Mutter Blamage und die Brandstifter - Stephan Hebel - E-Book

Mutter Blamage und die Brandstifter E-Book

Stephan Hebel

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Beschreibung

Die Unantastbare wankt Angela Merkel steht in der Kritik wie nie zuvor in ihrer mehr als zehnjährigen Amtszeit. Aber nicht ihre ungerechte Wirtschafts- und Sozialpolitik löst am meisten Widerstand aus, nicht das inhumane Spardiktat, mit dem sie Europa überzogen hat, oder ihre fragwürdige Außen- und Sicherheitspolitik. Der Protest kommt vielmehr von denen, die Deutschland noch mehr abschotten wollen und die Menschen mit leeren, nationalistischen Heilsversprechen locken. Stephan Hebel kritisiert die Kanzlerin aus der entgegengesetzten Perspektive und beschreibt, wie Merkels Politik Deutschland sozial ungerechter und auf Dauer anfälliger für Krisen macht. Er erklärt, warum sie damit den Aufstieg des Rechtspopulismus mitverschuldet hat. Und er benennt mögliche Alternativen.

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Ebook Edition

Stephan Hebel

Mutter Blamage und die Brandstifter

Das Versagen der Angela Merkel – warum Deutschland eine echte Alternative braucht

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-663-7

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2017

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Vorwort
Meisterin des schönen Scheins
Die versteckte Ideologie
Nostalgie von rechts
Auf Schleichwegen zum Neoliberalismus
Der Wirtschaft zuliebe
Die Macht als Mittel zum Zweck
Die Geburtshelferin der AfD
Das Versagen der Kanzlerin und der Neorassismus
Von rechtsradikal bis gutbürgerlich: Die Ideologie des Neorassismus
Die »linke« CDU und die »dummen« Wähler
Partei der Abstiegsangst
National, neoliberal, unsozial: Was die AfD wirklich will
Das Scheitern der NPD als Vorbild?
Die Legende von der Flüchtlingskanzlerin
Übertreibungen und Fakten
Kulturelle Entfremdung und die Politik mit der Angst
Von der Abschottung zur Öffnung – und zurück
Von »Asylkompromiss« bis »Dublin III«:25 Jahre Flüchtlingsbekämpfung
Wenige rein, viele raus: Asylgesetze in Deutschland
Mit Sicherheit gegen die Freiheit
Überwachen, Ausspähen, Verbieten
Zum Schaden für die Bürger
Vorbeugen? Nebensache!
Das deutsche Europa
Aus dem Gleichgewicht: Politik des Schwindels
Hier regiert der Markt
Die Geburtsfehler einer Währung
Verheerende »Rettung«
Schuld und Schulden
Die Alternative heißt Europa
Alles Gute kommt nach oben
Umverteilung: Die falsche Richtung
Um-Steuern? Fehlanzeige!
»Sozialdemokratische Handschrift«? Eine Randnotiz, nicht mehr
Wege zum Wechsel
Der Anfang ist rot-rot-grün
Anmerkungen

»Ich bedaure es aufrichtig, dass man gerade in den unteren Klassen immer noch von Klassenunterschied schwatzt.«Max Frisch, Biedermann und die Brandstifter

Für die Frau, die mir immer ein Zuhause gibt,egal wo ich bin: Tanja

Vorwort

So kann man sich täuschen: Als der Westend Verlag und ich im Frühjahr 2015 zum ersten Mal über eine Fortsetzung meines Buches Mutter Blamage sprachen, schien die Welt für Angela Merkel noch in Ordnung zu sein. Die weltweiten Fluchtbewegungen fanden anderswo statt, die AfD war dabei, sich zu spalten, und Deutschland lebte still und satt vor sich hin, als gingen die Krisen der Welt uns nichts an. Ich nahm mir vor, den 2013 erschienenen Titel für das Wahljahr 2017 zu aktualisieren, mehr nicht. Und bei der wichtigsten These würde es ohnehin bleiben: Angela Merkel ist eine Meisterin der Täuschung. Während sie sich als »Kanzlerin für alle« inszeniert, betreibt sie in Wahrheit eine einseitig neoliberale, an ökonomischen Interessen orientierte Politik.

Nicht einmal zwei Jahre später war klar: Es wird ein nahezu komplett neues Buch. Nicht, dass sich an der Kernaussage etwas geändert hätte: Die politisch-ideologische Ausrichtung der Kanzlerin und die Camouflage, mit der diese Politik verschleiert wird, sind geblieben. Aber Angela Merkel sitzt nicht mehr annähernd so fest im Sattel wie im Wahlkampf 2013. Seit Deutschland sich im zweiten Halbjahr 2015 bequemt hat, die seit Jahren stattfindende Katastrophe der weltweiten Fluchtbewegungen zur Kenntnis zu nehmen, weil ein immer noch kleiner Teil der Flüchtenden unser Land erreichte, ist es mit der Ruhe vorbei. Auch für die Bundeskanzlerin. Und seit Deutschland zum Ziel des Terrorismus geworden ist, gilt das erst recht.

Darum geht es vor allem in den ausführlichen Kapiteln zum Neorassismus der neuen Rechten, zum Flüchtlingsthema und zur »inneren Sicherheit«. Allerdings schließe ich mich ausdrücklich nicht der im Politik- und Medienbetrieb so gern gepflegten Sichtweise an, wonach das große Lager der Demokraten, angeführt von der umsichtigen CDU- und Regierungschefin, der Bedrohung von rechts durch eine ökonomisch und sozial einigermaßen ausgewogene Politik der Mitte entgegentritt. Nein, im Gegenteil: Diese Kanzlerin betreibt an den entscheidenden Stellen eine wirtschaftsliberale, soziale Brüche noch verstärkende Politik, Mindestlohn hin oder her. Und ich füge hinzu: Es ist diese Politik, die das Erstarken der extremen Rechten noch befördert, statt es zu verhindern.

Genau das, so meine Sorge, geht allerdings in den hysterischen Debatten so gut wie unter, bei denen die Zuwanderung und der Terror in geradezu skandalöser Weise miteinander vermischt zu werden pflegen. Während Deutschland – unter Federführung von Angela Merkel – die Grenzen für Flüchtlinge wieder dichtmacht und ein fragwürdiges »Sicherheitsgesetz« nach dem anderen beschließt, setzt die Kanzlerin die Politik der Ungerechtigkeit und der Umverteilung nach oben fast ungehindert fort. Und der demokratische Teil der Gesellschaft überlässt die Parole »Merkel muss weg« denjenigen, die keineswegs gegen diese Ungerechtigkeit kämpfen, sondern für die Wut und die Angst vieler Menschen ausgerechnet diejenigen verantwortlich machen, die nichts dafür können: die Geflüchteten.

Mit diesem Buch will ich ein Angebot machen, die Dinge anders zu sehen. Ich will zeigen, dass es höchste Zeit ist, den Kampf gegen rechts zu führen, ohne Angela Merkel auf den Leim zu gehen. Dass es Zeit ist, beidem zugleich Alternativen entgegenzustellen: sowohl der rechten Ideologie der nationalen Abschottung als auch der neoliberalen Idee von Globalisierung, die am Ende vor allem Kapitalinteressen dient.

Tatsächlich ist es höchste Zeit, diese Kanzlerin abzulösen – aber nicht im Sinne der »Alternative für Deutschland« und ihrer Gesinnungsgenossen in Europa oder anderswo. Die echte Alternative wäre ein politisches Bündnis der sozialen Gerechtigkeit und der gesellschaftlichen Liberalität. Eine Koalition, die die Offenheit von Grenzen mit dem Anspruch der internationalen Sicherung sozialer Standards, gerechter Besteuerung und öffentlicher Daseinsvorsorge verbinden würde.

Ich habe dieses Buch auch geschrieben, weil mir diese Perspektive nicht nur im Politikbetrieb, sondern auch in der Medienwelt viel zu kurz kommt. Zu sehr beschränken sich die Inszenierungen, die uns »Tagesschau« und »heute« jeden Abend zeigen, auf die »Alle gegen die Populisten«-Perspektive – als müssten nicht gerade die demokratischen Parteien neues Vertrauen erwerben, indem sie endlich wieder über unterschiedliche Modelle streiten, statt der Gefahr von rechts immer nur mit dem großkoalitionären »Weiter so« zu begegnen. Und zwar unabhängig davon, welche Partei gerade mit welcher regiert.

Im Vorwort zu Mutter Blamage habe ich 2013 geschrieben: »Als Journalist habe ich das Glück, mich hauptberuflich mit Politik zu befassen. Ich tue das nicht von Berlin aus, sondern von Frankfurt am Main. Ich habe noch nie im Kanzleramt Rotwein getrunken. Ich nehme nicht an den Hintergrundkreisen teil, in denen Politiker mal ›ganz offen‹ reden – vorausgesetzt, die anwesenden Journalisten behalten das Gehörte für sich. Ich meide den von Politikern und Medienkollegen bevölkerten Kontakthof, in dem die Inszenierungen des politischen Geschehens entstehen, weil mich die Distanzlosigkeit abschreckt, mit der sie einander oft begegnen. Ich versuche zu betrachten und zu bewerten, was Politiker tatsächlich tun, und vor allem, was es für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutet. Und je länger ich das tue, desto stärker wird mein Eindruck: Das Bild, das sie von sich verbreiten und verbreiten lassen, hat mit ihrem Handeln wenig zu tun.«

Ich bin weit davon entfernt, mich dem »Lügenpresse«-Geschrei der Rechtsextremen anzuschließen. Dafür gibt es viel zu viele Kolleginnen und Kollegen auch in den etablierten Medien, die kritisch und unabhängig berichten und kommentieren, statt sich dem Herdentrieb zu ergeben. Aber es bleibt trotzdem dabei: Zu oft funktioniert die Maskerade der Angela Merkel noch immer. Zu unbeachtet bleibt der eklatante Widerspruch zwischen ihrem Image und ihrer praktischen Politik. Deshalb soll dieses Buch die öffentliche Selbstdarstellung von Angela Merkel mit ihrer Politik konfrontieren. Es möchte im Jahr der Bundestagswahl dem Image der »Kanzlerin für alle« sachliche Argumente entgegenstellen. Und es soll zeigen, dass der Weg nach ganz rechts keineswegs die einzige Alternative ist zum Versagen der Kanzlerin.

Zum Motto dieses Buches habe ich ein Zitat aus Max Frischs Theaterstück Biedermann und die Brandstifter gewählt. Das Stück erschien 1958, aber die Person des Biedermann darf als zeitloses Modell des nach außen braven Bürgers gelten, der hinter der Fassade der Wohlanständigkeit sein Zuhause und seine persönlichen Interessen knallhart gegen die Risiken und Nebenwirkungen einer aus den Fugen geratenden Gesellschaft verteidigt. Er tut das mal durch Abwehr gegen alles, was seine Ruhe stört, mal durch Anbiederung, mit der er die Brandstifter zu besänftigen hofft. Nur die gesellschaftlichen Spaltungen will er als Ursache der Bedrohung nicht wahrhaben, wenn er sagt: »Ich bedaure es aufrichtig, dass man gerade in den unteren Klassen immer noch von Klassenunterschied schwatzt.«

Der Satz könnte von Angela Merkel stammen. Dieses Buch soll auch ein Ansporn sein, ihr die selbstverschuldete Blindheit gegenüber der Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft nicht durchgehen zu lassen.

Ich bedanke mich von ganzem Herzen bei meiner Frau Tanja Kokoska, die mir mit Bestärkung und Kritik, mit ihrer Zuwendung und ihrem schlichten Dasein unendlich viel Kraft, Anregung und Geborgenheit gibt.

Ich danke meinem Sohn Jakob Raue, dessen liebevolles Interesse mir noch viel mehr gibt, als er vielleicht denkt.

Ich danke meinen Geschwistern für großes Interesse, bereichernden Austausch und unschätzbaren familiären Zusammenhalt.

Ich danke vielen Freundinnen und Freunden – ganz besonders Lia Venn, Thomas Stillbauer, Thomas Gebauer, Susanne Schmidt, Karin Ceballos Betancur, Dieter Hummel und Jürgen Metkemeyer – für wundervolle und anregende Gespräche nicht nur über Angela Merkel.

Ich danke den zahllosen Kolleginnen und Kollegen, die mir ein anregendes berufliches Umfeld geben. In dankbarer Erinnerung denke ich an zwei von ihnen, die viel zu früh verstorben sind: Werner Neumann und Felix Helbig, die mir beide auf unterschiedliche Weise Vorbilder an Unbeugsamkeit und Haltung waren.

Sehr herzlich danke ich Rüdiger Grünhagen, der mir wieder ein überragender Lektor war und dazu ein verlässlicher Freund. Gleiches gilt für seine Kollegen vom Westend Verlag, Markus J. Karsten und Bernd Spamer.

Frankfurt am Main, im Februar 2017

Stephan Hebel

Meisterin des schönen Scheins

Erinnert sich noch jemand? Als das Wahljahr 2013 begann, war Angela Merkel mit Abstand die beliebteste Politikerin Deutschlands. In vielen Medienberichten begegnete sie uns nach sieben Jahren Kanzlerschaft als wenig charismatische, kaum von Prinzipien geleitete, aber umsichtig und pragmatisch handelnde Mutter der Nation. Als nervenstarke Krisenmanagerin und Garantin einer maßvollen Reformpolitik für alle. Als säßen wir auf einer Insel, unberührt von den Konflikten und Problemen dieser Welt, ließ Deutschland sich einschläfern von der beruhigenden Botschaft seiner Kanzlerin: »Deutschland geht es gut.« Es schien damals auch kaum jemandem aufzufallen, wie nah diese Fixierung auf die nationale Wohlstandsinsel dem Denken war, das wir heute an anderer Stelle als »America first« kennen und kritisieren. Dass das deutsche Export- und Wohlstandsmodell auf Kosten der europäischen Partner erwirtschaftet wurde (und wird), ging an der öffentlichen Wahrnehmung so gut wie vorbei.

Am 22. September 2013 entschieden sich 41,5 Prozent der Wählerinnen und Wähler für die CDU/CSU, und nur weil die FDP aus dem Bundestag flog, reichte es nicht für die Fortsetzung der schwarz-gelben Koalition, die von 2009 bis 2013 regiert hatte. Der Rest ist bekannt: Die SPD bot sich der Union als Juniorpartnerin an, und es sah fast so aus, als könnte es ewig weitergehen mit der Illusion: Alles bleibt, wie es ist, und Mutti passt schon auf.

Einen Wahlkampf später stellt sich die Lage etwas anders dar: Zur Jahreswende 2016/2017 lag die ewige Kanzlerin bei den demoskopischen Beliebtheitswerten weit hinter dem Sozialdemokraten Frank-Walter Steinmeier, der sich gerade vom Außenministerium verabschiedete, um Bundespräsident zu werden, und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz schloss aus dem Stand zur CDU-Vorsitzenden auf. Vor allem aber: Mit der Ruhe im Land war es längst vorbei. Was vier Jahre zuvor fast unvorstellbar gewesen wäre, gehörte nun fast zum Alltag einer in höchste Erregung geratenen Gesellschaft: Auf Straßen und Plätzen ertönte der Ruf »Merkel muss weg«.

Darauf hörte sie natürlich nicht. Ausgerechnet im Moment des heftigsten Gegenwindes aufzugeben, das hätte zu dieser Frau ganz und gar nicht gepasst. Also verkündete sie am 20. November 2016 in salbungsvollen Worten, sie wolle Deutschland nun auch weiterhin »dienen«, und zwar von ganz oben, und das gelte erst recht »in Zeiten, in denen die Menschen, so ist mir von sehr vielen gesagt worden, wenig Verständnis hätten, wenn ich jetzt nicht noch einmal meine ganze Erfahrung und das, was mir an Gaben und Talenten gegeben ist, in die Waagschale werfen würde, um meinen Dienst für Deutschland zu tun«.1

Nun gibt es bekanntlich auch Menschen, die nicht nur »Verständnis« hätten, sondern ausgesprochen erleichtert wären, wenn die Kanzlerin ihren »Dienst für Deutschland« beenden würde. Allerdings, und das ist die Hauptthese dieses Buches: Diejenigen, die jetzt »Merkel muss weg« skandieren, schreien lauthals an den eigentlichen Fehlern dieser Kanzlerin vorbei. Der wieder auferstandene Rassismus und Nationalismus, gestärkt durch die angeblich so großzügige Flüchtlingspolitik der Regierung, äußert sich nicht nur im Wutgeschrei von Pegida und Co., sondern er rückt scheinbar unaufhaltsam in die Mitte der Gesellschaft vor. Und dabei bleibt fast unbemerkt, dass Angela Merkel ihre eigentliche politische Agenda ungerührt weiter abarbeitet. Diese Agenda ist es – und nicht die einmalige, vorübergehende Grenzöffnung für Flüchtlinge –, mit der diese Kanzlerin seit mehr als einem Jahrzehnt Deutschland blamiert.

Das Erstaunliche ist, dass so viele Menschen die Legende von der unideologischen Pragmatikerin Angela Merkel glauben. Dabei handelt es sich bei dieser (Selbst-)Darstellung um ein permanentes Betrugsmanöver. Die Kanzlerin hat, auch wenn es nicht so scheint, sehr wohl eine politische Agenda – und die ist schlecht für Deutschland.

Das gerät allerdings im Jahr 2017 fast noch gründlicher in Vergessenheit als 2013, als die Fehler und Versäumnisse noch in der Watte des Wohlbefindens verpackt zu sein schienen. Nun streitet alle Welt darüber, ob wir »das« mit den Flüchtlingen »schaffen«, aber die wirklich schädlichen Inhalte des Merkelismus gehen fast vollständig unter. Dabei sind selbst die Aufregerthemen unserer Tage – der neue Rassismus, die Zuwanderung und die terroristische Gefahr – ohne eine genauere Betrachtung von Merkels Versagen kaum zu verstehen. Nicht, dass die Kanzlerin an allem schuld wäre, selbst am Terror. So einfach ist es nicht. Aber eine Politik der Vorbeugung, die national wie international für mehr Zusammenhalt und Ausgleich sorgen und die Konflikte langfristig eindämmen könnte, hat die CDU-Vorsitzende von Anfang an verweigert. Und daran hat sich nichts geändert.

Das ist die eigentliche Blamage. Sie liegt nicht etwa darin, dass Angela Merkel sich selbst blamierte. Das wäre noch zu ertragen. Aber so ist es nicht: Die Kanzlerin agiert souverän und zielstrebig wie kaum jemand sonst in der politischen Arena, selbst jetzt, da alle Welt von Krisen spricht. Auch vor jenen, die an Politikern vor allem das Gespür für Macht bewundern, blamiert sie sich nicht. Und genauso wenig vor denen, in deren Interesse sie vor allem handelt: den Mächtigen in Finanzwirtschaft und Industrie. Nein, das Problem ist ein anderes: Angela Merkel blamiert »nur« das Land, das sie regiert. Denn hinter einer verschwurbelten Rhetorik der Richtungslosigkeit verbirgt sich eine gar nicht richtungslose Politik, die Deutschland und Europa auf Dauer schadet. Und zwar nicht dadurch, dass die Bundesrepublik dem Flüchtlingssterben im Mittelmeer wenigstens für einen Moment nicht mehr tatenlos zugesehen hat. Sondern weil Merkel ungerührt an einer Ideologie festhält, die die Konflikte eher verschärft, als sie zu lösen.

Das wichtigste Requisit dieser Kanzlerin ist die Tarnkappe. Es scheint, als ordne sie dem Machterhalt jede Überzeugung unter (Fans sprechen lieber von »Pragmatismus«). Hier macht ihr niemand etwas vor, sie ist eine brillante Handwerkerin der Macht. Was dem Machterhalt dient, wird dafür genutzt, ob es nun auf Parteifreunde angemessen konservativ wirkt oder nicht: Hat sie nicht am Ende doch die Banken reguliert? Ist die Wehrpflicht nicht abgeschafft? Gibt es nicht sogar den gesetzlichen Mindestlohn? Und wer, bitte, hat die Energiewende ausgerufen?

Auf den ersten Blick haben Kritiker wie Bewunderer zumindest in einer Hinsicht recht: Aus Merkels Worten irgendetwas Programmatisches abzuleiten, ist oft schwerer, als den berühmten Pudding an die Wand zu nageln. Sie ist Regisseurin und Hauptdarstellerin in einem »Für-jeden-etwas«-Theater der besonderen Art.

Auf den zweiten Blick aber zeigt sich: Sowohl die untertänigen Lobredner und -schreiber als auch die konservativen Kritiker (und erst recht diejenigen, die erst das eine waren und dann das andere) sind der Kanzlerin auf den Leim gegangen. Diese Frau betreibt sehr wohl ein politisches, von klaren ideologischen Wegweisern bestimmtes Projekt. Sie ist allerdings nicht die Kanzlerin für alle, wie ihre Rhetorik uns vorzugaukeln versucht. Sondern sie ist die Kanzlerin des Neoliberalismus. Eine Regierungschefin, die sich ihrerseits regieren lässt von den Interessen der Wirtschaft und des Finanzkapitals. Sie ist übrigens auch nicht die humanitäre Lichtgestalt, für die die halbe Welt sie seit der vorübergehenden Grenzöffnung für Flüchtlinge hält – so erfreulich dieser kurze Moment der Offenheit aus humanitärer Sicht auch war.

In Wahrheit dienen selbst Merkels Zugeständnisse an Sozialreformer und Modernisierer einzig dem Zweck, die Freiheit »der Märkte« und ihrer Akteure im Kern zu wahren. Die »sozialdemokratischen« und »grünen« Elemente Merkel’scher Politik erweisen sich als taktische Rückzüge mit dem Ziel, unter Vortäuschung falscher Tatsachen auch jenseits des konservativen Spektrums Mehrheiten zu gewinnen. An der generellen Richtung ändern sie nichts. Und die Grenzöffnung vom September 2015 erweist sich bei genauerem Hinsehen auch als Versuch, die restriktive Flüchtlingspolitik durch ein vorübergehendes Nachgeben auf Dauer zu sichern.2

So erweist sich die immer noch mehrheitsfähige Vorstellung, Merkel repräsentiere die Deutschen nach außen ganz gut und richte nach innen wenigstens keinen Schaden an, als gefährlicher Irrtum: Diese Frau hat Deutschland ihren Stempel aufgedrückt, längst bevor die Flüchtlinge kamen, und sie tut es noch immer. Und wir haben es nicht einmal gemerkt. Der Abdruck dieses Stempels ist fatal: Mit der angeblich »mächtigsten Frau der Welt« ist Deutschland aggressiver geworden, nach außen für Freund und Feind unberechenbarer denn je seit dem Zweiten Weltkrieg, nach innen ungerechter und reformunfähiger als sogar unter der bleischweren Regentschaft des Helmut Kohl, und auch die »Festung Europa« wird diese Kanzlerin weiter verteidigen, auch gegen Flüchtlinge – wenn die Wählerinnen und Wähler es nicht verhindern.

Längst ist die Bundesrepublik, allen Erfolgsmeldungen zum Trotz, ein Land im Reformstau. Ein Land, das sich auf Kosten anderer in kleinkariert nationaler Interessenpolitik ergeht und sich damit selbst auf Dauer schadet. Ein Land, in dem die Ungerechtigkeit wächst und die Schere zwischen Arm und Reich sich immer weiter öffnet. Ein Land, das Millionen seiner Bürger in die Armut treibt, mit Arbeit oder ohne. Ein Land, das wichtig tut und ständig an Gewicht verliert. Ein Land, in dem der Souverän – das Volk und »sein« Parlament – systematisch entmachtet wird. Ein Land, in dem die Politik sich selbst zur Erfüllungsgehilfin ökonomischer Interessen degradiert. Ein Land, das die Verlierer dieser Politik den Rassisten und Populisten praktisch kampflos überlässt.

Die versteckte Ideologie

Die Missverständnisse über Angela Merkel haben mit der Aufregung über die Flüchtlinge noch zugenommen. Denn die vorübergehende Grenzöffnung wird weithin so verstanden, als habe die Kanzlerin nun plötzlich aus Überzeugung gehandelt, ja: einen Politikwechsel vollzogen, von der Abschottung hin zur großzügigen Migrationspolitik. Darin sind sich diejenigen, die jubeln, und diejenigen, die protestieren, sogar einig. Aber selbst hier trügt der Schein: Längst ist Deutschland unter Merkels Führung zur Abschottung zurückgekehrt, während alle Welt noch über angeblich offene Grenzen streitet.

So geht es in praktisch allen Bereichen: Ihren eigentlichen Zielen gibt Angela Merkel, die Unverbindliche, in der Regel weder Namen noch Gesicht. Deshalb glaubt ganz Deutschland entweder, eine Agenda gäbe es nicht – oder es wird der CDU-Vorsitzenden ausgerechnet dort ein Handeln aus Überzeugung zugesprochen, wo sie in Wahrheit nur taktische Zugeständnisse macht. Sie habe »die CDU nach links gerückt«, ist eine dieser Behauptungen; sie habe auf Dauer die Grenzen geöffnet, eine andere. Die einen freuen sich, weil die Chamäleon-Kanzlerin immer mal wieder die Farbe annimmt, die ihnen gefällt. Und die anderen ärgern sich, weil sie es gern noch ein bisschen konservativer oder wirtschaftsliberaler hätten oder jedenfalls irgendwie programmatisch und schon gar nicht mit diesem gelegentlichen Anflug »sozialdemokratischer« Neigungen.

Für Linke und Anhänger der Sozialdemokraten gibt es – zum Ärger der traditionell Konservativen – den Mindestlohn und ein paar symbolische Regelungen für die Eindämmung der Teilzeitarbeit, die in Wahrheit kaum etwas bewirken. Grüne und Ökologen bekommen etwas, das den Namen »Energiewende« trägt – wiederum zum Ärger der Altkonservativen, die die Kehrtwende der Ex-Atomfreundin nicht verstehen. Zum Ausgleich darf sich jeder CDU-Parteitag nach alter konservativer Sitte gegen allzu viele Rechte für Homosexuelle sowie gegen Datenschützer und Liberalität in der Strafverfolgung positionieren.

Allerdings: Hinter der vermeintlich unideologischen, pragmatischen Attitüde versteckt sich der wahre Kern des Merkel’schen Programms. Es ist ein »Wirtschaftsliberalismus light«. »Light« nicht in seinem ideologischen Kern – der ist eher hart –, sondern nur in seiner Geschmeidigkeit, wenn es um die Durchsetzung der wichtigsten Ziele geht, zum Beispiel die Sicherung der deutschen Vorherrschaft in Europa, den Abbau der solidarischen Sozialsysteme oder die Abschottung gegen Flüchtlinge und andere Migranten. Dieses Programm kennt keine ideologischen, sondern nur taktische Grenzen: Nach außen verkauft die »Kanzlerin aller Deutschen« ihr Handeln als »Politik für alle« und sich selbst als Inkarnation der bürgerlich-liberalen »Mitte«. Doch hinter dieser Fassade folgt sie weitgehend dem Programm der Banken und Konzerne. Die vielbeschworene »Modernisierung« der CDU erfüllt kaum mehr als den Zweck, diese Abhängigkeit zu kaschieren.

»Modern« wird die Partei entweder dort, wo auch die Wirtschaft inzwischen nach Modernisierung ruft – zum Beispiel bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Oder sie macht Zugeständnisse dort, wo der gesellschaftliche Druck die Macht zu gefährden beginnt – zum Beispiel bei der Energiewende oder beim Mindestlohn. Dann allerdings tut sie nur das, was unbedingt notwendig ist, um die Konkurrenz in Schach und den Druck auf die Wirtschaft so gering wie möglich zu halten: Wenn schon die Forderung nach Mindestlöhnen zu populär ist, um sie zu ignorieren, dann werden die Unternehmen lieber eine Variante akzeptieren, die die Beschäftigten immer noch nicht über die Grenze zur Armutsgefährdung bringt, als eine großzügige Regelung unter einer rot-rot-grünen Regierung. Und wenn schon Energiewende, dann lieber mit milliardenschwerer Entlastung der stromfressenden Industrie als ein Umstieg mit fairer Verteilung der Lasten.

Nostalgie von rechts

Vor allem aus dem konservativen Lager kommt Kritik an dieser Geschmeidigkeit. Da heißt es, die CDU-Vorsitzende habe ihren Kompass verloren, und voller Trauer wird erinnert an die Zeit, als sie noch – etwa 2003 auf dem berühmten Leipziger Parteitag oder im Wahlkampf 2005 – das neoliberale Programm in Reinkultur predigte. Melancholisch wird der »Mut« beschworen, mit dem Merkel sich an die neoliberale »Modernisierung« der Republik gemacht habe. Und mit nostalgischem Unterton werden Sätze zitiert wie dieser aus dem Beschluss des Leipziger Parteitags von 2003: »Immer wieder hat die CDU in der Geschichte der Bundesrepublik den Mut gehabt, die Weichen auch gegen Widerstände neu zu stellen, weil sie die Herausforderungen der Zeit angenommen hat. Zu dieser Verantwortung bekennt sich die CDU auch jetzt.«3

Ganz mutig beschloss Merkels Partei damals »den Befreiungsschlag«, von dem die Vorsitzende bei ihrer Leipziger Rede sprach.4 Die CDU forderte die Umstellung der Krankenversicherung auf eine »Kopfprämie«, die nicht mehr mit dem Einkommen steigen, sondern für alle gleich sein sollte5 – also den Anfang vom Ende des Solidarprinzips in der Sozialversicherung. Sie beschloss ein neues Steuersystem mit nur noch drei Sätzen von 12, 24 und 36 Prozent6, womit sie Gerhard Schröders fatale Entlastungspolitik für Spitzenverdiener noch unterbot (Rot-Grün senkte Anfang 2005 den Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent). Und sie beschloss, das umlagefinanzierte Rentensystem »wo immer möglich durch ein kapitalstockgestütztes System zu ergänzen«7 – also eine Strategie, die die Auslieferung künftiger Rentner an die Finanzmärkte zum Prinzip erhob.

Die CDU-Vorsitzende gab bei diesem Parteitag im Jahr 2003 ein schönes Beispiel für die geistige, ja sogar sprachliche Hegemonie des blühenden Neoliberalismus: »Wer (…) so viel verspricht und so wenig hält wie Rot-Grün, der zerstört jede Glaubwürdigkeit«, sagte sie. »Die Bürger müssen vielmehr die Perspektive haben, dass das, was ihnen an Reformen vom Staat zugemutet wird, sich für sie auch auszahlt. Nicht unbedingt schon heute oder morgen. Aber am Ende des Weges.«8 Vor dem Siegeszug des Neoliberalismus verstand man unter »Reform« ein Projekt, das die Lebenssituation möglichst vieler Menschen verbessert. Nun stand »Reform« für Verschlechterungen, die den Menschen »zugemutet« werden – mit dem vagen Versprechen, dass sich das Ganze »auch auszahlt«, und zwar irgendwann »am Ende des Weges«. Es gehört zu den herausragenden Erfolgen des Marktfundamentalismus und seiner publizistischen Hilfstruppen von Bild und Zeit bis zum marktradikalen Ökonomen-Papst Hans-Werner Sinn, diese Ideologie bis in den allgemeinen Sprachgebrauch hinein verbreitet zu haben. Angela Merkel war – beim Parteitag 2003 und dann im Wahlkampf 2005 – eine der begeisterten Anhängerinnen dieser Ideologie. Und dieses eine Mal in ihrer politischen Karriere, diesen einen Wahlkampf lang, bekannte sie sich sogar dazu.

Das hat sich, zum Leidwesen der konservativen Kritiker, seitdem geändert. CDU und CSU schafften es 2005 mit der radikalen Variante neoliberaler Politik nicht zum erwarteten großen Sieg, sondern landeten in der großen Koalition. Das Ergebnis der Union war mit 35,2 Prozent enttäuschend ausgefallen, auch wenn es Merkel ins Kanzleramt brachte. Die SPD, obwohl zerrissen durch die neoliberale Agendapolitik ihres Kanzlers Gerhard Schröder, landete nur einen Punkt dahinter. Das muss der Moment gewesen sein, in dem die CDU-Vorsitzende beschloss, ihren ideologischen Kompass künftig hinter einer in milden Farben getünchten Fassade zu verbergen. Damit begann die Chamäleonisierung der neuen Kanzlerin. Genauer: ihrer Rhetorik. Von nun an tat Angela Merkel alles, um sich als »Kanzlerin für alle«, als über den Parteien schwebende Instanz zu inszenieren, bei der auch für sozialdemokratisch oder grün gesinnte Wähler mal etwas abfallen konnte.

Als die Kanzlerin 2006 auf dem Parteitag in Dresden das erste Jahr ihrer Regierungszeit mit der SPD bilanzierte, war von »Befreiungsschlag« keine Rede mehr. Geboren war Angela Merkel, die Rhetorikerin der Bescheidenheit: »Es gibt nicht die eine Großmaßnahme. Manchmal habe ich den Eindruck, manche warten auf eine Art Urknall, dann werde wieder alles gut. Das gibt es nicht, das ist Träumerei und hat mit realer Politik nichts zu tun. (…) Wir gehen viele kleine Schritte in die richtige Richtung.«9

Geboren war auch die Strategie der begrenzten gesellschaftlichen Modernisierung. Merkel hatte erkannt, dass die unterentwickelte öffentliche Kinderbetreuung in Deutschland nicht nur den Wünschen vieler Frauen Hohn sprach, sondern auch für ihre Freunde in der Wirtschaft zum Problem zu werden begann, weil sie diese Frauen nun bald auf dem Arbeitsmarkt benötigen würden. Also stimmte sie ihre Partei auf eine Relativierung des konservativen Familienbildes ein – wohl wissend, dass ihr die Aura der Modernisiererin bei künftigen Wahlen nur würde helfen können: »Es bleibt richtig: Die Familie ist und bleibt der beste Ort der Erziehung. Alle Betreuungs- und Bildungsangebote bleiben Angebote. Der Staat kann niemals die nahe und persönliche Aufmerksamkeit einer Familie ersetzen«, lautete das kleine Vorwort zur Beruhigung der Basis. Aber dann: »Ebenso richtig bleibt aber auch, dass nicht immer das Rezept gilt: Privat geht vor Staat. Der Staat muss sich heute (…) stärker engagieren. Daran führt kein Weg vorbei.«10 Und für alle, die nicht so schnell mitkamen beim Modernisieren, gab es am Ende noch ein Betreuungsgeld – bis das Bundesverfassungsgericht diese unsinnige Prämie für das Nichtnutzen staatlicher Einrichtungen beendete, weil dem Bund allein schon die Rechtsgrundlage fehlte, so etwas zu beschließen.11

Die rhetorische Abkehr von der harten Variante des Neoliberalismus genügte, um die Fans der »Leipziger« Angela Merkel nachhaltig zu enttäuschen. Entsprechend fielen in den Jahren danach die Kritiken aus dieser Ecke aus. Die Publizistin Gertrud Höhler nutzte ihr auflagenträchtiges, wenn auch historisch nicht verbürgtes Label »ehemalige Kanzlerberaterin bei Helmut Kohl«, um ein dickes Buch über Merkel, die »Patin«, zu schreiben.12 Eine endlose Klage über die »Sozialdemokratisierung« der CDU13, über die Zerstörung der »christlichen« und »liberalen« (sprich: wirtschaftsliberalen) Werte der Partei durch eine Kanzlerin, die nichts im Kopf habe als Macht.

Inzwischen ist das Märchen von der »Sozialdemokratisierung« der Union längst zum Standard-Textbaustein der politischen Publizistik geworden. Wobei sich Höhler nicht einmal scheute, Merkels Verhalten in eine direkte Linie zur SED-Diktatur zu stellen: »In der DDR hat sie studiert, dass die Selbstinszenierung der Macht jede Qualifikation überdeckt und ersetzt.«14 Das ist eine Gleichsetzung mit der Vorgehensweise eines diktatorischen Regimes, die selbst einer Angela Merkel nicht gerecht wird.

Noch schlimmer aber ist der geradezu antipolitische Ansatz dieser Art von Kanzlerinnenliteratur: Bei Gertrud Höhler wird die Politik, die die Vorsitzende mit ihrer Partei betreibt, zum ausschließlichen Ausdruck einer individuellen, persönlichen Biografie und des Charakters, der daraus entstand – das klassische Muster der Personalisierung und damit Trivialisierung von Politik.15 Dass hinter dem wütenden Blick auf die Person die ideologischen und politischen Linien des Merkel’schen Handelns gar nicht mehr auftauchen – ja, dass sogar deren Fehlen wortreich betrauert wird –, das dürfte die CDU-Vorsitzende sehr gefreut haben. Denn am Ende kommt auch diese Kritik noch ihrer Strategie entgegen, die Leitlinien ihrer Politik, die in Wahrheit keineswegs verschwunden sind, vor der breiten Öffentlichkeit zu verbergen.

Im Prinzip spricht nichts dagegen, bei der Motivforschung auch biografische Sachverhalte einzubeziehen – zumal dann, wenn die Autorin wie hier einen personenbezogenen Ansatz wählt. Das hat zum Beispiel eine wesentlich frühere Biografin, Jacqueline Boysen, bereits 2001 getan – allerdings auf differenzierte und seriöse Weise. Sie ist anders als Gertrud Höhler der Versuchung entgangen, so zu tun, als entspringe öffentliches Wirken nur persönlichen Charaktereigenschaften und nicht Ideologien und Interessen.

Boysen kommt der schwer greifbaren, aber in ihren ideologischen Grundüberzeugungen unerschütterlichen Person Merkel wesentlich näher als Gertrud Höhler, wenn sie schreibt: »Die Seiteneinsteigerin ist grundsätzlich unabhängiger als andere, weil sie sich stets der totalen Integration in ein enges Lebensumfeld widersetzt hatte. (…) Seit ihrer Kindheit auf dem Waldhof in Templin ist Angela Merkel daran gewöhnt, immer ein wenig fremd zu bleiben, Distanz zu wahren oder wahren zu müssen. Sie ließ sich mitziehen, passte sich gegebenenfalls der Umwelt auch mit einem Teil Opportunismus an, aber immer erhielt sie sich sorgsam einen Rest von Eigenständigkeit. So schützte sich die Pastorentochter und so ›überwinterte‹ die Physikerin mit ihren Überzeugungen im staatlichen Elfenbeinturm der Akademie der Wissenschaften.«16

Es ist durchaus nachvollziehbar, wenn Boysen auch das irritierende Außenseitertum der Nachwendepolitikerin Merkel aus diesen Erfahrungen ableitet: »So wie sie sich jetzt präsentiert, steht Angela Merkel ihrer Partei vor, aber sie steht nicht in ihr.«17 Der Neueinsteigerin aus dem Osten ging und geht es nicht um »politische Heimat« in einer Partei, deren Werte sie teilt. Es geht um Formung und Nutzung dieser Partei für die Zwecke der Agenda Merkel.

Welche Zwecke das sind? Auch hier war Biografin Boysen schon 2001 auf der Spur, die sich in den folgenden Jahren leider als die richtige erweisen sollte: »Wohl hatte sie sich einst mit der konservativen Position der Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen schwer getan, auch schien sie mit ihrem Vorstoß für eine Ökosteuer in die ›linke Ecke‹ der Union zu passen – aber dies waren ihr keine politischen Herzensangelegenheiten. Von einer ›Parteilinken‹ wäre nicht zuletzt ein sozialpolitisches Engagement zu erwarten gewesen, doch Angela Merkel ließ eher den Hang zur Liberalisierung der Sozialen Marktwirtschaft erkennen.«18

Angesichts dieser treffenden Beobachtung liegt eine weitere Vermutung nahe, die in der Merkologie bei Anhängern wie Kritikern bisher erstaunlich kurz gekommen ist: Nicht die in der Diktatur gelernten Anpassungs- und Vermeidungsmechanismen dürften für Merkel und andere prägend gewesen sein, jedenfalls nicht allein. Vielmehr war der Kapitalismus für einen großen Teil der DDR-Bürger vor allem eine erstrebenswerte, jedenfalls aber die bessere Alternative. Der simple Zusammenhang zwischen Wirtschaftsfreiheit und Wohlstand, den der Marktliberalismus suggeriert, schien aus ihrer Perspektive im Westen Wirklichkeit geworden zu sein. Staatliche »Sozialpolitik« hatten sie in ihrem Land hingegen als allgegenwärtige Bevormundung erlebt, allenfalls als Mittel zur Ruhigstellung der Massen. Und die lauteste Kritik am Kapitalismus kam in der DDR genau von denjenigen, denen man wenn schon nicht Widerstand leistete, so doch ganz sicher auch keinen Glauben schenkte: von den Funktionären der herrschenden Parteidiktatur.

So bildete sich bei politisch aktiven ehemaligen DDR-Bürgern gelegentlich ein Freiheitsbegriff heraus, der das eigene Erleben des bevormundenden und einengenden Staates auf die demokratischeren Verhältnisse des Westens übertrug: staatliche Regulierung, Umverteilung und Eingreifen in den Markt – all das stand unter Verdacht, zu dem zu führen, wovon man gerade befreit worden war. Wer den ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck von Freiheit reden hört, weiß, was gemeint ist. Zumal, nachdem ihm, als er sich einen Reim auf den Frieden machte, nichts anderes als »Freihandel« einfiel: »Im außenpolitischen Vokabular reimt sich Freihandel auf Frieden.«19

Die Kämpfe um mehr soziale Gerechtigkeit waren denjenigen, die gerade dem Diktat der angeblich totalen Gleichheit entkommen waren, fremd bis suspekt. Arbeitskämpfe und Rentendebatten müssen ihnen als Luxusproblem eines Systems erschienen sein, nach dem sie sich (ohne es genau zu kennen) oft ein Leben lang gesehnt hatten und in dem es ja in der Tat freier zuging als in der DDR. Dass Freiheit auch einen ermöglichenden Staat brauchen könnte, der die Teilhabe möglichst aller an dieser Freiheit gewährt, das war ihr Thema nicht. Und genau das einte sie mit den Strippenziehern des nach der Wende erst richtig aufblühenden Neoliberalismus – mögen ihre Gründe zunächst auch ganz andere gewesen sein.

Diese Anfälligkeit für die Agenda des Neoliberalismus eint ehemalige DDR-Bürger übrigens, erstaunlich genug, auch mit denjenigen Ex-Linken, die mit dem Aufstieg ins gutsituierte Bürgertum ihre früheren Überzeugungen vergaßen und verrieten. Zum Beispiel Cora Stephan, einst mit Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit Teil der Nach-68er-Spontiszene in Frankfurt am Main und bekannter als Krimiautorin unter dem Pseudonym Anne Chaplet. Sie machte eine erstaunliche Entwicklung zur geradezu reaktionären Linkenhasserin durch und fand sich unversehens in der Merkel’schen Fangemeinde wieder. »Ja, ich habe Angela Merkel gewählt, damals, 2005«20, bekannte Stephan 2011 in ihrem Buch Merkel. Ein Irrtum, denn: »Nicht nur ich hatte genug von (…) der stickigen Provinzialität grüner Rituale, von der verlogenen Romantik der ›sozialen Wärme‹, von der menschelnden Betroffenheitslyrik. Von dem gespreizten deutschen Selbsthass.«21 Also von allem, darf hinzugefügt werden, wofür die Autorin stand, bevor sie ihre persönliche Rechtswende zelebrierte. Da kam die Angela Merkel des Leipziger Parteitags gerade recht.

Aber wie bei Gertrud Höhler folgte auch bei Cora Stephan die Enttäuschung. Denn »dann war sie Kanzlerin. Und hat sich mehr und mehr als Frau entpuppt, deren Aufbruchswille irgendwo unterwegs verloren gegangen war. Wo waren Mut und Klarheit geblieben, der Geist und der Wille, neue Pfade einzuschlagen, die Kraft der Freiheit? Wo war die Frau, die (…) einen ›Befreiungsschlag‹ ankündigte?«22 Inzwischen kann man die Tiraden dieser Autorin mal im neurechten Internetportal »Achse des Guten«, mal in der Online-Ausgabe der Wirtschaftswoche lesen. Zum Beispiel zum Thema AfD, ganz im Stil der neorassistischen Rechten: »Vor allem gibt es endlich wieder eine Opposition in wichtigen Fragen der Nation, vom Euro über die EU und die ›Energiewende‹ bis hin zum Staatsversagen in der zu Unrecht so genannten Flüchtlingsfrage.«23

Diese Variante des Merkel-Hasses hat allerdings auch eine paradoxe Verwandtschaft mit dem Denken der verachteten Kanzlerin: Nicht unbedingt mit der Plumpheit ihrer Anleihen bei der AfD, wohl aber im national gefärbten und anti-sozialstaatlichen Furor gegen »deutschen Selbsthass« und »soziale Wärme« benennt Cora Stephan einige Elemente Merkel’scher Ideologie – wenn auch in einer Klarheit und Radikalität, die die Kanzlerin vermeidet.

Während Stephan und die anderen enttäuschten Rechten den Verlust der ideologischen Klarheit aus den Jahren 2003 und 2005 beklagen, zeigt sich auf der anderen Seite die publizistische Fangemeinde genau darüber hoch erfreut – und fällt damit ihrerseits auf die Legende von der Kanzlerin der liberalen Mitte herein. Hier nur drei von vielen Beispielen:

Im August 2016 konnte man auf der Homepage der Tagesschau einen Kommentar von Angela Ulrich lesen, die Merkels »Wandlungsfähigkeit« rühmte: »Genau vor einem Jahr hat sich – mit den Flüchtlingen – doch eine neue Kanzlerin gezeigt. Eine mit Emotionen; eine, die Humanität dem Chaos vorzieht. ›Wir schaffen das!‹ – das war und ist in erster Linie ein Aufmunterungsruf, der wohl eher gegen Merkels Willen zum Slogan ihrer Kanzlerschaft emporstieg. Aber er zeigt auch, dass sich Merkel wandeln kann. Das Lauwarme ist passé. Allen Umfragen zum Trotz. (…) Dabei ist Merkel eigentlich schon längst wieder auf die kleinen Schritte eingeschwenkt. Der innere Kompass der Humanität bleibt zwar. Doch auch mit ihrem Okay wurden Asylgesetze verschärft, Türen verschlossen, Menschen abgewiesen. Nur laut gesagt hat Merkel das nicht. Das langjährige Versprechen, dass sich mit ihr nichts ändert, ist weg. Die CDU-Chefin mutet uns jede Menge zu, und das ist gut so!«24 Zwei Anmerkungen dazu: Wo ist der »innere Kompass der Humanität«, wenn wieder »Türen verschlossen« und »Menschen abgewiesen« werden? Und: Dass »uns« die Kanzlerin mit Asylverschärfungen und dichten Grenzen »viel zumutet«, während die Menschen, die irgendwo in Lagern vor sich hin vegetieren, der »Humanität« einer Angela Merkel applaudieren dürfen – das ist schon eine interessante These.

Zweites Beispiel: Bereits im März 2016 hatte der konservative Cheflyriker der politischen Publizistik, Volker Zastrow, in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung seine Ergebenheitsadresse abgegeben. Ausgerechnet aus Anlass der EU-Türkei-Vereinbarung, die die faktische Schließung der EU-Außengrenzen für Flüchtende besiegelte (Zastrow nennt das »geordnete Verhältnisse«), schrieb er: »Sie hat das unmöglich Scheinende möglich gemacht und ihr erstes maßgebliches Zwischenziel erreicht, nämlich eine Übereinkunft mit Ankara, die die Voraussetzungen dafür schaffen soll, wieder zu geordneten Verhältnissen an den europäischen Außengrenzen zurückzukehren.« Und weiter: »Angesichts ihres schönen Erfolges ist doch bemerkenswert, dass Angela Merkel am Freitag zwar einen sonnengelben Blazer trug, sich aber ansonsten zu keinerlei Gefühlsausbrüchen hinreißen ließ.« Oder: »Wenn man sich vor Augen hält, was Merkel in den vergangenen Monaten alles nachgesagt und zugemutet wurde, staunt man dankbar über ihre unerschütterliche Gelassenheit.« Schließlich, zum Ende, der Höhepunkt: »Offenbar entfaltete Merkel in dieser stürmischen Zeit erst, was in ihr steckte. Diese Kanzlerin ist seefest, sie ist schwindelfrei. Wer hätte das gedacht? Der Sturm ist ihr Element.«25

Das dritte Beispiel ist eher im liberalen Spektrum angesiedelt, nämlich beim stellvertretenden Chefredakteur der Zeit, Bernd Ulrich, und klingt nicht ganz so plump wie bei Zastrow. Zum Beispiel, wenn Ulrich – durchaus berechtigt – die spezifisch weiblichen Elemente im Politikstil der Kanzlerin beschreibt, dann aber die Personalisierung von Politik geradezu bis ins Triviale treibt: »Als die politisch wenig versierte Physikerin vor fast drei Jahrzehnten vom eingemotteten DDR-Sozialismus direkt in die gesamtdeutsche Spitzenpolitik geschleudert wurde, fehlte es ihr vollständig an der Härte eines Helmut Kohl, Oskar Lafontaine oder eben einer Maggie Thatcher. Sie war oft unsicher, einmal weinte sie im Kabinett, einmal in einer Zeitungsredaktion, später im Auto. So ist es überliefert.«26

Ob – und wenn ja, wann genau – Angela Merkel auch im Bett geweint hat, weiß leider nicht einmal die Zeit. Immerhin aber hatte Ulrichs Kollege, Parlamentskorrespondent Matthias Geis, bereits 2012 eine Ahnung von den nächtlichen Zuständen seiner Kanzlerin. Als das Bundesverfassungsgericht den Euro-Rettungsschirm ESM gebilligt hatte, tagträumte er sich bis in ihre »Nachtgedanken«: »Angela Merkel hat vor dem Verfassungsgericht in der Tat einen Sieg errungen – aber er besteht vor allem in der Vermeidung einer Niederlage. Auf eine solche Niederlage dürften sich die Nachtgedanken der Kanzlerin in den vergangenen Wochen gerichtet haben.«27

Auf Schleichwegen zum Neoliberalismus

Höhler und Stephan, aber auch Lobschreiber wie Zastrow, Geis und Ulrich hätten genauer hinschauen sollen, statt über den vermeintlichen Verzicht der Kanzlerin auf das »Durchregieren« mit neoliberaler Agenda zu lamentieren oder zu jubeln. Dann hätten sie nämlich erkannt, dass die Leitlinien von Leipzig das Denken der Kanzlerin auch weiterhin bestimmt haben, sowohl in den beiden Koalitionen mit der SPD als auch erst recht im Bündnis mit der FDP von 2009 bis 2013.

Die CDU-Vorsitzende selbst bestätigte diesen Kurs 2006 in Dresden, also nach einem Jahr Regierungszeit mit der SPD. Dort sprach sie von dem »fast schon legendären Parteitag in Leipzig 2003, wo wir uns vorgenommen haben, Deutschland fair zu ändern«. Und weiter: »Dahinter verbarg sich ein revolutionäres Konzept für ein einfaches und gerechtes Steuersystem und für eine solidarische Gesundheitsprämie. Ohne dieses Konzept wäre es uns heute in der Bundesregierung nicht möglich gewesen, die Bürgerversicherung zu verhindern und die entscheidenden Weichenstellungen für die neue Gesundheitsversicherung vorzunehmen.«28 Diese »Weichenstellungen« bestanden, das nur zur Erinnerung, vor allem im Abschied vom solidarischen Prinzip. Seit Angela Merkel regiert, werden die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert. Stattdessen sind die Beiträge der Arbeitgeber festgeschrieben, während die Versicherten die Mehrkosten über Zusatzbeiträge allein bezahlen müssen.

Im Klartext: Wo die radikale Linie gegenüber dem Koalitionspartner und/oder der Wählermehrheit nicht durchzusetzen war, diente das ideologische Rüstzeug wenigstens dazu, echte Reformen wie etwa den Übergang in eine Bürgerversicherung zu verhindern und die Sozialsysteme stattdessen schleichend auszuhöhlen. Verschwunden war der Kompass keineswegs. Nur wurde und wird er nicht mehr ganz so sichtbar getragen. Und die Verschlechterungen für die Mehrheit der Menschen, zu denen dieser Kurs führt, kommen eben in »kleinen Schritten« statt per »Befreiungsschlag«. Daran hat sich auch mehr als ein Jahrzehnt nach dem Bekenntnis von Dresden nichts geändert.

Die Enttäuschung derjenigen, die ihr aus echter neoliberaler und konservativer Überzeugung gefolgt waren, nahm und nimmt die Kanzlerin in Kauf. Diese Enttäuschung ist der Preis, den sie gerne bezahlt, um im wichtigsten Organ des liberalen Bürgertums, der Zeit, fast genauso bejubelt zu werden wie in der FAZ