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Maria Theresia kommt aus einer kinderreichen und armen Familie, wie es sie im steirischen Bergland viele gibt. Als ihre Mutter stirbt, kommt sie mit 13 Jahren als Magd ins Haus des Fleischermeisters Berghofer in Graz. Sie schuftet von vier Uhr in der Frühe bis spät am Abend. Ein solches Leben bietet wenig, und so ergibt sie sich in ihrer Verlassenheit dem Werben des verzogenen Sohnes des Hauses, Karl. Sie wird schwanger, die beiden heiraten und bekommen zwei weitere Kinder. Als Karl das Geschäft seines Vaters übernimmt, verprasst er das ganze Vermögen und verschwindet eines Tages ganz. Seine Frau ist mit ihren Kindern und einem Berg Schulden ganz allein auf sich gestellt, wäre da nicht auch noch der Armenarzt Dr. Michael Raindl.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-
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Seitenzahl: 271
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Marie Louise Fischer
Roman
Saga Egmont
Mutterliebe
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1981 by Goldmann Verlag, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711719121
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Maria Theresia, so heißt mit dem Vornamen die junge Frau des seit Jahr und Tag verschollenen Fleischer- und Selchermeisters Karl Berghofer, wohnhaft in Graz, dritter Bezirk, Lange Gasse 13.
Sie kommt von der Einöd-Keuschen in der Schöckel-Schlucht, ist als dreizehntes Kind des Holzknechtes Matthias Kurzreiter geboren. In ihrem Leben spielt die Zahl dreizehn eine große Rolle … Geboren am dreizehnten Mai, als dreizehntes Kind …
Ihrem Vater, dem Holzknecht Matthias Kurzreiter, fiel die volle Schnapsflasche aus der Rocktasche, als er beim Landdoktor Bremsvogel von seiner Not und vom dreizehnten Kind und von seinem immer brennenden Durst erzählte. Eine silberne Krone schenkte Dr. Bremsvogel dem betrunkenen Kindsvater, um ihn loszuwerden.
In der Schule zu Radegund wurde der kleinen, schmächtigen Maria Theresia zum hundertstenmal oder noch öfter vom Lehrer vorgeworfen: »Dein Vater sollte weniger saufen, dann brauchtest du nicht zerlumpt und zerrissen zum Gotterbarmen umherlaufen.«
Die Zahl dreizehn tauchte in Maria Theresias jungem Leben oft auf. Am dreizehnten Juli beschloß ihre Mutter, Apollonia Kurzreiter, ihr karges, elendes Dasein. In ihr unirdisches Leben nahm sie die erstaunten Blicke ihrer großen und kleineren Kinder mit, die es nicht fassen konnten, daß die Frau von ihnen ging, die alle ihre Mühen und Sorgen getragen hatte. Dreizehn Kindern hatte Frau Apollonia das Leben geschenkt. Einen faulen Mann hatte sie, dem die Schnapsflasche ständige Begleiterin war. All dem hatte Frau Apollonia standhalten müssen. Ihr tägliches Gebet vom ersten Sonnenstrahl bis spät in die Nacht war gewesen: »Herr, gib den Kindern das tägliche Brot!«
Es zog ein böses Jahr in die Einöd-Keuschen. Der aufblühenden Maria Theresia starben hintereinander sieben Geschwister. Aus Graz kam eine Kommission, bestehend aus dem Stadtphysikus und seinem Gehilfen, um dem verzweifelten Landarzt Dr. Bremsvogel beizustehen. Die Öffnung der Leichen ergab, daß sämtliche sieben Geschwister, unterernährt und bleichsüchtig, von der Lungenschwindsucht dahingerafft worden waren. Fünf Geschwister liefen aus Angst in alle vier Windrichtungen. Wohin sie rannten, wußte niemand. Leute vom Schöckelgebiet haben die Kinder der verstorbenen Apollonia Kurzreiter, die davongelaufen sind, nie mehr gesehen. Der Bürgermeister von Radegund war von Amts wegen verpflichtet, sich der dreizehnjährigen Maria Theresia, der Tochter des wegen Säuferwahnsinns in eine Anstalt gesperrten Matthias Kurzreiter, anzunehmen.
Eines Nachts loderten das morsche Holz, die verfaulten Strohbündel am Dache der Einöd-Keuschen hell auf. Wer das Feuer gelegt hatte, wurde nie festgestellt.
Kajetan Spitzer, Viehhändler, kam viel in die Gegend von Radegund, zu den Bauern im Schöckelgebiet. Er handelte mit Schweinen, Kälbern, Ziegen und Schafen. In die Landeshauptstadt Graz brachte er die gekauften Tiere, dort wurden sie im großen Schlachthause am Murfluß an die Fleischhauer und Selchermeister verkauft. Die Meister und Meisterinnen gaben an den Markttagen Mittwoch und Donnerstag dem Kajetan Spitzer ihre Wünsche bekannt: »Wennst amal a Magd weißt, i brauch’ eine!« Oder: »Wennst amal an Knecht hörst, i brauch’ einen für meine Rösser.« – »A saures Heu, zwei Fuhren bräucht’ i davon.« Die Frau des Fleischer- und Selchermeisters und Hausbesitzers Alois Berghofer brauchte eine Jungmagd: »Sie braucht net viel können, Schweine füttern, Stall ausmisten …« Karg war der Lohn, den die reiche Frau Berghofer im Jahr für diese Magd aussetzte. »Im Jahr kriegt sie ein Gewand. Schlafen tut sie im Stall bei den Kühen.«
An den Auftrag der Frau Barbara Berghofer mußte der Viehhändler Kajetan Spitzer denken, als er beim Bürgermeister von Radegund ein volles Dutzend junger Schweine kaufte. Dort lernte er die dreizehnjährige Maria Theresia, die von den Gnaden des Bürgermeisters lebte, kennen.
Drei Jahre schuftete und schwitzte Maria Theresia für den Fleischer- und Selchermeister und Hausbesitzer Alois Berghofer, Graz, Lange Gasse 13. Drei Jahre lang stand sie um vier Uhr früh auf, molk die Kühe, striegelte den Schmutz von den Tieren, stocherte mit der sechszinkigen Gabel das Stroh zurecht, warf den Mist auf den hölzernen einrädrigen Schubkarren. Von vier Uhr morgens an klapperten die Holzpantinen an Maria Theresias Füßen. Bis spät in die Nacht hinein klapperten sie. Todmüde fiel Maria Theresia nachts in ihr Bett. Oft wurde der Schlaf vom Geräusch der eisernen Ketten, an denen die Kühe hingen, zerrissen. Wohl zehnmal war’s, daß Maria Theresia sich die Arme freimachen mußte, warmes Öl darauf strich, um kalbenden Kühen zu helfen. Nichts war ihr fremd.
Wunderliche Menschen waren es, die sie im Hause Lange Gasse 13 kennenlernte. Das Mädchen, das nur sein Dorf und die Bauern darin kannte, nur wußte, daß der Vater außer Schnaps trinken, schlafen, Mutter und Kinder prügeln, manchmal ein liebes Wort sagen konnte: »Bist ein schönes Dirndl, Thresl«, war mit seinem Schicksal zufrieden.
Im Hause Lange Gasse 13 gab es zehn Burschen, wüste Kerle, aus Kroatien, Ungarn, Böhmen, Kärnten, Wien, Steiermark. Gesellen nannte sie der Meister. Lehrbuben, der Volksschule entwachsen, duckten sich vor den Fäusten der Gesellen.
Einer war unter ihnen, Karli nannten sie ihn, der war groß, schmächtig im Gesicht, mit breiten Schultern, klobig in den Beinen, hart in den Händen. Schwarzes, gekraustes Haar hing in seine Stirne. Befehlen konnte sein Mund. Laut schrie er oft durch Hof und Garten: »Thres’, sind die Schwein’ gefüttert?« Dieser eine, der Maria Theresia vom ersten Tag, als sie das Haus Lange Gasse 13 betrat, auffiel, war der einzige Sohn der Eheleute Alois und Barbara Berghofer. Mit abgöttischer Liebe hingen die Eltern an ihrem Sohn, dem eines Tages Haus und Hof, Geschäft und Vermögen zufallen würden.
Am dreizehnten September, von den Bäumen fielen welke Blätter zur Erde, gebar Maria Theresia ein Mädchen. Kaum einer wußte, daß die Magd ein Kind zur Welt bringen werde. Maria Theresias Finger krallten sich in die Bohlen des braun gestrichenen Bettes, das im Winkel des Kuhstalles stand, als ihre Stunde kam. Die Hebamme machte mit der Magd und dem neugeborenen Kinde nicht viel Federlesens. Mit dem hölzernen Bett wurde die Wöchnerin in die Geschirrkammer getragen, damit die Leute nicht sagten, die Berghoferischen, die Bürgersleute vom dritten Bezirk, hätten kein Herz. Die blechernen und zinnernen Kannen wurden vor die Türe und die Fenster gestellt. Die kalkigen Wände der Kammer waren mit graublauem Schimmel bedeckt, von der Decke tropfte Wasser. Jahraus, jahrein tropfte von dieser Stelle Wasser. Maria Theresia lag mit geschlossenen Augen, ihr zur Seite ein dunkles Bündel, ihr Kind. Um keinen Preis verriet sie den Namen des Kindsvaters. So war es möglich, daß die Gesellen mit höhnischen Blicken unflätige Worte über die Magd sprachen. Während sie sich große Stücke Rind- und Schweinefleisch nahmen, volle Schöpfer Gemüse und fetttropfende Kartoffeln dazu auf den Teller legten, die Gabeln in den Fäusten hielten, schmatzten und schmauchten, gewässerten Apfelmost tranken, ward die Meinung über Maria Theresia ausgetauscht. Die Lehrbuben spitzten die Ohren, feixten, stießen sich mit den Fäusten in die Seiten. Hellhörig wie Jugend ist, duckten sie ihre Köpfe über die dampfenden Teller und horchten auf jedes Wort, das über Maria Theresia gesprochen wurde.
Konrad Schneider, Erster Geselle, erster beim Arbeiten, erster beim Trinken, erster beim Essen, ist einen Meter vierundneunzig lang und hundert Kilo schwer. Sein Gesicht erinnert an einen Gorillakopf. Die Zähne fletscht er, wenn er spricht, wenn er ißt, wenn er lacht. Er schlägt mit seiner Hand, die groß wie ein breiter Teller ist, auf den mit Wachstuch bedeckten, hölzernen Tisch. »Auf geht’s!« Die Zeit der Rast und des Essens ist vorbei. Gesellen, Lehrlinge, Knechte, Mägde müssen aufstehen und sich an ihre Arbeit begeben.
Die Herrenleute, das sind der bürgerliche Fleischer- und Selchermeister und Hausbesitzer Alois Berghofer, seine Frau Barbara und der Sohn Karl, schieben die Teller von sich und legen Gabel und Messer achtlos daneben. Mit dem Handrücken wischen sie sich das Fett von den Lippen. An den Wänden der guten Stube des Hauses hängen Photographien. Alois Berghofer als Soldat, als junger Fleischer, als Trabrennfahrer, als Bräutigam. Altdeutsche Möbel, wie sie der Möbelhändler an die reichen Berghoferleute verkauft hat, stehen verloren im Zimmer. Mutter Berghofer ist einundsechzig. Ihr Sohn Karli ist ihre Sonne, ihr Alles. Als Spätling wurde er geboren; dreiundvierzig Jahre alt war Barbara Berghofer, als das Mutterglück über sie kam. Alle Wünsche ihres Sohnes wurden von ihr und dem Vater sofort erfüllt, ganz gleich, ob er sich als Kind ein Spielzeug wünschte oder später ein Fahrrad, ein Fohlen oder ein Rennpferd. Karlis Eltern wußten nichts von den freien Stunden, die der Sohn außerhalb des Hauses bei Freunden und liederlichen Frauen verbrachte, sie wußten nichts davon, daß Karli in Wirtshäusern, Nachtlokalen, bei Oberkellnern, Kassiererinnen Schulden über Schulden machte, daß seine Hand sich an elterlichem Gut Tag für Tag vergriff. Würste, Speek und Schmalz schleppte Karli in vollen Rucksäcken zu den Freunden, die ihm ein Viertel des Wertes in bar zahlten und ihn aneiferten, mehr, noch mehr Ware zu bringen. Frauen mit geschminkten Gesichtern, hochfrisiert, um die Taille eng geschnürt, gaben sich mit Karli ab. Verdorben war er, das Wort Liebe kannte er nicht. Nur verlangen konnte er. Was die Augen sahen, was diese Augen wollten, verlangte er. So war es gekommen, daß er Maria Theresia, die zu einem herben Mädchen herangewachsen war, begehrt hatte. Nicht viele Worte hatte er zu ihr gesprochen. Angeschrien hatte er sie, als Maria Theresia, Angst in den Augen, vor ihm zurückwich. »Willst oder willst nicht?« hatte Karli geschrien. Im Pferdestall war’s, als er sie unsanft um den Leib packte. Maria Theresia wehrte sich nicht, sie ahnte nicht, was ihr bevorstünde. Sie wußte nicht, daß sie nur eines, ihre Unschuld, zu verschenken hatte und daß eines Tages ein Mann kommen und von ihr Unberührtheit verlangen konnte. Nur ein Schrei kam von ihren Lippen, ein Schrei, der auch Karli erschreckte, und ein wildes Flackern stand in ihren Augen. Karli nahm sich das Mädchen, als ob er nach einem Stück Brot griffe und, satt, den Rest auf dem Tisch liegen ließ.
Die offenen Augen gegen die schwarzen Hölzer gerichtet, die von oben und von unten und von allen Seiten auf sie einzustürzen drohten, lag Maria Theresia nach jenem Ereignis die Nacht über. An diesem Morgen stand sie eine Stunde später auf. »Faules Ding!« rief der Sohn des Hauses ihr nach, als sie mit dem Melkeimer voll dampfender Milch über den Hof ging und einen freundlichen Blick von Karli auffangen wollte …
In der Grabenkirche wurde das kleine Geschöpf auf den Namen Sophie – so hieß die Taufpatin, Küchenmädchen bei Berghofer, ebenso arm wie Maria Theresia – getauft. Dem Kind einer Magd, die keine Ehe mit dem Vater des Kindes verbindet, wurde nicht viel Freude an seinem Tauftag erwiesen.
Barbara und Alois Berghofer hielten mit ihrer Meinung nicht hinter den Berg, daß die Magd Maria Theresia ein »schlechtes Weibsstück« sei. Karli nickte bejahend mit dem Kopf und stellte nachdenklich fest, ob nicht vielleicht der Roßknecht Andreas der Kindsvater sei. Dann flüchtete er sich wieder zu Alkohol, Kartenspiel und Frauen.
Maria Theresia steht am vollen Waschfaß, heiße Wasserdämpfe quellen empor, Berge voll schmutziger Wäsche warten, gereinigt zu werden. Sie fühlt nicht, ahnt nicht – sie hat ihre Arbeit. Sie findet alles, was auf sie zukommt, selbstverständlich. An ihren Vater hat sie zweimal geschrieben, mit ungelenken Fingern: »Ich habe ein Kind bekommen und freue mich sehr. Die drei Kronen, die ich beilege, kannst Du brauchen. Willst Du mich sehen? Willst Du mein Kind sehen?« Nicht viel mehr wußte sie ihrem Vater zu schreiben, und nie bekam sie auf ihre zwei Briefe Antwort.
Das Kind Sophie durfte bei der Mutter bleiben, im Stall schlafen. Im Kuhstall war es im Winter warm. Wenn Karli Berghofer betrunken und verärgert von seinen Saufbrüdern nach Hause kam, schlich er sich oft, statt in seine Kammer, in den Kuhstall … Maria Theresia sträubte sich, biß und kratzte – um so wilder wurde Karli nach ihr. Die Gesellen, die frühmorgens an ihre Arbeit gingen, blieben stehen, horchten.
Karli, durch die Neugierde des Gesindes gereizt, schrie durch die offene Stalltür: »Schaut’s, daß weiter kommt’s, die Thres ist meine Braut!« Und so war es auch. Barbara Berghofer, Karlis Mutter, und Alois Berghofer, sein Vater, sie erhoben keinen Einspruch, als ihr einziger Sprößling erklärte, er heirate Maria Theresia. Das erste Kind, das sie geboren habe, sei von ihm, ein zweites Kind, das sie erwarte, sei auch von ihm. »Ich kann nichts machen«, schrie Karli den Eltern ins Gesicht, »i g’spür die Thres in mein’ Blut!«
Die Braut Maria Theresia mußte aus dem Stall ins vordere Haus, das aus Ziegeln und Steinen gebaut war, umziehen. Die kleine Sophie wurde aus den schmutzigen Lumpen in weißes Linnen gewikkelt. Still war die Hochzeit, ohne Musik, ohne Trinksprüche, ohne Lachen und Freude.
Bald darauf gab es im Hause Lange Gasse 13 eine große Aufregung. Alois Berghofer erlag einem Schlaganfall. Er stand vor dem runden, hölzernen Hackstock, mit scharfen Messern einen Knochen aus dem Fleisch lösend, als er die Lippen verzog und mit dem Kopf nach hinten fiel. Ohne das Bewußtsein wieder zu erlangen, ging er aus dieser Welt.
Lange Gasse 17, in einem kleinen, viereckigen Hinterhaus, wohnte der Armenarzt Dr. Michael Raindl. Frau Barbara Berghofer schickte die Mägde und Knechte in die Grabengasse, in die Körösistraße, in die Wickenburgstraße. An allen porzellanenen Klingelzügen, auf denen das Wort Arzt stand, sollten sie ziehen. Aber nur der Armenarzt Dr. Raindl war zu Hause erreichbar. Er nahm die kleine Ledertasche, in der die notwendigsten Instrumente eingepackt waren, warf sich den grauen Lodenhavelock um die Schultern, stülpte den schwarzbraunen abgegriffenen Hut auf und eilte in das drei Häuser entfernte Haus Lange Gasse 13. Einen Toten fand er dort. Die Gesellen, mit blutigen Schürzen und Jacken angetan, die Hände noch voll von Blutspritzern, nach Blut und Rauch riechend, standen, Mund und Augen offen, um den toten Meister. Vier Mann, trugen sie den wie schweres Blei in ihren Armen lastenden Alois Berghofer in die gute Stube und legten ihn auf das Sofa. Mutter Berghofer hatte vorher eine Wolldecke über das Wachstuch geworfen. »Mein Gott, mein Gott, mein Gott!« Nur diese zwei Worte kamen über ihre Lippen. Da lag er jetzt, der Mann, mit dem sie über vierzig Jahre verheiratet gewesen war. Es war keine glückliche Ehe gewesen. Oft hatte Barbara Berghofer in diesen vierzig Jahren mit geballten Fäusten dagestanden und ihrem Mann den Tod gewünscht. Nun hatte sich ihr Wunsch erfüllt. Träne um Träne floß über ihre Wangen.
Maria Theresia stand, die Hände auf dem Rücken, an die kalte Mauer gelehnt wie schutzsuchend. Einen Atemzug lang war ihr zumute, als öffneten sich die Augen des Toten, als hörte sie aus seinem Munde zwei Worte: »Arme Thresi!«
»Was stehst denn da rum?« Der neue Herr, ihr Mann war’s, der seine Frau aus dem Zimmer schickte. Doktor Michael Raindl war Zeuge, wie der betrunkene Karl Berghofer seine Hand hob und sie schallend auf die Wange seiner Frau niederfallen ließ. »Hinaus!« schrie er. »Du bist schuld, du und deine Kinder!«
»Schämen Sie sich!« Mit diesen Worten hatte Dr. Raindl sich vor Theresia gestellt. »Schämen Sie sich! Sie sind ja betrunken. Ihr toter Vater liegt hier. Benehmen Sie sich wenigstens in dieser Stunde so, wie es sich für einen Sohn ziemt.«
Ernüchtert, den Mund weit offen, die Augen starr auf den Sprecher gerichtet, hörte Karl die Zurechtweisung. Sollte er auf den blassen Arzt einschlagen, ihn erwürgen? Die Stimme versagte ihm vor Wut; an Hals und Stirn schwollen seine Adern blaurot an. Plötzlich drehte er sich um seine eigene Achse, fiel in die Knie, legte seinen Kopf in den Schoß seiner Mutter und rief mit weinerlicher Stimme: »Mutter, Mutter, der Doktor tut mir was!« Barbara Berghofer war mit ihren Gedanken weit fort gewesen, sie hatte ihren Mann dorthin begleitet, wohin sie ihm bald nachfolgen würde. Ohne die Lippen zu bewegen, sagte sie: »Wartst halt auf mich, ich komm’ bald. Machst mir ein Platzerl warm. Mir ist so kalt.« Sie spürte Kälte über den Rücken fliegen. Ihre Hand strich über die schwarzen, gekrausten Haare ihres Sohnes. Kaum hörbar stammelte Karl: »Schuld ist das Luder, die Thres! Uns alle hat sie eingefangen! Und alle will sie umbringen!«
Maria Theresia schüttelte verständnislos den Kopf, die Hand auf die Klinke der Tür, die zur Küche führte. »Wollen Sie sich waschen, Herr Doktor? Kommen S’, ich bring’ Ihnen ein Handtuch und ein Stück Seife.«
Dr. Raindl warf einen Blick auf den Toten. Das Gesicht war feierlich geworden. Ein Wort seines Lehrers kam dem Arzt in den Sinn: Der Grausamste, der Häßlichste – im Tode sind sie alle schön. Der Tod verklärt.
In der Küche schüttete Theres warmes Wasser in eine kleine runde Schüssel, stellte sie auf einen hözernen Schemel und legte Seife und Tuch bereit. »Müssen das nicht so tragisch nehmen, was Sie gesehen haben, Herr Doktor! Mein Mann ist halt … jähzornig.«
Nachdenklich, die eingeseiften Hände betrachtend, antwortete der Arzt: »Sind Sie aus Graz, Frau Meisterin?«
Theres schüttelte den Kopf: »Nein! Ich bin von auswärts.«
Raindl trocknete seine Hände; nun war für ihn kein Grund mehr, länger in der Küche zu verweilen, länger die Frau anzuschauen. Er verabschiedete sich: »Wenn S’ mich brauchen, lassen S’ mich rufen.« Zum Abschied reichten sie sich die Hände, der Arzt beugte seinen Kopf, war es Gedankenlosigkeit, daß er die Hand der Frau küssen wolllte? Theresia hatte kein Verständnis dafür. Sie hatte noch keinem Menschen die Hand geküßt, und bei ihr hatte es auch noch keiner getan. Es sollte ihr auch keiner die Hand küssen, Scheu zog sie ihre Finger aus denen des Mannes. Dr. Raindl spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg; er hatte sich töricht benommen, statt Vertrauen hatte er Mißtrauen gesät. »Auf Wiedersehen, Frau Meisterin!« Keine Antwort wurde ihm zuteil. Theresia blieb am warmen Küchenherd stehen und richtete die in Unordnung geratenen Pfannen und Schüsseln zurecht. Nicht mehr denken wollte sie an den fortgegangenen Arzt …
Karl Berghofer wurde Erbe und Meister. Er führte sein liederliches Leben weiter. Was kümmerte es ihn, daß zwei kleine Geschöpfe in ihren Betten strampelten, Worte formten, »Vater« und »Mutter« zu rufen begannen. Karl Berghofer ging nichts nahe, ihm fehlte jedes Gefühl, die Liebe zu Kindern und Frau. Mit fremden Weibern, mit seinen Freunden verpraßte er jedes Goldstück, jedes Silberstück, zuletzt sogar die Kupferlinge. Was an Gold- und Silbergegenständen, an wertvollem Gerät herumstand, wurde verkauft. An das Geschäft und die Arbeit dachte Karl nicht. Die Gesellen und Lehrbuben warteten nicht, bis die Kündigungszeit vorbei war, sie legten die Schürzen zusammen, zogen die Holzpantinen aus, ließen die Messer und Beile stumpf werden, nahmen sich mit, was sie glaubten brauchen zu können und verließen, auf den Meister schimpfend, das Haus Lange Gasse 13. Maria Theresia tat ihnen nicht leid. Sie war ja nur eine Magd, die es verstanden hatte, Meisterin zu werden. Vielleicht wäre der junge Meister nicht verkommen, hätte er eine andere Frau geheiratet.
Maria Theresia war die erste und die letzte bei der Arbeit. Sie war die treueste, beste Mutter und wollte die beste Gattin sein. Aber die Gesellen, die Knechte, die Lehrlinge und auch die Mägde wollten nicht, daß eine der Ihren Herrin war. Es konnte nichts Gutes sein, wenn die Magd zu befehlen hatte. Tausend Flüche galten Theres, ohne daß sie einen davon hörte. Still war es um Lord, den großen Bernhardiner, geworden, keine Gesellen, keine Lehrjungen warfen ihm mehr Fleisch- und Speckstücke zu. Still war’s im Hof, in den Werkstätten, in der Selchkammer, in den Ställen des Hauses Lange Gasse 13. Die Pferde und Kühe waren versteigert, die Kutschier- und Plattenwagen verkauft. Warum brachte die junge Frau keine Schüssel mit Knochen, mit Fleisch- und Fettstücken mehr vor die Hundehütte? Lords Fell verlor den Glanz, sein Gang wurde schwach. Der schwere Kopf hing tief am Boden.
Karl Berghofer verschwand eines Tages für immer aus der Langen Gasse 13, aus Graz, aus der Steiermark. Mit vielen gleisnerischen Worten war es ihm gelungen, dem Bankdirektor Guido Simchen, dem Leiter der Landwirtschaftsbank, tausend silberne Kronen zu entlocken. Mit diesem Geld in der Tasche, nach Fusel riechend und verdorben bis tief ins Herz, fuhr Karl Berghofer von Graz weg. Kein Abschiedswort gab er seiner Frau und seinen Kindern. Alles hatte er vertan und nur Schulden hinterlassen.
Acht Tage vergingen, vierzehn Tage. Gläubiger kamen, als wüchsen sie aus der Erde, unerwartet tauchten sie auf. Maria Theresia erfuhr, wieviel Schulden ihr Mann gemacht hatte, welche Summen zu bezahlen waren. Sie schrien und tobten, sie schlugen mit den Fäusten auf den hölzernen Tisch, verlangten Geld, Sicherheit. »Wo ist denn das feine Bürscherl, Ihr Herr Gemahl?« fragten sie. Theres stand allein in dem großen Haus. »Fort ist mein Mann«, entgegnete sie. »Es wird ihm ein Unglück zugestoßen sein.«
»Davongelaufen ist er, der Betrüger, der Gauner, der Dieb!« schrien die Gläubiger durcheinander.
Mutter Barbara Berghofer hatte ihre Sinne nicht mehr ganz beisammen; einer aufgeregten Henne gleich, trippelte sie im Zimmer auf und ab. »Mein Gott, mein Gott, mein Gott!« jammerte sie. Die Möbel wurden aus den Räumen getragen, Stück um Stück. Keine Uhr schlug, kein Bilderrahmen hing mehr da, das Küchengeschirr wurde weniger, Kohle und Holz waren aufgebraucht. Das Jahr verging in tiefster Armut, in tiefster Schmach. Jeder Ziegelstein war mit Geld belehnt. Die Landwirtschaftsbank hatte ihre Forderungen angemeldet, nichts gehörte Theres, nichts ihren Kindern. Bettelarm waren sie, nur ein Dach hatten sie noch. Hunger war in der Langen Gasse 13 eingekehrt.
Der Briefträger Amadeus Goldvogel bringt einen eingeschriebenen Brief. An Frau Maria Theresia Berghofer, Graz III, Lange Gasse 13. Als Aufgabestempel ist in Blockschrift Wien XXI angegeben.
Amadeus Goldvogel hat diesen Brief aus seiner ledernen Umhängetasche herausgenommen, mit Daumen und Zeigefinger hält er ihn und reicht ihn dann Frau Theres. Seit Monaten zum erstenmal wünscht ein Mensch Theres etwas Gutes. »Bleiben S’ schön g’sund«, sagt Goldvogel beim Weggehen. Theres kann, so erschrocken ist sie, für diesen Wunsch nicht einmal danken. Der Briefträger ist schon im nächsten Haus, er muß sich beeilen, es ist bitter kalt. Ein harter, eiskalter Winter ist über die Stadt gekommen, hat alles mit Eis und Schnee bedeckt; auf den Dächern liegen schwere und gewichtige Schneemassen, Straßen und Plätze, Gärten und Bäume sind weiß. So ein Winter ist schön, wenn man Zimmer und Küche heizen kann, wenn man heißen Tee, heiße Milch, heiße Suppe hat – aber er ist grausam, wenn die Mauerwände Kälte speien, wenn das Wasser im Zimmer gefriert und wenn man hungern muß. Im Hause Lange Gasse 13 herrschte überall Kälte. Theresias Kinder Sophie und Georg, drei- und vierjährig, plappern Worte ohne Sinn und hängen an ihrer Mutter Kittelfalte. Theres hält den Brief, den Amadeus Goldvogel ihr übergeben hat, nachdenklich in der Hand. Die Haustüre hat sie zugeschlossen, den Schlüssel im Schloß zweimal umgedreht. Sie muß sich mit dem Lesen des Briefes beeilen, das elektrische Licht und das Leuchtgas sind abgesperrt. Nur kurz ist die einzige Kerze. Theres liest die Buchstaben, die auf dem grauen Papier unregelmäßig hingeworfen stehen. Rote Kreise tanzen vor ihren Augen. Einem Holzklotz gleich fällt sie auf den Fußboden. Von der Wand, die durch den Fall erschüttert worden ist, bröselt Kalk. In Theres’ Hand, zerknittert, liegt der Brief … Der Brief von ihrem Mann, von Karl Berghofer, der seit einem Jahr nichts von sich hat hören lassen.
Maria Theresia erwacht aus einer dunklen Ohnmacht. Langsam tastet sie sich in die Wirklichkeit zurück. Wie kommt es denn, daß sie lang ausgestreckt auf dem Fußboden liegt? Mühselig steht sie auf und streift die Falten ihres Rockes glatt. Rote Kreise, goldene Pünktchen und Sterne schwirren noch immer vor ihren Augen. Der Brief in der geballten Hand raschelt. Ein Brief? Maria Theresia faltet das Papier auseinander. Keine Anschrift. Aber Karls schülerhafte Handschrift, daran gibt es keinen Zweifel. Der Totgeglaubte hat einen Brief an seine Frau geschrieben.
Maria Theresias Finger lösen sich, das Blatt Papier, der Umschlag fallen zu Boden. Der kleine Georg zerrt am Rock der Mutter: »Hunger!« Maria Theresia ist wieder völlig bei Sinnen. Zwei Kinder stehen vor ihr, klammern sich an ihr Kleid: »Hunger!« Sie bückt sich, ihre steifen Finger greifen nach dem zerknüllten Brief, um ihn ballt sich ihre Hand zur Faust. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Es ist wie eine Erlösung: Zum erstenmal kann sie weinen. Was soll sie tun? Verzweifeln hilft nichts. Sich aufopfern? Wem soll sie sich aufopfern? Ist es ein Opfer, für ihre Kinder am Leben zu bleiben? Nein, es ist kein Opfer! Erst in dieser Minute ist Maria Theresia ganz Frau, ganz Mutter geworden. Sie nimmt die Kinder bei den Händen: »Kommt!«
In der Küche sitzt Barbara Berghofer und badet die gichtigen Hände in lauwarmem Wasser. »Alles ist z’ Grund gegangen, seit der liebe Bub, der Karli, fort ist«, greint sie. »Na wart nur, Thres, wenn der Karli zurückkommt, wird er es dir schon zeigen. Er hat schon recht, wenn er dich schlägt, warum bist du so ein faules Luder, warum hast du die Gesellen, die Lehrbuben, die Mägde gehen lassen und die Kunden verjagt und die Möbel verkauft?« Ihre Stimme wird kreischend: »Du Luder, du, hast allen Grund gehabt, dankbar zu sein. Was bist denn gewesen? Von einem Hungerleider der dreizehnte Balg!« Maria Theresia läßt die alte Frau schimpfen. Sie versucht, Verständnis zu haben für den Schmerz, der über Karlis Mutter gekommen ist. Der dreizehnte Balg … Dieses Gekeife und Geschimpfe, den ganzen Tag lang, zermürbt sie. »Der Karli ist das beste Kind auf der Welt. Du mußt dem Karli auf den Knien dafür danken, daß er sich herabgelassen hat, dich zu heiraten. Ich bin immer dagegen gewesen, ich hab’ immer gesagt: Eine Hungerleiderische! Aber der Karli hat gesagt: Der braucht man zum Anziehen nichts zu kaufen. Mein Mann hat gesagt: Keinen Lohn braucht man dir zu zahlen. Der Karli hat gesagt: Außerschmeißen kann man sie immer, wenn man sie nicht mehr braucht, die Hungerleiderische …«
Maria Theresia kämpft mit sich. Soll sie der Schwiegermutter ohne Beschönigung sagen: »Dein Sohn ist ein Teufel, ein elender Teufel, und du, du bist seine Mutter?« Sie weiß keinen anderen Schimpfnamen für den Sohn der alten Frau. Aber – ihr geflohener Mann ist auch der Vater ihrer Kinder. Frau Barbara wird bald sterben, sie wird den verlorengegangenen Sohn in die Ewigkeit mitnehmen, ihren Karli, ihr braves Kind … Maria Theresias Kinder aber beginnen erst zu leben. Sollen die Kinder von einem guten oder von einem schlechten Vater sprechen?
Frau Barbara humpelt an einem knorrigen Stock, den sie mit beiden Händen hält, über den verschneiten Hof, durch die leeren Räume. Sie hat ihre Lebenskräfte im Hause Lange Gasse 13 eingebüßt. Solange sie denken kann, hat sie frühmorgens um drei Uhr aufstehen müssen. Abends ist sie nie vor zehn Uhr in die Schlafstube gekommen. Alois Berghofer, ihr Mann, hat gern getrunken, hat sie mehr schlecht als gut behandelt. »Nur das Luder, die Thres, ist an allem schuld, wenn nur der Karli noch da wäre …«
Bis zu jenem Tage, als sie den Brief erhielt, hatte Maria Theresia zu keinem Menschen über ihren Mann gesprochen. Alle waren sie gekommen, die Viehmakler, die Pferdeschnalzer, die Geldverleiher, die Wirte, und hatten Geld gefordert. Geld und noch mal Geld. Mit frechen Worten und Blicken waren die Kellnerinnen aus den verrufenen Schenken erschienen und hatten Bezahlung verlangt. Bis zum letzten Heller war jede Schuld beglichen worden. Maria Theresia hatte das Elend kommen sehen und Geld zur Seite gelegt, nun gab sie all ihre Ersparnisse her. Aus allen Kitteltaschen holte sie die Kronen und silbernen Taler. Aus den herzigen Sparbüchsen der Kinder wurden die kupfernen und silbernen Spargroschen herausgenommen, alle überzähligen Kleider an den Trödler verkauft. Die Messinggeschirre, welche die Wände der Küche zierten, die Leinenwäsche, alles wurde in Kisten verpackt und weggefahren. Niemand borgte. Der Bauer kein Vieh, der Händler kein Vieh. Der Kaufmann an der Straßenecke, dem das »Küss’ die Hand« vor Jahresfrist noch hundertmal im Munde gewesen war, drehte sich um, wenn er Maria Theresia sah, er borgte kein Krümchen Brot, kein Mehl, keinen Zucker, kein Fett.
Schnell zog die Not in das Haus Lange Gasse 13 ein. Durch die Lange Gasse wanderten täglich Hunderte von Menschen, niemand aber hatte Erbarmen, niemand legte ein Brot vor die Tür, niemand half. Das erste gute Wort nach langer Zeit hörte Maria Theresia von dem Briefträger Amadeus Goldvogel: »Bleiben S’ schön g’sund!«
Im Keller vergrub Maria Theresia den Brief ihres Mannes in der Erde. Sie hatte ihn in Wachstuch eingewickelt, damit ihm die Nässe nichts anhaben konnte. Das Schreiben sollte hier vergraben liegen, damit sie immer an die schlechteste Tat ihres Mannes erinnert wurde. Maria Theresias Finger gruben und lockerten die kalte Erde, ihre Lunge keuchte. Aber nicht die Arbeit, nicht der Hunger, nicht die Kälte waren es, die ihren Atem stocken ließen. Die Frau war beleidigt worden, die Mutter. Oben im leeren, vorhanglosen Zimmer mit den eiskalten Wänden lagen auf Strohsäcken Georg und Sophie. Maria Theresia hätte nach dem gerechten Gesetz als Mutter von zwei Kindern auf Betten, Schränken, Tisch und Stühlen bestehen können. Kein Pfändungsbeamter hätte diese Bitte abgewiesen. Aber Maria Theresia wollte weder Gnade noch Mitleid. Die Landwirtschaftsbank, die Hauptgläubigerin, hatte ihr vorgeschlagen, so lange im Hause wohnen zu bleiben, bis es versteigert würde. So hatten sie wenigstens noch ein Dach über dem Kopf.
Im dunklen, nach Moder riechenden Keller überkamen Maria Theresia Gedanken an den Tod – tot sein, nichts mehr vom Tag und von der Nacht wissen. War es ein Glück gewesen, daß Karl sie einmal in seine Arme genommen hatte? »Lieber Karl!« hatte sie damals sagen wollen. Aber die Worte »Lieber Karl!« waren nie über ihre Lippen gekommen, denn Karl war fortgelaufen, hinauf in seine Stube mit dem weißüberzogenen Bett, während Maria Theresia im Stall, im Stroh liegen blieb. An jene Nächte mußte Maria Theresia denken, während sie durch die Dunkelheit des Kellers ging. Einen Atemzug lang blieb sie stehen; Husten schüttelte sie. Ihre Hände tasteten an die nassen, klebrigen Steinwände. Hatte Karl die Liebe gebracht? Die Liebe, die es auf der Welt geben sollte? Nein. Liebe war es nicht gewesen, was Karl zu ihr getrieben.
Da hörte sie Kinderstimmen: »Mutter, Mutter!« Georg und Sophie! Ihre Kinder, vom Vater verlassene, hilflose Kinder. Sie ließ den Brief unter der Erde. Sie würde, wenn es sein müßte, die Welt durchlaufen, mit beiden Händen Tag und Nacht arbeiten, um Geld für Brot für die Kinder herbeizuschaffen. Sie würde ihren Mann suchen, den Mann, der ihr Herz gebrochen, der ihre Liebe nicht bemerkt, der sie und die Kinder in Schande und Spott allein gelassen hatte. In jeder ihrer harten, geballten Fäuste würde sie die Strafe, die Schläge für diesen Mann tragen. So lange tragen, bis er sie erlitten hatte. Wenn es eine Gerechtigkeit gab …
Frau Barbara liegt auf ihrem mit schmutzigen Flicken bedeckten Bett. Die ehemals stolze, reiche Frau Berghofer, Gattin des ehrsamen, bürgerlichen Fleischer- und Selchermeisters und Hausbesitzers zu Graz, hat sich zum Sterben auf ihre Bettstelle gelegt. Ihr Atem stockt: »Der Bub, der Karli, der beste Bub auf der Welt …«
Maria Theresia hat altes Brot in lauwarmem Wasser aufgeweicht. Sie kann der Sterbenden nichts anderes geben. »Wollen Sie essen, Frau Mutter?«
»Luder, du!« faucht die Schwiegermutter zurück. »Du hast uns das Elend gebracht. Wo ist die goldene, mit Brillanten besetzte Uhr? Wo ist mein schwarzes Seidenkleid? Du hast alles gestohlen, du hast alles den Burschen gegeben. Du glaubst, ich höre nichts, wenn nachts die Männer zu dir kommen.« Auf ihrer Stirn stehen Perlen kalten Schweißes.
Maria Theresia hält die geballten Hände der Alten fest. »Frau Mutter, wollen Sie in ein Spital gebracht werden?«
»Ins Spital?« keucht die Sterbende. »Kannst mich wohl nicht schnell genug loswerden? Wart nur, wart nur, dich wird der Teufel holen!«
Sophie und Georg stehen im dunklen Zimmer. Sie wissen mit den Worten, die sie hören, nichts anzufangen. Am Fenster kleben gefrorene Eisblumen. Die Kinder freuen sich, wenn sie ihren Atem darauf hauchen und die Rosen als Wasserbächlein von den Fenstern tropfen. Sophie saugt an einem Schürzenzipfel und fragt: »Mutter, kommt die Großmutter in den Himmel?«
Maria Theresia überlegt nicht, sie antwortet gerade heraus: »Ja, die Großmutter kommt in den Himmel.«
Wieder wird der Armenarzt Dr. Michael Raindl zu einer Sterbenden gerufen. Er kommt zur rechten Zeit, um Frau Barbara Berghofer auf immer die Augen zu schließen. Draußen vor den Fenstern des Hauses flockt weißer Schnee, viel weißer Schnee, vom Himmel zur Erde.