Mysteriöse Verbrechen - Johannes Seiffert - E-Book

Mysteriöse Verbrechen E-Book

Johannes Seiffert

0,0

Beschreibung

Rätselhafte Zeichen auf einem Zettel, deren Schreiber zunächst verschwindet und Stunden später nackt und blutend auf dem Beifahrersitz seines Autos sterbend aufgefunden wird. Ein scheinbar verfluchtes Schiff, das zum Schauplatz gleich mehrerer Verbrechen wird, bevor es schließlich in der Ostsee versinkt und Hunderte von Menschen in den Tod reißt. Der nette Nachbar von nebenan, der in der örtlichen Jazzband Klarinette spielt und sich nach seinem Tod als einer der schlimmsten sadistischen Killer der Geschichte entpuppt. Ein kleines Mädchen, dessen spurloses Verschwinden die Polizei veranlasst, den debilen »Dorfdepp« als Mörder vorzuführen, obwohl seine Unschuld eigentlich nie in Frage stand. Das plötzliche Verschwinden eines in Saus und Braus lebenden Milliardärs – ein Unglücks-, Mord- oder gigantischer Betrugsfall? In der Regel liegt die Aufklärungsrate für Mordfälle bei über 90 Prozent. Doch es gibt auch die anderen Fälle. Fälle, die niemals geklärt werden. Mysteriöse, unerklärliche Verbrechen, die eine Aura der Unsicherheit verbreiten, die einen ungläubig staunen lassen und gleichzeitig drängende Fragen aufwerfen. Was war wirklich geschehen? Warum konnte dieser Mord, jene Entführung niemals aufgeklärt werden? Wo lag das Versagen? Johannes Seiffert nimmt wahre, bis heute ungelöste Kriminalfälle der letzten fünfzig Jahre aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, aber auch brisante Verbrechen aus Frankreich, Belgien, Italien und den USA in den Fokus. Er beleuchtet die Fakten, analysiert die Hintergründe, entschlüsselt die Mythen, die sich um die ungeheuerlichen Ereignisse ranken, und präsentiert alle relevanten Informationen auf der Basis neuester Erkenntnisse. Zwanzig erschütternde Kriminalporträts, die einen tiefen Einblick in die Abgründe menschlicher Untaten gewähren.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 263

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Johannes Seiffert

Mysteriöse

Verbrechen

Zwanzig rätselhafte, berühmt-berüchtigte und spektakuläre Kriminalaffären

edition berolina

eISBN 978-3-95841-570-6

1. Auflage

© 2022 by BEBUG mbH / edition berolina, Berlin

Umschlaggestaltung: BEBUG mbH, Berlin

Umschlagabbildungen: Adobe_stock/Tinnakorn – 301762209 (Foto); kjpargeter/Freepik.com (Hintergrund)

Axel-Springer-Straße 52

10969 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.buchredaktion.de

Ein Milliardär verschwindet

Samstag, 7. April 2018. Ein strahlender Sonnenmorgen zieht über der Schweizer Skimetropole Zermatt herauf. Jenem idyllischen, 1.600 Meter hoch gelegenen Ort mit seinen 6.000 Einwohner:innen und den vielen hier ihren Urlaub verbringenden Gästen, der nun langsam erwacht. Die Menschen freuen sich auf einen weiteren schönen Tag in der herrlichen Umgebung der Schweizer Alpen. Sie wollen die letzten Tage der Wintersportsaison genießen. Wobei die umliegenden Viertausender dafür sorgen, dass man auch im Sommer dem Skisport frönen kann. Der Ort ist kein Hotspot des Massentourismus. Als »Zentrum der Reichen und Schönen« wäre er zutreffender beschrieben. Einige von ihnen geben sich hier dem Sport hin, ansonsten führen sie ihre edlen Haute-Couture-Bekleidungen und Pelze aus. Die luxuriösen Limousinen der wohlhabenden Reisenden müssen im fünf Kilometer entfernten Talort Täsch bleiben. Falls man nicht ohnehin per Helikopter oder Privatjet anreist. Das am Matterhorn gelegene Zermatt ist seit 1931 autofreie Zone. Aber das nur nebenbei.

Im Luxushotel The Omnia bricht um 7.30 Uhr ein drahtiger, durchtrainierter Endfünfziger nach einem sportlich kargen Frühstück auf. Ein Alpinsport-Tag liegt vor ihm. Er ist zweckmäßig, aber teuer gekleidet. Die Talstation der Bergbahn hinauf aufs Klein Matterhorn ist nur rund 600 Meter, sprich: ein paar Gehminuten, vom Hotel entfernt. Die erste Gondel startet jedoch erst um 8.30 Uhr. Schon hier setzen die Rätsel ein, die diesen Mann umgeben. Wie hat er die folgende Stunde verbracht? Wie kam er zur Talstation? Ist er gelaufen? Mit der Ski-Ausrüstung auf der Schulter? Eher unwahrscheinlich. Nahm er eines der Elektrotaxis und wartete dann in der Talstation? Sicher ist, dass er mit der ersten Gondel um 8.30 Uhr bergwärts fährt. Er hat einen Plan. Und der ist ziemlich ambitioniert.

Er möchte am zehn Tage darauf stattfindenden, härtesten Skitourenrennen der Welt teilnehmen. Der berühmten Patrouille des Glaciers (»Gletscherpatrouille«). Als vorbereitende Trainingseinheit soll ihm die Tour an diesem Wochenende dienen. Knapp vierzig Minuten dauert die Passage mit der Bergbahn bis hinauf auf 3.800 Meter. Kurz nach neun Uhr kommt er dort oben an. Lagen die Temperaturen in Zermatt an diesem Morgen um 0 Grad, so herrschen an der Gipfelstation Klein Matterhorn eisige minus 15 Grad.

Der Mann will allein trainieren. Obwohl hier oben normalerweise Bergführer als Begleitung vorgeschrieben sind, hat er sich eine Sondergenehmigung ausstellen lassen. So kann er auf eigene Verantwortung als erfahrener Skitourengänger die Gegend unbegleitet erkunden.

Das Rennen, für das er trainiert, hat es in sich. Nicht weniger als 53 Kilometer Luftlinie sind es bis zum Zielort Verbier einige Täler weiter. Doch es ist keineswegs eine ebene Strecke. In diesem Teil der Alpen stehen die meisten Viertausender. Ihre Flanken, ihre Grate müssen überwunden werden, will man ins Ziel kommen.

Die Strecke ist von ausgesuchter landschaftlicher Schönheit. Immer nach Westen, nah entlang der Grenze zum südlich benachbarten Italien, geht es durch die Berge. Der Streckenrekord liegt – erzielt von italienischen Soldaten 2018 – bei knapp über fünfeinhalb Stunden. Natürlich bei besten Wetterbedingungen, die nicht jedes Jahr gegeben sind.

Die besonderen Gefahren dieser Strecke lauern unter dem Schnee. Es geht über mehrere Gletscherzungen, die viele Hundert Gletscherspalten aufweisen. Stellenweise nur von einer dünnen Schneedecke verdeckt, droht hier tödliche Gefahr. Denn diese Spalten sind mitunter zwanzig oder mehr Meter tief. Ein Absturz kann schwerste Verletzungen oder den Tod bedeuten. Zudem brechen manchmal auch die über die Spalten ragenden Schneebrücken zusammen, die zum Teil mehrere Tonnen wiegen. Stürzt man mit einer solchen Schneebrücke in die Tiefe, wird man von Bergen von Schnee begraben, ohne Aussicht auf Rettung. Deshalb soll hier oben mindestens zu zweit und ausschließlich angeseilt Ski gefahren werden, um die Überlebenschancen im Fall der Fälle zu erhöhen.

Doch dieser Mann ist sich seiner Sache sehr sicher. Er hat sein Handy schon in der Seilbahngondel ausgeschaltet. Er hat auch darauf verzichtet, einen GPS-Sender mitzunehmen, über den man ihn notfalls orten könnte – gerade in dem im Frühjahr nicht ausgeschlossenen Fall, dass er in eine Lawine gerate und verschüttet werde. Aber solche Gedanken sind dem Mann fremd. Er ist das Siegen gewohnt. Furchtlose Dominanz ist seine Maxime.

Wer das ist, werden Sie sich fragen. Um welche Person geht es hier?

Es geht um eine Persönlichkeit, die bestens nach Zermatt passt. Denn der Mann gehört zur Top-Liga der Elite. Er ist einer von 2.208 Milliardären, die für das Jahr 2018 weltweit verzeichnet werden – bei einer Erdbevölkerung von mehr als sieben Milliarden Menschen. Er stammt aus Deutschland. 2018 listet die Statistik hier 114 Milliardäre auf. Einer von 114 in ganz Deutschland. Das Gefühl, zur obersten Elite der Welt zu gehören, wurde ihm schon in die Wiege gelegt. Denn auch sein Vater war bereits Milliardär.

Ich will Sie nicht unnötig auf die Folter spannen: Der Mann, von dem hier die Rede ist, hört auf den bemerkenswerten Namen Karl-Erivan Warder Haub. Geboren wurde er 1960 in den USA, wo seine Eltern, Erivan Karl Matthias Haub und Helga Haub, geborene Otto, sich damals aufhielten. Aufgrund des US-Geburtsorts erhielt Karl-Erivan zusätzlich zur deutschen automatisch die US-Staatsbürgerschaft (ebenso wie seine beiden jüngeren, 1962 und 1964 in den USA geborenen Brüder).

Wenden wir uns nun für einen Augenblick der Geschichte des elterlichen Unternehmens zu, der Geschichte jener Dynastie, in die Karl-Erivan hineingeboren wurde. Er ist also, das sei nochmals betont, Milliardär aufgrund familiärer Wurzeln und ererbten Vermögens – wie das, statistisch gesehen, in den meisten Fällen zu sein pflegt. Die Geschichte des elterlichen Unternehmens mit dem Namen »Tengelmann« reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück.

Aus der Taufe gehoben wurde der Betrieb von einem Mann mit dem prosaischen Namen Wilhelm Schmitz (1831–1887) in Mülheim an der Ruhr. Als Sohn eines Tuchhändlers hatte er 1847 eine Lehre in der Mülheimer Kolonialwarenhandlung »Joh. Wilh. Meininghaus Sohn« begonnen, deren kinderloser Inhaber ihn später zu seinem Nachfolger bestimmte. Ab 1856 führte Schmitz gemeinsam mit Ludwig Lindgens, der sich auf die finanzielle Teilhabe beschränkte, die Geschäfte des nun als »Wilh. Schmitz & Lindgens« firmierenden Unternehmens. Nachdem Lindgens sich zehn Jahre später aus der Kolonialwarenhandlung zurückgezogen hatte, benannte Schmitz das nunmehr als alleiniger Inhaber von ihm geführte Unternehmen zum 1. Januar 1867 in »Wilh. Schmitz-Scholl« um. Seinem eigenen verwechselbaren Namen hatte er zwecks besserer Unterscheidbarkeit den Geburtsnamen seiner Frau Louise angefügt.

Die Geschäfte liefen von Anfang an prächtig. Schon bald konnte es sich Schmitz-Scholl leisten, in der Ruhrstraße 3 zu Mülheim die einstige Unterkunft des Kolonialwarenhändlers Meininghaus umzubauen und deutlich zu vergrößern. Es wurde eine elegante Villa, welche die Zeitläufte überstand. Sie wird heute als Kunstmuseum, Kunstgalerie und Atelierhaus genutzt.

Schmitz-Scholl handelte vor allem mit Kaffee, Tee und Kakao. Als Konkurrent Josef Kaiser (»Kaiser’s Kaffee«) 1880 in Viersen bei Mönchengladbach begann, die bisher meist in grünem Rohzustand verkauften Kaffeebohnen industriell zu rösten, zog Schmitz-Scholl 1882 nach. Er gründete ebenfalls eine Kaffeerösterei, die eigene und weitere Geschäfte belieferte. Nach dem Tod des Dynastiegründers übernahm dessen jüngster Sohn Karl Schmitz-Scholl 1887 im Alter von gerade einmal neunzehn Jahren zunächst zusammen mit seinem Bruder Wilhelm Schmitz-Scholl junior die Führung des Unternehmens. Unter tätiger Mithilfe des firmeneigenen Prokuristen Emil Tengelmann, der zum Dank als Namenspatron dienen durfte, gründeten sie 1893 das Unternehmen »Hamburger Kaffee-Import-Gesellschaft Emil Tengelmann« und zogen damit ein deutschlandweites Filialnetz auf. Schon bald sorgten 560 Filialen für einen stetig sprudelnden Umsatz.

Als Karl Schmitz-Scholl senior 1933 starb, übernahm sein Sohn Karl Erivan Schmitz-Scholl im Alter von 37 Jahren die Geschäftsführung des Unternehmens. Welchen Grund der Vater hatte, dem 1896 geborenen Sohn den ungewöhnlichen Vornamen Erivan zu geben – darüber schweigt sich die Familie bis heute aus. Der Name verweist rein formal auf die Hauptstadt des damals zum russischen Zarenreich gehörenden Armenien, Jerewan. Ob es verwandtschaftliche oder sonstige Beziehungen in den hinteren Kaukasus gab, ist bis heute ungeklärt. Die drei Jahre später geborene Schwester hieß zeitgemäß und gediegen Amalie Luise Elisabeth. Als Karl Erivan Schmitz-Scholl 1933 das väterliche Unternehmen als alleiniger Geschäftsführer übernahm, wurde seine Schwester Mitgesellschafterin.

Zur Firmengruppe gehörten zu diesem Zeitpunkt Hunderte von »Tengelmann«-Lebensmittelfilialen, Kaffeeröstereien und Nährmittelwerke sowie die Schokoladenfabrik »Wissoll« (benannt nach den Anfangsbuchstaben des Dynastiegründers Wilhelm Schmitz-Scholl). Schmitz-Scholl trat im Jahr seiner Firmenübernahme der NSDAP bei und wurde später Mitglied der SS. Er produzierte mit »Tengelmann« Spezialnahrung für die Wehrmacht. Für seine »Verdienste um Entwicklung und Einsatz neuartiger Nahrungsmittel für die Massenverpflegung des Heeres« erhielt er das Kriegsverdienstkreuz 1. und 2. Klasse und wurde 1938 zum NS-Wehrwirtschaftsführer ernannt. 1945 interniert, entließen ihn die Alliierten 1947. 1950 verfügte sein Unternehmen bereits wieder über 220 Filialen. Als Konkurrent »Kaiser’s« 1952 den ersten Selbstbedienungsladen eröffnete, zog »Tengelmann« 1953 nach. 1968 erreichte das Unternehmen erstmals einen Umsatz von einer Milliarde D-Mark.

Karl Erivan Schmitz-Scholls Ehe blieb kinderlos. Seine Schwester Amalie hatte mittlerweile Erich Haub geheiratet, der aus einer Wiesbadener Architekten-, Hoteliers- und Ärztefamilie stammte. Als Schmitz-Scholl 1969 in seinem Altersruhesitz im Tessin starb, stellte sich daher die Frage, wer die Führung des Unternehmens übernehmen solle. Da traf es sich gut, dass seine Schwester und Mitgesellschafterin 1932 einem Sohn das Leben geschenkt hatte. Dieser Neffe Schmitz-Scholls, ein Einzelkind, hatte den rätselhaften Vornamen des Onkels erhalten und hieß Erivan Karl Matthias Haub. Damit trat der Haub’sche Familienzweig der Dynastie die Herrschaft im Unternehmen an.

Erivan Haub war in der Nähe von Idstein (nördlich Wiesbadens) auf dem elterlichen Gutshof aufgewachsen. Nach dem Abitur 1952 war er zur weiteren Ausbildung in die USA gegangen und hatte anschließend in Hamburg Volkswirtschaft studiert. Dort lernte er auch seine künftige Ehefrau kennen – eine Tochter aus der Versandhändler-Dynastie Otto –, die er 1958 heiratete. 1963 trat er in das Unternehmen seines Onkels ein, das er 1969 als alleiniger Geschäftsführer übernahm.

Bereits nach zwei Jahren kaufte er 1971 in einem finanziellen Kraftakt, der die Firma kurzzeitig an die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit brachte, den größten Konkurrenten auf, die »Kaiser’s Kaffee AG«. Ein Jahr später begann er den Aufbau der als zusätzliches Standbein gedachten Discountkette »Plus«. Mit dem Einstieg bei der Baumarktkette »Obi« erweiterte Haub das Sortiment 1985 in den Nonfood-Bereich, mit dem Kauf von »Modea« (1990) und der Beteiligung an der Gründung von »KiK« (1994) trat er in den Textildiscountmarkt ein. Pünktlich zum 100. Geburtstag des Unternehmens »Tengelmann« konnte Haub 1993 einen Rekordumsatz von über fünfzig Milliarden D-Mark vermelden. Damit gehörte der Konzern zu den größten Lebensmittelfilialisten der Welt.

Haub sorgte Anfang des Jahres 2000 für die geordnete Unternehmensübergabe an die nächste Generation: an seine Söhne Karl-Erivan Warder Haub, um den es in dieser Geschichte geht, und Christian W. E. Haub. Er vertraute ihnen die Leitung des Unternehmens an, blieb aber bis 2012 Vorsitzender des Beirats von »Tengelmann«.

Ich bin Ihnen noch ein paar Informationen zur Lebensgeschichte Karl-Erivans schuldig. Dieser wurde 1960 geboren und wuchs hauptsächlich in Wiesbaden auf, er absolvierte eine Berufsausbildung zum Einzelhandelskaufmann in der Unternehmensgruppe »Tengelmann« und studierte anschließend an der Universität Sankt Gallen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. 1983 erwarb er dort den Abschluss als Diplom-Kaufmann und arbeitete anschließend unter anderem bei der Unternehmensberatung »McKinsey« in Düsseldorf. 1991 übernahm er im familieneigenen Unternehmen den »Aufbau Ost«, wurde 1992 Stellvertreter seines Vaters und bekam 1997 das operative Geschäft in Europa übertragen.

Nach dem Ausscheiden ihres Vaters im Jahr 2000 leiteten Karl-Erivan und sein jüngster Bruder Christian Haub den radikalen Umbau des Konzerns ein. Unternehmensteile wurden verkauft, Konkurrenten übernommen und wieder abgestoßen. So wurde eine generelle Änderung der Unternehmensausrichtung deutlich. Aus dem bisherigen Lebensmittelfilialisten sollte ein ganz anders aufgestelltes Unternehmen werden.

Der Donnerschlag erfolgte Mitte 2015. Karl-Erivan Haub gab seine Absicht bekannt, sämtliche Lebensmittelfilialen, also das bisherige Herzstück des Unternehmens, an den Konkurrenten »Edeka« zu verkaufen. Im März  2016 erteilte der Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) dem beabsichtigten Verkauf seinen Segen. Doch nun legte Konkurrent »Rewe« Klage beim Oberlandesgericht Düsseldorf ein, das den Verkauf im Juli 2016 untersagte. Unter Mithilfe des Wirtschaftsministers Gabriel und des Vorsitzenden der Gewerkschaft ver.di, Frank Bsirske, konnte eine Einigung zwischen »Edeka« und »Rewe« erzielt werden. Die »Tengelmann«-Filialen wurden zwischen »Edeka« und »Rewe« aufgeteilt, der Rest geschlossen.

Schon 2009 hatte Haub zudem damit begonnen, sich mit der Tochtergesellschaft »Tengelmann Ventures« im E-Commerce zu engagieren. Das Unternehmen investierte in Start-up-Unternehmen und entwickelte sich mit rund vierzig Beteiligungen rasch zu einem führenden Risikokapitalgeber in Deutschland.

Damit kommen wir zum Ausgangspunkt dieser Geschichte zurück. Nachdem wir den Menschen Karl-Erivan Haub und seine familiäre wie wirtschaftliche Herkunft näher kennengelernt haben, wenden wir uns nun wieder dem Geschehen im April 2018 zu. Der als »harter Hund« verschriene Karl-Erivan pflegte seit langem, im Sport einen Ausgleich für den beruflichen Stress zu finden. Er begeisterte sich nicht nur für das Skifahren, sondern hatte auch schon mehrere Marathon-Läufe absolviert, er galt als körperlich durchtrainiert.

Dieser Mann also kam um 9.08 Uhr an diesem Samstag, dem 7. April, auf dem Klein Matterhorn an, legte seine Ski an, schloss den Anorak, zog Handschuhe über und die Mütze tiefer ins Gesicht, setzte schließlich noch Helm und Sonnenbrille auf und begann die Abfahrt mit weiten, eleganten Bogenschwüngen. So zeigen ihn die Bilder der Überwachungskameras oben auf dem Gipfel, die letzten Aufnahmen, die es von ihm gibt.

Was ab diesem Zeitpunkt weiter passierte, ist völlig unklar. Für den späteren Nachmittag war Haub mit Freunden in Zermatt für einen Après-Ski-Umtrunk verabredet. Als er dort bei Einbruch der Dunkelheit nicht eintraf und auch Versuche scheiterten, ihn per Handy zu erreichen, alarmierten die Freunde die Schweizer Bergrettung. Denn mittlerweile war das Wetter umgeschlagen, es war deutlich kälter geworden, Wolken zogen tief über die Berge und Schneefall hatte eingesetzt.

Die nächste Etappe der Geschichte lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen. Dieser äußerst reiche, äußerst mächtige, bestens vernetzte Mann blieb von Stund an verschwunden. Und ist es bis heute. Die Rettungsaktion der Suchmannschaften lief am Samstagabend an und wurde am Sonntag mit Hubschraubern, Rettungstrupps und Spürhunden fortgesetzt. Der andauernde Schneefall, der mehrere Meter Neuschnee brachte, erschwerte die Suche jedoch erheblich. Die Suchaktionen endeten Anfang Mai 2018 ergebnislos. Es hat sich seither nicht die kleinste Spur ergeben, was mit Karl-Erivan Haub passiert sein könnte.

Dafür schossen die Spekulationen ins Kraut. Es kamen Informationen ans Tageslicht, die ein etwas anderes Bild des »erfolgreichen, profitorientierten, streng rational agierenden« Unternehmers Haub zeichnen. Das neue Bild zeigt eher einem neurotischen, von Verfolgungswahn gepeinigten Menschen, dessen Misstrauen gegen alles und jeden beispiellos ist. Woran lässt sich das festmachen? Zum Beispiel daran, dass Karl-Erivan Haub die Menschen seiner engsten Umgebung systematisch überwachen ließ. Um das besser zu tarnen, erwarb er sogar eigens ein Detektivbüro in Hannover.

Dessen Angestellte überwachten nicht nur den Leibwächter Haubs – den Haub verdächtigte, der Liebhaber seiner Frau zu sein –, sondern auch Geschäftspartner, Nachbarn und sogar seine Brüder. Niemand sollte vor Haub Geheimnisse haben. Gleichzeitig sollte niemand Haubs eigene Geheimnisse kennen. Die entsprechenden Unkosten der Überwachung bezahlte er aber keineswegs aus seiner privaten Tasche. Er ließ die Firma »Tengelmann« eingehende Rechnungen begleichen. Allein für die Überwachung seines Bruders Georg gab Haub insgesamt acht Millionen Euro aus.

Doch damit nicht genug. Der erfolgreiche Unternehmer und Familienvater soll zudem seine Ehefrau jahrelang betrogen haben. Schon zehn Jahre vor seinem Verschwinden hatte er angeblich eine Affäre mit einer russischen Geschäftsfrau begonnen. Diese arbeitete bei einer russischen Eventagentur, die eine der Geburtstagsfeiern für Haubs Mutter Helga ausgerichtet hatte. Um seine Freundin regelmäßig treffen und unauffällig nach Russland ein- und wieder ausreisen zu können, erwarb Karl-Erivan offenbar sogar die russische Staatsbürgerschaft.

Bei den Reisen nach Moskau verzichtete er angeblich auf die Begleitung durch Leibwächter. Unternehmerisch engagierte er sich ebenfalls in Russland, agierte dabei aber eher glücklos. Denn beim Erwerb von Grundstücken und Filialketten soll ein höherer zweistelliger Millionenbetrag verschwunden sein. Als die »Tengelmann«-Revision ihn auf Unklarheiten in diesem Zusammenhang aufmerksam machte, habe Haub persönlich die weitere Untersuchung des Sachverhalts untersagt.

Seiner angeblichen Geliebten galten offenbar seine letzten Kommunikationen per Handy. So erhielt er von ihr eine Kurznachricht, in der sie ihm unter anderem mitteilte, dass sie auf dem Weg nach Moskau sei. Am Abend vor seinem Verschwinden telefonierte Haub darüber hin­aus stundenlang mit unbekannten Gesprächspartnern in Russland. Eine andere Information besagt, dass im Zermatter Hotel The Omnia an diesem Wochenende angeblich drei russische Gäste mit Geheimdienstkontakten logiert hatten, darunter auch die mutmaßliche Freundin Haubs. Die damals 41-Jährige verfüge über eine Pilotenlizenz für Hubschrauber, hieß es aus »befreundeten Kreisen«. Ebenfalls auffällig: In zeitlichem Zusammenhang mit dem Verschwinden Haubs kündigte die Frau ihre Arbeitsstelle bei der Eventagentur und ist seither nicht mehr öffentlich aufgetreten.

Eine Woche nach dem Verschwinden des Unternehmers gab die Familie bekannt, davon auszugehen, dass Karl-Erivan Haub wohl nicht mehr lebend gefunden werden könne. Doch erst im Oktober 2018 wurden die von der Familie betriebenen Suchmaßnahmen endgültig eingestellt. Die Schweizer Bergrettung gab bekannt, dass alle Maßnahmen, den Leichnam Haubs zu finden, vergeblich gewesen seien. Jetzt bleibe nur die Hoffnung auf einen Zufallsfund, beispielsweise nach der Schneeschmelze im nächsten Jahr oder bei einer Veränderung der Gletscheroberfläche.

In der Konzernzentrale in Mülheim übernahm kurz nach dem Verschwinden von Karl-Erivan der jüngste Haub-Bruder Christian im April 2018 das Ruder. Doch wer geglaubt hatte, dass nun Ruhe einkehre, sah sich erneut getäuscht. Es gab Streit – und zwar jede Menge. Worum ging es? Um Geld. Um viel Geld. Denn nun musste das milliardenschwere Erbe Karl-Erivans geregelt werden. Und da sah sich die trauernde Witwe Katrin mit ihren beiden Kindern einem unvorhergesehenen Problem gegenüber. Noch war Karl-Erivan nicht für tot erklärt worden, noch galt er als vermisst. Doch am Tag seiner Todeserklärung würde Katrin mit einer erheblichen Herausforderung konfrontiert werden: der Erbschaftssteuer in Höhe einer neunstelligen Summe.

Seit dem Tod ihres Vaters waren die Anteile am »Tengelmann«-Konzern wie folgt auf die drei Brüder – Karl-Erivan, Christian und Georg – aufgeteilt gewesen: Georg besaß 31,1 Prozent, Karl-Erivan und Christian jeweils 34,45 Prozent. Das Problem für Katrin als Erbnehmerin: Kenner der Materie schätzten die von ihr zu entrichtende Erbschaftssteuer auf knapp eine halbe Milliarde Euro. Diese wäre laut Gesetz ab dem Tag der Todeserklärung zu begleichen gewesen. Und zwar in bar. Das hätte laut Katrins Anwalt die umgehende Privatinsolvenz des verbliebenen Familienzweigs von Karl-Erivan (Katrin und die beiden Kinder) zur Folge gehabt.

Katrin versuchte also zunächst, den Zeitpunkt der Todeserklärung so weit wie möglich in die Zukunft zu verschieben. Um Zeit zu gewinnen und mit Christian eine Einigung über eine mögliche finanzielle Hilfe des »Tengelmann«-Konzerns bei der Begleichung der Erbschaftssteuer zu erzielen. Christian dagegen sah seine Stunde gekommen und setzte alles daran, seine neue Machtposition auszunutzen. Der Plan: in einem großen Aufwasch eine endgültige Klärung herbeizuführen und zwar dergestalt, Karl-Erivans Familienstamm komplett aus der Firma zu drängen. Daher versuchte Christian nun seinerseits, Kat­rin unter Druck zu setzen, indem er die Todeserklärung für Karl-Erivan beantragte. Genau wissend, dass er sie damit vor unlösbare finanzielle Probleme stellte.

Christian wollte Katrin damit dazu zu bringen, ihre Firmenanteile möglichst billig zu verkaufen. Katrin zog – beraten von prominenten Anwälten – nun andere Saiten auf. Sie trug den Geschwisterzwist im Hause Haub in die Öffentlichkeit. Böse Briefe wurden gewechselt und die Öffentlichkeit mit reichlich Stoff aus diesem sprichwörtlichen Kleinkrieg ums Erbe versorgt. Bekanntlich enthüllt sich der wahre Charakter von Menschen in vielen Fällen erst, wenn es ans Erben geht – gerade im Verhältnis zu Geschwistern und Mit-Erben. So auch in diesem Fall.

Katrin beantragte nun – was als Mitgesellschafterin ihr gutes Recht war –, einen Teil der »Tengelmann«-Konzernrücklagen in Höhe von knapp zwei Milliarden Euro aufzulösen. Damit sollte ihr ein zinsloser Kredit zur kompletten Begleichung der Erbschaftssteuer zur Verfügung gestellt werden, wie das offenbar schon im Fall des väterlichen Erbes bei Karl-Erivan und Christian gehandhabt worden war. Alternativ erklärte sie sich bereit, dem Verlangen Christians nach Alleinherrschaft im geschrumpften »Tengelmann«-Konzern entgegenzukommen (und damit auf jegliche künftige Rolle für ihre Kinder im Konzern zu verzichten). Christian lehnte beides zunächst ab. Und ließ nun seinerseits von Anwälten böse Briefe aufsetzen. Darin wurden Katrin Haub jede Menge Vorwürfe gemacht. Sie habe nicht das Wohl des Unternehmens im Sinn, sondern würde »Tengelmann« bewusst schädigen. Zudem sei sie als Vertreterin ihres verschollenen Ehemannes ungeeignet. Das habe sich nicht zuletzt daran gezeigt, dass sie interne Streitigkeiten vor Gericht gebracht und damit in die Öffentlichkeit gezerrt habe. So etwa im Fall ihrer Klage vor dem Landgericht Duisburg gegen die Nominierung des Ruhrpott-Milliardenerben Franz Haniel für den neuen »Tengelmann«-Beirat. Durch solche Maßnahmen hatte Katrin tatsächlich versucht, den Druck auf Christian zu erhöhen.

Doch die Vorwürfe gegen sie gingen noch weiter. Kat­rin Haub habe angedroht, Angriffe gegen Christian und das Unternehmen fortzuführen, bis sie das Geld für die Erbschaftssteuer oder eine hohe Abfindung bekomme. Tatsächlich ließ Katrin nun verbreiten, Christian Haub habe bislang nur durch gerichtliche Entscheidungen dar­an gehindert werden können, legitime Gesellschafterrechte eklatant zu missachten. Der »Tengelmann«-Chef habe in diesem Zusammenhang wiederholt sein Wort gebrochen.

Doch woher kam die Heftigkeit der Auseinander­setzungen? Was trieb die jeweiligen Protagonisten an, so aggressiv zu agieren? Dafür muss man einen Blick in die jüngere Firmenvergangenheit werfen. Bis zu Karl-­Erivans Tod lebten Bruder Christian, seine Ehefrau Liliane und deren vier Kinder in den USA. Dort war Christian mit der Betreuung der Tengelmann-Anteile (fünfzig Prozent) an der Supermarktkette »A&P« betraut worden. Doch »A&P« war 2017 in die Insolvenz gegangen. Dies hatte Karl-Erivan offenbar als Beleg dafür erachtet, dass Christians unternehmerische Fähigkeiten eher bescheiden ausgeprägt waren. Christian und Liliane seien damals mancherlei Demütigungen ausgesetzt gewesen. Daraus mag das Verhalten Katrin gegenüber resultieren.

Seit dem Verschwinden Karl-Erivans sei speziell Liliane auf Rachefeldzug, hieß es nun. Diese habe erheblichen Einfluss auf Christian. Dazu gehöre, dass der neue »Hausherr« alles ausräumen lasse, was in der »Tengelmann«-Zentrale an Karl-Erivan Haub erinnere. Von massivem gegenseitigen Hass war die Rede. Speziell Liliane sei von Karl-Erivan und auch von der Schwiegermutter Helga über die Jahre schlecht behandelt worden. Katrin habe daher nun sogar Probleme, die persönlichen Dinge des Ex-Konzernchefs Karl-Erivan zurückzubekommen, so auch mehrere wertvolle Oldtimer, die auf dem Firmengelände lagerten.

Christian traf nun wichtige Entscheidungen für das künftige Schicksal der verbliebenen Reste des »Tengelmann«-Konzerns. So löste er die bisherige, nach dem Schrumpfkurs der Firma überdimensionierte Firmenzentrale auf. Er verhandelte mit der Stadt Mülheim darüber, was künftig mit der 50.000 Quadratmeter großen Fläche passieren solle. Auch die 230 verbliebenen Mitarbeiter bangten um ihre Jobs. Die ehemalige Zentralverwaltung des Handelskonzerns sollte nach Christians Vorstellungen bis auf geringe Restbestände verkleinert werden und nur noch die Funktion eines Family Office ausüben, sich also künftig auf die Verwaltung des Familienvermögens beschränken.

Im Frühjahr 2021 gab »Tengelmann« bekannt, dass die Konfliktparteien sich geeinigt hätten. Christian bekam von Katrin die bisherigen Firmenanteile Karl-Erivans übertragen. Somit konnte Christian nun mit insgesamt 68,9 Prozent der Anteile durchregieren. Katrin und ihre beiden Kinder schieden endgültig aus der Firma aus. Bruder Georg behielt entgegen anfänglichen Gerüchten, dass Christian auch ihn loswerden wolle, seine 31,1 Prozent der Anteile.

Damit wäre die Geschichte zu Ende. Wären da nicht Gerüchte, die das Verschwinden von Karl-Erivan Warder Haub in einem ganz speziellen Licht erscheinen lassen. Diesen Gerüchten zufolge gibt es Hinweise, dass Haub mit dem russischen Geheimdienst Verbindung aufgenommen hatte. Haub wird demnach irgendwo in den Weiten Russlands vermutet, im trauten Beisammensein mit seiner russischen Freundin, die er diesen Informationen zufolge sogar schon seit zwei Jahrzehnten kennen und lieben soll. Selbst der US-Geheimdienst soll in Zermatt diesbezüglich ermittelt haben, war Haub doch auch US-Staatsbürger.

Dass er selbst und freiwillig sowohl sein Mobiltelefon vor Beginn der Tour ausgeschaltet und auf die Mitnahme eines GPS-Senders verzichtet hatte, deutet tatsächlich nachdrücklich darauf hin, dass Haub seinen mysteriösen Abgang geplant und nach einem selbstgeschriebenen Drehbuch durchgezogen hat. Ob ihn tatsächlich die hubschrauberpilotierende russische Freundin heimlich außer Landes brachte, lässt sich allerdings nicht belegen.

Was wirklich mit Haub passiert ist, wird womöglich allein der Zufall ans Tageslicht bringen. Falls er doch »nur« Opfer eines Unfalls geworden sein sollte, könnte seine Leiche eines Tages in den Schweizer Bergen entdeckt werden. Falls Haub noch lebt und sich irgendwo ein neues Leben aufgebaut hat, könnte er eines Tages erkannt werden. Vielleicht klärt sich dann eine weitere mysteriöse Frage: Warum ist Karl-Erivan Haub auf den Tag genau vier Wochen nach dem Tod seines Vaters – der am 6. März 2018 verstarb – verschwunden?

Das verfluchte Schiff

Gibt es so etwas? Ein verfluchtes Schiff? Ein Schiff, das in besonderer Weise das Unglück anzieht? Das Schlagzeilen ausschließlich negativer Art macht? Es scheint so zu sein, wenn man sich den Fall der Estonia näher anschaut.

Beauftragt wurde der Bau des Frachtgut- und Passagierschiffs bei der »Meyer Werft« in Papenburg (Niedersachsen) von einer norwegischen Reederei, die eine Fähre für den Pendelverkehr zwischen Norwegen und Deutschland benötigte. Die Reederei änderte jedoch ihre Pläne und trat vom Vertrag zurück. Die Werft war daraufhin in der Lage, einen anderen Interessenten für das Schiffsprojekt zu finden: die Reederei »AB Sally«, die zum Verbund der finnischen »Viking Line« gehörte. Der neue Auftraggeber verlangte einschneidende Änderungen in der Konstruktion des bereits mitten in der Vorbereitung zur Kiellegung begriffenen Schiffs. So sollte es von ursprünglich 137 Metern auf 155 Meter Länge vergrößert werden. Auch die innere Struktur und die Aufbauten wurden verändert.

Die Vertragspartner kannten sich bestens, hatte die Werft doch in den siebziger Jahren eine ganze Reihe von Schiffen für die »Viking Line« gebaut. Entstehen sollte ein Roll on/Roll off-Fährschiff. Dies bedeutet: Die transportierten Fahrzeuge fahren durch eine Öffnung im Bug ins Schiffsinnere und können es am Zielort durch eine Hecköffnung wieder verlassen. Die Bugkonstruktion bestand aus einem nach oben schwenkbaren Bugvisier sowie einer dahinter befindlichen Bugrampe. Schon das 1979 fertiggestellte Schwesterschiff Diana II besaß eine solche Bugkonstruktion. Allerdings zeigt dessen Nutzungsgeschichte, dass die Konstruktion mit Problemen behaftet war: Das Bugvisier der Diana II wurde während eines Sturms am 16. Januar 1993 stark beschädigt.

Die künftige Estonia lief Anfang 1980 unter dem Namen Viking Sally vom Stapel und verkehrte zunächst bis 1990 im Linienverkehr der »Viking Line«. In den ersten sechs Jahren gab es mit dem Schiff kaum Probleme, wenn man davon absieht, dass es einmal auf Grund lief und ein anderes Mal einen Propellerschaden erlitt.

Doch am 10. Juli 1986 endete die friedliche erste Phase der Existenz dieses Schiffs plötzlich. In dieser Nacht überquerte die Viking Sally die Ostsee auf dem Weg vom finnischen Turku ins schwedische Stockholm. An Bord befand sich neben vielen anderen Passagieren der 44 Jahre alte finnische Geschäftsmann Antti Eljaala. An der Schiffsbar hatte er den zehn Jahre jüngeren Landsmann Reijo Hammar kennengelernt. Was die beiden nach einem ausgiebigen Zechgelage mitten in der Nacht, als die meisten Passagiere schon schliefen, in Eljaalas Kabine vorhatten, wurde in den Gerichtsakten dezent verschwiegen.

Fakt ist, dass sich Hammar während des gemeinsamen Aufenthalts in der Kabine am wohlgefüllten Portemonnaie Eljaalas zu schaffen machte. Als Eljaala das bemerkte, protestierte er laut und versuchte, das Portemonnaie wieder an sich zu bringen. Als das nicht gelang, öffnete er die Kabinentür und rief um Hilfe. Er drohte, die Polizei im nächsten Hafen zu alarmieren. Hammar zog Eljaala in die Kabine zurück, schloss die Tür und stach ihm mit einem Messer mehrere Male in den Hals.

Als Eljaala danach immer noch bei Bewusstsein war, riss Hammar ein längliches Stück von der Bettwäsche ab und würgte sein Opfer damit, bis dieses kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Nach vollendeter Tat verschwand Hammar in seine Kabine. Erst als sich das Schiff dem Zielhafen Stockholm näherte, betrat eine Reinigungskraft Eljaalas Kabine, fand die blutüberströmte Leiche und alarmierte den Kapitän.

Wenig später konnte Hammar verhaftet und nach kurzem Gerichtsprozess zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt werden. Doch damit endete seine kriminelle Karriere nicht. Zwei Jahre später brach er mit zwei Komplizen aus dem Gefängnis aus. Dabei schoss er auf einen der Wärter, die sich ihnen in den Weg stellen wollten. Das unheilvolle Trio begann nun mit einer Serie von Banküberfällen. Als es zwischen ihnen zum Streit bezüglich der Aufteilung der Beute kam, tötete Hammar einen seiner Komplizen mit einer Axt. Wenige Wochen später konnte er wieder festgenommen werden. Er saß seine Strafe ab, wurde aber 2004 begnadigt. 2011 beging er einen weiteren Mord und wurde erneut verurteilt.

Zurück ins Jahr 1987. Im Sommer jenes Jahres buchen drei westdeutsche Student:innen in Stockholm Passagiertickets für eine Überfahrt nach Finnland. Sie wollen nach Turku und von dort aus mit dem Zug weiter nach Lappland, um weit im Norden den Urlaub zu verbringen. Die Gruppe besteht aus einem Pärchen aus Stuttgart, Klaus Schelkle (20) und Bettina Taxis (22), sowie dem mit beiden befreundeten Thomas Schmid (20). Klaus und Bettina sind frisch verliebt und erst seit kurzem zusammen. Die drei nehmen die Abendfähre, die am nächsten Morgen in Turku eintreffen soll. An Bord befinden sich insgesamt 1.400 Passagiere, darunter britische Jugendgruppen, finnische Autohändler und eine Abteilung dänischer Pfadfinder.

Nach einem lustigen Abend an der Schiffsbar, an dem sie viele der Mitpassagiere kennenlernten, trennt sich die Gruppe kurz nach Mitternacht. Aus Ersparnisgründen hatten die drei keine Kabine gebucht und geplant, im öffentlichen Bereich der Fähre zu übernachten. Thomas Schmid beschließt, im Restaurant auf einer Bank zu schlafen, und erklärt sich bereit, auf die Rucksäcke seiner Mitreisenden aufzupassen. Die beiden wollen die Nacht an Deck verbringen. Für den nächsten Morgen verabreden sich die drei zum Frühstück.

Klaus und Bettina nehmen ihre Schlafsäcke und steigen die Treppen zum zwei Stockwerke höher gelegenen Sonnendeck hinauf, das nach Mitternacht fast menschenleer ist. Bei einem Rundgang vor dem Ablegen des Schiffs hatten sie einen geschützten Winkel entdeckt, den sie nun aufsuchen. Es handelt sich um den am Schiffsheck gelegenen, von Plexiglasscheiben gegen die Zugluft geschützten Helikopter-Landeplatz. Dort sind sie ganz allein und freuen sich auf zärtliche Stunden unter dem sommerlichen Sternenhimmel.

Um 3.15 Uhr geht beim Sicherheitschef des Schiffs ein Alarm ein. Auf dem Sonnendeck sollen zwei schwerverletzte Passagiere gefunden worden sein. Er macht sich zusammen mit der diensthabenden Krankenschwester auf den Weg und findet am Helikopterlandeplatz Klaus und Bettina. Sie sind blutüberströmt, weisen schwere Kopfverletzungen auf. Klaus ist nicht mehr ansprechbar, Bettina zeigt noch Lebenszeichen. Neben den beiden Schwerverletzten stehen drei dänische Pfadfinder, die die beiden gefunden und Alarm geschlagen haben. Die Krankenschwester übernimmt die Erstversorgung und bittet den Sicherheitschef, sofort den Rettungshubschrauber aus Turku anzufordern. Der trifft wenig später ein und fliegt die Schwerverletzten zum Krankenhaus der finnischen Hafenstadt.

Klaus ist schon tot, als der Hubschrauber dort eintrifft, Bettina liegt im Koma. Sie hat Glück im Unglück, überlebt die schweren Verletzungen und kann Wochen später nach Stuttgart zurückkehren.

Die Polizei hat derweil den Hafen von Turku abgeriegelt und erwartet das Schiff, das hier anlegen soll. Polizisten, die der Rettungshubschrauber aufs Schiff gebracht hat, beginnen bereits mit ihrer Arbeit. Sie vernehmen als Erstes die drei dänischen Pfadfinder, und gehen dann mit dem Kapitän die Passagierliste durch. Ehepaare mit Kindern und Rentner werden als unverdächtig erachtet. Sie dürfen das Schiff nach dem Anlegen in Turku um kurz nach acht Uhr morgens unbehelligt verlassen. Die restlichen Passagiere werden von den im Hafen zusammengezogenen Polizeieinheiten verhört und dabei mit Videokameras aufgenommen.

Ein erster Verdächtiger ist ein britischer Jugendlicher, der mit blutbefleckter Kleidung vor die Polizisten tritt. Er schwört, dass es sein eigenes Blut sei, da er nachts Nasenbluten bekommen habe. Eine entsprechende gerichtsmedizinische Untersuchung bestätigt seine Angaben ein paar Tage später. Er wird aus der Untersuchungshaft entlassen. Von den übrigen Passagieren, einschließlich der Pfadfinder, kann keiner im ersten Anlauf als Verdächtiger ausgemacht werden. Alle dürfen weiterreisen.

Die polizeilichen Ermittlungen nehmen ihren routinemäßigen Verlauf. Wochen und Monate vergehen jedoch, ohne dass es konkrete Hinweise auf den Täter gibt. Die Polizei ermittelt mehrere Jahre weiter, allerdings ohne Ergebnis. Es gab keine Augenzeugen, kein greifbares Motiv und keine brauchbaren Aufnahmen von Überwachungskameras. Bettina gab an, sich an die Vorgänge der Nacht nicht erinnern zu können.

Dann die Wende 2019. Die finnische Polizei gibt bekannt, nach all den Jahren einen Verdächtigen identifiziert und festgenommen zu haben. Es handelt sich um einen der dänischen Pfadfinder namens Thomas Nielsen. Es kommt zu einer Gerichtsverhandlung, doch aufgrund von Ermittlungsfehlern – so wurde der Verdächtige ohne Rechtsbeistand und in einer anderen Sprache als seiner Muttersprache vernommen – muss der Däne trotz vielerlei Belastungsmaterial im Juni 2021 letztlich freigesprochen werden.