Mutterlos - doch nicht allein - Bettina Clausen - E-Book

Mutterlos - doch nicht allein E-Book

Bettina Clausen

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Beschreibung

Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. Das Kinderheim Sophienlust erfreut sich einer großen Beliebtheit und weist in den verschiedenen Ausgaben der Serie auf einen langen Erfolgsweg zurück. Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, mit Erreichen seiner Volljährigkeit, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Claudine Albert erschrak über die Summe, die der Mann ihr gegenüber nannte. So viel Geld hatte sie nicht. Aber das durfte sie nicht zugeben, sonst würde man die Tante womöglich nicht beerdigen. »Ich … Ich muss die Rechnung doch nicht sofort bezahlen?«, fragte sie. Ihr Gegenüber blickte von der Rechenmaschine auf. Der Mann sah genauso aus, wie man sich den Angestellten einer Leichenbestattung vorstellt. Mager, grau, ledern, fast geschlechtslos. »Sofort nicht«, sagte er. »Aber innerhalb der nächsten vierzehn Tage.« Claudine atmete erleichtert auf. »Das werde ich tun. In spätestens vierzehn Tagen bekommen Sie Ihr Geld.« Sie stand schnell auf, steckte die Rechnung ein und verabschiedete sich. Fast dreitausend, dachte sie, nachdem sie die Tür des Bestattungsunternehmens hinter sich geschlossen hatte. Und ich besitze nicht einmal dreihundert. Verzweifelt grub sie ihre Hände in die tiefen Manteltaschen. Nasse Schneeflocken klatschten ihr ins Gesicht. Auf den Straßen hatte sich der frischgefallene Schnee bereits in braunen Matsch verwandelt.

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Sophienlust Bestseller – 146 –

Mutterlos - doch nicht allein

Unveröffentlichter Roman

Bettina Clausen

Claudine Albert erschrak über die Summe, die der Mann ihr gegenüber nannte. So viel Geld hatte sie nicht. Aber das durfte sie nicht zugeben, sonst würde man die Tante womöglich nicht beerdigen. »Ich … Ich muss die Rechnung doch nicht sofort bezahlen?«, fragte sie.

Ihr Gegenüber blickte von der Rechenmaschine auf. Der Mann sah genauso aus, wie man sich den Angestellten einer Leichenbestattung vorstellt. Mager, grau, ledern, fast geschlechtslos. »Sofort nicht«, sagte er. »Aber innerhalb der nächsten vierzehn Tage.«

Claudine atmete erleichtert auf. »Das werde ich tun. In spätestens vierzehn Tagen bekommen Sie Ihr Geld.« Sie stand schnell auf, steckte die Rechnung ein und verabschiedete sich.

Fast dreitausend, dachte sie, nachdem sie die Tür des Bestattungsunternehmens hinter sich geschlossen hatte. Und ich besitze nicht einmal dreihundert. Verzweifelt grub sie ihre Hände in die tiefen Manteltaschen. Nasse Schneeflocken klatschten ihr ins Gesicht. Auf den Straßen hatte sich der frischgefallene Schnee bereits in braunen Matsch verwandelt. Obwohl es erst kurz vor vier Uhr nachmittags war, brannten schon die Straßenlaternen.

Claudine schlug den Mantelkragen hoch, zog ihre Wollmütze tiefer ins Gesicht und eilte zur Busstation.

Sie hatte Glück. Sie musste nicht lange auf den Omnibus warten. Fröstelnd stieg sie ein und setzte sich auf einen freien Platz am Fenster.

Langsam bahnte sich der Bus seinen Weg durch den abendlichen Verkehr der Kreisstadt Maibach. Am Ortsrand von Wildmoos stieg Claudine aus. Vor einem kleinen Einfamilienhaus mit Garten blieb sie stehen.

»Sie kommt!«

Noch bevor Claudine ihren Schlüssel aus der Tasche holen konnte, wurde die Haustür aufgerissen. Ihr zehnjähriger Halbbruder Daniel, genannt Danny, fragte erwartungsvoll: »Wird die Tante beerdigt?«

»Natürlich wird sie beerdigt.« Claudine zog ihren feuchten Mantel aus und nahm die Mütze vom Kopf.

»Und was kostet es?«, fragte Danny.

Bei dieser Frage erschien der Kopf seines jüngeren Bruders im Türrahmen. Peter war zwei Jahre jünger als Danny.

»Können wir es bezahlen?«, fragte Peter.

»Wir können nicht«, sagte Claudine.

»Ach, du grüne Neune.« Danny schlug beide Hände vors Gesicht. »Und was machen wir nun?«

»Keine Ahnung.« Claudine ließ sich im Wohnzimmer auf die Couch fallen.

Da kam Tina, das Nesthäkchen, ins Zimmer. Sie war erst vier Jahre alt und hieß eigentlich Bettina. »Willst du eine heiße Suppe, Claudine?«

»O ja«, sagte Claudine. »Das wäre jetzt genau das Richtige. Aber wer hat denn Suppe gekocht?«

»Ich«, sagte Danny. »Nur aus Kartoffeln und Gewürzen. Es schmeckt aber ganz toll. Soll ich dir einen Teller bringen?«

Claudine nickte. Wie die Suppe schmeckte, war ihr egal. Hauptsache, sie war warm.

Doch nach dem ersten Löffel schaute Claudine überrascht auf. »Das schmeckt ja hervorragend. Wie hast du das nur hingekriegt, Danny?«

Danny wuchs um ein paar Millimeter. »Ich habe ein paarmal zugesehen, wie Tante Erna es gemacht hat.«

Die arme Tante, dachte Claudine. Sie hat sich so um uns gesorgt. Und jetzt können wir nicht einmal ihre Beerdigung bezahlen.

Claudine und ihre drei Halbgeschwister waren Vollwaisen. Nach dem Tod der Eltern hatte Tante Erna die vier Kinder bei sich aufgenommen. Sie hatte sie von ihrer hohen Rente ernährt und sogar Claudines Studium bezahlt. Dann hatte sie ganz unerwartet einen Schlaganfall erlitten und war daran gestorben.

»Wir haben doch das Haus hier geerbt«, sagte Peter.

Claudine seufzte. »Schon. Aber auf dem Haus sind noch Schulden. Eine ziemlich hohe Hypothek.«

»Und was machen wir nun?«, fragte Danny.

Claudine hatte ihren Teller leergegessen. »Wir werden Tante Erna auf jeden Fall ordentlich beerdigen. Ganz egal, was es kostet. Eine anständige Beerdigung sind wir ihr schuldig.«

»Finde ich auch.« Peter nahm den leeren Teller und trug ihn in die Küche.

Danny, der schon ein bisschen vernünftiger war, kaute an seiner Unterlippe. »Was hast du denn den Leuten vom Bestattungsinstitut gesagt, Claudine? Wenn die herauskriegen, dass wir nicht bezahlen können, beerdigen sie Tante Erna doch gar nicht.«

Claudine seufzte. »Deshalb habe ich ja gesagt, ich werde bezahlen. Denn unter die Erde muss Tante Erna. Was hinterher kommt, werden wir schon irgendwie überstehen. Vielleicht können wir uns das Geld doch noch irgendwo leihen.«

»Dreitausend?«, fragte Danny zweifelnd. »Das ist ein mächtiger Brocken. Wie lange haben wir denn Zeit dazu?«

»Vierzehn Tage«, sagte Claudine.

»Und wenn wir nun das Haus hier verkaufen«, fragte Danny. »Es gehört schließlich uns. Und selbst nach Abzahlung der Hypothek muss doch noch etwas übrigbleiben?«

»Schon … Aber weißt du auch, wie lange so ein Hausverkauf dauern kann? Unter Umständen Monate. Natürlich würde uns die Bank schon vorher Geld leihen, aber ich möchte das Haus nicht verkaufen.«

»Schließlich ist es unser Zuhause«, sagte Peter.

»Erstens deshalb, aber auch noch aus einem anderen Grund. Schließlich müssen wir von irgendwas leben. Ich könnte mein Studium abbrechen und mir eine Arbeit suchen.«

»Das darfst du nicht«, erklärte Danny. »Denke an Tante Erna. Sie hat immer gesagt, dass du dein Studium beenden musst.«

Claudine nickte. »Es wäre auch ungeschickt, gerade jetzt aufzuhören. Ich stehe kurz vor dem Staatsexamen. Und wenn ich das gemacht habe, kann ich viel, viel mehr verdienen. Aber bis dahin müssen wir schließlich auch leben. Und solange wir das Haus haben, können wir es vermieten und von den Mieteinnahmen leben.«

»Aber dann müssen wir ja ausziehen«, sagte Peter erschrocken. Er hatte sich eine Schürze umgebunden und wusch in der Küche das Geschirr ab.

»Das müssen wir allerdings, wenn wir es vermieten wollen. Aber es gehört dann immer noch uns. Und irgendwann, wenn wir genug Geld verdienen, können wir wieder einziehen.«

Das verstanden die Kinder.

»Kriegen wir so viel Miete, dass wir davon leben können?«, fragte Danny. »Ich meine, wir müssen dann doch selbst auch Miete bezahlen. Irgendwo müssen wir doch wohnen.«

»Ich habe da eine Idee«, sagte Claudine. »Aber darüber sprechen wir erst, wenn es perfekt ist.«

»Und wann ist es perfekt?«, fragte die vierjährige Tina. Sie verstand den Ernst der Situation noch nicht ganz.

»Ich muss morgen mit einem Studienkollegen darüber sprechen«, erwiderte Claudine und stand auf. »Ich bin müde. Ich gehe ins Bett. Morgen muss ich schon um acht in Stuttgart an der Uni sein. Das heißt, dass ich um sechs aufstehen muss.«

»Dürfen wir noch ein bisschen aufbleiben?«, fragte Peter.

»Natürlich. Aber geht nicht zu spät ins Bett. Komm, Tina, du musst jetzt auch schlafen gehen.«

Das kleine Mädchen mit dem hübschen Gesicht kam sofort mit. Fragend richteten sich die großen graublauen Augen auf Claudine.

»Ich habe Mia seit heute früh nicht mehr gesehen.«

Mia war ein junges Kätzchen, das Tina zum Geburtstag bekommen hatte.

»Sie kommt bestimmt irgendwann heute Nacht zurück«, versicherte Claudine.

»Darf ich das Fenster auflassen, damit sie herein kann?«

»Auf gar keinen Fall«, verbot Claudine. »Du würdest dich erkälten.«

»Und wie soll Mia dann ins Haus kommen?«, fragte Tina.

»Durch die Dachluke.«

»Vielleicht hat sie sich auch erkältet«, meinte Tina.

»Katzen erkälten sich nicht.« Claudine bürstete das halblange hellbraune Haar der Kleinen. Es hatte die gleiche Farbe wie ihr eigenes Haar.

Tina und Claudine ähnelten einander sehr, obwohl sie nur Halbgeschwister waren. Sie hatten die gleichen ausdrucksvollen großen Augen und die gleiche Gesichtsform geerbt von der Mutter, die bald nach dem Tod von Claudines Vater zum zweitenmal geheiratet hatte. Claudine war von ihrem Stiefvater adoptiert worden und hatte dadurch auch den Familiennamen Albert erhalten.

»So, und jetzt schnell ins Bett und schön zudecken.«

Tina kroch unter die Bettdecke. »Darf ich Mia ein Glöckchen umhängen?«

Claudine machte ein verdutztes Gesicht.

»Warum willst du ihr denn ein Glöckchen an den Hals hängen?«

»Damit ich immer weiß, wo sie ist. Die Kühe haben doch auch Glocken um.«

»Aber Mia ist doch keine Kuh. Sie würde wahrscheinlich vor dem Gebimmel an ihrem eigenen Hals erschrecken.«

Das wollte Tina nun auch wieder nicht. »Dann kriegt sie eben nur ein Bändchen um den Hals.«

Claudine nickte. »Gute Nacht, mein Schatz.« Sie löschte das Licht und ging in ihr eigenes Zimmer. Vor dem Fenster stand ein kleiner weißer Schreibtisch, übersät mit Büchern und Heften. Die Tante hatte Claudine den Schreibtisch vor vier Jahren zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag gekauft.

Liebevoll strich Claudine über den weißen Schleiflack. Was wären wir ohne dich gewesen, Tante Erna, dachte sie. Du hast uns Vater und Mutter ersetzt und dein letztes Geld für uns ausgegeben. Und wir konnten uns nicht einmal dafür erkenntlich zeigen. Von meinem ersten selbstverdienten Geld wollte ich dich zu einer schönen Urlaubsreise einladen. Zu spät!

Claudine legte sich ins Bett. Aber obwohl sie sehr müde war, konnte sie doch nicht sofort einschlafen. Sie dachte daran, dass Tante Erna sie von einer Lungenentzündung gesundgepflegt hatte, dass sie sie nach ihrem ersten, völlig unbegründeten Liebeskummer getröstet hatte, dass sie immer und für alles Verständnis gezeigt hatte.

Zur gleichen Zeit betete Tina: »Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm. Und mach aus der Tante einen Engel.« Mit gefalteten Händen schlief sie danach ein.

Danny und Peter versuchten das Problem auf ihre Weise zu lösen. »Ich hab ’ne Idee, wie wir das Geld für die Beerdigung doch zusammenkriegen könnten.«

»Wie denn?« Danny trank den letzten Schluck seiner Milch aus und hörte seinem jüngeren Bruder zu. »Du bist ja verrückt«, entfuhr es ihm.

»Wieso denn?«, fragte Peter beleidigt. Er hatte ganz hellblondes Haar, das sich im Nacken und an den Schläfen lockte. Jetzt blickten seine lustigen wasserblauen Augen den Bruder beleidigt an. »Da bringe ich dir eine gute Idee – und wie reagierst du?«

Danny war nachdenklich geworden. »So schlecht ist die Idee gar nicht«, gab er zu.

»Was überlegst du dann noch?«, fragte Peter drängend.

»Ob so etwas verboten ist?«

»Wie kann es denn verboten sein?« Peter schüttelte den Kopf. »Wir bitten die Leute doch nur um eine freiwillige Spende. Nur wer will, braucht uns etwas zu geben. Aber wenn jeder bloß ein bisschen gibt, kriegen wir die dreitausend für die Beerdigung zusammen.«

»Lass mich einmal rechnen.« Danny holte Bleistift und Papier. »Dreitausend sind ’ne ganz schöne Summe. Nicht einmal in ganz Maibach kriegen wir das zusammen.«

»Dann gehen wir eben durch Maibach und Wildmoos und noch durch ein paar Nachbardörfer«, schlug Peter vor.

Danny nickte. Die Idee gefiel ihm mehr und mehr. »Ich schlage vor, dass wir hier in Wildmoos anfangen. Schließlich sind die großen Spendenaktionen ja auch nur dazu da, den Bedürftigen zu helfen. Und wir machen eben eine kleine Aktion, weil wir auch Hilfe brauchen. Wie heißt das Sprichwort? Hilf dir selbst, so hilft dir Gott.«

»Noch nie gehört«, murmelte Peter.

Danny stand auf. »Komm, wir haben Claudine versprochen, dass wir nicht zu spät ins Bett gehen.«

Die beiden Buben schliefen zusammen in einem Zimmer. Als Danny aus dem Bad kam, lag Peter schon im Bett. »Hast du den Wecker gestellt?«

»Klar.«

Aber sie waren viel zu aufgeregt, um sofort einschlafen zu können. Noch mehr als eine Stunde lang diskutierten sie über ihren Plan. Und je länger sie darüber sprachen, um so überzeugter wurden sie, dass die Idee genial war.

»Gleich morgen beschaffen wir uns zwei Sammelbüchsen«, murmelte Danny, schon halb im Schlaf.

Claudine ging morgens immer als erste aus dem Haus. Bis nach Stuttgart war es ein weiter Weg. Manchmal nahm sie ein Studienkollege in seinem Wagen mit. Aber er studierte Medizin und hatte andere Vorlesungen. Deshalb klappte es nicht immer.

Hoffentlich kommen die Kinder allein zurecht, dachte Claudine, während sie auf den Zug wartete. Es war noch finster, aber der Tag versprach klar zu werden. Nur eiskalt war es. Fröstelnd schlug Claudine ihren Mantelkragen hoch, grub die Hände mit den Wollhandschuhen tief in die Manteltaschen und bewegte fortwährend die Füße.

Als Tina hörte, dass ihre Brüder aufstanden, kroch auch sie aus dem Bett. Barfuß kam sie in die Küche.

Da hörten Peter und Danny auf zu reden.

»Warum darf ich nicht hören, was ihr sagt«, fragte Tina beleidigt.

»Du sollst doch nicht barfuß durchs Haus laufen«, sagte Danny. »Das hat Claudine dir schon so oft verboten.«

»Warum?«

»Weil du dich erkältest. Hol deine Hausschuhe und setz dich hierher. Die Milch ist noch warm.«

»Erzählt ihr mir dann, was ihr machen wollt?«

»Ja«, sagte Danny ungeduldig. »Jetzt hol schon deine Hausschuhe.«

Eifrig lief Tina davon. Als sie zurückkam, war sie immer noch barfuß. Die Hausschuhe trug sie in der Hand. »Mia ist nicht da«, klagte sie mit weinerlicher Stimme. »Sie ist die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen. Bestimmt ist sie draußen erfroren.«

»Sie ist da. Ich habe sie vorhin gehört. Und jetzt zieh endlich die Hausschuhe an. Du kannst jetzt nicht krank werden. Wir haben niemanden, der dich pflegen kann.«

»Ich brauche nicht gepflegt zu werden«, nuschelte Tina, zog aber nun endlich die Hausschuhe an. »Wo hast du Mia gehört?«

»Auf dem Dachboden«, sagte Peter.

»Was macht sie denn da?«

»Weiß ich doch nicht. Wahrscheinlich fängt sie Mäuse.«

»Wir haben keine Mäuse«, sagte Tina entrüstet.

»Na, dann eben Ratten.«

Mit einem Schrei sprang Tina auf den Küchenstuhl. Sie hatte entsetzliche Angst vor Ratten. »Meine Mia fängt keine Ratten. So was Ekliges guckt sie nicht einmal an.«

»Wir müssen jetzt gehen«, sagte Peter und stand auf.

»Lass das da«, schrie Tina, als er das letzte Brötchen aus dem Korb nahm. »Das kriege ich.«

»Ich denke, du isst dein Müsli? Das ist doch viel gesünder für dich.«

»Mag kein Müsli.« Tina griff nach dem Brötchen, das Peter ihr seufzend überließ. »Muss ich mir mein Frühstücksbrot eben wieder zusammenbetteln.«

Danny kramte in seiner Hosentasche und zog ein paar Münzen heraus. »Hier, davon kannst du dir etwas kaufen.«

»Und du?«, fragte Peter.

»Ich kriege von Henrik ’n Stück Brot. Er lässt sich zwei Brote mitgeben und gibt mir eins davon ab.«

»Finde ich toll von ihm.« Peter griff nach seiner Schultasche. »Du bleibst zu Hause, bis wir wiederkommen«, sagte er zu Tina.

Die Kleine nickte und biss in das Brötchen. »Haben wir keinen Honig mehr?«

»Ist alle«, antwortete Peter lakonisch. »Außerdem verdirbt er nur die Zähne. Iss dein Brötchen trocken.«

Ohne sich weiter zu beklagen, aß Tina ihr trockenes Brötchen und trank dazu Milch. Dann ging sie im Nachthemd auf den Dachboden hinauf, um nach Mia zu sehen. Doch da oben war es finster. Wo der Lichtschalter war, wusste sie nicht. Und der Gedanke an die Ratten machte ihr Angst. Sie rief nach ihrem Kätzchen. Doch alles blieb still.

Da schloss Tina die Tür und hastete wieder nach unten. Hier war sie wenigstens in vertrauter Umgebung. Aber sie war nicht gewohnt, allein zu sein. Bisher hatte sie ihre Vormittage immer zusammen mit der Tante verbracht. Und wenn sie einmal allein geblieben war, hatte sie doch immer gewusst, dass die Tante bald wiederkommen würde. Aber jetzt kam den ganzen langen Vormittag niemand.

Tina vergaß sich anzuziehen. Das konnte sie zwar schon selbst, aber es war niemand da, der sie daran erinnerte. So lief sie im Nachthemd durch das ganze Haus und landete schließlich in Tante Ernas Schlafzimmer. »Tante?«, fragte sie leise.

Doch die vertraute Stimme antwortete nicht.

Ganz unglücklich kroch Tina in das Bett der Tante. Aber das war kalt. Da stieg die Kleine wieder heraus, wischte sich mit dem Bettzipfel die Tränen ab und verließ das Schlafzimmer.

Erschrocken fuhr sie zusammen, als im Korridor die Klingel anschlug. Sie schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinab und wusste nicht, was sie tun sollte.

»Tina«, rief eine Stimme. Dann wurde an die Tür geklopft.

Schnell lief die Kleine zur Haustür und öffnete. Vor ihr stand die Nachbarin. Auf dem Arm hielt sie Mia.

»Oh!« Tina streckte die Arme nach ihrem Kätzchen aus. Vergessen war der Schmerz um die Tante. Und als sie das weiche Fell an ihrer Wange spürte, fühlte sie sich sogar ausgesprochen glücklich.

»Du bist ja noch gar nicht angezogen«, sagte die Nachbarin und schloss schnell die Haustür.

Draußen schien zwar die Sonne, aber es war eiskalt.

Tina blickte an sich herab. »Nein«, sagte sie dann.

»Komm, das machen wir schnell.« Die Nachbarin ging voraus in Tinas kleines Zimmer. Dort half sie der Kleinen beim Anziehen.

»Wo hast du meine Mia gefunden?«, wollte Tina wissen.

»Sie kam gestern Abend zu uns ins Haus.«

»Aber warum ist sie zu euch gekommen? Hat sie sich verlaufen?«

»Wahrscheinlich. Sie saß vor der Haustür und miaute.«

»Die Arme«, sagte Tina voller Mitleid. »Ich habe die ganze Nacht auf sie gewartet.«

»So, jetzt bist du fertig«, sagte die Nachbarin. »Willst du bis Mittag mit zu mir kommen?«

»Ja«, sagte Tina sofort. »Darf ich Mia auch mitnehmen?«

»Natürlich.« Die Nachbarin mochte das hübsche und lebhafte Mädchen. Sie hatte keine eigenen Kinder und wäre bereit gewesen, Tina für immer zu behalten. Sie beschloss, mit Claudine darüber zu sprechen. Schließlich konnte das Kind nicht dauernd sich selbst überlassen bleiben.

*

Danny ging in dieselbe Klasse wie Henrik von Schoenecker. In der großen Pause, als alle Kinder ihre Brote auspackten, kam Henrik zu Danny. »Ich habe wieder zwei Stullen dabei. Magst du eine?«

»Gern.« Hungrig griff Danny nach dem Brot, das dick mit Wurst belegt war.

»Es sieht so aus, als hättest du nicht gefrühstückt«, sagte Henrik.

»Nur ein Brötchen.«

»Ein trockenes Brötchen?« Henriks Augen wurden groß vor Mitleid. »Komm doch heute nach der Schule mit zu uns und iss dich richtig satt.«

»Das geht leider nicht.«

»Du kannst deinen Bruder auch mitbringen«, sagte Henrik schnell.

Danny druckste herum. »Ich habe schon etwas vor«, entschuldigte er sich dann. »Sonst würde ich gern mitkommen. Aber Peter wartet auf mich.«

In diesem Moment entdeckte Henrik die Sammelbüchse neben Dannys Schultasche. »Wo hast du denn das Ding her?«

»Das ist eine alte Büchse«, sagte Danny schnell.