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Was bleibt, wenn sie geht? Wie hat sich unser Land in der Ära Merkel entwickelt? Ist Deutschland freier, sicherer, gerechter, ökologischer geworden – oder nicht? Hat die scheidende Kanzlerin recht, wenn sie sagt: "Deutschland geht es gut"? Stephan Hebel zieht die kritische Bilanz einer Kanzlerschaft und kommt zu dem Ergebnis: Hätte Merkel eine andere, sozialere Politik gemacht, ginge es vielen Deutschen jedenfalls besser. Trotz eines anhaltenden Wirtschaftsbooms hat die Spaltung der Gesellschaft zugenommen. Stephan Hebel widerspricht der Behauptung, diese Kanzlerin habe keine eigene Agenda gehabt. Und er zeichnet am Beispiel zahlreicher Zahlen und Fakten die Spuren nach, die Merkels Neoliberalismus im Leben der Bürgerinnen und Bürger hinterlassen hat.
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Seitenzahl: 156
Ebook Edition
Stephan Hebel
Merkel
Bilanz und Erbe einer Kanzlerschaft
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ISBN 978-3-86489-741-2
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2018
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich
Für die Frau, die mich so leichtfüßig durchs Leben trägt
Es gibt unter meinen Freunden nicht viele Fans von Angela Merkel. Aber einen Stoßseufzer habe ich während der Arbeit an diesem Buch immer wieder gehört: »Na ja, wenn man bedenkt, was danach kommen könnte …«
Da war, weit über die CDU-Wählerschaft hinaus, fast so etwas wie Anhänglichkeit zu spüren nach 13 Jahren Merkel’scher Kanzlerschaft. Ich kann sie verstehen, aber ich teile sie nicht. Ich glaube nach wie vor, dass das Erbe dieser Kanzlerin, deren politische Endzeit jetzt gekommen ist, ziemlich schwer auf Deutschland lasten wird. Ich denke, dass wir als Bürgerinnen und Bürger in der großen Mehrheit durch ihre Politik nur wenige Vorteile und eine ganze Reihe von Nachteilen erfahren haben. Ich glaube sogar, dass Merkels Handeln für manches Schlimmere, das nach ihr kommen könnte, mit verantwortlich ist, weil es die Unzufriedenheit und Unsicherheit vieler Menschen in diesem Land noch verstärkt hat.
Mit diesem Buch ziehe ich eine erste Bilanz dieser Kanzlerschaft. Ich hoffe, dass die zahlreichen Beispiele aus unterschiedlichen Politikfeldern, die den Kern des Buches darstellen, Ihnen – der Leserin oder dem Leser – die Meinungsbildung erleichtern. Die Texte werden die Ära Merkel kritisch aufarbeiten, ohne dabei die positiven Elemente ihrer Politik zu verschweigen.
Noch ging es in den Gesprächen, die ich seit Merkels Rückzugsankündigung führte, nur um den CDU-Vorsitz und nicht um das Kanzleramt. Aber es war doch bereits Sorge zu spüren, weil es auch in Deutschland bald vorbei sein könnte mit dem bedächtigen, bescheidenen, irgendwie beruhigenden Regierungsstil, den diese Kanzlerin pflegte. Immer wieder klang die Befürchtung durch, dass mit Merkel das letzte Bollwerk gegen Unberechenbarkeit und Rücksichtslosigkeit in der Politik verloren geht.
Ich konnte und wollte – einerseits – nicht widersprechen. Es ist ja richtig, dass Angela Merkel sich immer positiv unterschieden hat von Männern wie Donald Trump, Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan, Viktor Orban, Matteo Salvini und all den anderen polternden Populisten. Nie wurde sie laut, nie wirkte sie radikal, sondern immer abwägend und vermittelnd. Nie hetzte sie gegen Flüchtlinge, nie zerschlug sie allzu viel Porzellan in den internationalen Beziehungen, und höhnische Verachtung von Minderheiten (von Frauen sowieso) war ihr wohl schon immer fremd.
Was mich aber – andererseits – erstaunte und bis heute erstaunt, ist Folgendes: Hinter den absolut nachvollziehbaren Erwägungen über Stil und Habitus verschwand selbst bei politisch interessierten Menschen der Blick für das, was Angela Merkel und ihre Regierungen tatsächlich bewerkstelligt haben. Auch deshalb habe ich mich gefreut, als der Westend-Verlag Ende Oktober fragte, ob ich kurzfristig diese erste Bilanz ziehen wolle. Mir hat der Gedanke gut gefallen, diese Frau an dem zu messen, was sie aus und mit Deutschland gemacht hat, und ich bin diesem Impuls sehr gerne gefolgt.
Ich bedanke mich bei Markus Karsten und Rüdiger Grünhagen vom Westend-Verlag, dass sie mich zu diesem Buch angeregt und bei der Entstehung wieder freundschaftlich begleitet haben. Ich danke meinem umsichtigen Lektor Philipp Müller. Dankbar bin ich den vielen Freundinnen und Freunden und Bekannten, die mir Anregungen gaben. Ich kann nur wenige nennen: Thomas Gebauer und Susanne Schmidt, Lia Venn und Thomas Stillbauer, Ramona Lenz, meinen lieben Sohn Jakob Raue mit Maria Mäule – und allen voran die großartigste, beste, klügste Frau der Welt, mein großes Glück: Tanja Kokoska.
Frankfurt am Main, im Dezember 2018
Stephan Hebel
Am 7. Dezember 2018 ging eine Ära in der deutschen Parteiengeschichte zu Ende: Nach mehr als 18 Jahren trat Angela Merkel als CDU-Vorsitzende ab. Aber bevor sie ging, brachte die noch amtierende Bundeskanzlerin ein Kunststück fertig: Sie gewann eine Wahl, zu der sie gar nicht angetreten war. Annegret Kramp-Karrenbauer, ihre Wunschkandidatin, wurde zur neuen Chefin der Christlich Demokratischen Union gewählt. Kramp-Karrenbauer bekam im zweiten Wahlgang 517 Stimmen, für ihren Gegenkandidaten Friedrich Merz votierten 482 von 999 Parteitags-Delegierten. Wären es nur 18 mehr gewesen, also knapp zwei Prozent der Delegierten, dann hätte der Aufsichtsratsvorsitzende beim deutschen Ableger des Großinvestors Blackrock seine Lobby-Tätigkeit besonders wirkungsvoll fortsetzen können – als Parteichef.
Stattdessen bekam Angela Merkel die Nachfolgerin, die sie sich wünschte. Wieder eine Frau, die nicht wie Merz auf polarisierende Töne setzt, sondern auf »gutes politisches Handwerk«, wie sie in ihrer Bewerbungsrede sagte. »Bei Führung kommt es mehr auf innere Stärke an als auf äußere Lautstärke«: Das war die Absage an alle Fans von Friedrich Merz, der ausdrücklich für mehr Streit mit den »Hauptgegnern« SPD, Grüne und FDP geworben hatte. Keine aggressive Abgrenzung, sondern Vertrauen in die »eigenen Stärken«: Diese Chiffre für einen Stil, der politische Konturen eher verwischt als betont, hatte Kramp-Karrenbauer von ihrer Vorgängerin übernommen.
Was also wird aus dem Erbe der Angela Merkel? Wird »AKK« es einfach verwalten, vielleicht mit ein paar Korrekturen und einem Auftreten, das frischer wirkt als die oft eintönige Noch-Kanzlerin? »Anders weiter so«, wie die Frankfurter Rundschau am Tag nach Kramp-Karrenbauers Amtsantritt titelte?1 Hat also die CDU – je nach Standpunkt – die Chance verpasst oder die Gefahr gemieden, mit Merz an der Spitze zu einem betont wirtschaftsliberalen und konservativen Profil zurückzukehren?
Schon der Wahlkampf um die Nachfolge, den Kramp-Karrenbauer, Merz und der dritte Bewerber Jens Spahn inszeniert hatten, war allgemein nach diesem Muster wahrgenommen worden: »Die Spaltung der Union« werde »immer sichtbarer«, schrieb Roland Nelles auf Spiegel Online,2 »Die CDU hat Angst vor der Spaltung«, titelte der Fernsehsender N-TV,3 und noch als das knappe Ergebnis feststand, kommentierte die Nordwest-Zeitung: »CDU droht tiefe Spaltung.«4
Auffällig war allerdings, dass es in den Texten unter diesen Schlagzeilen so gut wie gar nicht um Inhalte ging. Im Mittelpunkt standen immer das Auftreten und der Stil: »Um eine Spaltung der Partei zu vermeiden, muss Kramp-Karrenbauer nun einen anderen Politikstil als Merkel praktizieren«, schrieb die Nordwest-Zeitung.
Konzentriert man sich aber auf Inhalte, wie es dieses Buch insgesamt tut, dann erweist sich die Erzählung vom Richtungskampf zweier Lager als übertrieben. An den Grundlinien des Merkelismus wird sich nichts ändern – die Frage »Kramp-Karrenbauer oder Merz?« spielt dafür keine Rolle. . Sicher wird »AKK« neue rhetorische Akzente setzen, wenn auch weniger lautstark, als ihr Konkurrent das getan hätte. Aber mehr auch nicht.
Die Saarländerin lässt sich am ehesten als »Christsoziale« beschreiben: Oft konservativ bis in die Knochen, wenn es um gesellschaftliche Fragen geht, aber kompromissbereit, wenn es die Folgen des neoliberalen Kurses hier und da durch sozialpolitische Maßnahmen abzuschwächen gilt.
Die neue CDU-Vorsitzende hat ihr gesamtes Berufsleben in der Politik verbracht. 1962 in Völklingen geboren, trat sie mit 19 Jahren in die CDU ein. Nach dem Studium (Politik und Öffentliches Recht) ging sie 1991 als Referentin in die saarländische Landesgeschäftsstelle der CDU. Nach einigen Stationen in der Kommunalpolitik folgte 1999 der Einzug in den Landtag, und bereits im Dezember 2000 war Annegret Kramp-Karrenbauer Innenministerin des Saarlands – deutschlandweit die erste Frau in diesem Amt. Auch das Bildungs- und Sozialministerium leitete sie für einige Jahre, bevor sie 2012 Ministerpräsidentin wurde. Im Frühjahr 2018 holte Angela Merkel »AKK« nach Berlin und machte sie zur Generalsekretärin der CDU.
Folgende Akzente hatte die Karriere-Politikerin vor ihrer Wahl zur Parteichefin gesetzt:
Eine streng konservative Haltung vertrat sie in der Debatte über die »Ehe für alle«, die sie sogar mit Vielehen und Inzest auf eine Stufe stellte: »Wir haben in der Bundesrepublik bisher eine klare Definition der Ehe als Gemeinschaft von Mann und Frau. Wenn wir diese Definition öffnen (…), sind andere Forderungen nicht auszuschließen: etwa eine Heirat unter engen Verwandten oder von mehr als zwei Menschen.«5 Das volle Adoptionsrecht für homosexuelle Paare stellte Kramp-Karrenbauerallen Ernstes als Bedrohung des Kindeswohls dar: »Seit Jahren heißt es, dass für die Entwicklung von Kindern Vater und Mutter die beste Konstellation ist. (…) Mir will nicht ganz einleuchten, dass das im engsten Umfeld, in dem Kinder geprägt werden, gar keine Rolle spielen soll. Gerade diese Frage dürfen wir nicht daran festmachen, ob sich jemand diskriminiert fühlt oder nicht – sondern allein am Kindeswohl.«
Wenn es allerdings um die Gleichstellung von Frauen im Arbeitsleben ging, sprach sich »AKK« genau wie Angela Merkel dafür aus, durch den Ausbau der Kinderbetreuung die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern.6 Beim Thema Frauenquote ging sie weiter als die Kanzlerin und stimmte im Bundesrat entgegen der damaligen Parteilinie für eine Quotierung von Aufsichtsräten.7
Früher als Angela Merkel erkannte Kramp-Karrenbauer, dass die CDU die Ablehnung eines gesetzlichen Mindestlohns nicht auf Dauer gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchhalten würde.8 Sie schloss sich 2013 einer rot-grünen Initiative für die Lohnuntergrenze an.9 Kurz zuvor hatte sie sich noch für eine »wirtschaftsfreundliche« Variante eingesetzt: »Ein Mindestlohn wird sowieso kommen – und dann besser ein intelligenter und wirtschaftsfreundlicher.«10 Das entsprach genau der Methode Merkel: Was nicht zu vermeiden ist, wird auf die eigenen Fahnen geschrieben.
Zur Altersversorgung regte Kramp-Karrenbauer an, die Bezieher der niedrigsten Renten bei den Sozialbeiträgen zu entlasten.11 Von einer echten Reform – Stichwort: Bürgerversicherung – war allerdings keine Rede. Genau wie bei Angela Merkel.
Im Jahr 2013 erklärte Kramp-Karrenbauer eine Anhebung des Spitzensteuersatzes für »möglich«: Die saarländische CDU habe »die damalige Absenkung des Spitzensteuersatzes unter Rot-Grün für überzogen gehalten. Insofern wäre aus meiner Sicht eine Anhebung bis zum damaligen Level auch noch einmal möglich.«12 Davon war allerdings später nie wieder etwas zu hören. Stattdessen forderte Kramp-Karrenbauer die rasche Abschaffung des Solidaritätszuschlags, also eine Steuerentlastung, von der höhere Einkommen automatisch stärker profitieren als niedrigere, weil sich der Zuschlag an der gesamten Steuerlast bemisst.13
Beim Thema »Innere Sicherheit« schlägt Annegret Kramp-Karrenbauer die in der Partei üblichen, harten Töne an. So sprach sie sich für ein Vorgehen aus, das die »Gefühle« von Menschen wichtiger nimmt als die statistisch belegbare Realität: Statistiken seien nicht hilfreich, »wenn die Menschen nicht das Gefühl haben, dass sie sicher sind«.14 Beim Parteitag sorgte sie dann für Jubel mit der Bemerkung, sie wolle einen Staat, der sich nicht von Kriminellen »auf der Nase herumtanzen lässt«.
In der Migrationspolitik kommt die neue CDU-Vorsitzende dem flüchtlingsfeindlichen Diskurs von rechts stärker entgegen als ihre Vorgängerin, die sie allerdings sowohl bei der »Grenzöffnung« im Herbst 201515 als auch später bei der Rückkehr zur Politik der Abschottung unterstützte. »AKK« forderte, abgeschobenen Straftätern die Wiedereinreise in den gesamten Schengen-Raum lebenslang zu verbieten.16 Außerdem brachte sie Abschiebungen nach Syrien ins Gespräch, was selbst bei Innenminister Horst Seehofer (CSU) auf Widerspruch stieß.17
Außenpolitisch fiel Kramp-Karrenbauer nur einmal auf – allerdings leider dadurch, dass sie eine härtere Gangart gegenüber Russland forderte.18
Die Auflistung zeigt: Annegret Kramp-Karrenbauer ist durchaus in der Lage, eigene Akzente zu setzen. Eine reine Kopie ihrer Vorgängerin ist sie nicht. Aber letztlich überwiegen die Gemeinsamkeiten dann doch massiv, denn außer bei den hier genannten Themen sind keine Abweichungen bekannt. Sicher wird die neue Vorsitzende den streng Konservativen in der CDU etwas mehr rhetorisches »Futter« bieten, und ihr neuer Generalsekretär Paul Ziemiak, der »Mini-Merz«, wie Zeit Online ihn betitelte, ist dazu erst recht prädestiniert.19 Aber nichts deutet darauf hin, dass es eine echte Abkehr geben wird von Merkels Kurs, weder in die eine noch in die andere Richtung. Merkels Erbe, um das es auf den folgenden Seiten gehen wird, bleibt die Grundlage für den im Kern konservativen und neoliberalen Kurs der CDU.
Der Anfang vom Ende hat ein Datum: Am 29. Oktober 2018 verkündete Angela Merkel, dass sie beim Parteitag im Dezember nicht mehr für den CDU-Vorsitz kandidieren werde. Drei Jahre später, so die Ankündigung, wolle sie sowohl aus dem Kanzleramt als auch aus dem Bundestag ausscheiden und danach auch keine anderen Ämter mehr bekleiden.
Niemand wusste damals, ob die erste Frau an der Spitze der deutschen Regierung wirklich bis 2021 durchhalten könne. Vieles sprach von Anfang an für die Vermutung, dass ihre Nachfolgerin oder ihr Nachfolger im CDU-Vorsitz versuchen würde, sich in Abgrenzung von der noch amtierenden Kanzlerin – und im Zweifel auf ihre Kosten – für die Spitzenkandidatur bei der nächsten Wahl zu profilieren. Hinzu kam: Ob diese Wahl tatsächlich erst im Herbst 2021 stattfinden oder ob die große Koalition nicht doch schon vorher platzen würde, stand keineswegs fest. Kurzum: Das Ende der Ära Merkel war absehbar, die Zeit der Bilanzen und Ausblicke gekommen. Was hat diese bemerkenswerte Politikerin aus Deutschland gemacht? Was bleibt von Angela Merkel, wenn sie geht?
In diesem Buch finden Sie eine erste Bestandsaufnahme des politischen Erbes von Angela Merkel. Anhand einer Reihe von Themenbereichen wird zu zeigen sein, wie sich Deutschland in 13 Jahren unter ihrer Kanzlerschaft verändert hat und wie ihr politisches Wirken während dieser Zeit zu bewerten ist. Um das Ergebnis kurz vorwegzunehmen: Die Bilanz fällt insgesamt alles andere als positiv aus. Allerdings hat die hier geübte Kritik mit den Parolen von rechts (»Volksverräterin«) so wenig zu tun wie mit den erstaunlichen Lobreden, die der scheidenden Spitzenfrau aus dem demokratischen Lager auch weit über die eigene Partei hinaus gewidmet wurden. Es geht um die Frage, was der »Merkelismus« zum Beispiel in Fragen der Gerechtigkeit, der ökonomischen Stabilität Deutschlands und Europas, der sozialen Sicherheit, der Bürgerfreiheiten, der demokratischen Kultur, des inneren und äußeren Friedens, der ökologischen Nachhaltigkeit, der Gleichberechtigung zwischen Geschlechtern und unterschiedlichen Lebensweisen geleistet hat. Die Antwort wird lauten: zu wenig, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern, und zu vieles, das ihn gefährdet.
Diese Befunde verlassen, wie erwähnt, das »Gut-Böse«-Muster, in dem sich die Debatte über Angela Merkel gegen Ende ihrer politischen Karriere bewegt hat. Um diese Abgrenzung noch etwas deutlicher zu machen, soll zunächst kurz auf die verengten Diskussionen, die den öffentlichen Raum beherrschen, eingegangen werden.
»Angela Merkel ist mir die beste und die liebste Politikerin, und das sage ich, die ich noch nie CDU gewählt habe, aus tiefstem Herzen! Dass sie geht, ist traurig, aber auch wie sie das tut, ist edel, so wie ihre ganze Handlungsweise. Ein Hoch auf Angela Merkel!«1 So lautete der Brief einer Leserin, der Anfang November 2018 in der Frankfurter Rundschau erschien, nachdem die Bundeskanzlerin drei Tage vorher ihren Verzicht auf den CDU-Vorsitz erklärt hatte. Auch die Schriftstellerin Jana Hensel konnte sich vor rückblickender Begeisterung kaum halten:
Angela Merkel war – ist – als deutsche Bundeskanzlerin neben wenigen anderen leader of the free world. (…)Dass sie die CDU in die Mitte rücken würde, mir war es recht. Ich habe diese Partei, von der wohl im Nachhinein niemand wirklich wird sagen können, ob es je die richtige für Angela Merkel war, nur ihretwegen gewählt. Ich wollte mit ihr noch lange in diesem Deutschland zu Hause sein. Ich mag ihre Augenringe, die manchmal größer, manchmal kleiner sind, für mich sind es Augenringe des Vertrauens. Ich mag, wenn sie ihre Hände zu einer Raute faltet, wenn sie sie im Reden in der immer gleichen Bewegung öffnet und wieder schließt. Ich mochte es, wenn sie auf Obama, Putin, Macron oder wen auch immer traf. Stets lief sie, ihre rechte Hand weit ausgestreckt, auf den anderen zu, immer mit einem offenen Blick, manchmal ein bisschen peinlich berührt, wenn die Männer sie allzu fest umarmen wollen. Ich kann es nicht anders sagen, aber ich war in diesem Merkel’schen Trippeln durch die Welt mit ihr unterwegs. Als sie den Dalai Lama im Kanzleramt empfing, als sie in Jerusalem erklärte, die Sicherheit Israels sei deutsche Staatsräson, als sie mit Putin wieder nächtelang um eine Einigung in der Ukrainekrise rang. Ich konnte mir niemand anderen an ihrer Stelle vorstellen.2
Falls die Noch-Kanzlerin die Lobgesänge damals zur Kenntnis genommen hat, werden sie ihr eine besondere Freude gewesen sein. Denn immer häufiger schallte ihr aus der rechten Ecke das Schlagwort »Volksverräterin« entgegen. »Mit der von Ihnen geduldeten und mit verursachten Masseneinwanderung und der Unfähigkeit, sie zu beenden, haben Sie dem jetzigen deutschen Volk und seinen Nachfahren unabsehbaren Schaden zugefügt«, schrieb der einschlägig bekannte Ex-Generalmajor Gerd Schultze-Rhonhof schon im Oktober 2015 in einem offenen Brief an die Kanzlerin, den die rechtspopulistische Plattform Epoch Times verbreitete.3
Wer die Reaktionen auf die Rückzugs-Ankündigung verfolgte, stieß oft auf genau diese beiden Extreme. Die einen lobten Merkel als kluge Anführerin der politischen Mitte, die ihre Partei von rückwärtsgewandtem Ballast befreit, Deutschland mutig modernisiert, für Ausgleich in internationalen Krisen gekämpft und schließlich 2015, als Millionen Menschen nach Europa flüchteten, ihr großes Herz gezeigt habe. Die anderen, vom rechten CDU-Flügel bis zum rechtsextremen Rand des politischen Spektrums, warfen ihr all das mehr oder weniger wütend vor. Die Parole »Merkel muss weg« war nur die grobe Formel für einen Wunsch, den auch große Teile der Unionsparteien schon länger hegten.
Entlang dieser Trennlinie verliefen auch viele Debatten über die Zukunft der CDU und unseres gesamten politischen Systems: Entweder, es setze sich auch nach der Ära Merkel die gemäßigt moderne, weltoffene »Mitte« durch, in der fast alle demokratischen Parteien miteinander koalieren und gemeinsam die Demokratie verteidigen könnten – oder der rechte, nationalistische Populismus werde früher oder später die politische Hegemonie und die wichtigsten Ämter erringen, so wie in den USA, Ungarn oder Italien.
Angela Merkel selbst hat die politische Auseinandersetzung kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit als CDU-Vorsitzende auf dieses »Entweder – oder« reduziert: »Wenn man zu denen gehört, die glauben, sie könnten alles allein lösen und müssten nur an sich denken: Das ist Nationalismus in reinster Form. Das ist kein Patriotismus; denn Patriotismus ist, im deutschen Interesse auch andere mit einzubeziehen und Win-win-Situationen zu akzeptieren.« Das Protokoll verzeichnet an dieser Stelle »anhaltenden Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN«.4
Ganz ähnlich sahen es viele Medien. Als CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer erstmals ihre Bewerbung um den Parteivorsitz begründet hatte, waren in einem Zeitungskommentar die folgenden Passagen zu lesen:
Annegret Kramp-Karrenbauer will, aber kann sie auch Angela Merkel als Parteivorsitzende beerben? Zumindest hat sie selbstbewusst und überzeugend ihren meist männlichen Mitstreitern um das höchste Parteiamt den Fehdehandschuh hingeworfen. Nebenbei und nicht mit schrillen Tönen hat sie ihre wichtigsten Vorzüge erwähnt. (…) Vor allem hat sie sich als Alternative zu den konservativen Mitstreitern Friedrich Merz und Jens Spahn positioniert. Sie will nicht auf Teufel komm raus das rechte Profil schärfen, um der AfD ein paar Wählerinnen und Wähler abzujagen, sondern auch im digitalen Zeitalter auf die soziale Marktwirtschaft setzen und ihre ausgleichende und wohlstandssichernde Wirkung behalten. AKK will also den Modernisierungskurs der Partei nicht verlassen.5
Der Text stammt nicht etwa aus einem konservativen Blatt, sondern aus der linksliberalen Frankfurter Rundschau. Nicht, dass die FR