ihr zu führen. Sie wusste ja auch nicht, dass wir gerade eben erst genau diese Dinge besprochen hatten, also folgte eine identische Diskussion der anderen. Irgendwann im Laufe ihres Lebens gab es verschiedene Versuche mit betreuten Wohneinheiten in Gruppen, wo ihr eine gewisse Unabhängigkeit ermöglicht werden sollte. Jedoch war das immer wieder eine harte und am Ende zwecklose Erfahrung, die sie und wir machten. Völlig aufgewühlt rief sie uns an, konnte sich aber nicht erinnern, was genau passiert war. Selbstverständlich gab es nirgendwo ein vergleichbares Angebot an Beaufsichtigung, wie sie es zu Hause erlebte. Das machte uns zu schaffen und meine Eltern mussten lernen, dieses Gefühl zwischen Loslassen und Hilflosigkeit auszuhalten. Es fühlte sich nicht richtig an, sie irgendwo einzuquartieren, wo doch jeder vorab erklärte, sie nicht ständig im Blick haben zu können. Allein das Thema „Selbstständigkeit und Auszug“ würde wohl ein ganzes Buch füllen.

Einmal überraschte sie uns allerdings sehr.

Frühling 2017

Elli war fest entschlossen, zur Apotheke zu gehen, um Medikamente zu holen, die für sie selbst bestimmt waren. Vollkommen selbstständig eben. Nicht mit ihrer Mutter an der Seite, sondern alleine. Also informierte sie uns darüber, dass sie nun losgehen würde, um zu erledigen, was es zu erledigen galt. Zu der Zeit waren wir noch nicht lange in unserem neuen Haus und wir wussten, ihr fehlte alleine außerhalb unseres Hauses jede Orientierung.

Nur zur Verdeutlichung: Für eine sehr lange Zeit hatten wir das neue Zuhause mit unzähligen Schildern versehen. Sie konnte sich weder merken, wo ihr Zimmer war noch die Toilette, oder warum sie nicht die Treppe hinaufgehen sollte. Schließlich hatte sie das ja immer schon so gemacht, um zu ihrem Zimmer zu gelangen. Aber das war eben im alten Haus so. Jetzt lebte ich mit meiner Familie oben und unten befand sich die Wohnung meiner Eltern und Ellis Zimmer. Ganz vorsichtig erinnerte ich sie dann daran, wenn ich sie so suchend und etwas verwirrt oben bei mir antraf. Wo war denn eigentlich das WC? Wo kann ich duschen? So einfache Dinge, aber für sie ein endloses Rätsel im eigenen Zuhause. Es dauerte, bis sie sich zurechtfand. Wenn sie schon drinnen nicht zurechtkam, wo sie sich ja ständig aufhielt, wie sollte sie dann losgehen und tatsächlich schließlich wieder bei uns ankommen? Davon abgesehen, dass auch niemand bei ihr war, falls sie unter- oder überzuckert war, einen spastischen Krampf oder irgendeine Art von epileptischem Anfall hatte. Der Spagat zwischen der Verantwortung für sie und ihre Sicherheit und dem Wahrnehmen ihrer ganz menschlichen Bedürfnisse war für uns als Familie riesig und kaum zu bewältigen. Und manchmal, ja manchmal hatten wir einfach keine Wahl, als zuzuschauen und abzuwarten, wenn alles Reden nicht half und sie so fest entschlossen war. Festhalten konnten wir sie nicht und somit galt einfach nur zu hoffen, dass alles gut ging.

Sie schrieb sich also unsere Adresse auf und schon hörten wir die Tür hinter ihr ins Schloss fallen. Es fehlte ihr ja nicht an Ideen, ihrer Hilflosigkeit entgegenzutreten, aber für uns gab es manche zitternde Stunde. Solche Aktionen verschafften ihr einen Adrenalinschub, der in ihr ein absurdes Maß an Fähigkeiten hervorrufen konnte, aber manchmal eben auch einen Anfall als Reaktion. Das wusste man vorher nie.

Sie ging also tatsächlich bis zur Apotheke und kam sogar zu unser aller Erleichterung irgendwann wieder an unserer Tür an. Ich vergesse niemals, wie es klingelte und ich gerade in dem Moment nicht unbedingt sie erwartete. Ihr Gesicht, als ich die Tür öffnete, so voller Erwartung und Hoffnung und die pure Erleichterung, die sich Raum schaffte in einem so herzhaften Lachen. Ich konnte nicht anders, als mitzulachen. Sie erzählte uns, dass sie nicht genau wusste, ob das nun tatsächlich das richtige Haus war, und dachte sich, sie klingelt einfach und schaut dann, wer öffnet. Ein vertrautes Gesicht zu sehen, war somit das große Finale nach einer wirklich siegreichen Schlacht. Sie hatte es geschafft. Sie hatte es ganz alleine geschafft. Wenn auch mithilfe von so manchem Passanten.